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Adriana scheint besiegt, die von der Schreckensherrschaft befreite Stadt beginnt aufzublühen. Doch auf Raven und Reola wartet eine weitere harte Prüfung, die sie fast an den Rand des Abgrunds treibt. Und während sie beide auf ihre Art um eine Zukunft kämpfen, geschehen auf dem Schloss Dinge, die von neuem Unheil künden ...
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Seitenzahl: 165
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Dritter und letzter Teil der »Raven«-Trilogie
© 2015édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-127-8
Coverillustration: © Rosario Rizzo – Fotolia.com
»Mutter? Was hast du?«
Raven betrat Elaynas Räume im Schloss, in dem sie nun seit nahezu einem Jahr residierten. Besorgt warf sie einen Blick auf Elaynas blasses Gesicht, das in den letzten Tagen immer blasser geworden war. Dabei hatte sie sich zuvor so gut erholt, man hatte ihr die Jahre der Gefangenschaft kaum noch angesehen.
»Nichts.« Elayna lächelte sie beruhigend an.
»Warum verschließt du dann deine Gedanken vor mir?«
Ertappt verzog Elayna das Gesicht. »Ich vergesse immer wieder, wie gut du bist.«
Raven lachte. »Dabei hast du es mir beigebracht.«
»Lektra und ich«, korrigierte Elayna. »Sie war die erste, ich war ja nicht da.«
»Das war nicht deine Schuld.« Raven ließ sich vor ihrer Mutter auf ein Knie nieder und nahm ihre Hand. »Mach dir keine Vorwürfe mehr. Du konntest nicht anders handeln, als du es getan hast.«
»Konnte ich nicht?« Elaynas zweifelnder Gesichtsausdruck rief Widerspruch in Raven hervor.
Sie drückte Elaynas Hand mit ihren beiden Händen. »Das ist schon so lange her. Du kannst nichts mehr daran ändern. Heute ist heute.«
Mit einem überraschten Lachen schaute Elayna ihre Tochter an. »Man könnte meinen, du wärst die Mutter und ich das Kind.«
»Nicht für eine Sekunde.« Raven stand auf und lächelte auf ihre Mutter hinunter, die auf einer bequemen Ottomane lag, direkt vor der großen, geöffneten Fenstertür, die den Blick auf die blühende Landschaft freigab. »Es wird nie eine größere Do-Lla geben als dich.«
In Gedanken versunken wanderte Elaynas Blick zum Fenster hinaus, als wäre dort weit mehr zu sehen als die farbenprächtigen Bäume und von Saatgut und Früchten fast berstenden Felder. »Du weißt, dass das nicht wahr ist. Du bist schon jetzt besser, als ich es je war. Und deine Ausbildung ist noch nicht einmal abgeschlossen.«
»Du sagtest, das wäre sie nie.« Raven seufzte. »Obwohl ich immer gehofft habe, es wäre einmal soweit.«
»Es gibt verschiedene Stufen.« Elaynas Gesicht nahm wieder diesen besorgten Ausdruck an, den es getragen hatte, als Raven hereingekommen war. »Du bist schon sehr weit. Weiter, als jede andere es in der kurzen Zeit geschafft hätte. Durch deine überdurchschnittliche Begabung ist dir vieles leicht gefallen. Aber es gibt Teile der Ausbildung, die jahrelange Übung verlangen, und so viele Jahre hattest du noch nicht.«
»Das macht doch nichts.« Raven lächelte. »Ich bin noch jung. Ich habe noch viele, viele Jahre vor mir, in denen ich lernen kann.«
»Das ist die Frage . . .«
Raven runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Ich sollte Adriana besiegen, und das habe ich getan – wir gemeinsam. Ich frage mich sowieso, weshalb ihr so darauf drängt, dass ich die Ausbildung fortsetze. Es gibt keine Bedrohung mehr.«
»Denkst du das?« Elayna atmete tief durch. »Das dachten wir damals auch. Es war über sechzig Jahre her, dass es eine Bedrohung gegeben hatte. Nur einige alte Leute erzählten noch davon. Wir hielten das für Unsinn – bis Adriana uns das Gegenteil bewies. Das Böse stirbt nie aus.«
Raven lächelte. »Ich habe keine böse Schwester.« Sie hob die Augenbrauen. »Oder?«
Elayna schwieg eine ganze Weile. »Nein«, sagte sie dann. »Du bist das einzige Kind der alten Do-Lla. Und du bist jetzt die junge Do-Lla. Es gibt nur uns beide.« Das schien sie zu beunruhigen.
»Du bist doch nicht alt!« Raven lachte auf. »Du bist noch nicht einmal grau. Deine Haare haben jetzt wieder dieselbe Farbe wie meine. Man könnte uns für Schwestern halten.«
»Es geht mir gut. Seit ich meine Kräfte wiederhabe«, bestätigte Elayna. »Aber es ist nicht gut, dass ich damals nur ein Kind bekommen konnte. Es sollte immer mehrere Kinder geben, damit die Nachfolge gesichert ist. Man weiß nie, was kommt. Was wäre gewesen, wenn Adriana das einzige Kind meiner Mutter geblieben wäre?«
Raven fühlte sich unbehaglich. Auf irgendetwas wollte ihre Mutter hinaus, aber sie wusste nicht, auf was. »Ich bin aber nicht Adriana«, sagte sie. »Oder hältst du mich für böse? Hast du Angst, ich könnte der Schwarzen Magie verfallen?«
»Nein.« Elaynas Gesicht verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln. »Du bist das Beste, was unserem Land passieren konnte.« Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und hielt sie fest. »Aber auch du musst für die Nachfolge sorgen. Jetzt, wo du noch jung bist.«
Für einen Moment war Raven sprachlos. Das hatte sie nicht erwartet. »Du bist so gern Mutter, du kannst dir das wahrscheinlich nicht vorstellen«, entgegnete sie dann mit schief verzogenen Mundwinkeln, »aber ich bin nicht dafür geschaffen, Mutter zu sein. Ganz und gar nicht. Ich könnte mir vorstellen, Vater zu sein, aber Mutter . . .«
Elaynas Mundwinkel zuckten. »Du kannst alles sein, was du willst.«
Irritiert schüttelte Raven den Kopf. »Was soll das heißen?«
»Wie oft hast du dich schon in einen Mann verwandelt?«, fragte Elayna.
»Ja, aber . . . aber doch nur äußerlich. Ich kann doch nicht . . .« Raven war völlig überrumpelt.
»Doch, du kannst«, schmunzelte Elayna. »Tatsächlich, du kannst.«
»Ein Kind . . . zeugen?«, fragte Raven ungläubig. »Wie ein Mann?«
»Ja.« Elayna nickte. »Du kannst eine Frau schwängern, wenn du das willst. Du bist die mächtigste Do-Lla aller Zeiten. Du kannst so gut wie alles.«
Auf Ravens Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus. »Reola wird begeistert sein«, sagte sie. »Im Gegensatz zu mir ist sie ganz sicher die geborene Mutter.«
Elayna hob etwas unglücklich die Augenbrauen. »Reola gehört nicht zu den sieben Familien. Sie ist ein ganz normaler Mensch ohne jegliche . . . Begabung.«
»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Raven.
»Du weißt, was ich meine. Sie kann nicht die Mutter einer Do-Lla sein, das ist unmöglich.« Elayna stand auf und ging zur Tür, schaute hinaus. »Mittlerweile haben sich so viele Überlebende aus den alten Familien wieder eingefunden. Es sind auch junge Frauen dabei.«
»Das meinst du nicht ernst!« Raven starrte sie mit aufgerissenem Mund an. »Ich kann doch nicht mit irgendjemand ein Kind zeugen. Mit einer Frau, die ich gar nicht liebe!«
»Ich hatte genauso wenig die Wahl.« Elayna drehte sich um und betrachtete sie mit einem zärtlich mitleidigen Blick. »Wir haben unsere Verpflichtungen, weil wir nicht so sind wie die anderen. Diesen Verpflichtungen können wir uns nicht entziehen. Es gibt größere Dinge zu berücksichtigen als irgendwelche menschlichen Gefühle.«
»Tatsächlich?« Raven verschränkte grimmig die Arme vor der Brust. »Und das soll ich Reola so sagen? Sie ist das personifizierte Gefühl. Sie wird kaum verstehen, dass es etwas Wichtigeres geben kann. Es wird sie umbringen.«
»Wird es nicht. Sie ist stärker, als du denkst.« Elayna verzog bedauernd das Gesicht. »Es ist nun einmal, wie es ist. Wenn ich sterbe, übernimmst du die Verantwortung. Und jemand muss die Verantwortung übernehmen, wenn du stirbst. Wir leben lange, aber nicht ewig.«
»Dann habe ich ja noch Zeit.« Raven wollte sich umdrehen und die Gemächer ihrer Mutter verlassen.
»Und was ist, wenn wir beide sterben?«
Mitten in der Bewegung hielt Raven inne. Sie wandte ihren Kopf zurück. »Was ist dann?«
»Dann wird die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr existieren.« Elayna kam auf sie zu und legte eine Hand auf ihre Wange. »Und das ist etwas, das du dir lieber nicht vorstellen möchtest. Es ist nicht so, wie es war, als Adriana mich gefangenhielt. Ich war immer noch da. Aber wenn ich nicht mehr da bin . . . und du nicht mehr da bist . . . wird es nichts Gutes mehr auf dieser Welt geben. Gar nichts.« Sie lächelte liebevoll, aber auch unendlich traurig. »Glaub mir, ich habe dasselbe durchgemacht wie du.« Ihre Hand streichelte Ravens Gesicht. »Es ist unsere Gabe, die das Böse fernhält. Nichts als unsere Gabe. Wenn sie nicht mehr da ist, braucht es nicht einmal so eine starke Schwarze Magie wie die von Adriana, um die Welt zu zerstören. Dann reicht jeder kleine boshafte Gedanke. Die Menschen werden qualvoll sterben. Menschen wie . . . Reola.«
Ravens Knie fühlten sich auf einmal weich an, als ob sie sie nicht mehr halten könnten. Sie sank auf einen reich bestickten Sessel. »Das ist . . . das ist . . .«
»Das ist die Wahrheit.« Elayna schaute auf sie hinunter. »Ich weiß, es ist hart. Es ist für uns alle hart, für alle Do-Llas. Deshalb bekommen wir diese Ausbildung, mit all den Techniken, die es uns erlauben, in uns zu versinken und das größere Ganze zu sehen, nicht nur uns selbst.«
»Ich glaube . . .« Raven räusperte sich, aber ihre Stimme klang immer noch kratzig. »Ich glaube, soweit bin ich noch nicht.«
Elayna blickte durch das Zimmer, das von der Größe her eher einem Saal glich, als ob sie nach etwas suchte. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, während sie ihren Blick in alle Ecken schweifen ließ. »Spürst du etwas?«, fragte sie.
»Außer dass ich mich fühle, als wäre mir gerade der Himmel auf den Kopf gefallen?«, fragte Raven sarkastisch zurück. »Nein, nichts.«
»Spürst du etwas?«, wiederholte Elayna ihre Frage, aber diesmal an Lektra gerichtet, die gerade zur Tür hereinkam.
Lektra blieb stehen und schloss die Augen, öffnete sie wieder, schüttelte den Kopf. »Nein, was?«
»Vielleicht bin ich einfach nur paranoid.« Elayna seufzte. »Das habe ich manchmal, seit ich eingesperrt war. Ich denke, es könnte jederzeit wieder passieren.«
»Ohne Adriana? Wer sollte dich einsperren, mein Engel?« Lektra kam fürsorglich auf Elayna zu. »Hast du immer noch diese schlimmen Träume?«
»Manchmal.« Elayna ließ sich auf die Ottomane sinken und lehnte sich zurück. Sie schloss die Augen. »Aber sie werden weniger.«
»Du hast sehr viel durchgemacht.« Lektra griff nach einer Decke und breitete sie über Elayna aus. »Versuch dich auszuruhen. Geh das Lo\!Agra durch.«
»Das tue ich jeden Tag.« Elayna atmete tief ein und aus. »Mehrmals. Das allein hat mich in der Gefangenschaft am Leben erhalten.«
Lektra warf einen Blick auf Raven. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.«
»Eigentlich . . .« Raven zögerte, stand aber auf.
»Sie hat es dir gesagt.« Lektra schaute sie mit wachen Augen an. »Dass aus der Do-Lla wieder eine Do-Lla entspringen muss.«
Ein trockenes Lachen schoss aus Ravens Kehle. »Sehr poetisch ausgedrückt! Als ob das so einfach wäre!«
Lektra machte eine Bewegung mit dem Kopf zur Tür hin. »Komm. Wir müssen das nicht hier besprechen.« Sie warf einen besorgten Blick auf Elayna. »Sie gibt sich stark, aber die lange Zeit im Kerker hat ihre Spuren hinterlassen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Raven mit gedämpfter Stimme, als sie hinausgingen. »Ich hatte so ein tolles Leben, oder was?«
»Oh-oh.« Lektra schloss die Tür hinter sich, als sie auf dem Gang standen. »So darf eine Do-Lla nicht denken. Niemals. Es geht nicht um das eigene, individuelle Leben. Es geht um das Leben aller.«
»So was Ähnliches hat sie auch gesagt.« Genervt warf Raven den Kopf in den Nacken. »Die Nachfolge muss gesichert sein. Egal, was es kostet.«
»Ja, das muss sie«, bestätigte Lektra nickend. »Und deine Mutter ist –« Sie brach ab und musterte Ravens Gesicht. »Ich sagte ja schon, sie ist nicht so stark, wie sie sich gibt. Diese Träume . . . Sie ist viel schwächer, als du es dir auch nur vorstellen kannst. Adriana hat ihr gerade nur das Nötigste gegeben, damit sie am Leben bleibt. Und das über eine sehr lange Zeit. Wäre sie ein normaler Mensch, wäre sie schon lange tot.«
»Sie . . .« Raven riss die Augen auf. »Sie . . .« Nun schluckte sie. »Sie . . . stirbt?«, brachte sie endlich hervor.
»Es steht zu befürchten, dass sie nicht so lange leben wird, wie es einer Do-Lla üblicherweise vergönnt ist«, antwortete Lektra vage.
»Und dann bin ich allein. Die einzige Do-Lla«, flüsterte Raven erschüttert.
»Und keine Erbin«, setzte Lektra fest hinzu. »Verstehst du jetzt, warum sie so drängt?« Sie hob eine Hand und strich mitfühlend über Ravens Arm. »Das ist im Moment alles ein bisschen viel für dich, ich weiß. Aber es gibt auch Hoffnung: Selbst Do-Llas können nicht in die Zukunft sehen. Auch ich kann es nicht. Ich sorge mich um deine Mutter, aber das heißt nicht, dass meine Sorgen Realität werden müssen. Dennoch müssen wir vorbereitet sein.«
»Auf was auch immer.« Raven verzog das Gesicht. »Wenigstens muss ich das Kind nicht bekommen.«
»Ach, das weißt du auch schon? Ihr hattet wohl ein sehr intensives Mutter-Tochter-Gespräch.« Lektra schmunzelte.
»Hättet ihr mir das nicht gleich damals sagen können, als ich und Reola –?«
Lektra hob die Augenbrauen. »Da hatten wir mit anderen Dingen zu tun.« Sie schaute in die Ferne. »Wir waren nicht davon überzeugt, dass Adriana wirklich besiegt ist.«
»Aber ich habe sie doch . . . ich meine, sie hat sich selbst . . .« Raven war verwirrt.
»Adriana hätte deine Mutter niemals gefangenhalten können, wenn sie nicht mächtiger gewesen wäre als alle schwarzen Magierinnen zuvor. Selbst für den Fall der Fälle hätte sie vorgesorgt haben können«, erklärte Lektra seufzend. »Die Schwarze Magie bietet viele Schlupflöcher.«
»Dann wäre es vielleicht gut, wenn ihr mich auch in das eine oder andere einweihen würdet«, bemerkte Raven lässig. »Für den Fall der Fälle.«
»Dann wäre alles verloren«, erwiderte Lektra ruhig. »Adriana verlor all ihre weiße Magie, als sie sich der schwarzen zuwandte. Aber sie war keine Do-Lla. Bei einer Do-Lla wäre das eine Katastrophe.« Sie atmete tief durch. »Beschäftigen wir uns mit angenehmeren Dingen. Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wer die Glückliche sein soll?«
Raven betrachtete Lektra mit einem missbilligenden Gesichtsausdruck. »Wenn Reola es nicht sein darf –«
»Sie kann es nicht sein«, unterbrach Lektra sie. »Sie hat nicht die Anlagen, die sich mit deinen verbinden müssen, um eine Do-Lla zu erschaffen.«
»Das hat Mutter mir schon klargemacht.« Ravens Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Ich glaube, auf diese Art wird es wohl niemand bei dieser ganzen Prozedur geben, die man als glücklich bezeichnen könnte.«
»Das Land wird glücklich sein, wenn eine neue Do-Lla geboren wird.« Lektra lächelte. »Sehr, sehr viele werden glücklich sein. Das ist wichtiger als jedes individuelle Glück.«
»Auch da seid ihr euch absolut einig.« Raven stöhnte auf. »Was soll ich nur Reola sagen?«
»Die Wahrheit«, erwiderte Lektra schlicht. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Auch sie muss einsehen, dass individuelles Glück hinter dem Gemeinwesen zurückstehen muss.«
»Das . . .«, Raven holte tief seufzend Luft, »sehe ich noch nicht.«
Und während Lektra sie noch nachdenklich betrachtete, verschwand Raven von der Bildfläche.
Mittlerweile war ihr das Springen von einem Ort zum anderen zur zweiten Natur geworden. Es verursachte ihr keine Schwindelgefühle mehr. Sie hatte sich in den Garten versetzt, um nachzudenken. Sie konnte jetzt mit niemandem reden, sie musste allein sein.
Das alles war eine Menge, was sie da verarbeiten musste. Sie hatte sich gefreut, ihre Mutter wiederzufinden, eine Familie zu haben, und dann noch eine Frau, die sie liebte und die auch zu dieser Familie gehörte.
Aber das war eben ein Irrtum gewesen, dass Reola ein Teil dieser Familie war. Für ihre Mutter war sie es nicht, und für Lektra auch nicht. Für Do-Llas und ihren Anhang zählten nur Fähigkeiten, Begabung, Anlagen, nicht der Mensch.
Aber ich bin auch eine Do-Lla – und für mich zählt das!
Stöhnend ließ sie sich auf eine steinerne Gartenbank sinken und legte ihren Kopf in die Hände. Dieses vergangene Jahr mit Reola war so wunderbar gewesen. Endlich einmal hatte sie sich entspannen können, hatte es genossen, nur eine Frau zu sein, eine Liebende, keine bezahlte Söldnerin, die einsam durch die Lande zog, niemandem Rechenschaft schuldig aber auch niemandem Gefühle – und ohne Anspruch auf welche.
Ihre Ausbildung war weitergegangen, aber Reola und sie hatten trotzdem genügend Zeit füreinander gehabt – mehr als genug.
Sie lächelte, als sie an Reola in ihren Armen dachte, Reola mit Blumen im Haar unten am See wie eine Nixe, die gerade den Fluten entstieg, splitterfasernackt. Sie hatten nebeneinander im Gras gelegen, und Reola hatte Gedichte rezitiert. Sie liebte Gedichte. Vor allem, weil sie in jedem einen Bezug zu Raven fand, besonders in Liebesgedichten oder auch Heldenepen.
Raven hatte sich das lächelnd gefallen lassen, obwohl ihre Beziehung zu Gedichten eher in die Kategorie nicht existent gehörte. Aber sie lauschte gern Reolas Stimme, döste manchmal dabei ein und wurde von ihr mit einem Kuss geweckt – oder auch mit einem Guss Wasser aus dem See, wenn Reola sich vernachlässigt fühlte.
Diesen See gab es erst wieder, seit sich die dunklen Wolken verzogen hatten. Zuvor hatte sich niemand vorstellen können, so viel Wasser auf einmal zu sehen.
Es blühte frisch und in allen Farben um den See herum, Büsche und Sträucher boten lauschige Plätzchen für Liebespaare, genug davon, dass sie sich nicht ins Gehege kamen. Dunkelgrüner Wald pirschte sich bis fast ans Ufer heran, lange Äste schwebten über dem Wasser, spiegelten sich darin, berührten es an manchen Stellen und tanzten darauf wie ausgelassene Kinder, die sich gegenseitig in der Sonne zu fangen versuchten.
Es war romantisch dort. Erst durch Reola hatte Raven erfahren, was Romantik überhaupt war. Reola fand in jeder Blüte etwas Romantisches, in jedem Vogel, in jeder Biene, selbst wenn sie stach.
»Reola . . .« Raven murmelte verzweifelt ihren Namen. Warum konnte es nicht einfach so bleiben, wie es war? Warum konnte Reola nicht –?
»Ach, hier bist du!« Sie hörte Reolas lachende Stimme auf sich zukommen, spürte sofort tief innerlich ihre Gegenwart. Sie brauchte sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie da war.
Zögernd hob sie den Blick.
»Was ist denn? Was hast du?« Reola betrachtete besorgt Ravens verschlossene Miene, als sie auf sie zukam.
Raven bekam keine Antwort heraus. Sie schaute Reola nur an. Nach einer Weile murmelte sie: »Ich . . . ich muss dir etwas sagen.«
»Ja? Was denn?« Reolas offener Blick machte es nicht leichter.
Raven räusperte sich. »Meine Mutter sagt . . . in der Gestalt eines Mannes könnte ich ein Kind zeugen. Wie ein echter Mann.«
Reolas Gesicht strahlte auf. »Das ist ja wunderbar!« Sie lief schnell zu Raven und schwang sich auf ihren Schoß, umarmte sie glücklich. »Wir können ein Kind haben! Wir beide!« Sie küsste Raven voller Inbrunst. »Das hätte ich mir nie träumen lassen! Oh, wie wunder-wunder-wundervoll!«
»Das Kind wäre die nächste Do-Lla«, fügte Raven düster hinzu.
»Noch besser!« Reola konnte es gar nicht fassen. »Ich werde die Mutter der nächsten Do-Lla. Großartig!«
Raven schluckte. »Nein, das wirst du nicht.«
Reola hob die Augenbrauen. »Nicht? Wie meinst du das?«
»Die Mutter der nächsten Do-Lla muss ein Mitglied der sieben Familien sein. Sie muss ähnliche Fähigkeiten haben wie ich.«
Reola starrte sie an, und langsam verschwand das Strahlen von ihrem Gesicht, das Lachen aus ihren Augen. »Ich habe diese Fähigkeiten nicht, und ich gehöre nicht zu den sieben Familien.«
»Meine Mutter sagt, es sind viele junge Frauen hier aus den sieben Familien. Eine von ihnen –«
»Nein!« Reola sprang auf und warf die Hände vors Gesicht. »Nein«, setzte sie dann flüsternd hinzu. Ihre Stimme versickerte.
»Ich weiß.« Raven stand auf, kam zu ihr und nahm sie in den Arm. »Ich habe genauso entsetzt reagiert. Aber es ginge nur um das Kind – oder vielleicht mehrere. Meine Mutter sagt, mehrere wären besser.«
»Mehrere wären besser«, wiederholte Reola tonlos.
»Es hat nichts mit Liebe zu tun«, versicherte Raven ihr. »Ich liebe nur dich. Und das wird immer so bleiben.«
Ein Zittern lief durch Reolas mädchenhaften Körper. »Aber du musst mit dieser Frau schlafen. Mehrmals. Immer wieder. Bis sie schwanger ist. Und das nicht nur einmal. Jedes Jahr?«
»Es wäre ein rein technischer Vorgang«, behauptete Raven.
»Oh ja, sicher!« Reola riss sich los und rannte wie blind durch den Garten, bis eine Mauer sie aufhielt. »Und wie soll diese Frau sich dabei fühlen? Wie eine Zuchtstute oder eine Gebärmaschine? Das tust du ihr an?«
»Sie gehört zu den Familien. Sie wird es verstehen.«