Rebellische Pianistin - Moritz von Bredow - E-Book

Rebellische Pianistin E-Book

Moritz von Bredow

4,9

Beschreibung

Grete Sultan (1906-2005) war eine der ungewöhnlichsten Pianistinnen des 20. Jahrhunderts. Aufgewachsen im jüdischen Großbürgertum Berlins, wurde sie in den 1920er-Jahren zu einer gefeierten Interpretin der klassischen wie der Neuen Musik. Nach Berufsverbot und wachsender Bedrohung gelang ihr 1941 in letzter Minute die Flucht. In New York etablierte sie sich als Pianistin und Klavierpädagogin. Sie wurde zur Freundin und Muse von John Cage, dessen Etudes Australes sie in der ganzen Welt spielte. Moritz von Bredow erzählt das lange Leben Grete Sultans zwischen Traumatisierung und Erfolg: ein deutsch-jüdisches Schicksal und ein Spiegel der Musik- und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Moritz von Bredow arbeitet als Kinderarzt und Autor in Hamburg. Aus seiner persönlichen Begegnung mit Grete Sultan und jahrelanger Recherche entstand die eindrucksvolle Dokumentation eines einzigartigen Künstlerlebens.

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Rebellische Pianistin

 

Grete Sultan. Portrait von Franz Rederer, New York, 1944

 

 

 

Moritz von Bredow

Rebellische Pianistin

Das Leben der Grete Sultanzwischen Berlin und New York

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 54

ISBN 978-3-7957-8602-1

© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 21350

© 2012, 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

www.schott-music.com

www.schott-buch.de

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.

Inhalt

Vorwort von Alfred Brendel

Vorwort zur 2. Auflage

Prolog

I

1800–1921Ursprung. Familie. Kindheit und Jugend

II

1921–1933Entwicklung. Hoffnung. Ende

III

1933–1941Entrechtung. Berufsverbot. Flucht

IV

1941–1945Exil. Freunde. Neubeginn

V

1945–1970Perspektiven. John Cage. Berlin

VI

1971–2005Carnegie Hall. Etudes Australes. Abschied

Epilog und Danksagung

 

 

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Literatur

Diskografie

Personenregister

Bildnachweis

Vorwort

Eine deutsch-jüdische Pianistin des Jahrgangs 1906 beschäftigt sich im Alter von zehn Jahren mit Arnold Schönbergs Drei Klavierstücken op. 11 und zwölfjährig mit Beethovens Sonate op. 111. Elf Jahre später absolviert sie ihr pianistisches Debüt in Berlin, das Beethovens Hammerklaviersonate einschließt. Dieses und zwei andere Riesenwerke, Beethovens Diabelli- und vor allem Bachs Goldberg-Variationen, bleiben Stützen ihres Repertoires, zu denen sich immer mehr zeitgenössische Werke gesellen. 1933 verlässt sie nicht wie die vor einer Vielzahl von Konzerten stehende Käte Aschaffenburg (Katja Andy), Freundin und Kollegin im Unterricht bei Edwin Fischer, Deutschland, sondern bleibt bei ihrer geliebten Familie bis in den Krieg hinein. Im letzten Moment, 1941, emigriert sie und kommt in den USA zu späten Ehren.

Das Berlin, in dem Grete Sultan aufwuchs, war eine Musikmetropole sondergleichen. Um 1930 wirkten dort die Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Es spielten und lehrten neben vielen anderen die Pianisten Edwin Fischer, Artur Schnabel und Wilhelm Kempff. In Furtwänglers Philharmonischem Orchester saßen als Stimmführer die Geiger Szymon Goldberg und die Cellisten Emanuel Feuermann und Gregor Piatigorsky. Das Trio Cortot-Thibaud-Casals, das Busch-Quartett wie auch das Kolisch-Quartett ergänzten damals ein europäisches Niveau des Musizierens, das man heute nur beneiden kann.

Tief und traumatisch hat dann Hitlers Übernahme der Macht in das Leben jüdischer Musiker eingegriffen. Es ist in Moritz von Bredows Buch fesselnd nachzulesen, wie der von den Nazis geduldete Jüdische Kulturbund jenen, die – sei es aus familiären Gründen oder einfach, weil sie sich so deutsch fühlten – im Lande blieben, zunächst Gelegenheit bot, ihrer künstlerischen Tätigkeit in einer Art von musikalischem Getto weiter nachzugehen. Wenn sie Glück hatten, durften sie schließlich in versiegelten Waggons ausreisen. Wem dies nicht gelang, dem drohten Suizid, Konzentrationslager und Tod.

Grete Sultan war vielleicht die erste Pianistin in Mitteleuropa, die sich mit solcher Entschiedenheit der Neuen Musik zuwandte. Auf dem Programm ihres Debütkonzerts standen Bach und Beethoven vor Strawinsky und Schönberg. Und neben Elly Ney war sie wohl das erste weibliche Wesen, das sich in den Zwanzigerjahren an Beethovens op. 106 wagte. Der Ehrgeiz, das Schwierigste und Anspruchsvollste an älterer wie jüngster Musik zu meistern, hat sie auch weiterhin nicht verlassen. Zur höchsten Blüte geriet ihre Passion für das Neueste durch die Begegnung mit John Cage, dem sie vierzig Jahre lang in enger Freundschaft verbunden blieb. Es ist erstaunlich, wie in ein und derselben Person die unablässige Bemühung um ein Werk wie Bachs Goldberg-Variationen mit der Begeisterung für Cages kalkulierte Zufallsmusik Hand in Hand gehen konnte, ja zu einer Art komplementärer Verknüpfung führte, seltsamste Polarität von »Soli deo gloria« auf der einen und Zen-Buddhismus beziehungsweise I Ging auf der anderen Seite. Mit dem für sie komponierten Mammutwerk, John Cages Etudes Australes, bereiste sie in Begleitung des Komponisten mehrere Jahre lang die Welt. Im Flugzeug spielten die beiden Schach.

Von Natur aus schüchtern, mit zarter, hoher Stimme, umgab Grete Sultan eine Aura staunender Verehrung. Zweimal versuchte Theodor W. Adorno vergeblich, sie nach Deutschland zurückzulocken. Bronisław Huberman schenkte ihr zu Beginn der Amerika-Zeit einen Bechstein-Flügel. Bei der Gedenkfeier für Fritz Busch spielte sie Beethovens Lebewohl-Sonate. Claudio Arrau war hilfreich und schickte Schüler. Das viele Üben schien sie gut auszuhalten; man rühmte allgemein ihren schönen, nuancierten Klavierton. In New York lebte sie zwischen Muscheln, Mineralien, Pflanzen, Schachfiguren und Katzen. (Bei Moritz von Bredow kommen sowohl die Zeitläufte als auch der Blick auf das Private zu ihrem Recht.) Andere Namen der Avantgarde, denen Grete Sultan musikalisch behilflich wurde, waren Henry Cowell, Earle Brown, Morton Feldman, Christian Wolff, aber auch Stefan Wolpe. John Cage sprach bewundernd von Grete Sultans »ruhiger, unbezähmbarer Kraft«.

Alfred Brendel, London, im Oktober 2011

Vorwort zur 2. Auflage

Als die Pianistin Grete Sultan 2005 kurz nach ihrem 99. Geburtstag in New York starb, befand sich diese ihre Biographie noch mitten in der Entstehung. Ein reiches, vielfältiges, traumatisiertes wie erfülltes Leben für die Musik hatte sich vollendet. Die Trauer um sie war groß, wird aber bei weitem durch eine tiefe Dankbarkeit überwogen.

Wichtige Menschen, die in vielfältiger Weise zu der Biographie beigetragen haben, sind seither ebenfalls gestorben: Grete Sultans Cousine Hanna Sohst-Sultan, ihr Neffe Claus Victorius, ihre Nichte Rita Guttsman, der Tänzer Merce Cunningham sowie Margrit Rederer, die Witwe des Malers Franz Rederer, sowie ihre Freundin Katja Andy im Alter von 106 Jahren.

Die »Rebellische Pianistin« mit dem Vorwort Alfred Brendels erfuhr große Beachtung im In- und Ausland, und gemeinsam mit der bei wergo veröffentlichten CD-Anthologie »Piano Seasons« erlebt Grete Sultan in dem Land ihrer Kindheit, aus dem die Nationalsozialisten sie vertrieben hatten, zunehmendes Interesse: erneut berührt und fasziniert sie jene Menschen, die ihr Klavierspiel nun wieder hören können, die über ihr Leben und Musizieren lesen können. Das hat Grete Sultan verdient.

Ich bin Schott Music in Mainz, insbesondere Sebastian Burkart, für die wunderbare Realisierung der 2. Auflage überaus dankbar. Möge auch diese wiederum die ungeteilte Aufmerksamkeit vieler Leserinnen und Leser finden, welche sich durch die Begegnung mit Grete Sultan und der Kunst ihres Klavierspiels anregen und bereichern lassen sowie oft von ihr und über sie sprechen mögen.

Moritz von Bredow, Hamburg, im April 2014

Grete spielt

 

Der suchende Geist,

Vom Wundergewebe

Letzter Musik erhoben,

Horcht ins Unerhörte,

In das Gezweige des Alls,

Tastend die Tangente

Durch Sternenlicht

Zum geometrisch gezeichneten

Seidigen Mottenflügel,

und seine eigenen sehnenden Fühler

zittern bezaubert in der Sekunde,

Schon sie verlierend,

Tonberückt.

Vera Lachmann

Prolog

Die Pianistin Grete Sultan, 1906 in Berlin geboren, macht in den späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren auf sich aufmerksam. Theodor W. Adorno beschreibt sie im Dezember 1930 als »hochbegabte, merkwürdig expressive und rebellische Pianistin«. Musiker, Maler, Dichter und Intellektuelle säumen den Weg ihrer Familie. Grete Sultan steht am Anfang einer verheißungsvollen künstlerischen Karriere, aber dann wird ihre Familie von den Nationalsozialisten verfolgt und zerschlagen. Wer kann, flieht ins Exil, andere sterben durch Suizid oder in den Vernichtungslagern. Grete Sultan überlebt und kann noch Mitte 1941 ins amerikanische Exil fliehen – hier entwickeln sich ihr neues Leben und vor allem ihre Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit mit John Cage. In Deutschland wird sie weitgehend vergessen. Im Sommer 2005, wenige Tage nach ihrem 99. Geburtstag, stirbt Grete Sultan in New York.

Die Kritik hat die virtuose Schlichtheit ihrer Interpretationen von Bach, Beethoven, Debussy, Schönberg und Cage erst spät wiederentdeckt. Dazu trugen vor allem mehrere Zeitungsartikel, Radiosendungen und Fernsehbeiträge anlässlich von Grete Sultans 95. Geburtstag im Sommer 2001 bei. Zwar war eine Einspielung von Cages Etudes Australes schon seit den Achtzigerjahren erhältlich, aber erst durch die 1996 von dem New Yorker Produzenten Heiner Stadler erstmals veröffentlichten historischen Aufnahmen begann man sich auch in Deutschland wieder zu erinnern. Die Einspielungen zeigen den singenden Klavierton Grete Sultans, der sich mit der ihr eigenen geistigen Durchdringung des Werkes und technischer Meisterschaft verbindet. Jene unprätentiöse Klarheit ihres Klavierspiels, die gleichermaßen auf bescheidener Zurückhaltung und dem ihr innewohnenden musikalischen Impuls beruht, ist ein herausragendes Merkmal ihres Künstlertums.

In der Pianistin Grete Sultan vereinen sich die Klavierschulen Clara Schumanns und Theodor Leschetizkys mit den direkten Einflüssen ihrer Lehrer Richard Buhlig, Leonid Kreutzer und Edwin Fischer. Ihr von früh an vorhandenes Interesse an Neuer Musik, ihr Streben nach Werktreue sowie ihre persönliche Zurücknahme fast bis zur Selbstverneinung stellen Grete Sultan in Gegensatz zu vielen bekannten Pianistinnen und Pianisten ihrer Zeit. Sie weigerte sich beharrlich, bei der Auswahl ihrer Programme zwischen musikalischen Epochen zu unterscheiden. »Wir leben heute!«, war ihr Motto. Und so spielte sie auch die Neue Musik ihrer Zeit – zum Schluss vor allem die Etudes Australes von John Cage – mit dem Atem und dem Grund ihrer klassischen, auf einer langen musikalischen Tradition fußenden Ausbildung. Zudem war sie eine verehrte, maßgebende Klavierpädagogin.

Grete Sultans Entwicklung, ihre Musikalität und ihre Persönlichkeit sind untrennbar mit der Geschichte ihrer Familie verbunden. In ihr finden sich sowohl eine herausragende musische Prägung als auch Aspekte einer individuellen, gesellschaftlichen Normen skeptisch gegenüberstehenden Haltung. Bildungsideale stehen im Mittelpunkt der Erziehung, vor allem die Musik. Sie gibt Grete Sultan von früh an ihre bleibende Identität. So fällt das Licht in dieser Biografie zunächst auf ihre Mutter Coba und deren Schwester Charlotte Baerwald, geb. Lewino, die beide für die Entwicklung Grete Sultans besonders richtungsweisend waren.

Vorgeschichte und Schicksal der Familie Grete Sultans, ihr eigener Lebensweg und ihre Verbindung zu den großen Künstlern ihrer Zeit legen nicht nur Zeugnis von einer einzigartigen Künstlerpersönlichkeit ab, sondern dokumentieren darüber hinaus auch die Musikgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts. Diese Biografie möchte zur nachhaltigen Würdigung Grete Sultans beitragen und die Leser neugierig machen auf ihre Interpretationen der Musik von Frescobaldi bis Cage.

Moritz von Bredow, Hamburg, im November 2011

Der gesamte Sultan-Victorius-Haushalt im Grunewald und später in Schlachtensee hat ihre Persönlichkeit, weil sie in diesem Milieu lebte, mit Sicherheit geprägt, auch wenn sie stets verneint, daran interessiert zu sein.   Claus Victorius1

In welchem Käfig [cage] man sich auch befindet – man soll ihn verlassen.    John Cage2

Die Familie: Herkunft und Musikalität

November 2002: Grete Sultan ist beinahe hundert Jahre alt und schon seit Langem die älteste Bewohnerin des Westbeth Artists Housing nahe am Hudson River, im westlichen Teil des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village. Sie sitzt im Korbstuhl am Fenster ihrer Wohnung, deren Zentrum zwei Steinway-Flügel bilden. Die Pianistin wirkt klein, ihr Rücken ist gebeugt, sie umfasst auch im Sitzen ihren Stock. Aber sie lächelt, hell und klar sind ihre Augen, ihre Stimme ist beinahe mädchenhaft. Grete Sultan trägt eine indische, kunstvoll dunkelrot und blau gemusterte Bluse und weite dunkelblaue Hosen. Das feine Haar, schlohweiß, ist sorgfältig zurückgesteckt, die Lippen sind schmal, der Ausdruck des alten Gesichtes ist konzentriert und ganz wach. Zu der gebeugten Haltung und dem mühsamen, alt gewordenen Gang passen die Hände: Lang und schmal, knorrig verbogen sind die Finger, die bläulichen Venen liegen wie Perlenschnüre unter der Haut, knotig verdickt sind die Gelenke. In diesen Händen, mit denen Grete Sultan seit mehr als neunzig Jahren Klavier spielt, konzentrieren sich ihr Ausdruck und ihre Kraft, ihre Sprache, Mimik und Gestik.

Sie lächelt versonnen. Langsam, doch stetig kehren Erinnerungen zurück, Erinnerungen an schon lange vergangene Zeiten, an Erzählungen aus noch länger vergangenen Zeiten. Erinnerungen an den Vater und die Mutter, von der sie auch im hohen Alter mit dem vertrauten Kosenamen spricht: »Da waren so viele Pianisten in meiner Familie, die kannten alle meine Mutti!«3 Grete beginnt zu erzählen, immer weiter wandern ihre Gedanken zurück.

Die mütterliche Linie. Jacob und Emmy Lewino

Grete Sultans Großvater Jacob Lewino entstammt einer Familie, die ursprünglich Levy hieß und »seit mehr als tausend Jahren«4 im Rheinland ansässig ist. Die Familie Levi, später Leoni, aus der die Großmutter Emmeline Leoni hervorgeht, stammt aus der Pfalz.

In beiden Familien werden im frühen 19. Jahrhundert die jüdischen Feste noch feierlich begangen, die alten Traditionen der Vorfahren leben vorerst weiter. Gleichzeitig aber wachsen Gretes Vorfahren mehr und mehr in die bürgerliche Gesellschaft hinein, Thorastudium und Synagogenbesuch werden immer weniger Zeit eingeräumt. Allgemeine Bildung steht in diesen sich der Moderne öffnenden jüdischen Familien mehr und mehr im Vordergrund, vor allem ein ausgeprägtes Interesse für kulturelle Werte und Inhalte sowie die aktive Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Musik. Um gesellschaftlich anerkannt und integriert zu werden, konvertieren zahlreiche Mitglieder der assimilierten jüdischen Familien zum Christentum, viele von ihnen geben sogar ihre Namen auf. Auch in Grete Sultans Familie ist dieser Prozess nachweisbar: Aus den Familien Levy und Levi werden Mitte des 19. Jahrhunderts die Familien Lewino und Leoni.

Emmeline Leoni, ca. 1866

Grete Sultans Großmutter mütterlicherseits, Emmeline Leoni, kommt um 1847 in Mainz als jüngstes Kind des Weinhändlers Leo Levi und seiner Frau Louisa zur Welt. Sie wird Emmy genannt, ist von früher Kindheit an eine »wilde Hummel«5 und erträgt es als Neunjährige nur mit Mühe, dass ihr älterer Bruder Eugen Albert ihr Goethes Wilhelm Meister vorliest – viel lieber will sie sich mit seinen Freunden balgen. So sind Emmys Schulnoten wenig glanzvoll, die Betragensnote ist gar »höchst bedenklich«;6 dabei zeichnen sie ein starkes Temperament und lebhafte Fantasie aus. Schon früh initiiert Emmy Lese- und Diskutierkreise und entzieht sich mehr und mehr dem beengenden Einfluss ihrer Eltern. Die nehmen mit skeptischem Empfinden den unbändigen Drang nach Freiheit und Individualität ihrer Tochter wahr und schicken sie wohl auch aus diesem Grund nicht wie ihre Schwestern aufs Pensionat. Emmy soll weiter in elterlicher Obhut und unter Aufsicht aufwachsen.

Jacob Lewino um 1868

Eines Abends im Jahre 1864 kommt Louisas Neffe, der zwanzigjährige Jurastudent Jacob Levy, zu Besuch, der schon als kleiner Junge ein hochsensibles musikalisches Talent gezeigt und ersten Klavierunterricht erhalten hat. Auch bei der Familie seiner Tante setzt Jacob sich an den Flügel und spielt stundenlang. An diesem Abend verliert »die siebzehnjährige, bildschöne, von Leben sprühende Emmeline ihr Herz für ihr ganzes Leben«7 an Jacob. Als die Liebe der beiden offenkundig wird, verbietet Emmys Mutter ihrem Neffen den weiteren Umgang mit seiner Cousine, die dadurch allerdings nur noch mehr in ihrer Sehnsucht bestärkt wird und bald gelobt, nie einen anderen Mann als Jacob heiraten zu wollen. Der mit Güte und Innigkeit, aber auch mit kritischem Denken und stets hinterfragendem Wesen ausgestattete Jacob wird von Emmy ermutigt, die Konventionen seines frommen, eher altmodischen und kleinstädtischen Elternhauses beiseitezuschieben. So entwickelt er mehr und mehr das freigeistige Denken eines Liberalen, welches sich bis in Erziehung und Wesen seiner Enkelin Grete Sultan hinein fortsetzen wird.

1868 lässt Jacob Levy sich in Alzey als Rechtsanwalt nieder und verfasst während dieser Zeit zahlreiche Gedichte und dramatische Versuche – die literarische Neigung wird in seiner Tochter Coba, Grete Sultans Mutter, weiterleben. Anderthalb Jahre später jedoch kehrt er nach Mainz zurück, denn Emmys Eltern haben endlich ihren Widerstand gegen die Verbindung mit ihrer Tochter aufgegeben. Als Jacob Levy 1869 seine Emmy heiratet, entschließt auch er sich zur Namensänderung, und das Paar heißt fortan Lewino. Jacob und Emmy beziehen in Mainz eine ansehnliche Wohnung, deren Mittelpunkt ein Blüthner-Flügel ist. An ihm spielt Jacob, mittlerweile Richter am Amtsgericht, viele Stunden am Tag, und Hauskonzerte bei den Lewinos werden bald zu regelmäßigen gesellschaftlichen Ereignissen.

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