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Preußen im Jahre 1716. König Friedrich Wilhelm I. hat mit der verschwenderischen Hofhaltung seines Vaters gebrochen. Er gibt das Geld lieber für die Armee aus - namentlich für die Langen Kerls, seine Leibgarde aus lauter Riesen. Keiner von ihnen ist allerdings freiwillig hier; der König hat sie gekauft, gegen Kostbarkeiten wie das Bernsteinkabinett getauscht oder schlicht entführen lassen. So auch den jungen Bauern Gerlach, der eines Morgens nach Potsdam verschleppt wird, wo ihn der König zu seinem neuen Liebling erklärt. Auch Betje, eine groß gewachsene, schöne Bäckerstochter, findet Gefallen an ihm. Während sie sich fragt, wie sie Gerlach näherkommen könnte, hat der König einen grandiosen Einfall: Aus Spargründen beschließt er, seine Riesen zu züchten. Nun machen seine Häscher auch Jagd auf große Frauen, und Betje findet sich plötzlich in offizieller staatlicher Mission in Gerlachs Kammer wieder. Doch der König hat ein, zwei Dinge nicht bedacht - darunter den unzähmbaren Zorn des norwegischen Riesen Henrikson …
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Seitenzahl: 244
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Thomas Meyer
Gewidmet meinem Vater, der sich schließlich doch noch damit anfreunden konnte, dass ich nichts Rechtes gelernt habe.
Das erste Capitel
Das andere Capitel
Das dritte Capitel
Das vierte Capitel
Das fünfte Capitel
Das sechste Capitel
Das siebente Capitel
Das achte Capitel
Das neunte Capitel
Das zehende Capitel
Das elfte Capitel
Das zwölfte Capitel
Das dreizehende Capitel
Das vierzehende Capitel
Das fünfzehende Capitel
Das sechzehende Capitel
Das siebenzehende Capitel
Das achtzehende Capitel
Das neunzehende Capitel
Das zwanzigste Capitel
Das ein und zwanzigste Capitel
Das zwei und zwanzigste Capitel
Das drei und zwanzigste Capitel
Das vier und zwanzigste Capitel
Das fünf und zwanzigste Capitel
Das sechs und zwanzigste Capitel
Das sieben und zwanzigste Capitel
Das acht und zwanzigste Capitel
Das neun und zwanzigste Capitel
Das dreißigste Capitel
Das ein und dreißigste Capitel
Das zwei und dreißigste Capitel
Das drei und dreißigste Capitel
Das vier und dreißigste Capitel
Das fünf und dreißigste Capitel
Das sechs und dreißigste Capitel
Das sieben und dreißigste Capitel
Das acht und dreißigste Capitel
Das neun und dreißigste Capitel
Das vierzigste Capitel
Das ein und vierzigste Capitel
Das zwei und vierzigste Capitel
Das drei und vierzigste Capitel
Das vier und vierzigste Capitel
Das fünf und vierzigste Capitel
Das sechs und vierzigste Capitel
Das sieben und vierzigste Capitel
Das acht und vierzigste Capitel
Das neun und vierzigste Capitel
Das letzte Capitel
Danksagung
Zum Autor
Bibliographie
Impressum
Friedrich Wilhelm der Erste, siebenundzwanzig Jahre alt, König in Preußen und Markgraf von Brandenburg, Erzkämmerer und Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches, saß im Potsdamer Stadtschlosse in seinem Bette und freute sich.
Für diesen Nachmittag war ein neuer Riese angekündigt; ein Sachse aus der Gegend um Wittenberg.
Wittenberg lag an und für sich nicht weit, überlegte der König; zwei, allerhöchstens drei Tagesreisen. Wie hatten seine Leute diesen Riesen so lange übersehen können? Bezahlte er sie denn nicht gut dafür, alle großgewachsenen Männer dieser Welt zu finden und zu ihm zu schaffen? Schließlich suchte er nicht nach Mäusen, die durch jede Ritze entwischen können – er suchte nach Riesen. Und das gewiss nicht erst seit gestern.
Bereits loderte die Wut in Friedrich Wilhelm auf und damit die Frage, an wem er sie auslassen sollte. Doch die Aussicht, schon bald einen neuen Giganten in Empfang nehmen zu dürfen, vertrieb die dunklen Gefühle gleich wieder und ließ in seinem runden Antlitze ein Lächeln aufglänzen.
Er schlug die Decke zurück, entstieg dem Bette, schritt zum mit eiskaltem Brunnenwasser gefüllten Waschtroge hinüber, entledigte sich seines Unterhemdes, benetzte Gesicht, Arme und Brust, entnahm einem emaillierten Seifenfässlein eine wohlriechende Kugel venetianischer Seife mit Lilienöl, Amber und Zibet und wusch sich damit gründlich.
Auf ein Handzeichen trat sein Leibdiener Eversmann, der in angemessenem Abstande gewartet hatte, hinzu und bot ihm ein Handtuch aus feinem, schneeweiß gebleichtem Leinen dar. Friedrich Wilhelm nahm es entgegen, trocknete sich ab und kleidete sich Stück für Stück in seine Officiersuniform. Den Rock ließ er weg; die Arbeit am Schreibtische, mit der er seinen Tag zu beginnen pflegte, erledigte er in Weste und Hemd, über dessen Ärmel er nun Schoner aus Leinwand streifte. Er hatte sie eigens erfunden, nachdem diverse mit Tinte befleckte Hemden hatten entsorgt werden müssen. Schließlich zog er sich, zum weiteren Schutze der Kleidung, einen weißen Schurz über.
Natürlich hätte sich Friedrich Wilhelm jeden Tag hundert neue Hemden leisten können. Er war der König. Doch wohin eine solche Denkart führte, hatte sein Vater Friedrich der Erste eindrucksvoll dargelegt, indem er seinem Sohne Schulden in Höhe von zwanzig Millionen Reichsthalern hinterlassen; angehäuft durch den Unterhalt von vierundzwanzig Schlössern, in denen continuierlich Opern, Maskeraden, Ballette und Concertos stattfanden und eine Vielzahl von Knechten, Pagen, Lakaien und Kämmerern umhereilte – kurz: durch Repräsentation, wie sie zwar üblich, aber auch ruinös war. Deshalb hatte Friedrich Wilhelm, kaum war er König geworden, die Schlösser bis auf deren sechs verkauft, sämtliches Silberzeug vermünzt und den Hofetat rücksichtslos zusammengestrichen. Er regierte, wie er stets gelebt hatte: ausgesprochen sparsam. Allerdings nicht aufgrund von Vernunft oder gar zugunsten des Volkes, sondern einzig dem Militair zuliebe, dem er sämtliche freiwerdenden Mittel zukommen ließ.
Ein munteres Liedchen pfeifend, begab sich der König über den knarrenden Parkettboden in sein Contor hinüber, aus dem, auch dafür hatte Eversmann gesorgt, der Coffee herüberduftete.
»Guten Morgen, Euer Königliche Majestät«, grüßte Ehrenreich Bogislaw von Creutz, Friedrich Wilhelms Geheimsecretair, bereit, die Tagesgeschäfte vorzutragen. Wobei es nach Ansicht des Königes heute nur ein Tagesgeschäft gab.
»Morgen, Creutz. Saget mal, wie groß ist eigentlich der Sachse, den Schmidt heute bringet?«
»Sehr groß, Euer Majestät«, antwortete Creutz, selbst ein großer Mann, was ihn bereits in die Dienste Friedrich Wilhelms geführt hatte, als dieser noch Cronprinz gewesen.
»Wie groß denn genau?«, fragte Friedrich Wilhelm aufgeregt und ergriff die Coffeetasse, um einen eiligen Schluck daraus zu nehmen. »Größer als der neue Venetier?«
Der Venetier Bernardo Petroni war enorm groß: sechs Fuß, sieben Zoll und einen Strich. Das war exact vermessen worden, immer wieder; oft auch mitten in der Nacht, weil der König plötzlich hochfuhr und Gewissheit haben wollte.
»Möglicherweise, Majestät«, antwortete Creutz, der die beachtlichen Körpermaße der Soldaten des Rothen Leibbataillons Grenadier ebenso im Kopfe trug wie die staatlichen Financen, »gemäß Schmidts letzten Informationen handelt es sich um einen annähernden Siebenfüßer.«
»Ein Siebenfüßer!«, riss Friedrich Wilhelm seine hellblauen Augen auf.
»Annähernd, Euer Majestät, annähernd sieben Fuß – gemäß Schmidt«, beschwichtigte Creutz.
»Annähernd sieben Fuß«, flüsterte Friedrich Wilhelm versunken, stellte die Tasse hin und trat zum Fenster, vor dem sich der einundzwanzigste April siebzehnhundertsechzehn nicht entscheiden mochte, ob er nun gewittrig werden wollte oder doch lieber heiter.
Creutz raschelte discret mit seinen Documenten, um die Unterhaltung voranzutreiben.
Friedrich Wilhelm wandte sich zu ihm um und fragte angstvoll: »Aber… ist das auch gewiss? Annähernd sieben rheinische Fuß?«
»Bis itzo hat uns Schmidt nur einmal enttäuschet, und Euer Majestät sind bestimmt erinnerlich, was das für ihn bedeutet hatte«, antwortete Creutz.
Friedrich Wilhelm lächelte und nickte. Er war durchaus erinnerlich, wie sein Bambusrohrstock wieder und wieder auf den Hoflieferer Schmidt niedergefahren, nachdem klargeworden war, dass der Riese, den dieser mit seiner Bande gefangen, ganze fünf Zoll kleiner war als angekündet.
Hernach war an der Zuverlässigkeit von Schmidts Evalvationen nie mehr etwas zu beanstanden gewesen.
Gerlach hatte von den Commandos gehört, die im Auftrage des preußischen Königes das benachbarte Ausland nach großgewachsenen Männern zu durchstreifen pflegten.
Auch hier, im eigentlich verbündeten Kurfürstentume Sachsen, waren angeblich schon Leute aus den Kutschen und den Kneipen geholt worden, und wenn Gerlach jeweils mit seinem Vater nach Wittenberg gefahren war, um das geerntete Korn zur Mühle zu bringen, hatten ihm die Leute lachend zugerufen: »Passe auf, so einen langen Kerl wie dich mag der Preußenkönig!«
Als aber aus dem großen Kinde ein echter Riese geworden, der im Sitzen manch Stehenden überragte, da hatten sie nicht mehr gelacht, sondern Gerlach angeschaut wie einen Sterbenskranken, mit dessen Ableben jederzeit zu rechnen ist.
Der Gutsbesitzer hingegen, dem Gerlachs Eltern als Grundholde verpflichtet waren, hatte eines Tages höhere Abgaben von ihnen gefordert, denn, so hatte er mit einem gutgelaunten Fingerzeige auf Gerlach gesprochen, wo einer mit der Kraft von zween arbeite, erwirtschafte er auch doppelten Ertrag.
Gerlach war fünfzehn, sechzehn und siebzehn Jahre alt geworden und immer größer und breiter, und nichts war geschehen; niemand hatte ihn vom Felde gezerrt und keiner vom Wagen heruntergerissen, und seine Eltern, die noch drei Töchter hatten, alle als Mägde auf fremde Höfe gegangen, hatten sich schließlich gefragt, ob an den Geschichten überhaupt etwas dran sei, der preußische König sammle Riesen für seine Armee.
Doch nun, da Gerlach mit gefesselten Händen im Sattel eines gescheckten Holsteiners saß, unterwegs in nördlicher Richtung zum Höhenzuge Fläming, der die Grenze zwischen Sachsen und Preußen markierte, hegte er keine Zweifel mehr an Friedrich Wilhelms entsprechenden Anstrengungen.
Und sollte er noch welche gehabt haben, so trieben sie ihm Schmidts Banditen, die ihn eine Stunde zuvor brutal beim Melken überfallen hatten, endgültig aus.
»Freu dich auf das Exercieren, Riese!«, rief einer der sieben Räuber. Er hatte eine auffallend hohe Stimme.
»Und auf das Gassenlaufen!«, höhnte ein anderer neben ihm, während er seine Feldflasche entstöpselte.
Weit vorn auf der Landstraße, dem einzigen Zeugnisse menschlichen Wirkens in einer von Wäldern, Hügeln, Wiesen, Hecken und Flüssen beherrschten Umgebung, näherte sich ein Reiter im lockeren Galoppe.
»Ein falsches Wort und es ergehet dir schlecht«, sagte Schmidt; ein schlanker Mann mit schwarzkrausen Haaren, in dessen trüben braunen Augen stets ein mokanter Ausdruck lag.
Er hatte Gerlach bereits darauf hingewiesen, dass ein Fluchtversuch zum Gebrauche der Cavalleriepistole führen würde, die er am Gürtel trug. Davon würde er natürlich absehen; der Riese war viel Geld wert. Aber die Drohung, erschossen zu werden, wirkte eigentlich bei jedem.
Der Reiter, ein älterer Mann mit wehendem Weißbarte, zog an ihnen vorbei, zwei Finger lässig zur Hutkrempe erhoben. Gerlach sah nicht auf.
»Brav«, lobte Schmidt, nachdem die Huftritte hinter ihnen verklungen.
»Ihr habet kein Recht, mich zu entführen«, sagte Gerlach wütend.
Es waren die ersten Worte, die er von sich gab, seitdem er sich in der Gewalt von Schmidt und seinen Briganten befand, abgesehen von den erschrockenen Flüchen, die seine Gefangennahme begleitet hatten.
»Das stimmet«, bestätigte Schmidt. »Aber wir tun es trotzdem.«
»Ihr seid Banditen!«, rief Gerlach und zerrte vergeblich an seiner Fessel herum. Er würde die kunstgerechten Knoten niemals aufbekommen, selbst wenn man es ihn versuchen ließe.
»Auch das ist richtig«, sagte Schmidt, »berufsmäßige sogar.«
Die Männer lachten.
»Grobiane, die sich nie waschen und für ein paar Thaler alles machen!«, fügte der mit der hohen Stimme vergnügt an.
»Ich werde euch Kerlen den Hals umdrehen!«, rief Gerlach.
Wieder lachten alle.
»Das hingegen ist falsch«, entgegnete Schmidt väterlich, indem er einen Kanten Brot aus seiner Tasche holte. »Vielmehr wirst du ab morgen eine Uniform tragen und dem Preußenkönige dienen.«
»Niemalen!«
»Doch, gewiss. So machen es alle, die wir zu ihm bringen. Und die anderen, nun ja …«, sagte Schmidt und biss in sein Brot, »… die sind tot.«
»Ins Rad geflochten«, sagte der Räuber neben Gerlach obenhin.
»Noch vor dem Frühstücke aufgehänget«, wandte sich der vor ihm um und spuckte abermals aus.
»Nun, mein Lieber«, sagte Schmidt mit vollem Munde, »ich weiß nicht, wie du es siehest … aber auf mich machet deine Situation einen eher ausweglosen Eindruck.«
Gerlach musste ihm recht geben.
»Was denket Ihr, Creutz …«, fragte Friedrich Wilhelm mit gespielter Betroffenheit, während er seinen Federkiel zuspitzte, »… werden wir wieder Post aus Kursachsen erhalten?«
Der König bekam regelmäßig Post aus dem Kurfürstentume Sachsen. Auch aus Hessen, Hannover, Mecklenburg und Schlesien.
Es waren Bitten, die Entführungen großer Männer einzustellen, falls sie, was man nicht hoffe und eigentlich auch nicht glaube, tatsächlich in der Verantwortung von Friedrich Wilhelm lägen, dem Hochverehrtesten, Allergnädigsten, Unüberwindlichsten, Durchlauchtigsten Könige in Preußen.
Später waren es Aufforderungen und schließlich Kriegsdrohungen, was Friedrich Wilhelm jedes Mal als persönlichen Insult auffasste.
»Gut möglich, Euer Majestät«, sagte Creutz.
Er hatte die Briefe jeweils abends im Tabakscollegium vorzulesen, wo der König und seine Gäste herzhaft über die Worte seiner Amtscollegen lachten und sich lustige Repliken aussannen. Friedrich Wilhelm freute sich daher schon auf das nächste Schreiben.
In der Hoffnung, es sei vielleicht bereits gekommen, zeigte er auf die Documente, die Creutz auf den Tisch gelegt, worunter auch ein Couvert, und fragte mit einem kleinen Aufnicken des Kinnes: »Was habet Ihr da mitgebracht?«
»Ein Schreiben von Professor von Gundling, Euer Majestät.«
»Was will der Tintenkleckser?«, fragte der König.
Creutz brach das Siegel, entfaltete den Brief und las. »Er suchet an, die Berliner Ritter-Academie wiederzueröffnen und ihn erneut als Vorsitzenden zu dingen«, sagte er schließlich und faltete das Schreiben wieder zusammen.
»Aber er ist doch in Pommern unterwegs, als Landesvisitator?«
»Nicht mehr. Er ist letzte Woche zurückgekehret.«
»Und einen Bericht hat er nicht mitgesandt?«
»Nein, Euer Majestät.«
Der König überlegte.
»Antwortet ihm, Wir gehen auf sein Begehren ein«, sagte er dann, in den Pluralis wechselnd, wie immer, wenn er sich officiell ausdrückte.
»Majestät?«
»Nun machet schon! Saget es ihm so und bestellet ihn für übermorgen Abend anhero!«
»Selbstverständlich, Euer Majestät.«
»Dann werden Wir itzo die Truppen besichtigen.«
»Jawohl.«
Friedrich Wilhelm ging in sein Gemach, wusch sich die Hände, entledigte sich der Ärmelschoner und tauschte den Schurz gegen den blauen Officiersrock aus bestem Tuche, nachdem er sich von Eversmann eine schwarz-silberne Escarpe um den fülligen Leib hatte schlingen lassen. Dann setzte er sich die kleine, von seinem Leibdiener frühmorgens frisch gepuderte Perücke mit dem von Taft umhüllten Zopfe aus schwarzem Frauenhaar auf das kurzgeschnittene eigene rotblonde und darauf wiederum seinen goldbetressten Officiers-Dreispitz.
Vor dem großen ovalen Spiegel, in den er zur Prüfung seines Tenues blickte, stellte er wieder einmal fest, dass er noch immer seine weiße, zarte Haut besaß, die trotz allen ölgetränkten Sonnenbädern einfach kein soldatischeres Aussehen annehmen wollte. Er sah noch immer aus wie ein gepuderter Französling.
Doch das vermochte ihn heute nicht zu betrüben. Denn heute kam ein neuer Riese, annähernd sieben Fuß lang, sieben Fuß! Eine Rarität, jahrelang unausgewittert, die nun in den ehrenvollen Dienst der preußischen Armee eintreten würde.
Und als wollte auch der Himmel seine Freude darüber bekunden, drang nun die Sonne durch die Wolken und goss ihr Licht über Potsdam aus.
Nachdem der König die angetretenen Grenadiere besichtigt hatte, wobei er auch ihre Hände und ihre Hälse auf deren Sauberkeit hin zu prüfen pflegte, sie fragte, wie alt sie seien, wie lange sie schon dienten und ob sie richtig Löhnung und Brot bekämen, unterwies er die Männer zwei Stunden lang in den sechs gleichmäßigen Tempi, in denen der Ladestock in den Lauf der Flinte und wieder heraus zu bringen war.
Danach kehrte er zurück ins Schloss, wusch sich die Hände, stieg in seine knielangen Reitstiefel und unternahm, nachdem er sich abermals die Hände gewaschen, von einem Adjutanten begleitet seinen morgendlichen Ausritt.
Während ihre beiden Pferde gemächlich nebeneinander hertrotteten und hin und wieder mit einem Ohre wackelten, constatierte Friedrich Wilhelm, dass sich Potsdam gewaltig verändert hatte, seit er drei Jahre zuvor an der Spitze seines Leibbataillons in das Fischerdörflein an der Havel eingerückt war und im Stadtschlosse Quartier bezogen hatte. Die sechshundertvierzig Riesen des Bataillons wurden in den Fachwerkhäusern jener Bürger einquartiert, deren Stellung oder Vermögen nicht ausreichte, um sie vor dieser Maßnahme zu verschonen.
Unmittelbar danach hatte der König begonnen, Potsdam zur Garnisonsstadt auszubauen. Er ließ die ältesten der schilfbedeckten Häuser niederreißen und neu errichten sowie überall Öllaternen aufstellen, die in Berlin abmontiert worden waren. Und weil er vor dem Schlosse einen Exercierplatz haben wollte, ordnete er an, den Lustgarten zu planieren, den sein Großvater Friedrich Wilhelm von Brandenburg einst dort angelegt hatte; im Ansinnen, damit gegen den Garten von Versailles antreten zu können. Die Boskette und Broderien wurden ausgerissen, die Statuen eingeschmolzen und zu Canonen gegossen.
Der König und sein Adjutant kamen an einer der zahlreichen Baustellen vorbei, wo gehämmert und gesägt, gespachtelt und geschliffen, geflucht und gezotet wurde, derweil vor der Bandfabrique gegenüber ein Wagen mit Kisten voller Zopfbänder für die Armee beladen wurde. Es ging sichtlich vorwärts mit Potsdam.
Und doch, etwas bedrückte Friedrich Wilhelm.
Ihm war, als wichen ihm die Menschen aus.
Solche, die ihm entgegenkamen, verschwanden plötzlich in den Seitenstraßen.
Andere kehrten auf der Stelle um.
Oder eilten in eine Schenke.
Und dieses weinende Kind da – zeigte es nicht auf ihn?
Als schließlich ein altes, schiefes Männchen dahergeschlurft kam und, des Königes zu Pferde ansichtig, voller Leben geriet und einen Sprung in die nächste Gasse hineinmachte, da wollte es Friedrich Wilhelm genau wissen.
»Holet den da mal herbei«, sagte er zum Adjutanten.
Der nickte, spornte sein Pferd, preschte um die Ecke und kam gleich darauf zurück, dem Alten von oben die flache Klinge seines Säbels in den Rücken haltend und ihn dieserart vor sich herschiebend.
»Warum ist Er vor Uns davongelaufen?«, fragte der König, nachdem er aus dem Sattel gestiegen.
Das Männchen hatte seinen Hut abgenommen und starrte auf den mit Excrementen, Küchenabfällen und weiterem Unrate bedeckten Boden. Es stand so krumm da, als würde es sich demnächst ganz hinunterbeugen und etwas Ekelhaftes aus dem Schlamme heraufklauben wollen.
»Gebe Er Antwort!«, donnerte Friedrich Wilhelm.
»Weil …«, flüsterte das Männchen; man hörte es kaum, da hinter ihm ein Schwein grunzend die Straße querte.
»Ja? Bitteschön?«
»Weil ich mich fürchte, Euer Königliche Majestät.«
»Wovor?«
»Vor Euch … Euer Königliche Majestät«, hauchte das Männchen und hielt sich an seinem Hute fest.
»Fürchten? Aber … weshalb?«
Der König war ehrlich interessiert. Doch das Männchen gab keine Antwort mehr. Es stand bloß gebückt da und schauerte.
Einen Moment lang geschah nichts.
Dann rief der König: »Er solle Uns nicht fürchten, lieben solle Er Uns!«
Das Männchen schien keinen Weg zu finden, dieser Aufforderung auf die Schnelle nachzukommen; es krümmte seinen Rücken noch mehr und sah jetzt aus wie ein morsches Tischchen.
»Sackerment, sage Er etwas!«, brüllte der König.
Nun war das Männchen ganz erstarrt; es zitterte nicht einmal mehr.
Der König hob seinen Rohrstock, den er in seiner Satteltasche mitgeführt, und begann, auf das Männchen einzuprügeln. Es schrie auf, blieb aber stehen in seiner Gebücktheit, und der König hieb weiter auf seinen kleinen Rücken hinunter, wieder und wieder; rief, er wolle geliebet werden, nicht gefürchtet, dazu gebe es keinerlei Grund! Keinen!
Der Adjutant sah sich das alles ganz ruhig vom Pferde aus an, die linke Hand lässig auf den Oberschenkel gelegt.
Schließlich brannte dem Männchen der Rücken und dem Könige der Arm.
»Euer Königliche Majestät, ich werde Euch lieben, ich werde Euch ja lieben«, sprach das Männchen in den Dreck zu seinen Füßen hinab.
»Gut«, sagte der König.
Geliebt zu werden, war ihm wertvoll.
Er bestieg sein Pferd und machte sich, anstatt die übliche Route zu vollenden, auf den Weg zurück zum Schlosse. Denn womöglich wartete dort ja bereits der neue Riese auf ihn.
Zwanzig warme Krapfen schwebten zügig durch die Backstube.
Betje Jacobs, die das Blech trug, auf dem sie lagen, bemühte sich, ihre Füße so voreinanderzusetzen, dass sie sich nicht gegenseitig in die Quere kamen oder, was noch häufiger vorkam, irgendwo hängenblieben.
Doch alles ging gut, und sogar die Schwelle der Verbindungstür, üblicherweise einer von Betjes schlimmsten Widersachern, gewährte ihr heute freien Zutritt zum Verkaufsraume.
Betje stellte das Backblech auf dem Tresen ab, wo es einen Sonnenstrahl auffing.
»Sind noch alle drauf?«, fragte ihr Vater nachsichtig, der Conditormeister Gerd Jacobs, Sohn eines niederländischen Einwanderers.
»Ja, vader«, sagte Betje stolz.
Ein dicker junger Mann, dem ihre Mutter nebenan gerade laut plaudernd ein großes Stück Bienenstich in den Korb legte, starrte Betje an.
Viele Männer starrten Betje an. Das lag zum einen an ihrer Größe. Betje war eine Riesin.
Zum anderen lag es an ihrem Liebreize. Betje war eine ausnehmend schöne Riesin.
Und eine traurige.
Fand ein Mann den Mut, sich ihr huldreich zu bezeigen und sie zu einem Spaziergange aufzufordern, so wirkten die beiden dabei wie Mutter und Sohn, weswegen diese Ausflüge jeweils kurz und ohne Wiederholung gerieten.
Und so brachte Betje Jacobs, zwanzig Jahre alt, sechs Fuß und zwei Zoll groß, ebenso warmherzig und hübsch wie ungelenk, mit blutorangefarbenem Lockenhaare, auf dem eine weiße Leinenhaube saß, und langen Augenbrauen, die wie die Schwingen eines segelnden Raubvogels über ihren apfelgrünen Augen standen, ihre Tage in der Backstube ihrer Eltern zu, schleppte Säcke mit Zucker und Mehl, knetete Teig, rollte ihn aus, schob Bleche in den Ofen, zog sie wieder heraus, trug sie, falls sie nicht damit stolperte, zu ihren Eltern hinüber und fragte sich, ob es wohl irgendwo auf der Welt einen Mann für sie gebe; einen, der so groß war wie sie oder gern noch etwas größer.
Die Riesen des in Potsdam in Garnison liegenden Leibbataillons erfüllten diese Bedingung zwar mit Leichtigkeit.
Doch erstens kamen viele der Langen Kerls, wie die Potsdamer sie nannten, von weit her und sprachen für Betje vollkommen fremde Sprachen.
Zweitens waren sie Soldaten. Sie benötigten für alles eine Erlaubnis und konnten nicht einfach so eine Frau ansprechen und ausführen.
Und drittens gehörte die Familie Jacobs der Glaubensgemeinschaft der Mennoniten an. Und damit waren Betje und ihre Eltern sowohl dem Friedenszeugnisse wie der Gewaltlosigkeit verpflichtet.
Sie an der Seite eines Soldaten, das war so wahrscheinlich wie eine Allianz zwischen Österreich und Frankreich.
Betje trug das leere Blech zurück und gab ein tiefes Seufzen von sich.
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