Rechtsruck - Michael Lösch - E-Book

Rechtsruck E-Book

Michael Lösch

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Beschreibung

Ein Mann muss feststellen, dass er über Nacht zu einem "neuen Rechten" mutiert ist, aber nicht weil er, sondern die Welt um ihn herum sich geändert hat. Berlin-Kreuzberg 2017: Deutschland befindet sich mitten in einer Flüchtlingskrise. Eine neue rechte Partei wird immer stärker. Lars Rudorf, ein gestrandeter Intellektueller, zieht aus Liebe zur Literatur einen Lesekreis auf, der sozusagen als Spiegel der Gesellschaft bald zum Schauplatz politischer und zunehmend auch persönlicher Auseinandersetzungen gerät. Das Erstarken der Partei wirkt immer mehr in den Alltag der Figuren hinein. Ohne ein überzeugter Anhänger der Partei zu sein, sympathisiert Lars mit einigen Programminhalten und das bleibt nicht ohne Folgen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Über den Autor

Danksagung

1.

Brigitte Erlenwein und ihr Mann Hubert saßen beim Abendessen. Es gab nur kalte Sachen. Das Stillleben aus Brot- und Käsesorten, Schinken, Tafelwein, Gurken und Salat verteilte sich gleichmäßig über den Tisch und wirkte harmonisch. Der Verlauf des Abendessens hingegen war es nicht. Davon zeugten ein leerer Platz, ein unsauberer Teller und eine noch halbvolle Flasche Bier. Patrick, ihr Sohn, hatte es vorgezogen, die Tischgesellschaft vorzeitig zu verlassen. Die Aussprache – oder vielmehr der Versuch einer solchen – hatte gerade einmal zwei Brotscheiben gedauert. Danach war Patrick in seine Kellerwohnung verschwunden und hatte ein Luftloch aus Rat- und Sprachlosigkeit zurückgelassen. Eine Zeit lang waren nur Besteckklänge zu hören. Brigitte empfand sie als außergewöhnlich grell. Sie kratzten und schabten regelrecht an ihrem Gemüt herum.

„Jetzt fall doch nicht immer gleich aus allen Wolken, du weißt doch allmählich, wie er tickt. Tu doch nicht jedes Mal so, als ob das eine Riesenüberraschung wäre.“

Um seine Worte zu bekräftigen, deutete Hubert mit dem Messer auf den leeren Platz, bevor er weiterkaute und sein Blick sich auf dem Tisch verlor.

Brigitte belegte ihr Brot mit Wurst und Käse zugleich. Wie konnte es sein, dass ihr eigen Fleisch und Blut so redete und dachte? Gerade nahm sie in der Zehnten im Deutschunterricht Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches durch. Engagiert und mit Elan waren ihr erst heute wieder die Finger entgegengeschnellt, hatten den braunen Ungeist jener Tage regelrecht in der Luft aufgespießt und zerrissen, und dann das hier, vom eigenen Sohn.

Brigitte sah ihrem Mann beim Kauen zu. Seine fast schon stoische Ruhe wirkte regelrecht provokativ.

„Sag mal, findest du das in Ordnung, was er da gerade abgelassen hat? Hast du überhaupt zugehört?“

„Ja, ich habe zugehört, und ich denke, dass wir das nicht überbewerten sollten. Außerdem, was sollen wir tun? Er steht ja mit seiner Meinung weiß Gott nicht allein.“

„Das ist ja das Schlimme.“

„Dann rede doch nochmal mit ihm.“

Hubert kaute jetzt um eine Spur trotziger. Er neigte zum hörbaren Kauen. Damit stapfte er gerne in der Akustik herum. Das war so seine Art und es gehörte zu einem guten ehelichen Abendessen mit Schweigepausen dazu. Jetzt aber klang es so, als marschierten seine Gedanken von dem, was ihr auf den Nägeln brannte, einfach fort.

Mit Patrick reden? Das stellte sich ihr Mann offenbar recht einfach vor, aber das, worum es ging, war nicht einfach. Im Gegenteil, es war hochbrisant. Toleranz und Offenheit, die Fundamente des menschlichen Miteinanders, waren gefährdet, ja sie standen regelrecht auf dem Spiel. Was sich gerade in Deutschland zusammenbraute, machte Brigitte Angst, erst recht wenn es am Abendtisch Einzug hielt, und dann auch noch auf eine Weise, wie es Patrick soeben getan hatte.

„Du bist gleich noch unterwegs?“ Hubert goss sich zur Abwechslung puren Wein ins Glas, ohne ihn mit Mineralwasser zu verdünnen.

„Ja, der Lesekreis, hab ich dir doch erzählt.“

„Ach so, ja, dann lest mal schön.“

Brigitte lag eine spitze Antwort schon auf der Zunge, aber sie sagte nichts.

„Ich habe mit meinen Bauvorschriften schon genug Lesestoff, sonst würde ich gerne mitkommen.“ Mit diesem überflüssigen Hinweis auf seine Stellung als Gruppenleiter in der Bezirksbauverwaltung popelte Hubert sich einen kleinen Speiserest aus dem bartgerahmten Gesicht.

Das Thema Lesen hatten sie zur Genüge durch. Wie gern hätte Brigitte auch ihre Ehe zu einem Lesekreis gemacht, wie oft hatte sie es schon mit Lektürevorschlägen versucht. Zuletzt mit Taxi von Karen Duwe, war es doch einfach geschrieben und gut zu lesen. Wochenlang hatte der Roman aufgeklappt auf Huberts Nachttisch gelegen. Der Anteil an gelesenen Seiten hatte schnell stagniert, ganz so, als habe er von sich aus die Gewichtszunahme verweigert. Dann war das Buch wieder im Regal gelandet, ein Bücherrücken unter vielen. Wann es wieder einmal hervorgezogen werden würde, war ungewiss. Mittlerweile hatte sie ihrem Mann den literarischen Hungerstreik verziehen. Romane waren einfach nicht sein Ding. Hubert war nun einmal ein Freund des Faktischen. Mit Fakten kam man gut durch Diskussionen und durchs Leben. Fakten waren Vorfahrtsschilder für den Verstand und für die Meinung.

Aber immerhin, die Suche nach Menschen, die wie Brigitte zwischen Gedrucktem und Literatur zu unterscheiden wussten, schien von Erfolg gekrönt. Auf „Neighbour-Hut“, einem Portal für Nachbarschaftskontakte, war sie auf eine vielversprechende Anzeige gestoßen. Heute Abend sollte das erste, wenn man so wollte, konstituierende Treffen stattfinden.

Hubert begann den Tisch abzuräumen. „Weißt du, ich würde das mit Patrick wirklich nicht so dramatisch sehen. Er hat es eben nicht leicht, jetzt, wo er seine Beine wieder unter unseren Tisch strecken muss, und das mit Anfang dreißig.“

Brigitte seufzte. Da war und blieb etwas dran. Ihr Sohn hatte bis vor kurzem in einer WG gelebt. Seine beiden Mitbewohner waren ausgezogen, und für ihn allein war die Miete nicht zu stemmen. Dafür hatte es immerhin mit der Umschulung zum Kfz-Mechatroniker geklappt. Patrick war mit seinem Job in der Welt des Schraubens und Ölens wohl ganz zufrieden.

Brigitte hatte noch ein paar Minuten Zeit, bis sie aufbrechen musste. Ihre Garderobe war leger, eine hellbeige Strickjacke zur Jeans und ein ganz klein wenig Makeup. Heute Abend würde es mehr um Inhalte als um Äußerlichkeiten gehen, das sollte man ihr auf Anhieb ansehen. Sie nahm die einreihige Perlenkette, tauschte sie aber wieder gegen die Kette aus kleinen Strandmuscheln, die ihr Sohn als Zehnjähriger bei einer Reise ans Schwarze Meer angefertigt hatte. Stundenlang und ganz vorsichtig hatte er mit einem dünnen Nagel kleine Löcher in die nicht einmal fingernagelgroßen Muscheln gemeißelt und sie an einer Nylonschnur aufgereiht. Brigitte liebte die Kette noch immer, so wie sie ihren Jungen geliebt hatte, als seine Gedankenwelt noch unschuldig gewesen war.

„Und … was machst du heute Abend noch?“

Brigitte musste laut rufen, wie immer, wenn Hubert den Abwasch von Hand tätigte. Die Spülmaschine benutzten sie nur zweimal die Woche, wegen der Nachhaltigkeit und der Umwelt.

„Mal sehen.“

„Mal fernsehen, meinst du wohl.“

„Vermutlich ja, vielleicht finde ich wieder einen alten Tatort auf YouTube, einen aus den siebziger Jahren“, kam es zwischen Tellerklappern zurück, “angenehm langsam und mit längeren Momenten, so wie das Leben früher war.“

Hubert klang auf einmal ein wenig müde. Sie wünschten sich noch einen schönen Abend.

2.

Lars Rudorf trat kräftig in die Pedale. Der Radweg war angenehm breit und er kam gut voran. Er würde sich leicht verspäten. Die Montage des neuen Fahrradsattels hatte länger gedauert als erwartet.

Heute Abend würde er einen, seinen Lesekreis aus der Taufe heben, zumindest das Fundament dazu legen. Bislang hatte Lars mit den Interessenten nur per E-Mail kommuniziert, heute Abend würde er ihnen persönlich begegnen und man würde sich austauschen, wie man sich das Für- und Miteinander so dachte.

Das letzte Mal hatte er sich vor drei Jahren in einem Lesekreis versucht. Zwei Platzhirsche hatten damals das Kommando geführt, ganz besonders, was die Auswahl der Themen und Autoren betraf. Wenn man es genau nahm, war es nur einer gewesen, der andere hatte sich als wandelnde Parallelmeinung entpuppt. Die restlichen Teilnehmer kamen nur wenig zu Wort, gefühlte siebzig Prozent der Debatten über Stil und Prosa wurden von den beiden bestritten.

Dieses Mal würde Lars die Zügel selbst in die Hand nehmen, zumindest für den Anfang, danach würde man sehen.

Von den insgesamt elf Interessenten, die sich auf seine Anzeige in Neighbour-Hut gemeldet hatten, hatte er vier in die engere Wahl gezogen, bei den anderen passte es nicht so richtig. Die Frage nach den Lieblingsautoren und –autorinnen hatte beträchtliche Geschmacksunterschiede bis hin zur Unüberbrückbarkeit zutage gebracht. Hinter seichten Geschmäckern verbargen sich meistens auch seichte Charaktere, und auf die hatte Lars keine allzu große Lust.

Einer hatte angefragt, ob er noch jemanden mitbringen dürfe. Dieser Jemand war eine jüngere Frau. Auch sie schien literarisch eher anspruchslos zu sein, sei aber für gute Anregungen immer dankbar, hatte sie Lars per E-Mail wissen lassen. Dass sie aus ihrem übersichtlichen Geschmack erst gar keinen Hehl machte, empfand Lars als ausgesprochen angenehm. Bescheidenheit und Demut zeugten von sozialer Kompetenz, waren ihr Rückgrat sogar. Mit ihren sechsunddreißig Jahren war sie die Jüngste von allen.

Die Idee vom eigenen Literaturkreis kam zum jetzigen Zeitpunkt nicht von ungefähr, war Lars doch in eine private Flaute geraten. Zwei gute Freunde hatten erst vor kurzem das Weite gesucht, einer, um mit seiner Hamburger Freundin zusammenzuziehen, der andere führte nach dem Tod seines Vaters in der Nähe von Augsburg den elterlichen Getränkegroßhandel weiter. Ihr Weggang hinterließ eine Riesenlücke. Zwei wichtige Zuhörer für fast alle großen und kleinen Themen waren fort, aber mit ein bisschen Glück würde der neue Lesekreis wenn schon nicht für Ersatz, so doch für Entschädigung sorgen. Stimmten literarische Vorlieben überein, so stimmte nicht selten auch so manches andere. Wer einen wachen Blick auf Themen und Charaktere zwischen Buchdeckeln pflegte, der tat dies nicht selten auch für das wirkliche Leben und die wirkliche Welt.

Am nettesten würde es natürlich werden, wenn er auf diesem Wege eine Frau kennenlernte. Von seiner letzten Beziehung, Britta, war er seit zwei Jahren getrennt. Sie lebte jetzt in Köln, und sie telefonierten zwei Mal im Jahr miteinander. Zuletzt hatten sie sich in Berlin in einer Kunstgalerie getroffen, die eine entfernte Freundin von ihr erst kurz zuvor eröffnet hatte. Die Erinnerung an die Skulpturen und Bilder, die das „Wie geht´s denn noch so“ eingerahmt hatten, waren in ihm längst verblasst. Dass sie in ihrer neuen Beziehung auch nicht so richtig glücklich zu sein schien, hatte sich ihm schon deutlicher eingebrannt, und ob sie es jemals werden würde, erschien ihm nach dem Treffen umso fraglicher.

Die Liebe zur Literatur war Lars schon in frühester Kindheit eingeimpft worden. Seine Eltern besaßen eine Apotheke in einem kleinen Eifelstädtchen. Anders als der Vater, zu dessen Lektüre eher Rezepte und die Rundbriefe der Apothekerkammer gehörten, las seine Mutter zu Hause viel, nach Feierabend und besonders an den Wochenenden. Wenn er, als er noch klein war, sich zu ihr setzte und sie ihn beim Lesen wie eine Katze kraulte, übertrugen sich ihre Ruhe und Entspanntheit sofort auf ihn. Noch bevor er selbst lesen konnte, hatte er gespürt, dass ein Buchdeckel eine Tür zu neuen geheimnisvollen Welten sein konnte. Immer wieder hatte er die Bücherrücken bestaunt, wenn er, was oft vorkam, allein zu Hause war. Manche Titel übten eine seltsame Faszination auf ihn aus, so dass sie ihn zu eigenen Phantasien animierten: Früchte des Zorns, Der große Regen. Da wuchs also der Zorn direkt aus dem Boden heraus. Er musste lange Stacheln und viele dicke und krautige Blätter haben, der Zorn. Oder rankten sich Blattwerk und Stiel zur bösartigen Fratze?

Die Bücher standen weit oben im Regal, waren im wahrsten Sinne des Wortes noch zu hoch für ihn. Dennoch begriff er schon als Kind intuitiv, dass hinter ihren Rücken mehr verborgen sein musste, als seine gleichaltrigen Mitschüler ihm geben konnten, wenn sie mit Cola-Dosen auf dem Schulhof herumkickten und die Rangordnung über die Körperkraft ausmachten.

Auch für seine Mitschülerinnen war er als praktizierender Stubenhocker nicht gerade sexy gewesen. In den Pausen und in der Disco pflegten er und das weibliche Geschlecht einander in beiderseitigem Respekt in Ruhe zu lassen.

Die Ampel zeigte rot, ein Kinderwagen schob sich auf den Zebrastreifen. Lars’ Blick zurück, ob nicht etwa ein Polizeiwagen hinter ihm war, geriet einen Augenblick zu lang. Er konnte noch im letzten Augenblick bremsen und nahm den Blick der jungen Mutter zum Anlass, doch etwas mehr auf das Spiel der Ampelfarben zu achten.

Letzten Endes hatte er dann doch Geschichte und nicht Literaturwissenschaften studiert. Auch das hatte natürlich mit Büchern zu tun, waren doch in den häuslichen Regalen nicht nur Romane, sondern auch historische Werke zu finden. Sein Großvater, an den Lars kaum noch Erinnerungen hatte, war Lehrer gewesen.

Ein Geschichtsbuch Von der Urzeit und von alten Völkern hatte es ihm als Kind besonders angetan. Es war im sogenannten historischen Präsens geschrieben, was sein kindliches Lesevergnügen enorm steigerte.

„Im ganzen Land ist er ruhelos unterwegs, kein Denkmal, keine Kulturstätte darf dem Kaiser entgehen“, so war dort über Marc Aurel zu lesen. „Nur ein Ausruhen von der Mühsal des Daseins ist der Tod“, so lauteten angeblich die letzten Worte des römischen Imperators. Dazu hatte das Buch mit spannenden Bildern aufgewartet, wodurch sich Lars auf eine fast spielerische Weise erschloss, welch ein gewaltiger Roman die Historie doch war.

Seine akademische Laufbahn war dennoch alles andere als geradlinig verlaufen. Zunächst hatte er ein paar Semester Geschichte und Englisch auf Lehramt studiert, bis ihm ein Filmdrama über eine sensible Junglehrerin jegliche Lust am Lehrerberuf verdarb. Die Bilder von aggressiv herumflegelnden Schülern gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf und verdichteten sich zunehmend zu wahren Horrorszenarien. Am Ende konnte er sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen, warum ausgerechnet er für nagellackierende Girlies und pubertierende Halbstarke so etwas wie eine Respekts-, geschweige denn Autoritätsperson abgeben sollte.

Er sattelte um auf Geschichte und promovierte über das Thema „Der Einfluss von Wahrsagerei auf den Ausgang von Schlachten in der frühen Neuzeit“, was ihm aber kaum akademische Türen öffnete. Die Hochschule der Bundeswehr winkte ab. Ein historisches Forschungsinstitut schien zunächst interessiert, doch zu guter Letzt kam ihm die Quote in die Quere.

Einige Jahre hatte er an seiner alten Universität Vorlesungen über Möglichkeiten und Grenzen einer vergleichenden Geschichtsforschung gehalten, bis ihn der Lehrbetrieb mit all seinen Macht- und Selbstdarstellungskämpfen allmählich zu langweilen begann. Auch ein solides Auskommen konnte auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neue Studentengeneration so gänzlich anders tickte als er. Die Unlust auf Menschen, die in Vorlesungen und Seminaren auf ihren Smartphones herumtippten und damit sein Wirken praktisch zur wissenschaftlichen Hintergrundmusik degradierten, nahm mit der Zeit immer stärkere Ausmaße an. Eigentlich hatte es nur noch eines konkreten Anlasses bedurft, um sich mit ein paar Gläschen Abschiedssekt aus dem Staub zu machen.

Dieser kam gleich zweifach und nahezu zeitgleich daher.

Der erste war ein Fall von Mobbing. Es war um einen Fachartikel gegangen. Was unter Wissenschaftlern gang und gäbe war, nämlich einen Artikel in möglichst viele Einzelteile zu zerlegen, um so die Anzahl der Veröffentlichungen marketingwirksam zu steigern, tat auch er. Außergewöhnlich war nur, dass ihm das als Einzigem angekreidet wurde. „Salamitaktik“ so lautete der Vorwurf, der alsbald in den Dozentenbüros und in den Cafeterien immer größere Runden machte.

Der zweite Anlass war der Tod von Lars Eltern. Sie starben kurz hintereinander, vielleicht, weil der eine ohne den anderen nicht mehr hatte leben wollen. In die anfängliche Trauer mischte sich schon bald Dankbarkeit. Sie hatten ihm einen Mix aus kurzfristig abrufbaren Gelddepots und einer Beteiligung an einer großen Büroimmobilie hinterlassen.

Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als er und sein Vater in Begleitung des Finanzmaklers mit windzerzausten Haaren das Grundstück am Stadtrand von Dresden besichtigten. Es verharrte noch im Dornröschenschlaf des Brachlandes und wartete darauf, von tüchtigen Menschen in einen florierenden Geschäftstempel umgewandelt zu werden. Makler und Prospekt sollten recht behalten. Es lief alles nach Plan. Lars würde für den Rest seines Lebens zwar nicht reich, aber frei von finanziellen Sorgen sein. Während seine Mutter ihm die Liebe zur Literatur eingepflanzt hatte, bescherte ihm sein Vater eine sorgenfreie Zukunft.

Eine Zeit lang reiste er viel, und bald begann er Reiseberichte zu schreiben. Dass sein Name es in angesehene Tagesblätter schaffte und seine Leser nunmehr nicht mehr nur Fachadressaten waren, bescherte ihm eine Befriedigung, wie er sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Mit der Zeit brachte er es sogar noch zu einem Presseausweis. Sein letzter Artikel über eine Wanderung in der Hohen Tatra war in einem konservativen Wochenmagazin erschienen.

Das war also Lars Rudorf, der sich durch den Lesekreis allerlei Neues und vielleicht auch ein wenig Spannendes erhoffte.

3.

Lars stellte sein Fahrrad direkt neben dem Eingang zur U-Bahnstation Viktoria-Luise-Platz ab. Er warf einen letzten Blick auf sich, die Garderobe stimmte: leichter Wolljanker, beige Hose und blank polierte Schuhe.

Das Lokal für das erste Treffen hatte er mit Bedacht gewählt. Im Innern prangten Werbeplakate aus vergangenen Zeiten. Dürkopp-Fahrräder, Birkin-Haarwasser und andere Markenartikel hatte es allem Anschein nach schon zur Kaiserzeit gegeben. Die Plakate schufen gewissermaßen eine Aura bleibender Werte, die von einer Holztäfelung behaglich abgerundet wurde. Es war wie ein ausgelagertes Wohnzimmer und somit für sein Anliegen praktisch und wie geschaffen.

Was für eine Funktion sollte er heute Abend ausüben, welche Rolle sollte er einnehmen? Er hatte es nicht mit Studenten zu tun, von daher wäre es ratsam, nicht allzu sehr zu dozieren, aber das hatte er ohnehin nicht vor. Sein Hang, Vorträge zu halten, hatte seit dem Abschied vom Lehrbetrieb ohnehin deutlich abgenommen, und das war auch gut so.

Als er den leeren Biergarten des Lokals durchquerte, konnte er durch die Glasscheibe eine Frau sehen. Sie schien älter zu sein als er. Ihre dunkelblonde kurz geschnittene Frisur wirkte jünger als ihr Gesicht und war demnach wohl gefärbt. Ihre perlmuttfarbene Strickbluse mit kleinen dunklen Punkten hatte etwas von Stracciatella. Ein Stracciatella-Eis mit Kopf und Gliedmaßen, dieses Bild hatte Lars im Kopf, als die Frau prüfend zu ihm aufblickte. Die Augen hinter der Brille waren groß. Sie verrieten angespannte Wachsamkeit. Lars glaubte aber auch, eine Spur von Betrübnis darin zu entdecken, einen Schimmer von Weltschmerz, der oft und gerne auf Nahrungssuche ging. Die Nase war für ihre Gesichtsgröße um eine Spur zu wuchtig geraten und hatte etwas von einem Rammsporn.

„Brigitte, hallo.“

„Lars.“

Ihr Gesicht versuchte einen freundlichen Ausdruck zustande zu bringen, tat dies aber um eine Nuance zu angestrengt, wie Lars fand. Keine Frage, die erste Begegnung mit dem Lesekreis war ihm auf Anhieb nicht gerade sympathisch, und so konzentrierten sich seine Hoffnungen umso mehr auf den noch unbekannten Rest.

„Schönes Lokal hier, kannte ich noch gar nicht.“

Ja, fand Lars auch, richtig gemütlich, und auch das Essen sei gut.

Im redlichen Bemühen, sich vorzustellen, wie sich mit dieser Frau mehr als nur verkrampfte Gemeinplätze hin und her rangieren ließen, nahm Lars im rechten Winkel an der schmalen Tischseite Platz. Auch wenn er auf einen exponierten Sitzplatz keinen gesteigerten Wert legte, als Initiator des Lesekreises würde er heute dennoch zumindest anmoderieren müssen. Deshalb war die Platzwahl schon wichtig.

Wie ließ sich das Gespräch fortsetzen? Lars kam auf die Speisekarte zu sprechen, die er ganz gut kannte. Er empfahl zwei, drei Pasta- und Fischgerichte.

Mal sehen, vielleicht würde sie später auf seine Anregungen zurückkommen, im Moment eher noch nicht.

Lars bestellte ein Weizenbier und Brigitte orderte eine Weinschorle. Immerhin war es kein Kräutertee. Menschen, die sich den ganzen Abend an Kräutertee und Mineralwasser festhielten, gerieten bei Lars schnell unter Langeweilerverdacht.

„Warst du schon mal in einem Lesekreis?“

„Ach, weißt du, ich bin Lehrerin für Deutsch, unter anderem, da ist mein ganzes Berufsleben ein einziger Lesekreis.“

„Ach so, na das passt doch. Dann ist das für dich ja fast ein Heimspiel.“

„Sozusagen“

Die Frage nach den Lieblingsautoren drängte sich regelrecht auf. Brigitte mochte Honoré de Balzac, seinen Hang zum Melodramatischen, der niemals Selbstzweck sei, sondern hinter dem sich stets Mitgefühl für seine Figuren verberge. Und natürlich Bertolt Brecht. Bei kaum einem anderen Autor gingen die Kraft der Worte und der Mut zu politischen Aussagen eine so vitale Verbindung ein, aber das hatte sie Lars in ihrer E-Mail ja alles schon geschrieben.

Lars las sehr gerne Dieter Wellershoff, der, wie er fand, ebenfalls viel Empathie für seine Figuren übrig hatte, indem er sie schlichtweg der Gnadenlosigkeit aussetzte. Auch dies schuf Mitgefühl und Anteilnahme, quasi über die Bande hinweg, wie beim Billard.

Damit, fand Lars, war immerhin eine erste Schmierölung des Abends gelungen. Jedenfalls schien Brigitte mit seiner Antwort ganz zufrieden zu sein. Sie blickte ihn um eine Spur neugieriger an, sagte aber nichts. Wäre er in ihrer Schulklasse, hätte er dafür bestimmt eine gute Note kassiert.

Als hätten sie sich abgesprochen, erschienen fast zeitgleich die restlichen vier. Den Anfang machte eine gut aussehende Lady in einem weinroten Kleid, das ohne weiteres zu einer Filmpremiere gepasst hätte, aber auch hier im wahrsten Sinne des Wortes eine gute Figur machte. Es passte einfach, wirkte wie ihre zweite Haut, fand Lars. Das Wesen in dem Kleid nannte sich Lara und rollte das R auf südosteuropäische Art, wie Lars es jedenfalls herauszuhören glaubte. Als sie neben Brigitte Platz nahm, strich sie sich mit streichelnder Hand das Kleid über den Oberschenkeln glatt.

Als Nächstes erschien ein strahlender Endsechziger, dem auf Anhieb anzumerken war, dass er sich mindestens zwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahre jünger fühlte. Er trug eine hellgraue Jeans und einen graubraunen Kaschmir-Pulli mit V-Ausschnitt. Seine ergrauten Haare standen leicht ab, fügten sich aber dennoch zu einem stabilen Ensemble zusammen. Eine weinrote Fliege lockerte das Erscheinungsbild auf. Nachdem Lars ihm bescheinigt hatte, dass er hier richtig sei, begrüßte der Neuankömmling die Drei mit einem munteren „Richard“ und schickte jedem Händeschütteln noch ein ausgesprochen melodiöses „Hallohoo“ hinterher.

„Richard, ein schöner Name …“

Richard blickte Lara freundlich an. „Ja, setzt sich zusammen aus reich und hart, aber so hart bin ich eigentlich nicht, jedenfalls nicht immer.“

Ein wohldosiertes, nunmehr schon dreistimmiges Lachen ertönte, dann kamen auch schon die letzten Zwei, ein zurückhaltend wirkender Mann Mitte vierzig und eine schätzungsweise zehn Jahre jüngere Frau mit Bubikopf-Frisur. Sie musste das Nesthäkchen mit dem eher überschaubaren literarischen Horizont sein.

„Michael.“

„Hendrike.“

Damit waren sie komplett. Lars begrüßte noch einmal alle, dann stellte er sich und sein Konzept für den Lesekreis vor: alle lasen ein Buch und diskutierten darüber. Außerdem sollten die Teilnehmer einander Autoren und Bücher vorstellen, etwa durch Inhaltseinführungen und kleine Lesungen, ganz so, als ob sie selbst der Autor beziehungsweise die Autorin und auf Lesereise wären und durch die Buchläden tingelten.

Damit, so fand Lars, hatte er seiner Pflicht als Initiator fürs Erste Genüge getan. Nun sollten die anderen von sich und ihren literarischen Vorlieben erzählen.

Lara lobte kurz Lars’ gutes Konzept, bevor sie auf sich zu sprechen kam. Sie sei selbständige Kommunikationstrainerin und gebe nebenbei Coaching-Kurse. Während sie sprach, strich und zupfte sie mal ihre kupferbraunen Strähnchen, mal ihr Kleid zurecht. Wie es schien, hatte sie viel Übung darin, sich mit wenigen Handgriffen ihr optisches Gesamtkunstwerk zu bewahren. Einen speziellen Lieblingsautor habe sie nicht, meist lese sie Gegenwartsautoren und Neuerscheinungen, gelegentlich greife sie auch zu Reiseschilderungen, etwa von Heine. Sie sei oft unterwegs zu Firmen und Klienten, und wenn sie den ganzen Tag mit Menschen zu tun gehabt habe, freue sie sich abends aufs Lesen. Die Bücher gäben ihr Kraft und Energie. „Auch die kompliziertesten Bücher sind manchmal nicht so anstrengend wie Menschen.“

„Was genau ist eigentlich Coaching? Ich habe das Wort schon oft gehört, aber nie so richtig verstanden.“ Natürlich wusste Lars, was sich hinter dem Begriff verbarg. Es war nur ein Reflex, der ihn zu dieser Frage animierte, der Versuch, noch eine kleine kommunikative Pointe zu setzen. Schließlich kam es ja nicht schlecht an, wenn man sich in Frageform für andere Menschen interessierte.

„Man unterstützt Menschen bei Veränderungsprozessen.“ Lara sah ihn überrascht an, ihr Lächeln wirkte eher professionell als herzlich. Für den Bruchteil einer Sekunde war Lars leicht irritiert, bis ihm klar wurde, dass seine Frage wohl etwas stichelnder als beabsichtigt geklungen hatte. Lara zwinkerte Lars themenbeendend zu, dann war Richard an der Reihe.

Als Rechtsanwalt und Notar, begann er, habe er sich mit so viel trockener Materie und öden Paragraphen herumzuschlagen, da seien literarische Texte ein nahezu zwingender Ausgleich. Er nannte zwei Autoren, die Lars nichts sagten, Michael aber ein leises „Oje“ entlockten: Gerhardt Falkner und Ulrich Peltzer.

„Nicht dein Ding?“

Nein, sie waren absolut nicht Michaels Ding. Peltzers Stil sei ihm einfach zu verknotet, und Falkners Appollokalypse habe er gelesen, die Memoiren eines alternden Galans.

Richard beließ es dabei, dem Harmoniegebot des ersten gemeinsamen Abends zuliebe, wie Lars annahm.

„Du bist doch nicht nur Notar, sondern auch Anwalt. Ist das denn auch so trocken?“ Damit hatte Lara Lars’ Frage vorweggenommen. „Du könntest doch bestimmt ein Buch über deine Fälle schreiben.“

„Na ja, kann schon sein, dass ich irgendwann einmal nicht nur juristisch, sondern auch literarisch schreiben werde. Ich hätte schon ein paar Ideen. Das ist aber alles noch nicht spruchreif.“

„Aber das klingt doch interessant. Kannst gerne mehr davon erzählen“, machte sich Hendrikes Bubikopf zum ersten Mal zwischen Wein- und Biergläsern hindurch bemerkbar.

„Ich könnte schon mit ein paar Anekdoten aufwarten, zum Beispiel als Hausbesetzer zu meinen Mandanten gehört haben. Zum Schirach von Charlottenburg dürfte es aber wohl nicht reichen.“

Damit hatte sich Richard politisch geoutet. Ein alternder Rechtsanwalt, der mit Hausbesetzergeschichten aufwarten konnte, war mit Sicherheit ein Linker, aber warum auch nicht. Auch Lars war der Ansicht, dass nicht alles falsch war, was Linke so den lieben langen Tag von sich gaben.

Sein Blick wanderte zu Hendrike, die am entgegengesetzten Tischende eng wie ein siamesischer Zwilling neben Michael saß. In ihrem Gesicht war die Neugier heimisch. Gerade schien sie aufzublühen. Die ganz spezielle Mischung aus Lachen und Stimmlage begann Lars zu gefallen.

Michael war Kieferorthopäde, und das passte, wie Lars fand. Wenn er nicht gerade etwas sagte, dann schaute er wie ein Arzt, der sich eine Krankengeschichte anhörte. Michael las am liebsten deutsche Autoren, vor allem Wilhelm Genazino und Christoph Hein. Bei Genazino schätze er die Leichtigkeit der Melancholie und bei Hein die Lebensechtheit der Figuren, die sich nicht zuletzt in packenden Dialogen äußere.

Hendrike war Sachbearbeiterin in einem Institut, einer Art von Verband, von dem Lars bislang noch nichts gehört hatte. Auch sie las besonders gerne im Urlaub. Da seien die Bücher ihre ganz persönlichen Reisebegleiter, die jedes Reiseerlebnis abrundeten und vertieften. Manche Bücherrücken würden noch Jahre später von der Reise erzählen, direkt aus dem Regal heraus. „Geht mir ganz genauso“, pflichtete ihr Brigitte bei, deren Gesichtszüge sich zusehends entspannten. Einen ausgesprochenen Lieblingsautor hatte Hendrike, wie Lars von den E-Mails her schon wusste, aber nicht.

„Ich bin ja so dankbar, dass ich mit eingeladen wurde. Ich möchte sehr gerne dazu beitragen, dass sich das Ganze zu einer Begegnung unter Freunden entwickelt“, schloss Hendrike ihre Vorstellung ab.

„Das Wichtigste dafür hast du ja schon getan. Du hast dich auf die Anzeige gemeldet und hast dich auf den Weg gemacht. Dazu gehört auch Mut, das ist nicht selbstverständlich.“ Richard ließ seinem Kompliment noch ein dezentes Winken mit den Fingern folgen. Dadurch rutschte der Ärmel seines Pullovers nach unten und eine dem Anschein nach sehr teure Armbanduhr kam zum ersten Mal zur Geltung. Hatte sie beim Händeschütteln noch eher zaghaft unter dem Ärmelsaum hervor gelugt, so präsentierte sie sich jetzt glitzernd und edel, als wüsste sie selbst um ihren Wert.

Brigitte holte aus einem der Außenfächer ihrer Handtasche eine Pillendose hervor und warf sich eine rötliche Tablette in den Mund. Sie trank den kleinen Rest ihrer Weinschorle aus, dann war sie an der Reihe. Sie war nicht nur Gymnasiallehrerin für Deutsch, sondern auch für Geschichte.

Lars horchte interessiert auf. Vorhin hatte sie ihm nur von Deutsch erzählt. Aber Geschichte? Obwohl seine Passion dafür deutlich abgeklungen war, hatte es für ihn nach wie vor einen ganz persönlichen Stellenwert. Geschichte, das stand noch immer für die Faszination verbürgter Begebenheiten, für einen Fakten- und Mythenschatz, in dem er sich auskannte und in dem er noch immer gerne spazieren ging. Um ein Haar hätte Lars sein Geheimnis gelüftet, aber vielleicht war es besser, damit erst einmal nicht hausieren zu gehen. Akademische Duelle wie seinerzeit an der Uni brauchte er nicht mehr und heute Abend schon gar nicht. So war Lars auch nicht sonderlich böse, als Richard noch einmal das Wort ergriff.

„Oha, Deutsch und Geschichte, eine hochbrisante Mischung, wenn man so die jüngere Vergangenheit betrachtet.“

Damit hatte Richard den Luftraum über der Tischgesellschaft für einen kurzen Augenblick zum Schweigen gebracht. Brigitte tauschte ihren entspannten Gesichtsausdruck wieder gegen eine bedenkliche Miene ein.

„Allerdings, eine brisante Mischung und eine Mischung, die verpflichtet, gerade jetzt, wo Rechtspopulisten schon wieder auf dem Vormarsch sind. Mit einem Populismus der Sprache fängt es an, und wie es aufhört, wissen wir ja.“ Brigitte bewegte die Lippen, als wollte sie das, was sie soeben gesagt hatte, noch einmal lautlos wiederholen, als befänden sich taubstumme Lippenableser am Tisch.

Ja, es sei wirklich kaum zu glauben, was sich zurzeit in unserem Land abspiele, er, Richard, verstehe Gott und die Welt und vor allen Dingen die Wähler auch nicht mehr. Aber er hoffe, dass zumindest hier kein neuer Rechter säße. „Rechte lesen doch keine Romane, zumindest keine guten, oder wie seht ihr das?“ Richard schaute hellwach von einem Teilnehmer zum anderen. Auf Lars blieb sein Blick länger ruhen, den Bruchteil einer Sekunde nur, aber doch lange genug, dass er sich auf unangenehme Weise ertappt fühlte, wenn er auch nicht so genau wusste warum und wobei eigentlich.

Dann endlich kam das Essen. Es befand sich schon im Landeanflug: Salate, Pasta und Geschnetzeltes. Alle schienen es gut getroffen zu haben. Das Treffen begann zu schmecken.

Über das Procedere einigte man sich schnell. Einmal im Monat sollte ein Treffen stattfinden, privat. Alle zwei Monate wollten sie ein gemeinsames Buch lesen, bei den dazwischenliegenden Terminen durften Bücher individuell vorgestellt werden. Die Treffen sollten erst einmal bei Michael stattfinden. Er koche leidenschaftlich gerne. Als Arzt verstehe er was von Rezepten.

Der Rest des Abends gehörte Autoren, Preisträgern und Lesebühnen. Hendrike hatte ihre anfängliche Zurückhaltung abgestreift und kommunizierte genauso lebhaft wie die anderen. Sie erzählte von ihren nächsten Reisezielen, von Israel, von Albanien. Das Lokal war jetzt gut besucht. Deshalb konnte Lars Hendrike nur noch bruchstückhaft verstehen, aber auch ohne Text gefielen ihm ihre Lippenbewegungen gut.

Der Anfang war jedenfalls gemacht, und Lars fand, dass es ein guter Anfang war.

4.

Wie auch Richard war Lara mit öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen. Wie sich auf dem Weg zur U-Bahn herausstellte, wohnten die beiden gar nicht weit voneinander, er in einer Altbauwohnung im Kiez rund um den Stuttgarter Platz, sie in Ku’dammnähe, in „Charlottengrad“, wo die Russen in den teuren Boutiquen gerne mit Bargeld bezahlten.

Das Treffen war mit viel Händeschütteln zu Ende gegangen. Brigitte war noch geblieben, um ein wenig in der taz zu lesen. Michael und Hendrike hatten ein Taxi genommen und Lars war unter Fahrradgeklingel davongefahren.

Richard und Lara gingen entspannt nebeneinander her. Auch Lara war mit dem Ergebnis des Abends zufrieden. Die Leute schienen Horizont und ein Mindestmaß an Stil und Manieren zu haben. Jetzt lag es an jedem einzelnen, wie es weitergehen würde: ob man pünktlich und zuverlässig war, ob die Beiträge interessant waren, ob man andere ausreden ließ, ob der Umgangston wertschätzend war, ob man andere Meinungen aushalten wollte und konnte.

Dass es unterschiedliche politische Ansichten gab oder zumindest noch geben würde, das war schon während des Treffens unterschwellig spürbar gewesen. So hatte Richard bestimmt eine leichte bis mittelinke Schlagseite, da hatte sie eine Nase für. Sie, Lara, war eindeutig konservativ, zumindest etwas. Eigentlich war das mit dem Konservativsein keine große Sache. Es sollte jeder einfach nur sein Ding machen, sich um sich selbst und seine eigenen Angelegenheiten kümmern, bevor man anderer Leute Geld umverteilte. Konservativ zu sein bedeutete, selbst auswählen zu dürfen, zu wem man großzügig war und zu wem nicht. Es bedeutete auch, dass man nicht jedem zeitgeistigen Tinnef hinterherrannte. Wenn dann noch Bildung und Charakter dazukamen, dann war es das eigentlich auch schon. Wichtig war, dass man sich gepflegt austauschte und die Meinung seines Gegenübers respektierte. So sah Lara das. Jedenfalls schienen die allermeisten doch recht belesen zu sein. Es konnte sich also durchaus lohnen, wertvolle Zeit mit ihnen zu verbringen.

Lara warf einen kurzen Blick auf Richard, der gemütlich wie ein braver Boxerhund vor sich hin trottete. Sie scannte ihn vorsichtig ab, noch ganz dem Frühstadium des Kennenlernens angemessen.

„Wo kommst du her, ich meine aus welchem Land stammst du?“, wollte Richard wissen. „Ich hoffe, ich darf das fragen. Eigentlich soll man das ja so auf die plumpe Tour nicht mehr tun.“

Lara nahm ihm die Frage nicht übel, im Gegenteil, sie war dankbar, dass Richard das Gespräch anfing. „Ach wo, plump ist was anderes. Ich komme aus Rumänien, lebe aber seit gut fünfzehn Jahren in Deutschland.“

„Immer in Berlin? Und wie gefällt es dir hier so?“

„Was soll ich sagen? Ich habe in Bukarest Philosophie und Psychologie und hier in Deutschland das Leben studiert, das Leben und die Menschen.“

„Das Leben und die Menschen.“

Richard kickte lässig eine Coladose fort. Sie rollte scheppernd über den Bürgersteig um unter der Schlange geparkter Autos zu verschwinden.

„Das Leben studiere ich auch. Irgendwann werde ich wohl meinen Abschluss machen, aber das hat noch Zeit.“

Den restlichen Weg bis zur U-Bahnstation verbrachten sie schweigend. Erst auf dem Bahnsteig setzte sich die Unterhaltung fort.

„Und wie sind die Menschen hier so, in Deutschland?“

„Was soll ich darauf antworten? In meiner Heimat schlagen sich die Leute noch immer mit den Folgen des Sozialismus und der Mangelwirtschaft herum. Hier in Deutschland ist die Unzufriedenheit in höheren Sphären angesiedelt.“

„Verstehe, du meinst wir jammern auf hohem Niveau.“

„Ja, das Niveau ist wirklich sehr hoch in Deutschland.“ Das „sehr“ betonte sie ausdrücklich. Die U-Bahn lief ein und sie nahmen einander gegenüber Platz.

Richard sah trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer sehr gut aus. Seine Frisur war leicht zerzaust und dennoch gepflegt. Auch der Drei-Tage-Bart wirkte auf der angebräunten Haut wie ein silbergrauer Zierrasen. Ein dauerhaft entspannter Gesichtsausdruck tat sein Übriges. Es war ein Männergesicht zum behaglichen Ausruhen darin.

Und er hatte ganz offensichtlich Geschmack. Das war nicht nur an seiner eleganten Garderobe zu erkennen. Auch seine Uhr sprach für sich. Das Armband schien aus Eidechsenleder zu sein. Die zierliche Maserung ging mit dem Ensemble aus Gravuren und großen und kleinen Zeigern eine ausgesprochen graziöse Verbindung ein. So eine teure Uhr war schon praktisch. Sie verriet dem Besitzer die Zeit und anderen, dass er sich seinen erlesenen Geschmack auch leisten konnte. Solch eine Uhr kommunizierte gewissermaßen von ganz allein, ohne Unterlass und lautlos, so wie das Uhrwerk tickte.

Auch wenn Richard offensichtlich auf teure Statussymbole Wert legte, so war er anscheinend doch ziemlich weit links eingestellt. Das war das Problem, das latente Kollateralrisiko, gerade wenn man in Berlin auf Kontaktsuche ging, überall lauerten linke Einstellungen. Dabei war linkes Denken doch eigentlich nichts anderes als kleinkarierter Materialismus, der so ziemlich alles an oberflächlichen Verteilungsfragen festmachte. Es war der gegorene Weltschmerz, der ideologisierte Neid, und das mochte Lara nicht. Wer wie sie in einer Welt groß geworden war, in dem dies von Staats wegen verordnet wurde, der wusste sehr gut, warum.

Richard blickte für einen kurzen Moment zum Fenster hinaus. Es sah aus als scannte er die vorbeifliegenden Betonmaserungen ab, als enthielten sie verschlüsselte Botschaften.

„Was haben Sie zuletzt gelesen, Richard?“

„Sind wir schon beim Sie oder noch per Du?“