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Begeben wir uns in die Situation eines Textes: Es schmerzt ihn, wenn ihn der Redakteur kürzt. Es quält ihn, wenn er den Korrekturstift spürt. Doch es macht ihn auch mächtig stolz, wenn er am Tag darauf mit Glanz und Eloquenz in die Zeitung oder ins Internet kommt. Das Buch soll – wir wechseln wieder die Perspektive – allen Textverantwortlichen helfen, diesen Glanz hinzubekommen. Dabei folgt es der Philosophie, dass Redigieren nicht simple Fehlertilgung ist, sondern vielmehr eine Kunst, Texte und Autoren nach vorn zu bringen. Anleitung und Anregung finden der langjährige (Schluss-)Redakteur sowie der journalistische Einsteiger, der Sprachdozent wie der Kommunikationswissenschafts-Student – aber auch Werbetexter, Lektoren und Essayisten. Sie erfahren, durch wie viele Hände ein Artikel mindestens oder im besten Fall gehen sollte. Oder wie stark die beteiligten Korrektoren im gedruckten Artikel sichtbar sein dürfen. Wie lässt sich das Textniveau heben? Wie geht man methodisch vor? Rot- oder Bleistift? Korrekturzeichen aus dem Duden oder individuelle Marker? Launige oder sachliche Rückmeldungen? Und natürlich die zentrale Frage: Welche Passage bleibt, welche wird geändert, welche gestrichen? Das Wort des Verfassers ist dabei mit Respekt zu behandeln und mit feiner Federführung zu optimieren. Denn sonst, das wissen wir seit der ersten Zeile, schreit der Text.
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Seitenzahl: 176
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Stefan Brunner
Redigieren
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Stefan Brunner ist Professor für Journalistik an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in München. Er hat die Deutsche Journalistenschule in München absolviert und über 20 Jahre als Journalist gearbeitet, u. a. für SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, SZ MAGAZIN und SPIEGEL ONLINE. Beim Monatsmagazin MARIE CLAIRE leitete er drei Jahre lang das Reportageressort.
Praktischer Journalismus Band 71
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISSN 1617-3570 ISBN 978-3-86496-015-4
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.
© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011
Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Titelfoto: Susanne Fuellhaas, Konstanz Korrektorat: Christiane Kauer, Bad Vilbel Satz: Klose Textmanagement, Berlin
UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz · Deutschland Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98www.uvk.de
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Inhalt
Teil I
Eloquenz statt Eitelkeit – Qualität durch Redigieren
Teil II
Wörter, Sätze, Texte – die Physiognomie eines Artikels
1 Am Anfang war das Wort
1.1 Fachsprache und Synonyme am Limit
1.2 Traditionelles Deutsch oder moderner Anglizismus
2 Anleitung zum Texten
2.1 Schnelles Spiel oder lang umkämpfte Sätze
2.2 Text-Dramaturgie oder das Drama Text
3 Von Komik bis Dreistigkeit
Teil III
Rote, grüne, blaue Artikel – die Technik des Redigierens
4 Philosophien des Redigierens
5 Den Text nach vorn bringen
5.1 Immer wieder dieselben Fallen – typische Fehler
5.2 Aus guter Quelle entspringt der wahre Text
5.3 Korrekturzeichen – Standard oder eigene Zeichensprache?
5.4 Texte auf dem Prüfstand
5.5 Der Selbstversuch
5.6 Spezialfälle – Leserbrief und PR-Text
6 Den Autor nach vorn bringen
6.1 Wie sage ich’s dem Verfasser? Das ABC der Kritik
6.2 Humor als Stilmittel der Rückmeldung
6.3 Das Los der freien Journalisten
Teil IV
Respekt vor Texten, Textern, Textchefs – das Redigieren als Chance
Anhang
Interview mit Bastian Sick
Befragung von Jens Bergmann
Befragung von Hans-Joachim Nöh
Befragung von Stefan Plöchinger
Befragung von René Hofmann
Nachwort
Links
Literatur
Index
[7]Teil I
Eloquenz statt Eitelkeit – Qualität durch Redigieren
Die Eloquenz guckt noch einmal in den Spiegel, zückt den Kajalstift und fährt mit elegantem Schwung das Lid entlang. Zufriedenheit, Verzückung, auf in den Tag! An nichts soll es ihr heute fehlen, also besucht sie ihre beste Freundin, die Qualität. Was haben die beiden doch immer für einen Spaß, ein Wort gibt das andere, man versteht sich, lobt sich, Prosecco hier, Schulterklopfen dort. Voller Vorfreude macht sich die Eloquenz also auf den Weg, springt pfeifend dem morgendlichen Treffen entgegen, als sich ihr breitbeinig die Zeitnot in den Weg stellt, ihr aufdringlicher Nachbar, der sie ständig auf eine Tasse Kaffee einladen will. Hartnäckig wie seine beiden Schwestern Anspruchslosigkeit und Nachlässigkeit, zwei Nervensägen, die immer so aussehen, als wären sie gerade aus dem Bett gefallen, aber immer mit dieser Spur Grundentspannung im Gesicht, die einen ein wenig neidisch macht. Nicht heute. Die Eloquenz entzieht sich gewohnt geschmeidig den Geschwistern, als ihr zwei fremde Frauen eine Freikarte entgegenstrecken: »Wettbewerb – das schönste Wort gewinnt« steht darauf. Aufmunternd und auffordernd zugleich nicken die beiden, die sich als Ablenkung und Eitelkeit vorstellen.
Die Eloquenz ist nah dran, Raum und Zeit zu vergessen, und käme nicht keuchend die Recherche vorbei, wer weiß, ob sich die Eloquenz nicht wortgewandt im verlockenden Wettbewerb verloren hätte. »Die Unwissenheit war hinter mir her«, die Recherche ist außer Atem. »Aber ich habe sie abgeschüttelt.« Die Eloquenz zögert. Da klingelt das Handy, Nummer unbekannt, die Eloquenz geht trotzdem ran. »Disziplin hier, ich bin bei der Qualität. Wir warten schon auf dich.« Jetzt aber nichts wie hin, schnell die Straße entlang, um die Ecke und – Mist, Demo. Die Hungerhonorare streiken, und die Überstunden gleich hinterher. Mühsam quetscht sich die Eloquenz durch die Menschenmenge und würde wohl erdrückt werden, wenn ihr nicht die Recherche (hat sich spontan entschieden, mitzukommen) den Rücken freihielte. Endlich, da ist das Haus. Doch vor dem Haus steht – auch das noch! – die Konkurrenz. »Die macht einem schlechte Laune, will einem immer weismachen, dass man nichts kann«, murmelt die Eloquenz genervt. Durch den Hintereingang gelangt sie schließlich ins Haus, die Recherche dicht auf den Fersen. Qualität erreicht. [8]Journalistinnen und Journalisten1 haben sich gegen viele Widerstände zu behaupten. Besonders mühsam ist der Kampf gegen die Zeit. Und gerade Zeit bräuchte man so dringend, um einen Artikel zu überdenken, zu überarbeiten, noch einmal zu drehen. Ihn mal einen Tag liegen und wirken zu lassen. Ihn inhaltlich und sprachlich zu verfeinern, ihn zu optimieren. Was sich im Magazinjournalismus oftmals beherzigen lässt – die prüfende Kette reicht dort vom Ressortleiter über den Textchef, die Chefredaktion, die Schlussredaktion, vereinzelt auch die Dokumentation –, ist im Tagesgeschäft undenkbar. Deadlines kehren im 24-Stunden-Rhythmus wieder. Redaktionsschluss ist je nach Printprodukt um 17, 18, 19 Uhr. Oder noch später. Oder auch mehrmals am Abend. Wird ein Artikel aus Termingründen erst 15 Minuten vor diesem Redaktionsschluss fertig – etwa weil die Opernpremiere so spät oder das Koalitionsgespräch nicht früher zu Ende ging –, dann bleibt wenig Raum für korrigierendes Eingreifen des Kollegen oder Vorgesetzten. Fehler schleichen sich so unbemerkt in die Ausgaben, vor allem Fehler der Orthographie und Interpunktion: scharfes S oder Doppel-S, Komma oder kein Komma. Jenen Tageszeitungen, die über den Abend verteilt mehrere Andrucke haben, bleibt zumindest die Chance, stündlich von Ausgabe zu Ausgabe nachzubessern. Die deutschlandweite Ausgabe der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG etwa wird um 17 Uhr belichtet. Für die Ausgabe, die im Münchner Stadtgebiet an die Abonnenten geht, bleibt bis 22 Uhr Zeit: zum Wechsel von Artikeln – Aktuelles ersetzt Überholtes –, aber auch zum Tilgen von Fehlern.
Kein leichtes Unterfangen, fehlerfrei zu schreiben. Im Land der Dichter und Denker aber tägliches Ziel. Auf die Spitze getrieben wird dieses Problem in der Sportberichterstattung. Nach dem Schlusspfiff eines Fußball-Champions-League-Spiels, der gegen 22:30 Uhr durchs Stadion schallt, bleiben dem Journalisten nur wenige Minuten, dann muss der Artikel fertig sein (lediglich für eine spätere Ausgabe werden noch Zitate eingepflegt). Gar zu kreativen Kapriolen aufgelegt zu sein, ist nicht drin, nicht in der Phase vor der Abgabe. Die Uhr tickt lauter, als der Schiedsrichter jemals pfeifen kann. Wer soll in solchen Momenten noch redigierend eingreifen? An Champions-League-Abenden »bleiben fürs Drüberlesen manchmal nur zwei Minuten Zeit«, sagt René Hofmann, stellvertretender Sport-Ressortleiter bei der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. »Der Idealfall ist, dass die Korrektoren alle Texte bis zum Redaktionsschluss um 21:45 Uhr – freitags um 20:45 Uhr – gelesen haben«, erklärt Hans-Joachim Nöh, Textchef beim HAMBURGER ABENDBLATT. »Das gelingt natürlich nicht immer, vor allem dann nicht, wenn Texte erst kurz vor Torschluss fertig sind. Die gehen bisweilen auch unkorrigiert in den Andruck.«
[9]Andere Ressorts haben es da leichter. Geradezu paradiesisch nehmen sich mitunter die Zustände im Magazinjournalismus aus. Das Paradebeispiel: der SPIEGEL. Jeden Text sehen Ressortleiter, Dokumentare, die Rechtsabteilung, dann möglichst zwei der vier Chefredaktionsmitglieder, schließlich die Schlussredaktion. Das bindet Personal, verschlingt Zeit, kostet Geld – und das reduziert Fehler. Doch fast allerorts sind die Budgets knapp. Statt (weitere) Schlussredakteure einzustellen, werden Textredakteure vor die Tür gesetzt. Wer kann sich den Luxus schon leisten, wie der SPIEGEL rund 70 Dokumentare zum Fact-Checking ins Rennen zu schicken? Zahlen aus dem Jahr 2008 belegen die Notwendigkeit dieses aufwändigen und bis zur Perfektion betriebenen Korrekturprozesses. Ein Student fand in seiner Diplomarbeit heraus, dass für eine einzelne SPIEGEL-Ausgabe 1.153 Änderungen vonnöten waren. Rechtschreibung und Stilistik außen vor gelassen, blieben 559 faktische Fehler und 400 Ungenauigkeiten, von denen mehr als 85 Prozent für »relevant« bzw. »sehr relevant« befunden wurden (Netzwerk-Recherche-Werkstatt Fact-Checking 2010: 100).
Den meisten Magazinen fehlt indes eine eigene Dokumentationsabteilung, schon ein einziger Dokumentar gilt als exquisite Redaktionsausstattung. Bedauerlicherweise. Denn es geht um viel mehr als Orthographie, Stil und Grammatik. Es geht auch um inneren Zusammenhalt, nachprüfbare Quellen und authentische Zitate, um Faktentreue sowie um die Aufdeckung von Plagiaten und erfundenen Geschichten. Es geht ums Ansehen. Lange hat es gedauert, bis man dahinterkam, dass Tom Kummers Hollywood-Interviews nicht stattgefunden hatten, auch nicht die Gespräche von Ingo Mocek mit diversen Pop-Stars aus aller Welt. Die genannten Beispiele zeigen, dass selbst die Großen und Renommierten wie NEON und das SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN nicht sicher vor journalistischer Veruntreuung sind. Womöglich hätte der Akribie-Stab des SPIEGELS die Mauscheleien etwas früher bemerkt. Vielleicht aber auch nicht. Die gut verkaufte Lüge funktionierte schon bei Konrad Kujaus gefälschten Hitler-Tagebüchern, funktionierte aber auch in jüngerer Vergangenheit bei der so genannten Bluewater-Affäre. Etwas zu eilig berichtete die DEUTSCHE PRESSE-AGENTUR (DPA) über einen vermeintlichen Selbstmordanschlag im US-Städtchen Bluewater. Um 9:38 Uhr wurde die Meldung gutgläubig durchs Land geschickt, um 10:06 Uhr ungläubig zurückgenommen. Es dauerte also eine knappe halbe Stunde, bis das zu PR-Zwecken fingierte Terrorszenario aufflog – eine Menge Zeit im blitzschnellen Internetzeitalter. Konsequenzen für die dpa-Redaktion blieben nicht aus. Fortan musste man sich weit strengeren Fakten-Prüfkriterien unterwerfen. Wichtigste Erkenntnis: Sicherheit wiegt schwerer als Schnelligkeit.
Das System Journalismus ist durchlässig, anfällig, nicht ausreichend gesichert. Sicherheit ließe sich aber durch Dokumentationen und Schlussredaktionen aufbauen. Kommunikationswissenschaftlerin Sandra Hermes (2006) wollte wissen, wie es um diese prüfenden Instanzen steht, und hörte bei je einem Redakteur aus 259 deutschen Nachrichtenredaktionen nach. 246 gaben an, noch nie über eine Dokumentationsabteilung [10]verfügt zu haben. Sechs Redakteure konnten mit einer solchen Abteilung aufwarten, in zwei Redaktionen wurde sie abgeschafft. Einige Befragte sagten, dass sie selbst die Fakten überprüfen würden. Zu berücksichtigen ist, dass sich die Autorin explizit auf »nachrichtenjournalistische« Redaktionen bezieht. Denn auf die ganze Branche hochgerechnet, ergeben sich in Deutschland doch weitaus mehr als sechs Redaktionen mit Dokumentationsabteilung.
Eine davon hat seit 1960 der STERN, wo heute im Impressum 14 Mitarbeiter gelistet sind. Ein Team mit beträchtlicher Kompetenz. Denn sobald ein Artikel die Dokumentation passiert hat, ist nicht mehr nur der Autor oder der Ressortchef für den Text verantwortlich, sondern ebenso der Dokumentationsredakteur – dessen Job so bedeutsam ist, dass ihm die Branche einen Spitznamen, Dokker, gegeben hat.
Fehlt die personell üppig ausgestattete Dokumentationsabteilung, darf das aber nicht zu oberflächlichem Journalismus führen. Entscheidend ist die Ernsthaftigkeit, mit der das Fehlerminimieren durch Redigieren betrachtet wird. Zeilen und Absätze sollten für sich genommen und als Ganzes von findigen Korrektoren geprüft werden. Folgt der Aufbau einer sinnvollen Dramaturgie? Wird Überflüssiges erzählt, Wesentliches weggelassen? Wurden neue und für den Leser relevante Inhalte verarbeitet? Wird auf Neues und Relevantes auch in Überschriften, Unterzeilen, Zwischentiteln und Bildunterschriften hingewiesen? Denn letztlich geht es darum, Interesse beim Leser zu wecken, ihn von Anfang an zu überzeugen. Das misslingt mit Überschriften, wie sie am 12. Februar 2011 im Regionalteil einer kleinen bayerischen Tageszeitung standen: »Mission Titelverteidigung« (über den Jungendfeuerwehrtag) oder »Biotopflächen im Mittelpunkt« (über den Bund Naturschutz und seine Nachwuchsförderung). Das glückt aber mit den Schlagzeilen, die vom Verein Deutsche Sprache 2010 ausgezeichnet wurden, etwa »Krieger, denk mal!« (in der zeit, über die Notwendigkeit eines Sicherheitsrats in Deutschland) oder »Deutschland krückt zusammen« (im BERLINER KURIER, über den humpelnden Michael Ballack, der die Deutsche Nationalelf in Südafrika nicht unterstützen konnte). Schlagzeilen locken oder vergrämen, sie spannend zu formulieren, ist eine Kunst. Hier leisten die Boulevardredakteure Beachtliches, wenngleich nicht immer journalistisch Vertretbares.
Doch das Gros der Leser differenziert nicht nach seriös und boulevardesk, sondern nach Klingt spannend! und Ach, wie langweilig! Um den richtigen Ton zu treffen und die passenden Inhalte auszuwählen, sollte man seine Leserschaft also gut kennen. Welcher Bildungsschicht entstammt sie? Wie alt sind die Leser? Welchen Anspruch stellen sie an die journalistische Lektüre? All das reflektiert den Leseprozess, der »in mehr oder minder starkem Ausmaß vom Vorwissen der Leser/innen, ihren Erwartungen und Zielsetzungen gesteuert« wird, so formulieren Prof. Dr. Ursula Christmann und Prof. Dr. Norbert Groeben ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse (2006: 148). Gepaart mit dieser Zielgruppenbestimmung sollte der eigene Anspruch respektive die Ausrichtung des Printprodukts definiert sein: Steht [11]die Information im Vordergrund, die Unterhaltung, die Aufklärung, die Bildung? Und, noch einen Schritt weitergehend, welche Effekte werden etwa von einem informativen Text erwartet? Ein so genannter Behaltenserfolg, das heißt, dem Leser bliebe das angelesene Wissen erhalten? Oder eine Einstellungsänderung, das heißt, der Text wäre so anregend, dass ein Überdenken bisheriger Haltungen angestoßen wird? Von Interesse ist auch das Leseverhalten, das per ReaderScan untersucht werden kann. Welche Artikel wählt der Leser aus? Wann bleibt ein Leser am Text, wann steigt er aus?
Redigieren ist also nicht bloßes Korrigieren orthographischer und syntaktischer Unzulänglichkeiten. Das auch. Darüber hinaus ist es die Maßnahme, die den Text noch einmal in all seine Einzelteile aufbricht und prüft, ob zusammenpasst, was zusammengefügt wurde. Und ob sich das Zusammengefügte gut mit dem Umfeld mischt, mit dem Ressort, dem Medium, der gewählten Darstellungsform. Denn das Texten und Redigieren von Artikeln hängt von vielen Variablen ab:
Die Mediengattung (Zeitung/Magazin/Online/Rundfunk)
Ein Fußballspiel wird im Fernsehen und Radio live übertragen. Auch im Internet als Live-Ticker oder als Feed aufs Handy. Der Beitrag lebt von der Eins-zu-eins-Dramatik. Spielszenen können dem Zuschauer zwei Tage später allenfalls noch als fundierte Spielanalyse präsentiert werden. Das Thema braucht einen Neuwert, sonst verliert es seine Relevanz. Das weiß man natürlich in den Redaktionen (anspruchsvoller Zeitungen). Selbst wenn der Leser von Fußballberichten einer speziellen Spezies zuzuordnen ist, der Samstagnachmittag live per Pay-TV ins Geschehen eintaucht, ab 18:30 Uhr die erste Zusammenfassung in der ARD-»Sportschau« verfolgt, wenige Stunden später eine weiterführende Analyse im ZDF-»Sportstudio« mitnimmt, sich den einen oder anderen Schlenker vom sport1-»Doppelpass« am Sonntagvormittag erwartet und weitere Zeit über Kommentare auf der Vereinshomepage sinniert. Selbst wenn jedes Element dieser multimedialen Sportkonsumkette wahrgenommen wurde – der Zeitungsbericht am Montag bleibt unentbehrlich.
Vorbei sind allerdings die Zeiten, in denen sich der Leser das Spiel noch einmal von der Zeitung nacherzählen lassen würde. Eine Kopie der vorabendlichen oder gar vorvorabendlichen Fernsehpräsentation verkauft sich schlecht. Der Leser fordert mehr. Will Hintergrund und Ausblick nebst analytischen Gedanken zum Spielverlauf. Eben das ist der zu leistende Mehrwert. Eben darauf ist der Artikel vom redigierenden Redakteur abzuklopfen. Wahre Meister im Weiterdrehen von Geschichten findet man in den Boulevardzeitungen. Nicht selten gelingt es dort, den Gedanken weiter vorangetrieben zu haben als die Konkurrenz aus dem Abonnementgeschäft.
[12]Das Genre (Boulevardzeitung/Abonnementzeitung)
Der FAZ-Redakteur wird das Ausrufezeichen am Satzende nur im Ausnahmefall zulassen, die Schlussredaktion einer Boulevardzeitung kräftigt die Aussage indes gern mit entsprechender Interpunktion. Auch und insbesondere in der Schlagzeile – ungeachtet der Tatsache, dass es erst wahre journalistische Kunst ist, wenn sich ein Ausrufezeichen auftut, ohne geschrieben zu stehen. Das sagt, sich auf literarisches Schreiben beziehend, auch der weltbekannte Krimi-Autor Elmore Leonhard: In der Prosa seien nicht mehr als zwei oder drei Ausrufezeichen alle 100.000 Worte erlaubt, es sei denn, man heiße Tom Wolfe (Reichardt 2011).
Der Unterschied zwischen den beiden Genres, dem Boulevard- und dem so genannten seriösen Journalismus, ist natürlich nicht nur an der Heraushebung der Schlagzeilen festzumachen, sondern generell am Layout, der Bebilderung, den inhaltlichen Schwerpunkten. Für den Korrektor sind vor allem die sprachlichen Unterschiede von Belang: Übertreibungen hier, akribische Korrektheit dort. Umgangssprachliche Tendenzen und Wortkreationen auf der einen Seite, Hochsprache und maßvoller Umgang mit Metaphern auf der anderen. Kurzsatz-Stakkato versus Satzgefüge, Zweisatzmeldungen versus zweispaltige Berichte, Floskel versus Sprachwitz. Der Redigierende hat hier dem Tonfall seines Printprodukts zu folgen. Oftmals liegen in den Redaktionsschubladen Listen mit Unwörtern, die es zu vermeiden gilt. Analog zum Index für zu oft verwendete und deshalb nicht mehr akzeptable Musiktitel, die im Rundfunkbeitrag der Untermalung dienen oder eben besser nicht mehr dienen sollten.
Die Ausrichtung (Special-Interest-/nachrichtliches Magazin)
Fallen und Strecker, Winschen und Hebelklemmen – Standardvokabular eines Segelmagazins, die der Leserschaft undefiniert ins Heft geschrieben werden dürfen. Die Gruppe der Rezipienten ist, den Sachverstand betreffend, homogen. Das freut die Textchefs und Schlussredakteure, die nicht jedes Fachwort auf Allgemeinverständlichkeit prüfen müssen. Für ein themenübergreifendes Magazin bräuchte man andere Formulierungen oder ergänzende Erklärungen.
Im Special-Interest-Segment sind nicht nur die Leser vom Fach, sondern auch die Autoren – was mitunter problematisch sein kann. »Es ist verblüffend«, sagt Ole Zimmer, stellvertretender Chefredakteur des Magazins BIKE, »wie wenige Menschen gleichzeitig Mountainbiken und schreiben können. Es passiert regelmäßig, dass wir die Geschichten freier Autoren als Grundlage für eine komplett neue Geschichte nehmen.«
[13]Die Weltanschauung (politisch/sozial/ethnisch)
Kein Journalist ist frei von Meinungen, Vorurteilen, Tendenzen. Auch das Medienprodukt vertritt eine Haltung, eine Philosophie, über die der Verlag wacht. Politische Ausrichtungen werden in die Zeitungen und Magazine hineingetragen. Das reicht vom linken bis zum rechten Spektrum, die TAZ kommentiert anders als die FAZ. Manchmal sind es auch kirchliche Träger, die den gedanklichen Korridor vorgeben. Orientiert an Unternehmerinteressen oder an Gewerkschaftsarbeit? An Globalisierung, am Papst, an Familie, an Benachteiligten, an den Interessen der Reichen, an der Natur? An der guten alten Zeit oder am Fortschritt? Der Textchef wird hier auf die Linie gebracht, die er auf die vorliegenden Texte anzuwenden hat.
Das Thema (Skandalbericht/sachliche Nachricht)
Welche Textlänge wird dem Thema gerecht? Mit welchem Ressort ist das Thema kompatibel? Und welcher sprachliche Stil passt zum Thema? »Gefühle brauchen die Sprache, die zu ihnen passt«, schreibt STERN-Autorin Birgit Lahann (2001: 15). Ein skandalöser Vorfall braucht kein kreatives Wortspiel, die nüchterne Beschreibung der Tatsachen genügt, der Inhalt wird nicht unnötig überladen. Ein eher trockener, wissenschaftlicher Plot – um nur ein Beispiel zu nennen – kann indes gerade durch seine sprachlich virtuose Gestaltung zum Leben erweckt werden. Das weiß der Textchef, der Autor aber nicht immer. Ausführliche Autorengespräche im Vorfeld können helfen, nachträgliche Arbeit zu reduzieren. Die Autoren Christian Bleher, Peter Linden und Steffen Sommer (2007) versuchen zudem, mit einem verbreiteten Irrtum aufzuräumen und erklären, dass Stil gar nicht so viel mit dem Medium zu tun habe, sondern viel mehr mit den Themen, die von den Medien aufgegriffen werden.
Die Darstellungsform (Reportage/Interview/Glosse/Bericht)
Launiges Vokabular hat im Bericht nichts verloren, mag die Glosse aber schon mal bereichern. Während man sich in der Reportage im Detail verlieren darf und damit zum hautnahen Erleben einlädt, konzentriert sich der Kommentar auf analytische Trennschärfe. Inhalt und Wortwahl müssen sich fügen oder gegebenenfalls vom Textchef gefügig gemacht werden. Womöglich übersieht er dabei, dass der Autor für seinen Artikel die falsche Darstellungsform gewählt hat – ein Fehler, der auch aus mangelnder Absprache hervorgegangen sein kann. Manch vermeintlich schlechter Text wäre ein guter geworden, wenn man ihn nicht ins falsche Format gezwängt [14]hätte. Statt ein solches, falsch dargestelltes Stück mühsam retten zu wollen, sollte über einen neuen Anlauf in neuem Gewand nachgedacht werden.
Denkbar ist auch das folgende, nicht minder problematische Szenario: Als Darstellungsform wird, durchaus passend und einvernehmlich, die Reportage gewählt. Nur leider schickt der Autor eine Woche später keine Reportage, sondern lediglich einen Bericht, der, mit ein paar Feature-Elementen gespickt, allenfalls vortäuscht, eine Reportage zu sein. Die Handlung ist irgendwo, nur nicht im Mittelpunkt des Artikels – vielleicht, weil der Autor gar nicht am Ort des Geschehens war und daher weder Szenisches noch Sinneseindrücke weiterzugeben vermag. Dieses Versäumnis kann der Korrektor nicht ausgleichen, ohne ins Reich der Fiktion abzuschweifen. Da das allerdings journalistisch verwerflich wäre, ist es dem Autor vorbehalten, noch einmal in medias res zu gehen.
Der Autor (Talent/Schwerpunkt)
A schreibt wunderbar ironisierte Glossen, B verfasst einfühlsame Reportagen und C überzeugende, meinungsbildende Kommentare. D wiederum kann, was den anderen nicht gegeben ist: D beherrscht alle Darstellungsformen auf hohem Niveau. Und E ist Meister des Kurzberichts. All das hat im Nachhinein keinen Einfluss mehr auf die Fehler, die heraus- und die Verbesserungen, die hineinredigiert werden. Eine Redaktion sollte sich im besten Fall vorher überlegen, welchem Schreiber sie welche Aufgabe anträgt. Das Wissen um die Stärken und Schwächen der Autoren nützt aber noch in einer anderen Situation: beim Gespräch, das der Schlussredakteur zu führen hat, wenn er den angestrichenen Text zurückgibt.
Eine Menge von Variablen also – und die Auflistung ist erweiterbar –, die das Handeln der Redigierenden beeinflussen; zumindest all jener, die ihrer Arbeit in einer Redaktion nachgehen. Redigieren ist außerdem eine Frage des Charakters. Alle am Korrekturprozess Beteiligten, der Ressortleiter, der Textchef, der Chefredakteur oder sein Stellvertreter (Schlussredaktion und Dokumentation ausgenommen), haben die Vollmacht, den Text zu verändern. Zu verändern, um ihn zu optimieren. Und so sitzt auch der Charakter mit am Schreibtisch, wenn redigierend optimiert wird. Böse Zungen behaupten, mancher Textchef greife mehr als nötig ein; als Ausgleich für die eigene Schreibabstinenz.
All jene Korrektoren, die sich indes zurücknehmen und nur dort schrauben und schleifen, wo falsch, holprig, missverständlich, umgangssprachlich, unlogisch, redundant und langweilig formuliert wurde, und all jene, die sich die Zeit nehmen, die gemachten Verbesserungen mit dem Autor offen und respektvoll durchzusprechen – all jene sind eine Bereicherung für die Branche, da sie ganz wesentlich zur Weiterentwicklung von Qualitätsjournalismus beitragen.
[15]Im folgenden, zweiten Kapitel werden die Kriterien diskutiert, die einen Text gut oder schlecht machen und auf die hin ein Text untersucht werden muss. Kapitel drei befasst sich dann explizit mit dem Redigieren, dem Vorgehen, der Veranschaulichung der relevanten Anmerkungen, der Konfrontation mit Kritik, auch dem Einsatz von Humor, der dem ehemaligen SPIEGEL-Schlussredakteur Bastian Sick zu deutschlandweiter Bekanntheit verholfen hat. Viele Korrektoren namhafter Publikationen kommen zu Wort und sprechen über ihre Erfahrungen.