Regenerativ - Martin Grassberger - E-Book

Regenerativ E-Book

Martin Grassberger

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Beschreibung

Unsere Zivilisation sieht sich zunehmend mit ausweglos erscheinenden Krisen konfrontiert, die auf eine fragmentierte, reduktionistisch-mechanistische Sichtweise auf das Leben sowie eine Entfremdung des Menschen von der Natur und von sich selbst zurückzuführen sind. Mit Nachhaltigkeit, Faktenwissen und technischen Innovationen alleine können wir diese degenerative Entwicklung nicht aufhalten. Die von der Natur gesetzten Rahmenbedingungen sind das Maß aller Dinge und damit auch der Maßstab, nach dem wir uns stets richten sollten. Das erfordert allerdings ein tieferes Verständnis für die Wechselwirkungen und Zusammenhänge innerhalb komplexer Systeme, die Akzeptanz von Unsicherheit und eine respektvolle, demütige Grundhaltung gegenüber den lebendigen Systemen der Biosphäre. Denn komplexe Systeme sind unsere Lebensgrundlage, aber gleichzeitig auch unser größtes Risiko! Das neue Paradigma lautet: "Regenerativ". Als Vorbild dienen die Prozesse und Prinzipien der Natur selbst, von der kleinsten Zelle bis zu den großen Ökosystemen. Sie sind Zeugnisse einer Milliarden Jahre andauernden Evolution zu selbstorganisierten, resilienten Systemen. Auch der Mensch ist Teil davon. Grassberger zeigt, wie ein fundamentaler Paradigmenwechsel natürliche Ökosysteme, menschliche Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft regenerieren kann, damit diese langfristig gedeihen können. Denn wenn wir die Art und Weise ändern, wie wir die Dinge betrachten, ändern sich die Dinge, die wir betrachten.

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Martin Grassberger

Regenerativ

Aufbruch in ein neuesökologisches Zeitalter

© 2024 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin, Büro 8

Umschlagfoto: Zara PfeiferTypografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

ISBN ePub:

978 3 7017 4710 8

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3593 8

Inhalt

Vorwort

Teil 1

1.Die Meta-Krise

Nichts bleibt, wie es war

Des Kaisers neue Kleider

Don’t Panic!

Die Gefahr einfacher Lösungen

2.»Planetary Emergency«: Der (vorläufige) Höhepunkt des Anthropozäns?

Der Kollaps hat längst begonnen

Die Obsession vom ewigen Wirtschaftswachstum

Illusion Fortschritt

CO2-Reduktionismus

3.Politik und die Demokratisierung von Wissenschaft

Nichtwissen

Wie unser Weltbild entsteht

Das Marshmallow-Experiment – und was wir daraus lernen können

4.Die Gefahr unseres unglaublich mangelhaften Kognitionsapparats

Der unsichtbare Gorilla und die 17 Prozent

5.Zivilisatorischer Kollaps?

Teil 2

6.Der Schlüssel zu unserer Situation: Das menschliche Gehirn

Körper, Geist und Descartes’ Irrtum

Die Rolle der Emotionen

Fakten, Fakten, Fakten

Split-Brain: Von wegen »symmetrisch«

Die verschwindende Welt der rechten Hemisphäre

Der Schlaganfall einer Hirnforscherin

Akademische und mediale »Linkshemisphärenlastigkeit«

Balance

Zwischenfazit

Die rechte Hemisphäre fördern

Komplexe Probleme

7.Komplexität verstehen und damit umgehen

Gar nicht so kompliziert, wie es klingt?

Systemdenken

Panta rhei – Der Strom des Lebens

Die Musik des Lebens

Worte, Dinge und unsere Realität

Überall ist Tanaland – Unser Denkapparat und der Umgang mit Komplexität

Fehler im Umgang mit komplexen Systemen

Holismus – eine ganzheitliche Betrachtungsweise

8.Regeneration statt Degeneration: Wenn nachhaltig nicht mehr ausreicht

Von nachhaltig zu regenerativ

Regeneratives Denken

Regeneratives Design

Nach dem Vorbild der Natur gestalten

Eine regenerative Revolution

Die Kernprinzipien des Regenerativen Designs

Symbiogenese, Co-Kreation und Co-Evolution

Kontextualität – Die »Essenz« des Orts

Dauerhafte Kulturen

9.Resilienz – Wie die Natur für Stabilität sorgt (und was wir daraus lernen können)

Resilienzdenken

Adaptive Zyklen und die geheimnisvolle Dynamik von Systemen

Die Vielfalt adaptiver Zyklen: Von Ökosystemen bis zu Zivilisationen

Die Gefahren der späten Erhaltungsphase

»Small« ist tatsächlich »beautiful«

Zivilisation in der späten Erhaltungsphase

Resilienz fördern

Resilienz durch Regeneration

10.Langzeitdenken und das Narrativ der Trennung

Ein »guter Vorfahre« sein

Memento mori: Keiner von uns kommt hier lebend raus

Zeit ist Leben

Das Narrativ der Trennung

Alles ist Selbst

11.Weisheitstraditionen

Biosphärenbewusstsein

Wir sind alle Indigene!

12.Normopathie und Schwarze Schwäne

Schwarze Schwäne und unser Umgang mit Unsicherheit

Teil 3

13.Regeneration

14.Regenerative Landwirtschaft

Boden ist Leben

15.Regenerative Landschaftsgestaltung

Regeneration des Wasserkreislaufs

»Rewilding«

16.Regenerative Ökonomie

Aus der Landwirtschaft lernen

Regeneratives Management in Unternehmen

Regenerativer Tourismus

17.Regenerative Energiewende?

18.Regenerative Gesundheitssysteme

19.Regenerative Architektur und Städteplanung

Regenerative Habitate erschaffen

Biomimikry

20.Regeneration des Gemeinwohls

Regenerative Politik

»Stop consuming, start producing«

21.Paradigmenwechsel und eine neue Erzählung

Eine neue Erzählung

Im Zustand der Liminalität

Lebenssinn und Transzendenz

22.Epilog

Danksagung

Weiterführende Quellen

Endnoten

Abbildungsnachweis

»Wanderer am Weltenrand«, Holzstich eines unbekannten Künstlers, erstmals erschienen 1888 in der dritten Ausgabe von Camille Flammarions Werk L’atmosphère. Météorologie populaire.

»Wir befinden uns nicht auf unserer Reise,um die Welt zu retten, sondern um uns selbst zu retten.Aber indem wir das tun, retten wir die Welt.«

– JOSEPH CAMPBELL

Für all jene, die sich auf der Reise befinden.

Und für Lisa.

Regeneration, die [Substantiv, feminin]

Erneuerung, Neubelebung, Entstehung, natürlicheWiederherstellung von verletztem, abgestorbenem Gewebe

regenerativ [Adjektiv]

auf Regeneration beruhend, sich neu bildend, (sich) erneuernd,nachwachsend, sich auf natürliche Weise regenerierend oderunbegrenzt zur Verfügung stehend

regenerieren [Verb]

sich erneuern, neu bilden, sich wiederherstellen, auffrischen,wieder voll gebrauchsfähig machen

Vorwort

Die letzten zwei Jahrhunderte waren von beispiellosem materiellen Fortschritt geprägt, und dennoch, so scheint es, haben wir es heute mit mehr unlösbaren Problemen zu tun als je zuvor. Auch unser Zuwachs an Wissen während des letzten Jahrhunderts sucht seinesgleichen in der Menschheitsgeschichte. Doch dieses exponentiell anwachsende, durch die Digitalisierung jederzeit und von jedem abrufbare Wissen kann den zunehmenden, ineinander verschachtelten gegenwärtigen Krisen ökologischer, gesundheitlicher, gesellschaftlicher, geopolitischer, ökonomischer und energiewirtschaftlicher Natur offenbar nur wenig entgegensetzen.

Der Anteil psychisch erkrankter, verzweifelter und desorientierter Menschen nahm während der letzten Jahrzehnte bedenklich zu. So waren psychische Erkrankungen zuletzt sogar bei den 10- bis 17-Jährigen die häufigste Ursache für Krankenhausbehandlungen in Deutschland. Gesellschaft und Politik wirken angesichts dieser Entwicklungen zunehmend polarisiert und handlungsunfähig.

Wissenschaft schafft eben »nur« Wissen, aber nicht automatisch Weis heit und Klugheit. Sie produziert vor allem Zahlen, die, so sie überhaupt aussagekräftig sind, zunächst richtig interpretiert werden müssen, um in sinnvollen Handlungsweisen zu münden. In einer zunehmend komplexer werdenden Welt scheint uns das immer schwerer zu fallen.

Die ganze Welt starrt heute auf atmosphärische Kohlenstoffkonzentrationen, Temperaturmesswerte, Infektions-, Reproduktions- und Impfzahlen, das Bruttoinlandsprodukt beliebiger Staaten und unzählige andere quantifizierbare Parameter. Was sich innerhalb des Lichtkegels der Wissenschaft befindet, scheint kristallklar, die auffällige Dunkelheit außerhalb dieses Lichtkegels wird weitgehend ignoriert. Unser Gehirn klammert sich verzweifelt an Zahlen, und wir sind zunehmend blind für andere Phänomene in Ökologie und Gesellschaft. Von Zahlen geblendet, können wir die Vielfalt von Natur, Kultur und deren Verbindungen nicht mehr sehen.

Es ist daher höchste Zeit, außerhalb dieses Lichtkegels zu blicken. Vielleicht finden wir etwas gänzlich anderes? Vielleicht geht es ja gar nicht um das unschuldige Element Kohlenstoff, seine Verursacher, die Quantifizierung und ständige Gegenverrechnung, sondern um »andere Qualitäten«?

Ich muss gestehen, dass mir das Schreiben an diesem Buch zu manchen Zeitpunkten äußerst schwergefallen ist. Jeder Autor hat vor seinem inneren Auge einen oder mehrere kritische Leser, mit denen er während des Schreibens in Dialog tritt. Manche dieser kritischen Stimmen haben von mir das Benennen einfacher und klarer Lösungen für unsere gegenwärtigen Probleme verlangt, wie sie auch von einigen Proponenten des technischen Fortschritts und des ökonomischen Wachstums gerne skizziert werden. Doch jedes Mal, wenn ich mich einer dieser vermeintlich universellen »Lösungen« genähert habe, spießte es sich mit der komplexen lebensweltlichen Realität, in der die Lösung des einen Problems in zahlreichen anderen, neuen Problemen mündet. Bewegt man sich hingegen außerhalb des Lichtkegels weit verbreiteter Ansichten, beginnt man unweigerlich unangenehme und zum Teil schmerzhafte Fragen zu stellen. Doch die moderne Gesellschaft vermeidet Schmerz und Verantwortung so gut es geht. Hier liegt vermutlich eine der so dringend notwendigen Antworten auf unsere gegenwärtige Situation. Wer Schmerz und Verantwortung meidet, verhindert innerliches Wachstum und transformative Prozesse.

Mit Recht wird man einwenden, dass ich viele wichtige Punkte vernachlässigt habe. Das liegt in der »Natur« der Sache. Einerseits, weil der Umfang eines Buches beschränkt ist, andererseits, weil ich wie jedes menschliche Individuum angesichts der Vielfalt und Komplexität der irdischen Lebensprozesse einen eingeschränkten Horizont besitze.

Das vorliegende Buch ist daher in erster Linie eine Einladung, die gewohnte und von vielen Menschen wenig hinterfragte Sichtweise auf unser Dasein loszulassen und sich neuen, zum Teil aber auch alten und vergessenen Ansichten über unsere Existenz auf diesem Planeten zu öffnen.

Der gegenwärtige Zustand des Anthropozäns erfordert, dass wir über unser bisheriges Denken hinausgehen und uns komplexem Systemdenken und ganzheitlichen Sichtweisen auf das Leben zuwenden. Dazu gehört auch die Akzeptanz, dass die Lösungen nicht immer in technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum zu suchen sind. Tatsächlich ist es sogar ziemlich infantil, zu glauben, dass uns gerade Technologie und Wirtschaft aus unserem Chaos befreien sollen, wo sie uns doch zu weiten Teilen überhaupt erst in das gegenwärtige Dilemma gebracht haben.

Meine Hoffnung ist, dass mehr Menschen beginnen, sich tiefergehende Fragen zu stellen, um mit mehr Weisheit und Klugheit zu handeln. Weisheit bezeichnet ein tiefgehendes Verständnis von Zusammenhängen in Natur, Leben und Gesellschaft sowie die Fähigkeit, bei Problemen und Herausforderungen die jeweils schlüssigste und sinnvollste Handlungsweise zu identifizieren. Klugheit ist die Fähigkeit zu angemessenem Handeln im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller für die Situation relevanten Faktoren und Einsichten.

Wir haben bisher als Menschheit zwar Großes (und weniger Großes) geschaffen, aber die ganz große Herausforderung liegt in unserer unmittelbaren Zukunft, die keiner von uns kennt. Wir sollten uns daher nicht der Illusion hingeben, dass unsere Reise einfach sein wird. Doch jeder Tag des tiefergehenden Fragens birgt die Möglichkeit von neuen Antworten und Überraschungen.

Das Phänomen des endlosen Hervorbringens von Leben durch den Prozess des Lebens selbst ist das große Mysterium, das viele Antworten auf unsere gegenwärtige Situation bereithält. Erst wenn wir wieder beginnen, zuzuhören und mit diesem Mysterium in Beziehung zu treten, wird die Regeneration unseres Lebens und dessen vielfältiger Grundlagen gelingen. Schritt für Schritt nähern wir uns dabei einem neuen ökologischen Zeitalter, dem Ökozän.

Jedes Buch, das sich mit dem weitläufigen und zum Teil noch wenig verstandenen Thema der menschlichen Beziehung zur Natur und der Komplexität des Lebens auseinandersetzt, ist unweigerlich vom Wissen und vor allem von der Weisheit vieler anderer Autoren und Vordenker abhängig. Es ist daher auch bei diesem Buch der Fall, dass der Autor vor und während des Verfassens des Manuskripts auf den sprichwörtlichen »Schultern von Riesen« gestanden ist. Diesmal waren es die Pioniere der System biologie, der Ökologie, der Neurobiologie und Kognitionswissenschaft, des System- und Resilienzdenkens, der Komplexitätswissenschaft, des Regenerativen Designs, aber auch der vielen anderen Gebiete des menschlichen Daseins, die jetzt so dringend einer Regeneration bedürfen. Es sind dies Autoren wie Gregory Bateson, Donella Meadows, David W. Orr, Bill Reed, Carol Sanford, Ernst. F. Schumacher, John Tillman Lyle, Stephen R. Kellert, Pamela Mang, Ben Haggard, Christian Daniel Wahl, Bill Mollison, David Holmgren, Fritjof Capra, James Lovelock, Lynn Margulies, Ludwig von Bertalanffy, Carl Gustav Jung, Janine Benyus, Wes Jackson, Paul Hawken, Richard Louv, Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela, Frederic Vester, Brian Walker, Lance H. Gunderson, Crawford S. Holling, Norbert Wiener, Dave Snowden, Jeremy Lent, Otto Sharmer, Ian McGilchrist, Antonio Damasio, Christopher Alexander und viele andere.

Ich hoffe, mit diesem Buch dem regenerativen Denken und Gestalten sowie den damit verbundenen Grundlagen und Einsichten, soweit sie sich mir bisher erschlossen haben, eine breitere Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum zu ermöglichen.

Teil 1

1.Die Meta-Krise

Nichts bleibt, wie es war

»Wir leben in einer Welt, die sich nicht mehr selbst hinterfragt, die von einem Tag auf den anderen lebt und aufeinanderfolgende Krisen bewältigt ohne zu wissen, wohin es geht, und ohne zu versuchen, die Reiseroute zu planen.«

– ZYGMUNT BAUMAN (1925–2017), In Search of Politics

Es hat wohl keinen Zeitpunkt in der jüngeren Menschheitsgeschichte gegeben, der mit so viel Unsicherheiten und »Krisen« unterschiedlichster Art konfrontiert war wie unsere Gegenwart. Diese großen Unsicherheiten betreffen nicht nur eine Vielzahl biologischer beziehungsweise ökologischer Probleme, die wir uns vor allem während des letzten Jahrhunderts eingehandelt haben, sondern auch ein sehr labiles und unsicheres Finanzwesen, kriselnde Gesundheitssysteme, unzählige geopolitische Krisen und augenscheinlich auch eine Energiekrise. Zunehmend sprechen Wissenschaftler und Zukunftsforscher in diesem Zusammenhang auch vom drohenden gesellschaftlichen Kollaps und zivilisatorischen Zusammenbruch. Dass dieses medial zum Teil hysterisch verkündete Untergangsnarrativ nicht sehr hilfreich ist und sich wissenschaftlich auch nicht so exakt untermauern lässt, wie uns gerne weisgemacht wird, findet dabei nur selten Berücksichtigung.

In meinen letzten beiden Büchern habe ich mich vor allem auf unzählige neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die den komplexen Lebensprozessen zugrunde liegen, gestützt, um die aktuelle Dringlichkeit des Handelns und der Transformation zu unterstreichen. Ich war der einigermaßen naiven Auffassung, dass nüchterne wissenschaftliche Ergebnisse die Menschen zur Einsicht und damit zum Handeln bewegen könnten. Doch spätestens seit ich auf das folgende Zitat des Umweltanwaltes an der Yale Universityund ehemaligen Chefberaters der Nationalen Umweltkommission unter zwei US-Präsidenten, James Gustave Speth, gestoßen bin, war mir klar, dass ich die wichtigsten Punkte in Bezug auf die Ursachen der vielen Krisen in unserer Umwelt bisher weitgehend unberührt gelassen habe:

»Früher dachte ich, dass die größten Umweltprobleme der Verlust der Artenvielfalt, der Kollaps der Ökosysteme und der Klimawandel wären. Ich dachte dreißig Jahre gute Wissenschaft könnte diese Probleme angehen. Ich habe mich geirrt.

Die größten Umweltprobleme sind Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit, und um mit ihnen fertigzuwerden, brauchen wir einen kulturellen und spirituellen Wandel. Und wir Wissenschafter wissen nicht, wie man das macht.«1

Ja, das weiß die Wissenschaft – insbesondere die Naturwissenschaft – vermutlich wirklich nicht, beziehungsweise ist es auch nicht ihr zentraler Tätigkeits- und Aufgabenbereich, mit Egoismus, Gier und Gleichgültigkeit in der Gesellschaft umzugehen. An wissenschaftlichen Erkenntnissen mangelt es nämlich heute tatsächlich nicht, sondern vor allem an Verantwortungsbewusstsein und einem naturkompatiblen Selbstbild und Wertekanon vieler Menschen, allen voran deren politischer Repräsentanten.

Wie viele Menschen sich schlussendlich auf den Weg in ein neues ökologischeres Zeitalter machen werden, ist ebenso ungewiss wie der Ausgang des derzeitig stattfindenden globalen Wandels (um nicht zu sagen Umbruchs), denn die Zukunft war und ist immer offen.

Bereits der 1987 erschienene Brundtland-Report (Our Common Future) kam zu der Erkenntnis, dass die vielen Krisen, mit denen der Planet konfrontiert ist, ineinandergreifende Krisen sind, die Elemente einer einzigen Krise des Ganzen sind.

Heute, mehr als 35 Jahre später, scheint es bei genauerer Betrachtung tatsächlich so, als läge den unterschiedlichen, ineinander verschachtelten gegenwärtigen Krisen eine ausgeprägte gesellschaftliche, psychische und moralische, auf den ersten Blick unsichtbare, Krise zugrunde, die sich in unseren Köpfen und Kulturen still und heimlich breitgemacht hat.

Unbemerkt und nur wenig öffentlich diskutiert, sind wir in eine Krise geschlittert, die sich nur dem genauen gesellschaftlichen Beobachter offenbart. Nicht loslösbar von der Umwelt-, Politik-, Finanz- und Gesundheitskrise ist die größte aller Krisen, so scheint es mir jedenfalls, die sich in den Köpfen weiter Teile der Bevölkerung breitmachende Sinnkrise. Vielen Menschen ist das Wofür im Leben weitgehend abhandengekommen. Die entstandene innere Leere kompensieren sie durch den Konsum von Waren und Inhalten aller Art. Diese allgemeine Sinnkrise erhält seltsamerweise bis heute kaum Aufmerksamkeit, wenn es um die zentrale Frage nach der gemeinsamen Ursache unserer Probleme geht.

Es ist diese, manchmal auch als »Meta-Krise« bezeichnete, Mutter aller Krisen, die offenbar damit zu tun hat, wie Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, sehen und verstehen. Es ist eine allgemeine Moral-, Verständnis- und Bildungskrise in Verbindung mit einer Reihe psychologischer beziehungsweise psychopathologischer Dynamiken. Ökosysteme, Finanzsysteme, Gesundheitssysteme und Gesellschaftssysteme sind zwar zugegebenermaßen in großen erkennbaren Schwierigkeiten, aber es ist die Psyche, die menschliche Dimension, die sich offenbar in der schwierigsten Notlage, in der größten aller bisherigen Krisen befindet und damit alle anderen Krisen zumindest befeuert, wenn nicht gar ausgelöst hat.

Durch multimediales Dauerentertainment, Bullshit-Jobs und die Tretmühle des sogenannten Erfolgs, Hyperindividualisierung und Single-Dasein, oberflächliche virtuelle Bekanntschaften anstatt echter Beziehungen finden sich die Menschen zunehmend losgelöst von ihrem seit Jahrhunderttausenden bestehenden Bezugssystem einer lebendigen Umwelt. Resultierende Depressionen, Angststörungen und eine allgemeine innere Leere machen Menschen leicht manipulierbar und im Versuch, damit einen erträglichen Umgang zu finden, wiederum anfällig für weiteren sinnlosen Konsum.

Wir sollten uns daher als Spezies dringend die Frage stellen, wer und was wir sind, sowohl individuell als auch als Kollektiv, um unser Handeln und unsere Gesellschaft in Zukunft grundlegend verändern zu können. Die Meta-Krise ist sozioemotionaler, bildungspolitischer, epistemologischer und vor allem spiritueller Natur. Sie ist eine Wahrnehmungs- und Verständniskrise und somit eine Krise der menschlichen Psyche. Sie findet in unseren Köpfen statt und zieht sich durch alle Aspekte unseres Lebens.

Und noch etwas scheint mir in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen: Globale Umweltveränderungen wie den Klimawandel und den Artenschwund bezeichnen wir häufig als »Probleme«, für die schleunigst »Lösungen« hermüssten. Ein typisches Beispiel ist die ewige, sehr stark vereinfacht geführte CO2-Diskussion, die suggeriert, dass bei Erreichen einer »Klimaneutralität« mit Netto-Null-Emissionen wieder alles gut wäre. Doch damit sitzen wir einem gewaltigen Selbstbetrug auf, denn derartig komplexe Phänomene lassen sich nicht so einfach wie ein Problem »beseitigen« oder »lösen«. Und selbst wenn es dafür eine Lösung gäbe, wäre mit Sicherheit nachher nicht wieder automatisch alles gut.

Das, womit wir uns konfrontiert sehen, entspricht viel eher einer existenziellen Notlage mit zahlreichen Gesichtern, und nicht nur einem simplen »Problem«. Bei Problemen existieren in der Regel auch Lösungen, um diese zu beseitigen, bei einer komplexen Zwangslage dieser Größenordnung verhält es sich gänzlich anders. Sie stellt uns langfristig vor überlebenstechnische Herausforderungen.

Wir sollten daher rasch Wege finden, um mit dieser deutlich zutage getretenen Zwangslage umgehen zu können, und beginnen, uns selbst als Teil dieser komplexen, interdependenten Realität in die Zukunft zu navigieren. Dieses Unterfangen ist herausfordernder, als nur ein »simples Problem« zu lösen, um danach zu dem alten »Normal« zurückkehren zu können und wieder weiterzumachen wie bisher.

Ich sehe daher die einzige Möglichkeit, der gegenwärtigen Situation dauerhaft zu entkommen, in einer tiefgreifenden Transformation unseres menschlichen Selbstbilds, einem fundamentalen Wertewandel und dem Aufbau resilienter sozial-ökologischer Systeme.

Des Kaisers neue Kleider

»Ein Mann, der die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd.«

– Armenisches Sprichwort

Mittlerweile haben viele Menschen das Vertrauen in einen Großteil jener Personen verloren, die die Geschicke der Nationen, der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher Institutionen leiten. Sie sind gewissermaßen zum Symbol unserer gesellschaftlichen und zivilisatorischen Misere geworden und weisen nicht selten narzisstische, machthungrige und psychopathische Persönlichkeitszüge auf. Manchmal sind sie aber auch nur einfältig und dumm und aufgrund des sogenannten »Peter-Prinzips« in ihre Machtpositionen gelangt.2

Diese »Führungspersonen« wurden nicht selten durch Lobbying und ein desolates politisches Proporzsystem, erleichtert durch ein desinteressiertes, desorientiertes und geblendetes Wählervolk, in ihre Positionen gehievt, nur um bestehende Macht und Geldflüsse zu erhalten. Stabilität, Vertrauen, gerechtes, gar weises und friedvolles Handeln für eine lebenswerte Zukunft sehen jedenfalls anders aus. Der digital-finanzielle-militärische Komplex hat im globalen neoliberalen Wirtschaftssystem längst die Macht an sich gerissen.

Unser Gesellschaftssystem, unser Finanzsystem und unser Wirtschaftssystem sind, wie auch alle Ökosysteme komplex strukturiert. Komplexe Systeme sind, wie wir später sehen werden, in ihrem Verhalten unvorhersehbar, wenn es zu größeren Störungen kommt beziehungsweise wenn die Systeme von vornherein instabil sind oder, wie im Falle unserer neoliberalen Ökonomie, auf falschen Grundvoraussetzungen basieren.

Unvorhersehbar bedeutet aber auch, dass sich nicht zwingend alles automatisch zum Schlechten wenden muss. Vor allem dann nicht, wenn wir einen achtsamen und aufmerksamen Umgang mit derartigen Systemen pflegen, um allenfalls rechtzeitig geeignet reagieren zu können oder um von vornherein für deren Stabilität und Resilienz zu sorgen.

Vermutlich sind daher auch Begriffe wie Meta-Krise, Poly-Krise oder Perma-Krise nicht sehr hilfreich, weil sie die negativen Aspekte unseres Daseins zu sehr betonen, Hoffnungslosigkeit verbreiten und die vielen noch offenen Möglichkeiten des Handelns und des menschlichen Potenzials ausblenden. Sinnbildlich bemerkenswert scheint mir hier, dass das chinesische Schriftzeichen für Krise aus jeweils einem Schriftzeichen der Begriffe »Gefahr« und »Chance« besteht. Wenn in diesem Sinne Krise einen Bruch in Kontinuität und Normalität bedeutet, können die sich zunehmend deutlicher manifestierenden Mängel unserer derzeitigen zivilisatorischen Systeme und die sich daraus ergebenden Probleme und individuellen Ent-Täuschungen (im Sinne des Wegfallens der Täuschung) auch als Portal aufgefasst werden, durch welches wir neue Wege in eine stabilere und gedeihliche Zukunft beschreiten können.

Und tatsächlich gibt es heute, im Jahr 2024, genügend Anlass, hoffnungsvoll zu sein. Denn noch nie haben so viele Menschen ihren Platz im Gefüge dieser Gesellschaft und dieser Welt sowie ihre Lebensinhalte und das offizielle Narrativ hinterfragt, wie im Zuge der Ereignisse der letzten Jahre. Ein Teil unserer Gesellschaft, so scheint es zumindest, ist als Konsequenz dieser globalen Verwerfungen im Begriff aufzuwachen. Oder, um es mit den Worten des Kindes aus dem bekannten Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen zu sagen, sie haben erkannt: »Der Kaiser ist nackt!«

Leider fällt es einem Großteil der Menschen immer noch recht schwer, ihren eigenen Sinneswahrnehmungen zu trauen, um diese offensichtliche Nacktheit zu erkennen.

Don’t Panic!

»Wenn das gesamte Dasein des Menschen nur noch aus Angst besteht, verwandeln sich alle Strukturen seiner kreatürlichen Existenz von Segen in Fluch, von Heil in Unheil, von Glück in Unglück.«

– EUGEN DREWERMANN (deutscher Theologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller, *1940)

»Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.«

– MAX FRISCH (Schweizer Architekt und Schriftsteller, 1911–1991)

Angst und Panik sind die schlechtesten Berater, wenn es darum geht, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Ungeachtet dessen tragen die tägliche mediale Berichterstattung durch Schockjournalismus und sensationsheischende Bilder fleißig dazu bei, die Bevölkerung in einen panischen, alarmierten, chronisch gestressten und zum Teil auch traumatisierten Ausnahmezustand zu versetzen.

Derartig verunsicherte und von sich selbst und der Welt entfremdete Menschen lassen sich zwar leicht manipulieren und zu Konformität und Konsum hinreißen, sind aber nicht in der Lage, mit kühlem Kopf die Situation zu erfassen und die anstehenden Herausforderungen eigenverantwortlich zu meistern.

Wenn dabei ein Gefühl der Unwirklichkeit gegenüber der Umwelt entsteht und Objekte, Menschen oder die gesamte Umgebung als fremd, unvertraut, unwirklich, roboterhaft, fern, künstlich und leblos erlebt werden, spricht man in der Psychologie von einer sogenannten Derealisation. Es ist dieses häufig in Lethargie mündende, diffuse Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein. Immer mehr Menschen werden von einer derartigen Derealisation, wie sie vor allem bei Reaktionen und Störungen nach Traumata vorkommt, erfasst und können sich in unserer komplex gewordenen, häufig sinnlos erscheinenden Welt nicht mehr zurechtfinden.

Der Vollständigkeit halber möchte ich noch das Phänomen der Depersonalisation erwähnen, eines Gefühls, das dem der Derealisation sehr nahekommt, sich allerdings auf die jeweilige Person selbst bezieht. Um das wörtlich gesprochene Not-wendende wahrnehmen und sich damit auseinandersetzen zu können, sind also das Fundament von innerer und äußerer Sicherheit, ein Gefühl von Halt sowie ausreichend Raum von Bedeutung. Fühlen sich Menschen in Anbetracht der Krisen und Wahnsinnigkeiten dieser Welt ohnmächtig oder von Angst gelähmt, sorgen erst diese Voraussetzungen dafür, leben zu können.

In diesem Buch möchte ich daher all jene vielleicht Geängstigten (aber nicht Gelähmten), die nach Orientierung in dieser volatilen und chaotischen Welt im Wandel suchen, mit den äußerst hilfreichen und lebenszentrierten Prinzipien und Entwicklungsmöglichkeiten des regenerativen Denkens und Gestaltens sowie den unterschiedlichen theoretischen Grundvoraussetzungen vertraut machen, von denen ich glaube, dass sie in den kommenden Jahren eine äußerst bedeutsame Rolle in der gesellschaftlichen Neuorientierung und der so notwendigen Entwicklung resilienter Strukturen spielen werden. Dafür müssen wir uns aber zunächst von indoktrinierten alten Denkmustern verabschieden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, zu verstehen, dass nach einer Phase des Chaos immer wieder Ordnung einkehrt. Aber darüber später mehr.

Regenerativ ist kein ausschließlich wissenschaftlich orientiertes Buch. Es will auch ein philosophisch beeinflusstes Buch der Möglichkeiten, der Transformation und der dafür notwendigen Paradigmen und Denkansätze zur Schaffung regenerativer Kulturen und einer sicheren und lebenswerten Zukunft sein. Es betrifft dich als Individuum gleichermaßen wie unsere Familien, Gemeinden, die Gesellschaft und schließlich die gesamte globale Menschheitsfamilie.

Ich habe diesmal im Unterschied zu meinen bisherigen Büchern versucht, soweit dies möglich war, auf komplizierte wissenschaftliche Erklärungen und Begriffe zu verzichten. Wissenschaftliche Studien und ihre Erkenntnisse sind (zumindest für mich und viele andere) zwar äußerst faszinierend und wichtig, aber die reine Wissenschaft und ihr Methodenrepertoire konnten nie und werden auch in Zukunft nie all unsere zentralen Lebensfragen beantworten können. Teilweise scheint sogar das Gegenteil zuzutreffen: In ihrer Besessenheit, alle lebendigen Dinge bis in das kleinste Detail zu zerlegen und zu abstrahieren, haben viele heutige Wissenschaftler den Blick auf das große und komplexe System des Wunders Leben auf der Erde und seine zugrundeliegenden Prinzipien und Muster aus den Augen verloren.

Aus evolutionärer Sicht sind wir Menschen zwar verdammt gut ausgestattet, wenn es darum geht akute Bedrohungen abzuwehren – diese waren in der Vergangenheit häufig –, aber ziemlich schlecht, wenn es darum geht, sich langsam entwickelnde, schleichend am Horizont heraufziehende Bedrohungen wahrzunehmen und entsprechende vorbeugende Handlungen zu setzen. Gerade bei gesellschaftlichen Degenerationsprozessen, komplexen klimatischen Veränderungen, dem weit vorangeschrittenen Biodiversitätsverlust und der Akkumulation von Substanzen wie Mikroplastik und toxischen sowie hormonartig wirkenden chemischen Verbindungen in unserer Umwelt handelt es sich um langsame, graduelle, degenerative Prozesse, die, über kurze Zeiträume betrachtet, kaum wahrnehmbar sind. Erst die aufmerksame und bewusste Betrachtung über längere Zeiträume macht die fatalen Folgen dieses »leisen Sterbens« unserer Lebensgrundlage sichtbar.

Wir Menschen versuchen von Natur aus, Schmerz zu vermeiden und vergnügliche Aktivitäten und Kurzzeitbefriedigungen zu bevorzugen, die unser Belohnungssystem ansprechen. Evolutionsbiologisch tief verankert, handelt es sich dabei vermutlich um ein Überlebensprogramm, das allerdings mit den neuen aktuellen Herausforderungen nicht Schritt zu halten vermag und bei der Lösung unserer globalen Probleme wenig hilfreich, ja sogar kontraproduktiv ist. Dieses kurzzeitbefriedigungssuchende Verhalten des Menschen bildet auch die Grundlage für unsere gesamte degenerative Konsumkultur von Social Media bis Junk-Food und ist daher potenziell selbstzerstörerisch. Wir leben in einer Gesellschaft, in der schmerzhafte Auseinandersetzungen mit unserem Dasein, längst notwendig gewordene Konflikte und Kontroversen um jeden Preis vermieden werden. Der Philosoph Byung-Chul Han prägte für diese Gesellschaft der Algophobie, des Konformitätszwanges und Konsensdruckes den treffenden Begriff »Palliativgesellschaft«.3

Die Gefahr einfacher Lösungen

Wer nach raschen, simplen, linearen Lösungen und klassischen Checklisten oder Rezepten für die vielen gegenwärtigen Probleme sucht und damit deren Symptome bekämpfen will, wird vermutlich enttäuscht sein.

Tatsächlich hoffen und warten aber viele Menschen immer noch auf einfache und vor allem rasche Lösungen jener Gegenwartsprobleme, die uns so viel Unsicherheiten bescheren, um endlich wieder unbeschwert in ihr altes, gewohntes, »wohlverdientes und normales« Leben zurückkehren zu können. Abgesehen davon, dass rasche und einfache Lösungen ohnehin nicht existieren, scheint manchen leider auch jedes Mittel recht zu sein, wenn es um die Beseitigung von Schieflagen geht.

Das Lösen komplexer Probleme mit simplen linearen Methoden und um jeden Preis beziehungsweise »koste es, was es wolle« ist nämlich nicht nur illusorisch, sondern auch brandgefährlich.

Es sind immer wieder dieselben psychologischen Mechanismen, die bei angeblicher oder real drohender Gefahr von einer Gesellschaft und deren Individuen Besitz ergreifen. Leider geht das heute in einer multimedial vernetzten, krisengebeutelten Gesellschaft schneller und effizienter als noch vor hundert oder zweihundert Jahren. Wir sollten lernen, diese Mechanismen zu erkennen, um unsere idiosynkratischen Denk- und Handlungsmuster, die den fruchtbaren Boden für die Manipulation der Massen bilden, zu hinterfragen. Die entsprechenden Grundlagen vermitteln Werke wie Die Psychologie des Totalitarismus von Mattias Desmet, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von Hannah Arendt sowie der offenbar zeitlose Klassiker Propaganda: Die Kunst der Public Relations von Edward Bernays, dessen Schriften auch Hitlers Hetzer Nummer eins, Joseph Goebbels, aufmerksam studierte.

Darüber hinaus vernebeln unmittelbar als akute Bedrohung wahrgenommene Krisen unseren Blick auf das Wesentliche, die langsam, still und leise voranschreitende Vernichtung unserer Lebensgrundlage im Namen von Wohlstand, Wachstum und Fortschritt. Allein die schieren Größenordnungen der heute aufgelaufenen vielfältigen ökologischen Probleme führen bei vielen Menschen zu dem lähmenden Gefühl der Machtlosigkeit und resultieren in maximaler Handlungsunfähigkeit.

Das alles müsste nicht sein, denn wie wir sehen werden, gibt es reichlich Potenzial und Möglichkeiten, wenn wir unseren Betrachtungswinkel ändern, reflektieren und schließlich zu uns selbst zurückfinden. Doch zuvor müssen wir noch der Realität ins Auge blicken und Klartext reden.

2.»Planetary Emergency«: Der (vorläufige) Höhepunkt des Anthropozäns?

Ob wir unser gegenwärtiges Zeitalter nun Anthropozän nennen oder den Begriff des Kapitalozäns vorziehen – es bleibt schlussendlich ein und dasselbe: das Zeitalter, in dem ein Großteil der Menschheit durch ihr zugrundeliegendes Welt- und Selbstbild, angefeuert durch eine konsum- und profitorientierte Lebens- und Wirtschaftsweise, die Erde an den Rand ihrer Grenzen gebracht hat. Dies ist uns vor allem besonders effektiv während der letzten hundert Jahre des exponentiellen Wachstums gelungen.

Der vorläufige traurige Höhepunkt unserer Zeit ist, dass uns erdrückende wissenschaftliche Erkenntnisse auf den verschiedensten Gebieten deutlich zeigen, dass wir in einen Notstand geraten sind, dessen Ausmaß sich nur schwer beziffern lässt und dessen Konsequenzen kein Datenmodellierer dieser Welt vorhersagen kann.

Vieles von dem, was uns jetzt immer deutlicher vor Augen geführt wird, ist bereits seit einigen Jahrzehnten bekannt. Dreißig Jahre nachhaltige Entwicklung (beziehungsweise deren halbherziger Versuch) haben an unseren grundlegenden Problemen nichts geändert. Rein gar nichts.

Bereits in dem vom Club of Rome 1972 publizierten MIT-Report The Limits to Growth wurden verschiedene mögliche Zukunftsszenarien der globalen Zivilisation skizziert. Unter anderem liest man dort, dass kurz vor dem Kollaps politischer Systeme und des Finanzmarkts und in der Folge der Zivilisation, wie wir sie kennen, die Energiepreise ansteigen und gewaltsame Unruhen wegen der steigenden Lebensmittelpreise ausbrechen werden. Nun ja, die deutlich gestiegenen Energiepreise haben wir bereits, die Preissteigerung bei Lebensmitteln ist ebenfalls im Gange, mit wenig Aussicht auf Entspannung. Aber ist das schon der Anfang vom Ende?

Seit ihrer Publikation vor mehr als fünfzig Jahren löste die MIT-Analyse (MIT steht für Massachusetts Institute of Technology) immer wieder hitzige Debatten aus und wurde bereits zum Zeitpunkt ihres Erscheinens von »Experten«, die sich große Mühe gaben, die Ergebnisse und Methoden falsch darzustellen, als unhaltbar verlacht.

Doch welche Befunde existieren, die nahelegen könnten, der Verlust fruchtbarer Böden und die ökologischen Krisen im Allgemeinen sowie der Biodiversitätsverlust im Speziellen seien nicht durch menschliche Aktivitäten während des letzten Jahrhunderts verursacht? Zumindest was die geopolitische und gesellschaftliche Krise betrifft, sind wir uns doch über deren Verursacher einig, oder etwa nicht? Es sind Krisen des menschlichen Zusammenlebens, daher kommen nur wir Menschen als Verursacher infrage, wiewohl natürlich auftretende klimatische und ökologische Faktoren immer wieder zur Verschärfung derartiger Situationen beitragen.

All jene, die die genannten Probleme leugnen oder kleinreden und immer noch am gegenwärtigen, auf fossilen Energieträgern, technischen Innovationen und grenzenlosem Wachstum basierenden Narrativ festhalten, möchte ich fragen: Was ist, wenn ihr euch doch irrt und die bisher erfolgreichen Wirtschaftsnationen sägen tatsächlich gerade an ihrem letzten Ast?

Wäre nicht Vorsicht walten zu lassen und sich angesichts möglicher Katastrophen an das Vorsorgeprinzip zu halten vernünftiger? Angesichts der möglicherweise katastrophalen Folgen für nachfolgende Generationen …

»Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.« Auch wenn bis heute nicht klar ist, wem dieses Zitat zuzuschreiben ist, so steckt doch eine unumstößliche Wahrheit darin: Niemand kann sagen, was in der Zukunft passieren wird, niemand weiß, ob die eine oder andere unangenehme Prognose tatsächlich zutreffen wird. Manchmal treten Vorhersagen nicht ein, dann freuen sich die Skeptiker wie kleine Kinder. Manchmal treten prognostizierte Probleme deutlich schneller und härter ein, dann wird hilflos nach Erklärungen und Schuldigen gesucht. Und manchmal, das vergessen wir in unserer Hybris recht gerne, treten Dinge ein, mit denen niemand (auch kein Datenmodellierer oder »Zukunftsforscher«) gerechnet hat. Dann sind alle überrascht und ziemlich ratlos.

Mit Unsicherheiten umzugehen, scheint für unsere sicherheitsverliebte und kontrollsüchtige moderne Gesellschaft eine zunehmend schwierige Angelegenheit geworden zu sein. Doch die Unsicherheiten des Lebens waren während der gesamten Menschheitsgeschichte ein ständiger Begleiter, herbeigeführt von Naturkatastrophen bis zu Ernteausfällen. Vermutlich war das auch einer der Gründe, warum sich die Menschen einer höheren lenkenden Macht zuwandten, um sich von dieser durch Opfer, Gebete oder sonstige Rituale Beistand für einen sicheren Pfad in die Zukunft zu erhoffen. Man wusste, dass man von seiner Umgebung und der Natur gänzlich abhängig war.

Nun glaube ich nicht, dass wir drohendes Unheil durch Rituale, welcher Art auch immer, fernhalten könnten. Wir sollten aber wieder damit beginnen, mit der unausweichlichen Tatsache einer unsicheren Zukunft leben zu lernen. Wir sind, allen Verdrängungsmechanismen zum Trotz, von unserer Umwelt heute genauso abhängig wie die Menschen vor 100 000 Jahren. Allerdings haben wir heute die Möglichkeit, viele Parameter zu testen und Entwicklungen wissenschaftlich zu überprüfen.

Eine 2020 publizierte wissenschaftliche Überprüfung des ursprünglichen Club of Rome / MIT Reports, bei der die verschiedenen 1972 entworfenen Szenarien mit der seither stattfindenden Entwicklung und den aktuellen empirischen Daten verglichen wurden, kam zu dem Schluss, dass die ursprünglichen Modelle im Rückblick bis jetzt ausgesprochen zutreffend waren.4

Untersucht wurden die globalen Entwicklungen in Bezug auf zehn Schlüsselvariablen, nämlich Bevölkerung, Fruchtbarkeitsraten, Sterblichkeitsraten, Industrieproduktion, Nahrungsmittelproduktion, Dienstleistungen, nicht erneuerbare Ressourcen, Umweltverschmutzung, menschliches Wohlergehen und ökologischer Fußabdruck.

Die Studie weist deutlich darauf hin, dass das globale Wirtschaftswachstum ohne größere Änderungen des derzeitigen Ressourcenverbrauchs (Business as usual-Szenario), etwa um 2040 seinen Höhepunkt erreichen und dann sehr schnell zurückgehen wird, was vermutlich in einer Kaskade von Zusammenbrüchen der globalen Ökonomie und schlussendlich einem gesellschaftlichen Zusammenbruch münden wird.

Zusammenbruch bedeutet allerdings nicht, dass die Menschheit aufhören wird zu existieren, wie man immer wieder von falschen Propheten hören kann. Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Es ist aber davon auszugehen, dass infolge des globalen wirtschaftlichen Niedergangs und den damit einhergehenden Verwerfungen unser bisheriger hoher Lebensstandard (von der Lebensmittelversorgung über die Sicherheit bis hin zum Gesundheitswesen) möglicherweise für immer, mit Sicherheit aber für sehr lange Zeit der Vergangenheit angehören wird.

Ein im ursprünglichen MIT-Report entworfenes Szenario, das ausschließlich auf technische Lösungen zur Bekämpfung der Probleme setzte, wurde ebenfalls einer kritischen Würdigung unterzogen. In diesem Szenario treten der wirtschaftliche Niedergang und eine Reihe anderer negativer Folgen, wenn auch ohne gesellschaftlichen Zusammenbruch, vor allem durch die hohen Kosten der technologischen Lösungen ein. Allerdings muss man sich bei diesem Szenario die grundsätzliche Frage stellen, warum wir teure (und Großteils noch nicht existierende) technische Lösungen benötigen, um zu demselben Ziel zu gelangen, wie es eine intakte Natur von selbst bewerkstelligen könnte. Anstatt beispielsweise teure und vermutlich wenig effiziente Bestäuberdrohnen zu entwickeln (eine schreckliche Utopie), wäre es doch eindeutig sinnvoller, mit geeigneten Renaturierungsmaßnahmen für eine Vielfalt bestäubender Insekten zu sorgen.

Jenes Szenario, das bedauerlicherweise am weitesten von den aktuellen empirischen Daten entfernt lag, war das einer »stabilisierten Welt«. In diesem sehr optimistischen Modell folgt die Zivilisation einem nachhaltigen Weg, der sowohl massive Investitionen in Bildung, Umweltschutz und öffentliche Gesundheit als auch technologische Innovationen umfasst. Hier wäre auch der geringste Rückgang des Wirtschaftswachstums zu erwarten.

Derzeit befinden wir uns am ehesten in Übereinstimmung mit dem Business as usual-Pfad, wobei, das sollten wir im Kopf behalten, vor einigen Jahrzehnten die Folgen von Klimaveränderungen und Biodiversitätsverlust noch eher unter- als überschätzt wurden.

Und dennoch lässt die quasi-religiöse Doktrin des allmächtigen Neoliberalismus offenbar nichts anderes zu als die zwanghafte Konzentration auf anhaltendes Wirtschaftswachstum um seiner selbst willen und um jeden Preis. Dieses besessene Streben nach unendlichem Wachstum in einer endlichen Welt ist der zentrale Schönheitsfehler, das schmutzige Detail in der bisherigen noch relativ kurzen Erfolgsgeschichte des Homo sapiens. Bemerkenswerterweise findet sich das Ziel des weiteren Wirtschaftswachstums auch in den viel zitierten 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen wieder. Konkret heißt es dort unter Ziel 8: »Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum […]«. Wollen wir wirklich Sklaven des endlosen Wirtschaftswachstums bleiben und damit die Chance auf ein freies, selbstbestimmtes Leben aufs Spiel setzen?

Mit Beschreiten des regenerativen Pfades für eine zunehmend stabilisierte Postwachstumswelt könnten wir nicht nur das Risiko des drohenden Zusammenbruchs deutlich verringern, sondern auch zu einer neuen, stabileren und gerechteren Zivilisation gelangen, die sich zudem langfristig innerhalb der planetaren Grenzen bewegt. Allerdings, darauf weist die aktuelle Studie ebenfalls mit aller Deutlichkeit hin, haben wir nur mehr wenig Zeit, um den Kurs zu ändern.

Der Kollaps hat längst begonnen

Das, was heute als »planetarer Notstand« bezeichnet wird, ist nicht erst gestern und völlig überraschend entstanden. Abgesehen vom 1972 publizierten Bericht des Club of Rome gab auch das 2005 veröffentlichte Millennium Ecosystem Assessment reichlich Anlass zur Sorge.5

Das damalige mediale Echo auf nichts weniger als eine, bis dato nie dagewesene, vollumfängliche wissenschaftliche Zusammenfassung des ernüchternden Zustands unserer Lebensgrundlage zur Jahrtausendwende unter der Beteiligung von mehr als 1300 weltweiten Wissenschaftlern ist bezeichnend für unser Dilemma: So berichtete beispielsweise die weltweit einflussreiche New York Times über das Erscheinen des wegweisenden Berichtes zum Zustand der globalen Ökosysteme mit einem kurzen Beitrag auf Seite 8, während auf der Titelseite desselben Tages über Michael Jackson und den tragischen Tod einer Frau, die jahrzehntelang im Wachkoma lag, berichtet wurde.

Diese Ignoranz ist insofern erstaunlich, als die Zusammenfassung des Millennium Ecosystem Assessment mit wenig erfreulichen, aber umso bedeutungsvolleren Ergebnissen aufwartete: Allein in den vergangenen fünfzig Jahren hat der Mensch die globalen Ökosysteme schneller, umfangreicher und nachhaltiger verändert als in vergleichbaren Zeitabschnitten der gesamten Menschheitsgeschichte davor. Ursachen für diese Veränderungen sind vor allem die nicht nachhaltige Erzeugung von Nahrung und der Zugriff auf die essenziellen, aber durch Missmanagement und Kurzzeitdenken immer knapper werdenden Ressourcen wie sauberes Trinkwasser, Holz und Treibstoff. Dies hat zu einem erheblichen und weitgehend irreversiblen Verlust der Vielfalt des Lebens auf der Erde geführt. Das Erscheinen dieses Berichtes ist mittlerweile gut zwanzig Jahre her.

Die regelmäßig stattfindenden internationalen Konferenzen und derzeitig politisch propagierten Maßnahmen gehen fälschlicherweise davon aus, dass der Kollaps irgendwann in der Zukunft liegen würde und bis jetzt noch nicht stattgefunden hätte. Das ist, wenn man obige Befunde liest, eindeutig ein großer und folgenschwerer Irrtum. Der Kollaps vollzieht sich langsam.

Neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten entstehen dann, wenn wir beziehungsweise die Politiker dieser Welt akzeptieren, dass der Beginn des viel zitierten »Kollapses« bereits in der Vergangenheit liegt. Es ist ein im täglichen Alltag weitgehend unsichtbarer Prozess. Zudem sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass Kollaps auch immer einen Verlust von Ordnung darstellt, wie wir ihn derzeit erleben. Allerdings, das ist quasi ein Naturgesetz, braucht es den Zusammenbruch eines Systems, damit es sich aus der frei gewordenen Energie wieder neu ordnen kann. Mit diesem universellen Phänomen werden wir uns später noch ausführlicher auseinandersetzen.

Abbildung 1 Living Planet Index. Während sich zwischen 1970 und 2018 die globale Bevölkerung verdoppelte, nahmen die erhobenen Tierpopulationen im gleichen Zeitraum um 69 Prozent ab. Der Living Planet Index (LPI) umfasst im neuesten Bericht 31 821 Populationen von 5230 Tierarten auf der ganzen Welt. Die Erhebung deckt allerdings nur Wirbeltierarten wie Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien ab. Viele taxonomische Gruppen wie Mikroorganismen, Insekten, Pilze, Korallen oder Pflanzen sind überhaupt nicht enthalten. Der LPI sagt nichts über die Anzahl der ausgestorbenen Arten aus, sondern zeigt, dass es zwischen 1970 und 2018 im Durchschnitt einen Rückgang der erhobenen Populationsgröße um 69 Prozent in den untersuchten Populationen gab.

Die akut gewordene Biodiversitätskrise zeigt sich für die meisten Menschen noch weniger deutlich als die Veränderungen der klimatischen Verhältnisse und das Problem absinkender Grundwasserspiegel mit zum Teil schlechter werdender Wasserqualität und drohendem Mangel an sauberem Trinkwasser. Das nimmt niemand so richtig wahr, solange es noch aus dem Wasserhahn sprudelt.

Laut Living Planet Report 2022 haben menschliche Aktivitäten während der letzten fünfzig Jahre weltweit zum Verlust von ca. zwei Drittel (!) der erfassten Bestände an Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen geführt (Abbildung 1).6 Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2017 ergab einen Rückgang der Fluginsekten um 75 Prozent (!) innerhalb der letzten 27 Jahre.7 Und das in einem Naturschutzgebiet.

Das sogenannte »Windschutzscheibenphänomen« bezeichnet die Beobachtung, dass etwa seit Beginn des neuen Jahrtausends weniger tote Fluginsekten auf den Windschutzscheiben und vorderen Stoßstangen von Fahrzeugen kleben bleiben. Diese traurige Realität wird auch in wissenschaftlichen Studien bestätigt. So fand eine dänische Studie zwischen 1997 und 2017 eine achtzigprozentige Reduktion von Insektenkadavern auf der Frontscheibe von Autos. Dabei korrelierte die Abnahme der Insekten, wenig verwunderlich, mit der Abnahme der Brutpaare verschiedener Schwalbenarten.8

Ein 2021 in der englischen Grafschaft Kent durchgeführtes Citizen-Science Projekt, das die toten Insekten auf den Nummernschildern von Autos quantifizierte, ergab, dass das Vorkommen von fliegenden Insekten während der letzten 17 Jahre um über siebzig Prozent gesunken ist.9

Vom Durchschnittsbürger nur selten bedacht, kommt das einer dräuenden Katastrophe gleich, denn der Wegfall der großen Basis einer komplexen Nahrungskaskade hat ökologische Auswirkungen ungeahnten Ausmaßes. Alle insektenfressenden Arten von Kleinsäugern, Vögeln, Amphibien und Reptilien werden ihrer Nahrungsgrundlage beraubt, was wiederum Folgen für die aufsteigende Nahrungskette hat. Insekten und andere wirbellose Tiere sind entscheidend für gesunde und funktionierende Ökosysteme. Sie bestäuben die meisten Kulturen der Welt, fungieren als natürliche Schädlingsbekämpfungsdienste, zersetzen organische Stoffe und recyceln Nährstoffe im Boden. Ohne sie würde das Leben auf der Erde zusammenbrechen.

Mit dem verzeichneten Insektenschwund in Übereinstimmung sind von 1980 bis 2016 in der EU rund 56 Prozent aller Feldvögel verschwunden, wie aus einem europaweiten Vogelmonitoring des European Bird Census Council hervorgeht.10 Hunderte Millionen Tiere sind damit schlicht verschwunden. Der Naturschutzbund Deutschland geht für die Bundesrepublik von einem Schwund von mehr als vierzig Prozent der Feldvögel seit 1980 aus.11

Derart beunruhigende Studienergebnisse existieren zuhauf. Die Ergebnisse lassen sich durchaus mit dem, was der gewissenhafte Naturbeobachter jenseits des fünfzigsten Lebensjahres über die Jahrzehnte beobachtet, in Einklang bringen. Es ist in den letzten Jahren verdammt still geworden in vielen Gegenden. Tatsächlich mussten manche Studien feststellen, dass es in einigen Fällen sogar schneller bergab ging, als in früheren Schätzungen prognostiziert wurde. Die Aussichten sind im wahrsten Sinne des Wortes vernichtend.

Ein möglicher Grund, warum viele Menschen diese bedrohlichen Veränderungen nicht wahrhaben wollen, ist der simple Umstand, dass es Derartiges in einem solchen Umfang und in so kurzer Zeit seit Menschengedenken noch nie gegeben hat. Zudem fühlen sich nur mehr wenige Menschen mit der Vielfalt unserer belebten Mitwelt und der Natur verbunden. Wir können es uns offenbar schlicht nicht vorstellen, dass der Mensch in der Lage ist, derart gravierend in das globale System der Biosphäre einzugreifen. Abgesehen davon leben immer mehr Menschen in Städten, vollkommen separiert von der Fauna und Flora natürlicher Lebensräume.

Die zunehmende Migration in die Städte führt auch dazu, dass sich die Fläche, die bis 2060 verbaut wird, vermutlich verdoppeln wird, wobei diese Orte in der Vergangenheit in der Regel die fruchtbarsten Böden aufwiesen.

Die Vereinten Nationen rechnen bis 2050 mit mehr als 200 Millionen Flüchtlingen. Niemand kann die genaue Zahl vorhersagen. Dass ein derartiges Migrationsszenario aber sehr wahrscheinlich auch mit geopolitischen Problemen und sozialen Unruhen einhergehen wird, müsste jedem klar sein.

Die steigenden Energiepreise, die globalen wirtschaftlichen Verwerfungen und die damit einhergehenden Inflationsraten und Teuerungen hingegen haben wir spätestens seit den letzten Energiekostenabrechnungen oder sonstigen Kassenbons schmerzhaft realisiert. Die weltweite Finanzkrise des Jahres 2008 ging dagegen an vielen Menschen noch recht unbemerkt vorüber.

Weitere zunehmend virulente Probleme sind der demografische Wandel (mit einer auf dem Kopf stehenden Bevölkerungspyramide) und der zunehmende Ressourcenmangel auf einem begrenzten Planeten, steigende soziale Ungleichheit, politischer Extremismus, Cyberterrorismus und eine rasante wie unkontrollierte Technologieentwicklung samt dem neuen Fetisch der umfassenden Digitalisierung unseres Lebens bis in die Kindergärten und Volksschulen.

Während in den täglichen Nachrichten die Hiobsbotschaften des Klimawandels dominieren, findet der Umstand, dass die toxischen Nebenprodukte unseres technologischen »Fortschritts« bereits zu einer bedenklich lebensfeindlichen Umwelt geführt haben, selten Erwähnung. Das Gewicht von Plastik auf der Erde ist größer als das von allen Tieren am Land und im Wasser zusammengenommen. Eine tickende Zeitbombe sind vor allem jene Tausenden Chemikalien, die antibiotische Wirksamkeit besitzen, sowie unzählige hormonaktive Substanzen (sogenannte Endokrine Disruptoren). Letztere kommen in Kunststoffen, Elektronikartikeln, Baustoffen, Kosmetikprodukten, Textilien, industriellen Löse- und Schmiermitteln, Arzneimitteln und zahlreichen anderen Alltagsprodukten vor. Besonders problematisch ist das Vorkommen in vielen landwirtschaftlichen Pestiziden, denn sie werden weltweit nach wie vor in bedenklichen Mengen großflächig ausgebracht, reichern sich in Böden, Gewässern und der Atmosphäre an und gelangen auf diese Weise in Organismen wie Pflanzen, Tiere und den Menschen.12

Mittlerweile ist bereits einer von sechs Menschen weltweit von Unfruchtbarkeit betroffen,13 und die Spermienanzahl junger Männer nahm zwischen 1973 und 2018 um mehr als fünfzig Prozent ab.14 Über die katastrophalen Folgen der unkontrollierten Freisetzung antimikrobiell wirksamer chemischer Verbindungen für Böden, Pflanzen, Tiere und den Menschen habe ich bereits in meinen letzten beiden Büchern ausführlich berichtet.

Doch sind wir gegenüber all diesen Dingen machtlos? Brauchen wir neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder zukünftige Erfindungen technischer oder elektronischer Natur, um all dieser Probleme Herr zu werden? Kann uns vielleicht gar nur die künstliche Intelligenz retten? Wie sieht es mit der viel gepriesenen Nachhaltigkeit aus?

Tatsächlich haben uns bisherige Nachhaltigkeitsbestrebungen nicht einmal in die Nähe eines Momentums gebracht, das annähernd zukunftstauglich sein könnte. Das zeigen uns die Daten zum Zustand der Biosphäre. Wir sollten daher der Tatsache ins Auge sehen, dass vollmundige Versprechen und Zukunftsziele, wie sie am Ende von internationalen Konferenzen gerne verkündet werden, bisher kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben standen.

Gehen wir vielleicht stattdessen zu den Wurzeln unserer Probleme zurück und fragen uns: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Weder der Biodiversitätsverlust noch die meisten unserer anderen Probleme sind auf eine unvorhergesehene Naturkatastrophe zurückzuführen, gegen die wir machtlos gewesen wären. Sie sind die Folge menschlichen Handelns und haben daher eine klare Ursache.

Die Obsession vom ewigen Wirtschaftswachstum

In natürlichen Systemen wächst zu Beginn alles, durchaus auch kompetitiv, bis das quantitative Wachstum irgendwann zum Stillstand kommt. In der Folge ist nur mehr qualitatives Wachstum zu beobachten. Das gilt für so gut wie alle Lebensformen innerhalb einer begrenzten Welt, beispielsweise auch für unseren menschlichen Körper. Nur die neoliberale Marktwirtschaft auf Basis des »Raubtierkapitalismus« möchte weiter und immer weiterwachsen, als gäbe es keine natürlichen Grenzen.

Dass aber auch wirtschaftliches Wachstum schließlich endlich sein muss, wird in Wirtschaftskreisen nicht gerne gehört. Auch dann nicht, wenn selbst der ehemalige Chefökonom der Weltbank und Wirtschaftsnobelpreisträger15 Joseph Stiglitz zu diesem an sich wenig verwunderlichen Schluss kommt.

Er gibt unumwunden zu, dass das neoliberale Modell nicht funktioniert hat und kaputt ist. Stiglitz wies ebenfalls darauf hin, dass die miteinander verbundenen Krisen der Umweltzerstörung und des menschlichen Leids unserer heutigen Zeit zeigen, dass »etwas grundlegend falsch ist mit der Art und Weise, wie wir wirtschaftliche Leistung und sozialen Fortschritt bewerten«.16

Laut Joseph Stiglitz lässt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Maß für wirtschaftliche Gesundheit eines Landes keinerlei vernünftige Einschätzung des tatsächlichen Zustandes der Wirtschaft oder der Welt samt der darin lebenden Menschen zu. Es sagt schon gar nichts über die Verteilung des »Wohlstands« innerhalb eines Landes aus. So können auch ganz wenige Superreiche und viele ärmere Menschen unter dem Strich ein hohes BIP ergeben. Und genau dahin geht seit Jahrzehnten die Entwicklung. In den 1950er- und 1960er-Jahren korrelierte die Zunahme des BIPs noch weitgehend mit dem individuellen Wohlstand und dem Wohlergehen der gesamten Bevölkerung. Dem ist schon lange nicht mehr so.

Ab den 1980er-Jahren begann sich eine Schere aufzutun, bei der zwar die Wirtschaft weiterwuchs, das Wohlergehen der Menschen aber nicht in gleichem Maße anstieg. Im Gegenteil: In vielen Bereichen nahm es sogar ab. Die Gewinnzuwächse seit der letzten Jahrtausendwende sind lediglich an die obersten zehn Prozent der Bestverdiener gegangen. Neunzig Prozent der Bevölkerung erleben im besten Fall nur Stagnation. All jene, die sich an »die Regeln« gehalten und hart gearbeitet haben, sind die Verlierer des derzeitigen Systems.

Die Karten liegen also zumindest seit Ende des letzten Jahrhunderts auf dem Tisch, und dennoch werden uns seither weiterhin regelmäßig die sinnlosen, weil wenig aussagenden Wachstumsprognosen von sogenannten Wirtschaftsexperten und Politikern über die Medien ausgerichtet. Ein Teil der Bevölkerung mag sich dabei vermutlich denken, dass das schon irgendwie gut gehen wird. Ich sage dir, dass es das nicht wird. Kann es gar nicht. Das wird dir jeder aufmerksame Beobachter, der nicht selbst Nutznießer dieses Systems ist, bestätigen. Wir werden belogen und zum Teil von Soziopathen regiert und gelenkt.17

Die meisten Nationen streben weiterhin Wirtschaftswachstum als das höchste erstrebenswerte Gut, als das Wohlstandsmaß und Maß für den Fortschritt schlechthin an. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in den damit verbundenen hohen Steuereinnahmen, hohen Sozialabgaben und erhofften hohen Beschäftigungsquoten.

Dass ein steigendes BIP nicht automatisch mit steigendem Wohlstand der Allgemeinbevölkerung und einer intakten Umwelt einhergeht, zeigt auch folgendes Beispiel: 2010 explodierte eine Ölbohrplattform, woraufhin sich 800 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko ergossen. Ein kapitaler Umweltschaden. In der Folge stieg das US-amerikanische BIP, da Unsummen in die Schadensbehebung und -begrenzung investiert werden mussten. Traurig, aber wahr: Die Zerstörung der Umwelt ist nicht selten auch gut fürs Geschäft.

In gleichem Maße führt auch eine steigende Anzahl kranker Menschen über ein florierendes Medizinsystem zu einem Anstieg des BIP. Das ist keine Polemik, sondern wirtschaftliche Realität. Denn das moderne medizinische System und alle Zulieferindustrien tragen maßgeblich zum BIP der Wirtschaftsnationen bei.

Auch aus ökologischer Sicht ist grenzenloses Wirtschaftswachstum nicht vertretbar. Denn bisher ist es in keinem Land der Welt gelungen, das Wirtschaftswachstum von Emissionen und Umweltschäden gänzlich zu entkoppeln. Das ist das Dilemma moderner Wirtschaftsnationen. Vielleicht sollten wir endlich zur Kenntnis nehmen, dass endloses Wachstum und Reduktion von Emissionen und Umweltschäden schlicht inkompatibel sind.

Unser Wirtschaftssystem wird sich den ökologischen Anforderungen und den menschlichen Bedürfnissen anpassen müssen, ob es den Top Ten der Wirtschaftseliten oder den vermeintlichen Experten passt oder nicht. Warum uns das wirre und monomane Gerede vom ewigen Wachstum und die Besessenheit von Zahlen nicht ganz ohne Grund an wahnhafte Halluzinationen psychisch Erkrankter erinnern, werden wir später noch sehen.

Illusion Fortschritt

»Die aufregendsten Durchbrüche des 21. Jahrhunderts werden nicht aufgrund der Technologie stattfinden, sondern aufgrund eines sich erweiternden Konzepts dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein.«

– JOHN NAISBITT (Zukunftsforscher, 1929–2021)

In schwierigen Zeiten wie diesen treten natürlich auch viele Apologeten des bedingungslosen Fortschritts in Erscheinung, die uns ihre wunderbar einfach erscheinenden (Er-)Lösungen in Form von modernen (und vielfach unerprobten und daher potenziell gefährlichen) Technologien aufdrängen beziehungsweise verkaufen möchten. Während es in der Geschichte der Menschheit immer wieder sinnvolle technische Erfindungen und einen damit verbundenen echten Fortschritt gab (zum Beispiel durch den Buchdruck, die Eisenbahn oder den Computer), ist es ein fahrlässiger Irrglaube, unsere Zukunft ausschließlich von (vielleicht) kommenden Erfindungen, technischen Innovationen und damit von den sogenannten Fortschrittskriterien (größer, schneller, weiter, höher etc.) abhängig machen zu wollen.

Gentechnik (vor allem die neue »grüne«), Geo-Engineering, neue Pandemieverträge, neue Energielösungen, Nanomaterialien, E-Mobilität, künstliche Intelligenz, Transhumanismus und die digitale Vernetzung aller Menschen im virtuellen Metaversum sollen der Menschheit den ersehnten Fortschritt bringen und die Gesellschaft sogar vor dem zivilisatorischen Kollaps erretten. Nur eine weitere Intensivierung der mit synthetischer Chemie und toxischen Substanzen angetriebenen industriellen Landwirtschaft könne die ansteigende Weltbevölkerung ernähren. Das sind die engstirnigen und mithilfe der Medien zur Wahrheit erhobenen Narrative unserer Zeit.

Du kennst vermutlich alle diese glitzernden Versprechen, die oft schön verpackt und zum Teil mit auf den ersten Blick durchaus überzeugenden Argumenten durch die unzähligen medialen Kanäle daherkommen. Viele Menschen wollen diese Versprechungen der »Rettung durch technischen Fortschritt« nur allzu gerne glauben, denn dann müssen sie an sich selbst und ihrem Lebensstil nur wenig oder gar nichts ändern. Alles kann dann bleiben, wie es ist. Wie betörend einfach!

Tatsächlich hat uns der Fortschritt im Verlauf des letzten Jahrhunderts eine stetig ansteigende Lebenserwartung eingebracht. Allerdings ist diese nicht auf den Fortschritt in seiner Gesamtheit zurückzuführen, sondern auf einzelne Aspekte desselben wie beispielsweise Kanalisationen, sauberes Trinkwasser, eine verbesserte Alltagshygiene und die eine oder andere medizinische Innovation. Das ist unbestreitbar.

Manche scheinen aber geradezu einer Fortschrittsbesessenheit verfallen zu sein, ohne dabei das große Ganze im Auge zu behalten und die möglichen Technikfolgen abzuschätzen. So basiert die derzeit propagierte Idee, wir könnten auf anderen Planeten menschliche Kolonien ansiedeln (beispielsweise auf dem Mars), im Wesentlichen auf der vollständigen Ignoranz der Proponenten solcher Ideen gegenüber dem komplex gewobenen Netz des Lebens auf der Erde. Langfristig gesundes menschliches Leben ohne unsere seit Jahrmillionen angestammte Umwelt, die Biosphäre, ist unmöglich! Das sagen uns auch die wissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahrzehnte. Es ist schlicht ein technischer Machbarkeitswahn, der derartige Milliardenprojekte vorantreibt. Die Kosmonauten und Astronauten der internationalen Raumstation ISS klagen etwa bereits nach einem halben bis einem Jahr (!) Aufenthalt im All über zum Teil erhebliche Gesundheitsprobleme, die zu einem beträchtlichen Teil auf die fehlende mikrobielle Exposition in der vegetationsfreien Raumstation zurückzuführen sind. Die Folgen sind Störungen des Mikrobioms mit Symptomen wie Verdauungsstörungen, psychische Beeinträchtigungen, Allergien etc. Die fehlende Gravitation lässt zudem Muskeln und Knochenstruktur schwinden.

Bezeichnen wir diese besessene Suche nach neuen bewohnbaren Planeten doch als das, was sie ist: eine wahnhafte Vorstellung