Reichsgräfin Gisela - Eugenie Marlitt - E-Book

Reichsgräfin Gisela E-Book

Eugenie Marlitt

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Beschreibung

In "Reichsgräfin Gisela" von Eugenie Marlitt wird die Geschichte einer jungen Gräfin erzählt, die in die Wirren des 19. Jahrhunderts gerät. Der Roman entführt den Leser in eine Welt voller Intrigen, Liebe und gesellschaftlicher Konventionen. Marlitts literarischer Stil zeichnet sich durch detaillierte Beschreibungen und eine eindringliche Darstellung der Protagonisten aus. Das Buch reflektiert die Zeit, in der es geschrieben wurde, und bietet Einblicke in die gesellschaftlichen Normen des 19. Jahrhunderts. Eugenie Marlitt, eine deutsche Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, war bekannt für ihre romantischen Romane. Als Frau in einer Männerdomäne der Literatur schrieb sie mit großer Sensibilität und Tiefgang über die sozialen und emotionalen Herausforderungen ihrer Zeit. Ihr persönlicher Hintergrund und ihre Erfahrungen spiegeln sich in ihren Werken wider, was sie zu einer einzigartigen Stimme in der deutschen Literatur macht. "Reichsgräfin Gisela" ist ein fesselnder historischer Roman, der sowohl Liebhaber der Literatur des 19. Jahrhunderts als auch Leser, die sich für gesellschaftliche Verhältnisse und starke weibliche Charaktere interessieren, begeistern wird. Marlitts Werk ist eine Hommage an die Kraft der Liebe und des persönlichen Wachstums, verpackt in einer spannenden Erzählung, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite mitreißt.

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Eugenie Marlitt

Reichsgräfin Gisela

Books

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1363-4

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Es war noch früh am Abend... Die kleine Neuenfelder Turmglocke erhob pflichtschuldigst ihre Stimme und schlug sechsmal an – das klang wie ein halbersticktes Wimmern; denn der Sturm sauste durch die Schallöcher und zerblies die dünnen Schläge nach allen vier Winden. Dabei lagerte bereits die undurchdringliche Finsternis einer lichtlosen Dezembernacht über der Erde... Daß da droben die funkelnden Sternbilder in wandellosem Glanze allmählich aus dem tiefdunkeln Grunde hervortraten, daß es unbeirrt leuchtete und glühte wie über der wolkenlosen, blütenduftenden Maiennacht – wer dachte daran angesichts der vorübersausenden Wetterwand, die Erde und Himmel schied?... Und wer dachte an lieblichen Mondenglanz, an das matte Silberlicht der nachtgeborenen himmlischen Wanderer inmitten der gewaltigen vier Wände, die wie ein riesiger Würfel in das Dunkel hineinragten und an deren Ecken der Sturm machtlos seine Flügel zerstieß?... Da drin funkelte und leuchtete es auch, aber in jener unheimlichen Glut, die ein Feuerstrom, durch Menschenhand gelenkt und gebändigt, um sich verbreitet. Der Neuenfelder Hochofen war in voller Tätigkeit.

Ein greller, blutigroter Schein entströmte dem Feuerkern des Vorherdes und floß über die nackten Quadern der Mauern und die geschwärzten Gesichter der schweißtriefenden Arbeiter.

Was dort hervorquoll in flutender Bewegung und als glühende Tränen geschmeidig vom Gießlöffel herabtropfte, das waren die Erze, die, Jahrtausende starr und kalt im Panzer der Erde zusammengeschichtet, nun während eines einzigen furchtbaren Lebensmomentes ineinander rannen, um dann nach menschlicher Willkür und Laune in irgendeiner Form zu erstarren.

Die Fenster des mächtigen Baues schimmerten nur matt nach außen, aber droben aus der Esse lohte die weithin sichtbare Glut, dann und wann eine Funkengarbe ausstoßend, als ob eine vermessene Faust eine Handvoll Sterne gegen den Himmel schleudern wollte – sie zerstoben wirkungslos im Dunkel, wie der Menschengedanke an den sieben Siegeln des großen Geheimnisses über uns.

In dem Augenblick, als es sechs Uhr schlug, wurde die Haustür der unweit der Gießerei gelegenen Hüttenmeisterwohnung leise aufgemacht; das sonst so vorlaute, unermüdlich nachklingende Türglöckchen schwieg dabei – es wurde offenbar mit vorsichtiger Hand gehalten, während eine Frau auf die Schwelle trat.

»Ei du liebe Zeit, 's ist unterdes Winter geworden! Da haben wir ja mit einemmal den allerschönsten Weihnachtsschnee!« rief sie. In diesem Ausruf lag eine heitere Überraschung, ein Ton, den man anschlägt beim plötzlichen Wiedersehen eines alten, lieben Bekannten... Die Stimme klang fast zu tief und markig für eine Frauenstimme; allein das verschlug den Pfarrkindern von Neuenfeld sehr wenig – sie schwuren auf das, was die Stimme ihrer Pfarrerin sagte, wie auf das Evangelium.

Die Frau schritt vorsichtig die schlüpfrige Freitreppe hinab. In dem langhingestreckten, schwachrötlichen Lichtstreifen, den ihr Laternchen über den Weg warf, flirrte und flimmerte es einen Augenblick ungestört im lautlosen Niedersinken. Aber nun fegte ein jäher Windstoß um die Ecke; er warf der Pfarrerin den großen Kragen ihres Mantels über den Kopf und zerstiebte den lockeren, federweißen Flaum auf Weg und Steg abermals in Atome.

Die Pfarrerin schlug den Kragen zurück, schob mit der Linken den gelockerten Kamm fester in die gewaltigen Haarflechten des Hinterkopfes und zog das um die Ohren gebundene Tuch schützend über die Stirn. Wie ein Reckenweib stand die große, festgegliederte Gestalt inmitten des staubenden Schneewirbels, und der Laternenschein beleuchtete Züge voll Kraft und Frische, eines jener energischen Gesichter, über die der strenge Atem des Winters, wie der Wechsel des Lebens gleich erfolglos hinstürmten.

»Nun will ich Ihnen etwas sagen, mein lieber Hüttenmeister!« wandte sie sich an den Mann zurück, der sie begleitet hatte und auf der Türschwelle stand. »Da drin durft' ich's nicht... Meine Tropfen sind gut, und auf den Fliedertee lasse ich auch nichts kommen, aber es kann nicht schaden, wenn die alte Röse heute nacht aufbleibt – vielleicht behalten Sie auch einen von den Hüttenleuten in der Nähe, wenn etwa doch der Doktor herüber müßte.«

Der Mann machte eine Bewegung des Schreckens.

»Tapfer, tapfer, lieber Freund, es kann nicht immer so glatt abgehen im Leben!« ermutigte die Pfarrerin. »Übrigens ist ja solch ein Doktor beileibe kein Werwolf, und man braucht nicht gleich an das Schlimmste zu denken, wenn man einmal mit ihm zu tun hat... Ich bliebe gern noch da – denn wie ich merke, sind Sie durchaus kein Held am Krankenbett –, aber meine kleinen Panduren daheim wollen essen; ich habe den Kellerschlüssel bei mir, und Rosamunde kann nicht zu den Kartoffeln... Und nun Gott befohlen! Geben Sie die Tropfen hübsch pünktlich – morgen in aller Frühe bin ich wieder da!«

Sie ging. Ihre Kleider blähten sich und flatterten wild auf, und der falbe, zitternde Lichtfleck der beunruhigten Laternenflamme hing bald droben an knarrenden Baumästen, bald kroch er scheu am Boden hin; aber mochte der Sturm auch wütend hinter ihr hersausen, die Frau ließ sich nicht treiben, ihre Schritte blieben fest und gleichmäßig, bis sie verhallten.

Der Hüttenmeister lehnte noch einen Moment in der Tür, und seine Augen verfolgten den tröstlichen Lichtschein, bis er in der Ferne erlosch.

Mittlerweile war es in den Lüften stiller geworden – der Sturm hielt den Atem an; von fern her tosten die niederstürzenden Wasser eines Wehres, und aus der Gießerei scholl das dumpfe Geräusch der Arbeit. Aber auch eilig sich nähernde Fußtritte wurden laut, und bald darauf bog eine männliche Gestalt um die Hausecke. Ein Soldatenmantel flog um die hageren Glieder des Mannes; er hatte sich die Schildmütze mit dem Taschentuch auf dem Kopfe festgebunden, und vor ihm her fiel es hell aus der großen Stallaterne, die er in der Linken trug.

»Was, zwischen Tür und Angel bei dem Lüftchen, Hüttenmeister?« rief er, als das Laternenlicht auf den einsam dort lehnenden Mann fiel. »Aha, da ist also der Student nicht angekommen, und Sie schauen noch nach ihm aus wie?«

»Ach nein, Bertold ist schon seit heute nachmittag da, aber er ist krank und macht mir viel Sorge«, entgegnete der Hüttenmeister. »Kommen Sie doch herein, Sievert!«

Sie traten in das Haus.

Es war eine große, ziemlich niedrige Stube, die der Hüttenmeister öffnete. Draußen tobte eben der Sturm mit erneuter Wut gegen die alten Wände, die, nach innen so traut und friedlich, liebe Familienbilder auf ihrer helltapezierten Fläche trugen. Ein feiner Luftzug drang freilich durch die Fensterritzen und bewegte dann und wann leise die großgeblumten Kattunvorhänge, aber sie verhüllten fest zusammengezogen die Scheiben und das wilde Schneetreiben jenseits derselben. Ist etwas geeignet, eine Familienstube auf dem Thüringer Wald heimisch und gemütlich zu machen, so ist es der gewaltige Kachelofen, der oft selbst im Hochsommer seine Tätigkeit nicht einstellt. Auch hier ragte er riesig und dunkel weit in das Zimmer hinein, und die erhitzten Kacheln verbreiteten eine gleichmäßige köstliche Wärme. So hätte die altväterlich eingerichtete Eckstube leicht das Gefühl der Behaglichkeit erwecken können, wäre nicht der ominöse Duft des Fliedertees gewesen, der die Luft erfüllte; ein eilig aus grünem Papier hergestellter Schirm dämpfte das Lampenlicht, und der Perpendikel hing bewegungslos in der hölzernen Wanduhr – lauter Anstalten, die eine vorsorgliche Frauenhand verrieten.

Der Gegenstand aller dieser Umsicht und Fürsorge schien sich jedoch vorläufig noch energisch gegen die Krankenrolle zu sträuben. Es war ein blutjunges Menschenkind, das den Kopf unaufhörlich zwischen den weißen Kissen des einstweilen auf dem Sofa hergerichteten Lagers hin und her warf; die wärmende Decke war zum Teil auf den Fußboden herabgeglitten, und der ungeduldige Patient schob eben die gefüllte Teetasse grollend weit von sich, als die beiden Männer eintraten.

Wir sehen jetzt den Hüttenmeister in einem vollen Strahl der Beleuchtung, den der unbedeckte Teil der Lampe auf ihn wirft. Er ist ein auffallend schöner junger Mann von imposanter Gestalt. Wir begreifen nicht, wie er sich unter der niedrigen Zimmerdecke so zwanglos bewegen kann – man meint, sie müsse seinen lockigen Scheitel streifen. Seltsam kontrastiert das aschblonde Haupt- und Barthaar mit den schöngeschwungenen, sehr dunkeln Brauen; sie sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen und geben dem Gesicht etwas unbeschreiblich Melancholisches – der Volksglaube sieht in dieser eigentümlichen Bildung einen Stempel des Unglücks, die untrügliche Prophezeiung eines traurigen Schicksals.

Dem unbeteiligten Beobachter würde es sicher nicht einfallen, den Kranken und diesen hochgewachsenen Mann für Blutsverwandte zu halten. Dort das knabenhafte, magere Gesicht mit dem bleichen, alabasterartigen Teint und der römischen Profillinie unter einer köstlichen Fülle bläulich-schwarzer Locken, und hier der deutsche Typus, eine blühend kräftige, blondbärtige Männergestalt, das untadelhafte Bild der Thüringer Edeltanne – und doch sind die beiden Brüder, zwei Menschen, die nur noch ein Familienband besitzen, das unter sich.

Der Hüttenmeister trat rasch an das Bett, hob die Decke empor und verhüllte den Kranken bis über die Schultern; dann nahm er die verächtlich weggeschobene Tasse und hielt sie an dessen Lippen. Das geschah schweigend, aber mit einem unabweisbaren Ernst, gegen den sich schlechterdings nichts einwenden ließ. Der rebellische Patient wurde plötzlich sanftmütig und leerte die Tasse pflichtschuldigst bis auf die Neige; darauf ergriff er mit einer leidenschaftlich zärtlichen Gebärde die Hand des Bruders, und seine Wange daran schmiegend, zog er sie mit sich auf das Kissen nieder.

Währenddem war der Mann im Reitermantel auch näher getreten.

»Na, junger Herr, ist das auch eine Art, ins Quartier einzurücken? Pfui, schämen Sie sich!« sagte er, indem er die Laterne auf den Tisch stellte. Diese Anrede sollte jedenfalls humoristisch klingen; durch die eigentümlich rauhe und ungefügige Stimme des Mannes erhielt sie jedoch weit mehr den Charakter einer derb polternden Zurechtweisung – ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch das unwandelbar finstere Gepräge der Gesichtszüge – sie sahen fast zigeunerhaft dunkel aus der Umhüllung des grellroten baumwollenen Taschentuchs.

Der Angeredete fuhr empor; eine jähe Röte flammte über das blasse Gesicht, und seine aufgeregten Augen hefteten sich finster forschend auf den Eingetretenen, den er bis dahin nicht bemerkt hatte. Dabei zuckte seine Rechte unwillkürlich nach dem auf dem Tisch liegenden Cereviskäppchen, dem Abzeichen seiner Würde als Student und Burschenschafter.

»Laß gut sein, Bertold!« sagte, lächelnd über diese Bewegung, der Hüttenmeister. »Es ist ja unser alter Sievert –«

»Ei, was wird denn das junge Blut vom alten Sievert wissen?« fiel ihm der Mann im Soldatenmantel trocken in das Wort. »Als flotter Bursche weiß einer nicht mehr, wie gut ihm der Kinderbrei geschmeckt hat – gelt, Herr Student?... Da, just auf der Stelle, wo Sie jetzt liegen, stand dazumal die Wiege, und da lag der kleine Kerl drin und strampelte und schrie nach der toten Mutter und schlug dem Vater und der Röse den Breilöffel aus der Hand – weiß der Henker, was Ihnen an meinem Gesicht so besonders gefallen hat, aber da wurden Boten über Boten in das Schloß geschickt, und der Sievert mußte her und den Kleinen füttern... Hei, wie er lachte! Die Tränen kollerten noch über die Backen, aber der Brei rutschte glücklich hinunter!«

Der Student reichte dem Sprechenden beide Hände über den Tisch hinüber. Der knabenhafte Trotz in seinen Zügen war einem fast mädchenhaften kindlichen Ausdruck gewichen. »Das hat mir mein Vater oft genug erzählt«, entgegnete er mit weicher Stimme, »und seit Theobald Hüttenmeister in Neuenfeld geworden ist, hat er mir auch viel von Ihnen geschrieben.«

»So, so – kann sein«, brummte Sievert. Damit schien er jede weitere Erörterung abschneiden zu wollen. Er schlug seinen Mantel zurück, und der Anblick, den er jetzt darbot, machte den Studenten hell auflachen. Am rechten Arm hing ihm ein Henkeltopf aus weißem Blech, daneben ein Weidenkorb, in dem ein Brot lag; an einem seiner Rockknöpfe baumelte ein Bündel Unschlittkerzen, und aus der Brusttasche guckte der Glasstöpsel eines Rumfläschchens im Verein mit einer gefüllten Papiertüte.

»Ja, ja, da lachen Sie nun!« sagte der Alte – diesmal konnte man leicht eine starke Dosis Groll, aber auch einen Anstrich von Resignation aus der harten Stimme heraushören. »Dazumal war ich Kindermagd, und jetzt bin ich Küchenjunge – hat mir mein Vater auch nicht an der Wiege gesungen... Was soll man nun da sagen!... Die alte Frau trinkt keine Ziegenmilch, das weiß Fräulein Jutta besser als ich, aber wenn ich nicht daran denke, daß Kuhmilch im Dorfe geholt wird, da geschieht es auch ganz gewiß nicht... Ich komme heute mit todmüden Beinen aus dem Walde, habe ein hübsches Bündel Holz zusammengeschlagen und freue mich auf die warme Stube – ja post festum, da ist die Milch vergessen, keine Krume Brot im Schranke, und auf dem Leuchter steckt das letzte Stümpfchen Licht. Fräulein Jutta aber ist aufgedonnert, als ging's zu einer Hoftafel beim Kaiser von Marokko, und spricht von – Teegesellschaft; na, die hätte uns noch gefehlt im Waldhause! Möchte nur wissen, mit was sie den Herrn Studenten hat traktieren wollen! O über –«

Während Sieverts Schilderung war der Hüttenmeister flammendrot geworden; bei dem letzten Ausruf aber hob er drohend den Zeigefinger, und ein so zornsprühender Blick traf den Alten, daß er scheu die Augen wegwandte und den Satz unvollendet ließ. Der Student dagegen war das Bild der gespanntesten Aufmerksamkeit – er hatte beide Arme auf den Tisch gelegt, und seine Augen hingen unverwandt an den Lippen des Sprechenden.

»Na, und Bauernbrot kann ich der alten Frau auch nicht auf den Tisch bringen«, fuhr Sievert nach einer Pause ablenkend fort; »da bin ich noch nach Arnsberg gelaufen, und der Schloßverwalter hat mir nolens volens dies Brot da herausrücken müssen... Der weiß übrigens auch nicht, wo ihm der Kopf steht. In der Küche hantiert der Koch aus A.; ein halb Dutzend Bediente rennt hin und her; es wird gesäubert, geheizt und beleuchtet aus Leibeskräften – Seine Exzellenz, der Minister, kommt trotz Sturm und Schneewetter heute abend noch nach Arnsberg. In A. und ganz besonders in seinem Hause ist der Typhus ausgebrochen, und da will er die kleine Gräfin in Person auf das einsame Arnsberg reiten.«

Ein Zug tiefen Mißbehagens ging durch das schöne Gesicht des Hüttenmeisters. Er schritt rasch einigemal im Zimmer auf und ab.

»Und wissen Sie nicht, wie lange der Minister hier bleiben will?« fragte er stehen bleibend.

Sievert zuckte die Achseln.

»He, was weiß ich!« sagte er. »Ich denke mir übrigens, es ist ihm weniger um das Kind als um seine eigene Person zu tun, und da wird er ja wohl abwarten, bis Freund Hein aus A. wieder abgezogen ist.«

Das waren offenbar keine erfreulichen Nachrichten für den jungen Mann; er blieb einen Augenblick nachdenklich mitten im Zimmer stehen, enthielt sich jedoch jeder weiteren Bemerkung.

»Sievert«, sagte er nach einer Pause, »erinnern Sie sich des Herrn von Eschebach?«

»Ei ja – er war Leibarzt beim Prinzen Heinrich und hat mir einen Armbruch glücklich kuriert... Vor etwa sechzehn Jahren ist er übers Meer gegangen und hat nie wieder ein Sterbenswort von sich verlauten lassen – soviel ich mir denke, haben ihn die Seefische gefressen.«

»Bis jetzt noch nicht, Sievert!« entgegnete lächelnd der Hüttenmeister. »Heute nachmittag kam ein weitgereister, an meinen verstorbenen Vater adressierter Brief in meine Hände. Der Totgeglaubte schreibt eigenhändig, daß er mit wehmütiger Freude der Zeit gedenke, wo er von Schloß Arnsberg aus nach dem Hüttenmeisterhaus in Neuenfeld gewandert sei, um dicke Milch unter den Linden zu essen... Er lebt unverheiratet und kinderlos in Brasilien, ist unumschränkter Besitzer großer Bergwerke, Eisengießereien und so weiter, führt aber ein völlig einsiedlerisches Leben und bittet schließlich meinen Vater, ihm einen seiner Söhne zu schicken, da er oft leidend sei und einer Stütze bedürfe.«

»Hei, da gibt's eine fette Erbschaft!«

»Sie wissen, Sievert, daß ich um keinen Preis von Neuenfeld fortgehen werde«, sagte der Hüttenmeister kurz.

»Und mir fällt es nicht ein, mich auf diese Weise von Theobald zu trennen – Herr von Eschebach mag seine Gold- und Silberminen behalten! – rief lebhaft der Student, auf dessen Wangen allmählich zwei Fieberflecken zu glühen begannen.

»Nu, nu, da behält er sie eben!« brummte Sievert, indem er, sich, wie in Gedanken verloren, mechanisch auf einen Stuhl niederließ. »So, so, der ist also reich geworden!« sagte er nach einer Weile und rieb sich nachdenklich das stachlige, graubärtige Kinn. »Von Haus aus war er eigentlich ein armer Schlucker –«

»Und weshalb ist er nach Brasilien gegangen?« unterbrach ihn der Student.

»Ja, weshalb – da fragen Sie mich zu viel. Übrigens – gedacht hab' ich mir manchmal, daß den eine einzige schlimme Nacht fortgetrieben hat.«

In diesem Augenblick schnob der Sturm mit einem schrillen, anhaltenden Pfeifen draußen um die Ecke. Die Fenster klirrten, und ein Dachziegel krachte zerberstend auf das Steinpflaster.

»Hören Sie?« fragte Sievert, mit dem Daumen über die Schulter nach dem Fenster zeigend. »Just so eine Winternacht war's – eine Nacht, in der die ganze Höllenjagd über den Thüringer Wald hintobte. Das heulte, pfiff und gellte, es rüttelte an dem alten Arnsberger Gemäuer, daß die Bilder an den Wänden zitterten, und aus den Kaminen schossen die Flammen weit in die Zimmer hinein – es war, als sollte das Schloß von der Erde weggefegt werden... Am anderen Morgen lagen alle Steinbilder umgerissen im Schloßgarten, dickstämmige Bäume waren geknickt und zersplittert wie Rohr, und im Schloßhof lagen Glassplitter, Ziegelscherben und zerbrochene Fensterladen handhoch durcheinander – auf dem verwüsteten Dach aber steckte die Trauerfahne, und drin in Arnsberg wurde mit allen Glocken geläutet, weil in der Nacht Prinz Heinrich gestorben war.«

Er schwieg einen Moment; dann lachte er rauh auf.

»Was half ihnen alles Läuten!« fuhr er fort. »Was half der Fürstin die kohlschwarze Schleppe und Schneppe und dem Lande das schwarzgeränderte Wochenblatt – sie mußten sich doch alle den Mund wischen, denn es war Todfeindschaft gewesen bis ans Ende... Das müssen Sie ja noch wissen, Hüttenmeister!«

»Ja – ich war damals noch ein Kind; aber ich erinnere mich recht gut, daß Gehässigkeiten zwischen A. und Arnsberg hin und her flogen, und daß der Prinz seinen Leuten nicht einmal den Umgang mit den fürstlichen Beamten gestatten wollte – mein Vater hatte als herrschaftlicher Hüttenmeister auch darunter zu leiden.«

»Richtig – und wer von den Kavalieren hielt damals zu dem Prinzen Heinrich und hauste mit ihm auf Arnsberg?«

»Nun, das waren Ihr Herr, Sievert, der Major von Zweiflingen, Herr von Eschebach und der jetzige Minister Baron Fleury.«

»Ja der!« lachte Sievert abermals bitter auf. »Der war ein Pfiffikus sein Leben lang! Die beiden anderen kamen nie in die Stadt, geschweige denn an den Hof – es wär' ihnen auch schlecht genug bekommen –, Seine Exzellenz aber scharwenzelte hüben und drüben. Weiß der Henker, wie er's angefangen hat, aber jede Partei drückte die Augen zu, wenn er mit der anderen verkehrte – das kann eben nur so ein französischer Windbeutel, und dem glückt's auch bei den pfiffigen Deutschen... Ja, die am Hofe zu A. haben wohl gemeint, der könne Frieden stiften und ihnen schließlich zu ihrem Erbe verhelfen – ha, ha, sie alle waren dem Weiberkopfe nicht gewachsen, der im Wege stand!«

»Die Gräfin Völdern!« warf der Hüttenmeister ein – ein tiefer Schatten breitete sich über sein Gesicht.

»Ja, ja, die Gräfin Völdern drüben auf Greinsfeld... Der Prinz nannte sie seine Freundin, – die Leute aber waren unhöflicher und nannten sie noch ganz anders, und sie hatten recht. Die wickelte Seine Durchlaucht um den Finger, sie machte ihn recht und link, und wenn er sagte ›weiß‹, da sagte sie ›schwarz‹, und dabei blieb's auch allemal... So viel Nichtsnutzigkeit, solch ein gerütteltes Maß von Sünden und – keine Strafe! Das elende Weib ist gestorben, leicht und selig wie eine Gerechte. Sie hat nur einmal Furcht und Angst ausgestanden, und das war in selbiger Nacht!«

Was für Erinnerungen mußten in dem alten Mann aufsteigen, daß er so ganz und gar seine gewöhnliche Gangart verließ! Der Zug der Verschlossenheit, des verbissenen, wortlosen Grimmes konnte nicht treffender charakterisiert werden als durch diese nach innen gekrümmten Lippen mit den herabgezogenen Mundwinkeln – und jetzt war dieser schweigsame Mund beredt; die monoton rauhe Stimme lebte unheimlich auf in den Tönen des Hasses und der Verachtung und hatte so etwas Zwingendes, daß der Kranke das fieberhafte Hämmern hinter seiner Stirn vergaß, während sein Bruder gespannt und hingerissen Dingen lauschte, die er in ihrer Entwicklung bereits kannte.

»Die Schloßleute munkelten schon längst, daß es nahe am Ende sei mit dem Regiment der Gräfin«, fuhr Sievert fort. »Da wollte ein jeder beim Prinzen verschiedene Anzeichen beobachtet haben – nur sie nicht; sie war nie toller und boshafter gewesen, und weil sich der Prinz eines schönen Tages einfallen läßt, seine verstorbene Frau zu loben, so beschließt sie im selben Augenblick, einen großen Maskenball auf ihrem Gute zu halten, und zwar – just am Todestag der armen, braven Prinzessin... Das schlug dem Faß den Boden aus! Der Prinz ist ganz blaß geworden vor Ärger und hat ihr streng befohlen, die Mummerei aufzuschieben – da hat sie hell aufgelacht, hat sich auf dem Absatz rumgedreht und gemeint, der Tag passe ihr gerade, und sie wolle auch recht schön beleuchten zu Ehren der Prinzessin...

Also der Abend kam, und was niemand, am allerwenigsten die Frau Gräfin erwartet hatte: Der Prinz blieb richtig zu Hause, und die drei Herren, mein Major, der Baron Fleury und Herr von Eschebach, die auch eingeladen waren, mußten bei ihm bleiben... Der Prinz hatte mich gern, und wenn er abends mit den Herren spielte, da schickte er seine Lakaien fort, und ich mußte auf seinen Befehl im Vorzimmer bleiben...

Da saß ich denn auch mutterseelenallein im Fenster und horchte auf den greulichen Tumult draußen. – Herr, um ein solch altes Schloß heult der Sturm in einer ganz besonderen Tonart! Da singt und klingt alles mit, was das alte Gemäuer gesehen hat – Turnieren und Bankettieren, und was alles für tote Herrlichkeiten – aber auch Verbrechen und Untaten die schwere Menge!... Es hatte elf geschlagen, aber überall im Schlosse brannten noch die Lichter, kein Mensch traute sich ins Bett... Auf einmal wurden drin im Zimmer die Stühle fortgeschleudert, es riß an der Klingel wie Sturmläuten, und wie ich die Tür aufmache, da liegt Prinz Heinrich totenblaß, mit weit aufgerissenen Augen in seinem Lehnstuhl, und das Blut stürzt ihm stromweise aus Mund und Nase... Die Schloßleute liefen zusammen und klagten und jammerten; aber hinein durfte niemand mehr – ich auch nicht...

Herr von Eschebach verstand seine Sache, er war der beste Doktor weit und breit, es heißt aber: ›für den Tod kein Kraut gewachsen ist‹ – des Prinzen Stunde hatte geschlagen – da kam mit einemmal Baron Fleury heraus und verlangte ein Pferd. ›Es geht zu Ende mit dem Herrn‹, sagte er zu dem Stallmeister so laut, daß es die Leute noch auf der untersten Treppenstufe hören konnten; ›ein Ritt nach A. in dieser Nacht ist so gut wie Selbstmord; aber der Prinz will sich mit dem Fürsten versöhnen – ein Schuft, der nicht sein Leben dran setzt!‹... Fünf Minuten später hörte ich ihn auf der Chaussee nach A. hinjagen... Von dem Augenblick an verhielten sich alle im Schlosse mäuschenstill – die Gräfin sollte ja tanzen, tanzen, bis – der Fürst sein rechtmäßiges Erbe in der Hand hatte... Da stand ich nun wieder im Fenster und zählte in Todesangst die Minuten – ein scharfer Reiter brauchte eine gute Stunde nach der Stadt.

Mein Major und Herr von Eschebach waren allein beim Prinzen, er hatte noch seine volle Besinnung – wenn ich der Tür nahe kam, hörte ich deutlich, wie er mit pfeifendem Atem, ruckweise, den Herren diktierte... Dort lag Schloß Greinsfeld – wär' eine klare Nacht gewesen, da hätte ich von meinem Fenster aus ›die Beleuchtung zu Ehren der Prinzessin Heinrichs‹ als hellen Punkt sehen können. ›Hei, tanze du nur und jubiliere da drüben!‹ dachte ich, wie die Schloßuhr draußen zwölfe herabrasselte. ›Nur noch eine einzige Stunde, und dein Tanz hat eine halbe Million gekostet!‹... Im selben Augenblick kam die Windsbraut wieder dahergejohlt – ein Schlot stürzte ein, und das Mauerwerk prasselte nieder auf das Pflaster im Schloßhof, aber es klang auch dazwischen wie Pferdestampfen und Räderrollen – da sprang die Tür auf, und da stand sie – Herr, da stand das Weib! Der Satan muß sie hergeführt haben! Es weiß bis heute keiner, was da geschehen ist und wer den Verräter gemacht hat!... Sie riß den Pelzmantel ab, schleuderte ihn auf den Boden und lief nach dem Sterbezimmer; aber da stand ich schon und hielt das Türschloß in der Hand. ›Da hinein darf niemand, Frau Gräfin!‹ sagte ich. Sie stand einen Augenblick wie versteinert; ihre funkelnden Augen bohrten sich wie Mordspitzen in mein Gesicht. ›Unverschämter, das soll dir teuer zu stehen kommen!‹ zischte sie. ›Fort, nur aus dem Wege!‹... Ich wich und wankte nicht. Drinnen im Zimmer mußten sie aber doch was gehört haben – mein Major kam heraus. Er schlug gleich die Tür hinter sich zu und nahm meinen Verteidigungsposten ein, während ich auf die Seite trat... Es war merkwürdig – er hatte auf einmal etwas im Gesicht, was mir nicht gefiel... Sie haben die Gräfin gekannt, Hüttenmeister?«

»Ja, sie galt für eine der schönsten Frauen ihrer Zeit... Drüben im Schloß Arnsberg hängt ja noch ihr Bild – eine geschmeidige, schlanke Gestalt, große, kohlschwarze Augen in einem schneeweißen Gesicht, und darüber förmlich strahlendes, goldblondes Haar –«

»Das war's eben!« unterbrach Sievert grimmig lächelnd die Schilderung. »Weiß der Henker, wie sie's angefangen hat! Sie war dazumal hoch in den Dreißigern und hatte schon eine Tochter von siebzehn Jahren; aber sie sah aus wie Milch und Blut. – Die Jüngste konnte nicht aufkommen neben ihr, und kein Mensch wußte das besser als sie selbst... Das elende Komödiantenweib! Wie zerbrochen fiel sie auf einmal vor meinem Herrn nieder und schlang ihre weißen Arme um seine Knie. Sie steckte noch in den Maskenkleidern – das funkelte und glitzerte, und das gelbe Haar, das ihr der Sturm auseinandergerissen hatte, schleifte lang nach auf dem Boden: An der Seite des Gesichts aber floß es schmal und rot nieder und ringelte sich über den weißen Hals hin wie eine kleine Schlange – hm, eine Schlange mußte freilich dabei sein, wo eine Mannesehre zerbrach, der bis dahin kein Fleckchen nachzusagen war!... Herr, mir zuckte es in den Fäusten, die Erbschleicherin von der Schwelle wegzujagen, wo sie nichts mehr zu suchen hatte – und er stand da, kreideweiß, und entsetzte sich über einen Hautriß an der Stirn des elenden Weibes – ein Stein aus dem niederprasselnden Mauerwerk hatte ihre Stirn gestreift –, wenn er nur besser getroffen hätte!... ›Ich bin verwundet‹, sagte sie so schwach, als ging's zu Ende mit ihr; ›wollen Sie mich hier umkommen lassen, Zweiflingen?‹ Und sie haschte nach seiner Hand und zog sie an ihren lügnerischen, falschen Mund... Hei, da schlug es wie eine Feuerflamme über sein Gesicht! Er riß die Frau in die Höhe und – ich weiß bis heute nicht, wie es zuging –, sie mußte ein Teufel sein an Schlauheit und Behendigkeit, im Umsehen war sie drin im Zimmer und warf sich vor dem Sterbebette nieder... ›Fort, fort!‹ schrie der Prinz und stieß mit den Händen nach ihr; aber da schoß ihm auch schon wieder ein Blutstrom aus dem Munde, und zehn Minuten nachher war's aus und vorbei mit ihm.«

»Die Nacht ist keines Menschen Freund, heißt's«, unterbrach sich der alte Soldat, herb auflachend; »die Spitzbuben haben keinen besseren Freund! Möchte wissen, ob die Frau Gräfin auch alleinige Erbin geworden wär', wenn die helle Sonne ins Sterbezimmer geschienen hätte – glaub's nicht!... Wie der Prinz den letzten Seufzer ausgestoßen hatte, da stand sie auf – sie sah aus wie ein Geist, aber nicht eine Spur von Mitleid oder gar eine Träne war auf dem hochmütigen, weißen Gesicht zu sehen –, also, sie stand auf und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Über eine halbe Stunde lang hat sie drin in einem fort gesprochen, was, das weiß ich nicht – ich hörte nur die Todesangst in ihrer Stimme. Nachher kamen die beiden Herren heraus und zeigten den Schloßleuten den Tod des Prinzen an. Mein Major ging an mir vorbei, als sei ich auf einmal ein Mauerstein oder so was geworden – er sah mich nicht an... Herr, ich sagte vorhin, daß in der Nacht die ganze wilde Jagd über den Thüringer Wald hingetobt sei – nun ja, die Gräfin kam als Frau Venus mitgeritten, und wer der Tannhäuser war, das weiß ich –, mein Herr war seitdem ein verlorener Mann, die Gräfin aber die reichste Frau weit und breit. Das Testament, das sich vorfand, fiel in die Zeit, wo die Feindschaft mit dem Hofe zu A. am schlimmsten und die Macht der Gräfin am höchsten gewesen war – es soll förmlich niet- und nagelfest gewesen sein, und kein Gerichtshof hat daran rütteln können. Was da war, gehörte der Erbschleicherin, nicht einmal die Armen im Lande kriegten einen Groschen.«

»Verwünscht, daß der Fürst zu spät kam! – stieß der Student hervor und schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Zu spät?« wiederholte Sievert. »Er kam gar nicht. Gegen Morgen fingen Bauern in der Nähe von A. ein herrenloses Pferd ein, und der Baron Fleury wurde im Chausseegraben gefunden. Er war im Hinreiten nach der Stadt mit dem Pferde gestürzt und hatte sich die Gliedmaßen dergestalt verstaucht, daß er nicht von der Stelle konnte... Hei, der sah aus, wie er auf der Trage eingebracht wurde! Die Kleider zerrissen und voll Chausseeschlamm, und die Haare, die der Pomadenheld alle Tage so schön kräuseln und ringeln ließ, hingen wie bei einem Zigeuner über das Gesicht!... Nu, er hat sein Schmerzensgeld vollauf gekriegt. Es ist ihm nicht vergessen worden, daß er sein Leben in die Schanze geschlagen hat, um dem Fürstenhause die Erbschaft zuzuwenden, und drum ist er auch schließlich – Minister geworden.«

»Und Herr von Eschebach?« fragte der Student.

»Ja so, Herr von Eschebach!« wiederholte Sievert, indem er sich die Stirn rieb. »Um seinetwegen hab' ich ja eigentlich die Schandgeschichte erzählt. Je nun, der verging sozusagen seit der Nacht. Zuerst war er noch ziemlich lustig und guter Dinge – er ritt viel nach Greinsfeld; das hörte aber schon nach ein paar Tagen ganz auf. Er zog nach A., und just an dem Tage, wo in Greinsfeld große Hochzeit war – die junge Gräfin heiratete den Grafen Sturm –, da ging er auf und davon... Nu, der konnte freilich so mir nichts dir nichts in die weite Welt gehen, er hatte ja nicht Weib und Kind wie mein Major –«

Der Hüttenmeister war während der letzten Mitteilung des Alten an eines der Fenster getreten und hatte die Vorhänge auseinandergeschlagen – ein berauschender Blumenduft strömte sofort in das Zimmer. Auf dem Fenstersims blühten in Töpfen Veilchen, Maiblumen und Tazetten. Der junge Mann schnitt erbarmungslos die schönsten Blüten ab und schob sie vorsichtig in eine weiße Papiertüte. Bei Sieverts letzten Worten bog er den Kopf ins Zimmer zurück: Ein rascher Seitenblick streifte die gespannten Gesichtszüge seines Bruders, wobei ihm eine helle Röte über Gesicht und Wangen flog.

»Aber nun lassen Sie die alten Geschichten ruhen, Sievert!« rief er, die Rede des alten Soldaten rasch abschneidend, hinüber. »Sie selbst machen ja vieles gut, was andere verschuldet haben. Sie sind der getreue Eckart –«

»Wider Willen, ganz wider meinen Willen, Hüttenmeister!« fuhr Sievert grimmig auf, indem er sich erhob und hastig seine Sachen zusammenpackte. »Hat einer seinen Herrn lieb gehabt, so bin ich's gewesen; ich wär' für ihn durchs Feuer gelaufen in der Zeit, wo er noch gut und strenge und ein rechter Kavalier war. Aber nachher wurde er der Gräfin ihr Narr, er spielte und trank mit dem Baron Fleury und dergleichen Gelichter die Nächte durch und machte alle ihre ›noblen Nichtsnutzigkeiten‹ mit; er mißhandelte seine Frau – die Frau, die ihr Herzblut tropfenweise für ihn hingegeben hätte –, und da kam mir der Grimm, ich hab' ihn gehaßt und verachtet, und es war sein und mein Glück, daß er mich fortschickte... Ja, ja, da heißt's: ›Er ist auf dem Felde der Ehre gestorben!‹ Das klingt gar gewaltig und löscht alle Sünden aus; wenn aber einer Bankrott macht und geht in der Verzweiflung sich selbst ans Leben, da ist er verurteilt für alle Zeiten. Herr, es war alles fort und verjubelt bis auf die elende Baracke, das Waldhaus; die Frau Gräfin wollte mit dem Bettler auch nichts mehr zu schaffen haben, und da ging der letzte Zweiflingen nach Schleswig-Holstein, stürzte sich in den dichtesten Kugelregen und ließ sich niederschießen. Aber das ist beileibe kein Selbstmord – sollte mal einer sich unterstehen, das Ding so zu nennen! Die Kavalier-Ehre ist gerettet, und nun sieh zu, Witwe, wie du zurechtkommst! Seine adligen Hände konnten wohl Geld ausgeben, aber rechtschaffen arbeiten und das gutmachen, was sie gesündigt hatten, das durften sie nicht – dazu waren sie zu vornehm!«

Er warf den Mantelzipfel über die Schulter und griff nach der Laterne. »So, nun hab' ich einmal meinem Herzen Luft gemacht!« sagte er nach einem tiefen Atemzug. »Hätten Sie den Namen ›Eschebach‹ nicht genannt, wär's nicht geschehen... Und nun gehe ich heim und schleppe mein Joch weiter!... Aber noch eins, Hüttenmeister: Nennen Sie mich nie wieder den getreuen Eckart! Zu dem Posten gehört ein Herz voll Liebe und Geduld, und das hab' ich nicht, absolut nicht... Der Major hätte mir zehn solcher Briefe hinterlassen können, wie sie nach der Schlacht bei Idstedt einen bei ihm gefunden haben, ich wär' deshalb noch lange nicht zu seiner Frau und Tochter gegangen, denn die Liebe war ausgelöscht; aber es war einmal eine Zeit, wo mein Vater sein Bauerngütchen durch einen nichtsnutzigen Prozeß verlieren sollte; da nahm der Major den besten Advokaten im Lande an und bezahlte ihn, und mein Alter blieb auf seinem rechtmäßig ererbten Eigentum. An die Zeit dachte ich, packte meine sieben Sachen zusammen und wurde wohlbestallter Haushofmeister, das heißt Küchenmagd, Holzlieferant, Scheuerfrau und so weiter bei Frau von Zweiflingen.«

Der Ausdruck beißenden Hohnes in der Stimme des alten Soldaten wurde noch verstärkt durch die ironische Würde in Haltung und Gebärden, die er bei Aufzählung seiner Funktionen einnahm. Auf den Hüttenmeister aber wirkte diese Art und Weise peinlich und verletzend. Er kniff die Lippen unter dem Vollbart fest aufeinander, seine Brauen falteten sich noch düsterer als zuvor, und stillschweigend legte er die Papiertüte, die er bis dahin in der Hand gehalten hatte, auf einen Seitentisch. Sievert trat jedoch mit zwei raschen Schritten zu ihm.

»Geben Sie nur her!« sagte er, indem er die Tüte ergriff und auf das Brot in seinem Korbe legte. »Den Gefallen tu' ich Ihnen schon... Ändern kann ich doch nichts mehr, und die armen Dinger da sollen nicht umsonst abgeschnitten sein... Will's schon ausrichten, weshalb Sie heute nicht zur ›Teegesellschaft‹ kommen können. Und nun gute Nacht und gute Besserung für den Herrn Studenten!«

Damit verließ er das Zimmer und trat wieder hinaus in den stürmischen Abend.

2

Inhaltsverzeichnis

Er schlug denselben Weg ein wie die Pfarrerin – nach dem Dorfe Neuenfeld, das ungefähr einen Büchsenschuß weit vom Hüttenwerk lag. Aber der Weg war unterdessen ein sehr mühseliger geworden; der Sturm hatte fußhohe Schneewälle zusammengefegt und quer über die Landstraße geworfen, und der Flockenwirbel erfüllte die Luft so dicht und undurchdringlich, daß auch nicht eine Spur der Ebereschenbäume zu beiden Seiten der Straße sichtbar war.

Der alte Soldat stampfte mit Todesverachtung im förmlichen Sturmschritt vorwärts; ihm wurde wohl inmitten des Tumultes. Er schob die wohlbefestigte Mütze nach dem Hinterkopf zurück und ließ sich von dem kalten Schnee die Stirn bestäuben, hinter der die plötzlich wachgerüttelten alten, bösen Erinnerungen brannten. Das Knirschen und Krachen unter seinen Füßen erfüllte ihn mit einer fast kindischen Befriedigung; er trat noch einmal so fest auf und dachte an seinen Lebensweg, den er mit Mißbehagen und tiefem Widerwillen ging, da durfte er ja nie auftreten, wie er wollte, und wurde unter der Einlösung alter Verpflichtungen grau, verbittert und menschenfeindlich.

Neuenfeld, eines jener armseligen Gebirgsdörfer, wie der Thüringer Wald deren genug auf seinem Rücken trägt, lag in lautloser Stille vor ihm; es sah aus, als habe es sich geduldig und willenlos ergeben in die kleine Talsenkung hingestreckt, um sich nun bis an seine Schindeldächer einschneien und einsargen zu lassen. Am Tage erschienen die elenden, unregelmäßig durcheinander gestreuten Häuser mit den verwahrlosten Gärtchen an ihrer Seite nichts weniger als einladend; in diesem Augenblick jedoch, wo Schnee und Nacht die Lehmwände und grauen Schindeln deckten, fiel der matte Lichtschein der kleinen Fenster gastlich und anmutend in das Schneewetter draußen. Die Glasscheiben bedurften keiner Läden oder verhüllenden Vorhänge – das besorgte der wohlgeheizte Ofen, der ja tröstlicherweise selbst im ärmsten Hause nicht fehlt; er behauchte sie mit einer dicken Dunstschicht, und so konnte kein Nachbar bei dem anderen sehen, ob er seine Abendkartoffeln einfach in das Salzfaß tunke oder sich den Luxus einiger Lot Butter auf seinem ungedeckten Tisch erlaube.

Sievert durchmaß das Dorf mit verdoppeltem Eilschritt. Die erleuchteten Fenster erinnerten ihn, daß daheim das letzte Stümpfchen Licht auf dem Leuchter steckte; es hatte bereits sieben Uhr geschlagen, eine ziemliche Strecke Weges lag noch vor ihm, und die Bewohner des Waldhauses waren auf das Abendbrot angewiesen, das er im Korbe heimbrachte. Am Ende des Dorfes verließ er die Landstraße, die auf der Talsohle noch ein Stück fast schnurgerade in die weite Welt hineinlief, und betrat, links abbiegend, einen jener vernachlässigten Holzfahrwege, die nach einem aufweichenden Regen bodenlos, bei frosthartem, trockenen Wetter aber durch die fußtiefen Geleise geradezu halsbrechend werden.

Das Waldhaus führte seinen Namen mit Recht. Vor Jahrhunderten von einem Herrn von Zweiflingen lediglich zu Jagdzwecken erbaut, lag es wie verloren im Walde. Bewohnt hatten es seine Besitzer niemals; das eigentliche Haus bildete eine einzige ungeheure Halle, und nur die zwei ziemlich umfangreichen Türme, die zu beiden Seiten der Vorderfront emporstiegen, enthielten einige Gemächer, in denen ehemals die Teilnehmer an den großen Jagden übernachtet hatten. Nach dem Tode des Majors von Zweiflingen war dessen Witwe in eine kleine Stadt Thüringens übergesiedelt. Ihr ganzes Einkommen bestand in einer sehr schmalen Pfründe, die ihr infolge einer uralten Zweiflingenschen Stiftung zufiel – eine kleine Pension, die ihr der Minister, Baron Fleury, beim Fürsten von A. ausgewirkt, hatte sie zurückgewiesen. Den Luxus, irgendwelche Dienerschaft zu halten, schloß der kleine Etat selbstverständlich aus; Sievert mußte demnach selbst für seinen Unterhalt sorgen, und er konnte es; er hatte das von seinem Vater ererbte Bauerngütchen verkauft, und die Zinsen des Kapitals reichten vollkommen aus für seine geringen Bedürfnisse. Vor zwei Jahren nun war ein Rückenmarkleiden bei Frau von Zweiflingen zum Ausbruch gekommen; sie hatte sich damals bereits dem Tode nahe gewähnt und mit fieberhafter Heftigkeit verlangt, auf Zweiflingenschem Grund und Boden zu sterben. Unter unsäglichen Mühen war sie nach dem Waldhaus, dem letzten Rest ehemaligen glänzenden Besitztums, geschafft worden und erwartete hier in völliger Abgeschiedenheit die erlösende Stunde.

Allmählich stieg der Boden unter Sieverts Füßen aufwärts. Der alte Soldat watete bis über die Knöchel in dem zwischen den Furchen liegengebliebenen Schnee und hatte schwer zu kämpfen mit dem Sturm, der hier widerstandslos über den baumlosen Wiesenabhang hinpfiff. Aber schon brauste es schutzverheißend von droben herab – wohl heult der Sturm auf ein altes Schloß in einer ganz besonderen Tonart; allein nicht weniger ergreifend klingen seine Stimmen, wenn er die Waldwipfel schüttelt, wenn er jedes dürre, zusammengekrümmte Eichenblatt zu seinem Sprachrohr macht und die leblose Blätterleiche zwingt, klagend mitzusingen von toter Waldesherrlichkeit, von Lenzesliebe und Sommertraum, aber auch von alten, alten Zeiten, da das Trara aus dem Hifthorn des Knappen scholl und das goldige Haar der pirschenden Edeldame über dem Dickicht wehte.

Für Sievert klang auch noch anderes mit in dem Tosen, das jetzt über seinem Haupte hinzog. Die zürnenden Stimmen der alten gestrengen Herren von Zweiflingen – sie hatten hier geherrscht mit dem ganzen Gewicht feudaler Macht und Rechte, sie hatten oft unerbittlich grausam und blutig gerichtet über den Walddieb und Wilderer in ihrem Revier –, und jetzt mußte der alte Soldat auf dem nun fremden Grund und Boden die dürren Reiser auflesen, um den letzten Nachkommen des glänzenden Geschlechts eine warme Stube zu verschaffen; er war noch vor kurzem in dem Untergehölz, inmitten der scheelsehenden Bettelkinder des Dorfes, umhergekrochen und hatte von dem scharlachnen Teppich der Preiselbeeren ein paar Körbe voll eingeheimst, zur Erquickung der letzten Frau von Zweiflingen.

Der Alte pfiff leise zwischen den Zähnen, wie einer, der ein bitteres Auflachen verbeißen will. Plötzlich blieb er stehen – ein zornig knurrender Ton entschlüpfte seinen Lippen –, von fern flimmerte ein matter Lichtpunkt durch die Flocken, die in diesem Augenblick minder dicht niederfielen.

»Aha, da hängt wieder einmal die Decke nicht vor dem Fenster! Bei dem Wind!« murmelte er grimmig. »Das wird ja hübsch durch die Stube pfeifen!... Nun fehlt nur noch, daß sie auch den Ofen vergessen hat.«

Er lief vorwärts und lachte plötzlich auf – der Wind trug ihm einzelne volle Klavierakkorde entgegen.

»Nun ja, da haben wir's – sie rast wieder einmal –, konnte mir's schon denken!« grollte er weiterlaufend. Alle Selbstbetrachtungen waren im Nu verflogen vor dem Ärger, der sich des alten Soldaten bemächtigte. Was kümmerten ihn jetzt noch die wehklagenden und zürnenden Schatten der längst vermoderten Herren von Zweiflingen – er hörte nur die allmählich zur rauschenden Melodie werdenden Töne und sah den Lichtschein, der, unruhig hin und her flackernd, in der Tat aus einem unverhüllten Turmfenster fiel und dessen Eisenvergitterung in schwankenden, mattgezeichneten Umrissen auf die Schneedecke draußen warf.

Die Fassade des Waldhauses trat um einige Schritte hinter die Türme zurück; vor ihr hinlaufend und um eine Anzahl Stufen erhöht, verband eine Galerie die beiden Türme. Der unmittelbar vom Waldboden hinaufführenden Treppe gegenüber, die das Steingeländer der Galerie in seiner Mitte durchbrach, erhob sich eine ungeheure Doppeltür, die direkt in die große Halle führte. Bei Sieverts Hinaufsteigen floß der Laternenschein über zwei lebensgroße Steinfiguren, die auf der Brüstung zu beiden Seiten der Treppe standen, geschmeidige Jünglingsgestalten in Edelknabentracht. Das umlockte Haupt zurückgeworfen und mit hochgehobenem Arm das steinerne Horn an den Mund setzend, bliesen sie seit Jahrhunderten das Halali hinaus in den Wald... Was für eine Versammlung wäre das geworden, wenn der Ruf all die toten Schläfer geweckt hätte, die hier, trunken von Wein und Jagdlust, als Gebieter auf der Terrasse gestanden und in stolzer Unantastbarkeit ihr weites Waldrevier überschaut hatten, all die Vertreter so vieler Generationen, grundverschieden in Tracht, Sitten und Anschauungen, aber heute wie immer zweifellos einig in dem einen Gedanken: um jeden Preis das Heft in der Hand behalten, herrschen und abermals herrschen, nicht um Haarbreite abgehen von den verbrieften Vorrechten, wohl aber sie ausdehnen und erweitern, wo irgend die Gelegenheit sich bietet!

Das unerhebliche Geräusch des Aufschließens dröhnte verzehnfacht drin im Hause wieder, und als Sievert den Türflügel öffnete, da tat sich die Halle in ihrer kolossalen Tiefe auf wie ein unergründlicher Schlund. Sieverts erste Schritte galten dem Ofen; er schlug eine Tür zurück – die Kaminöffnung gähnte ihn in schwarzer Finsternis an.

»Richtig – kein Funken Feuer! 's ist eine Sünde und Schande!« zürnte er. Im Nu hatte er sich der mitgebrachten Sachen entledigt, und gleich darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen.

Der Sturm fährt durch den Schornstein und jagt die Flammenzungen weit in die Halle herein. Dann fliegen jedesmal gelbrote Lichter über die gegenüberliegende Wand, und aus verwitterten Rahmen treten, dicht nebeneinander gereiht, lebensgroße Männergestalten. Sie alle sind im Jägerkleide und meist in Situationen gemalt, welche den Mut und das aristokratische Blut der Zweiflingen kennzeichnen sollen – der Kampf mit riesigen Ebern und Bären ist als Sujet am meisten vertreten. Über der Bilderreihe aber tauchen Hirschköpfe auf, die stolze Last seltener Geweihe tragend; weiße Tafeln mit schwarzer Inschrift besagen, wann und von wem jedes der edlen Tiere erlegt worden ist, und greifen dabei in eine so graue Vergangenheit zurück, daß ein altadliges Herz einen wahren Wonneschauer darüber empfinden könnte. Auch ein Orchester wird sichtbar; hier hatten einst die Trompeten geschmettert und mit lustigen Weisen die edlen Herren »ergötzet« beim üppigen Jagdschmause – jetzt klang ein leises Meckern von dorther, der Bretterverschlag unter der Tribüne war zum Ziegenstall degradiert worden.

Sievert stellte einen Dreifuß in das Feuer und einen Topf voll frischen Wassers darauf – es war die primitivste Kücheneinrichtung, die sich denken läßt –, dann steckte er eine der mitgebrachten Talgkerzen auf einen Messingleuchter. Während dieser Verrichtungen wich ein stereotypes grimmiges Lächeln nicht einen Augenblick von seinem Gesicht. Durch die Wand klang nämlich das Klavierspiel immer voller und rauschender. Der alte Soldat war offenbar kein Musikschwärmer, sonst hätte er doch wenigstens die unglaubliche Fingerfertigkeit und Sicherheit an dem Spiel bewundern müssen – diese perlenreinen Triller und Läufe konnten sich vor dem ausgesuchtesten Konzertpublikum hören lassen. Gleichwohl hatte der alte feindselige Kritiker nicht ganz unrecht mit der naiven Bezeichnung »Rasen«. Die brillante Tarantella wurde in schwindelnd schnellem Tempo genommen – die Töne sprühten, aber wie sogenannte kalte Funken, sie zündeten nicht und ließen den Zuhörer in Zweifel, ob in den flinken, aber automatenhaft gleichförmig herunterspielenden Fingern auch wirklich lebenswarmes Blut pulsiere.

Der alte Soldat nahm die Kerze und öffnete die Türe, die in das Erdgeschoß des südlichen Turmes führte. Welche Gegensätze trennte diese Tür! Draußen die öde, leere Halle mit dem schauerlich widerhallenden Steinfußboden und dem Mangel an jeglichem Gerät, und hier ein Gemach, angefüllt mit einer wahrhaft kostbaren Möbeleinrichtung. Wir müssen sagen »angefüllt«, denn das Zimmer war ziemlich klein und umfaßte die vollständige Ausstattung eines ehemaligen großen Salons. Das war der letzte Rest alter Herrlichkeit, den die Witwe zu behaupten gewußt hatte. Im ersten Augenblick blendete diese unerwartete Pracht, aber bald wich die Überraschung einem Gefühl der Wehmut, des tiefen Mitleids. Diese geschnitzten Palisanderetageren und -tische, diese Sofas und Sessel mit dem aprikosenfarbenen Seidendamastbezug standen an Wänden, die eine uralte, brüchige Ledertapete bedeckte; die gepreßten, ehemals vergoldeten Arabesken in derselben hatten längst ein schmutziges Braun angenommen und traten um so widerwärtiger da hervor, wo sie mit der blinkenden Einfassung des deckenhohen Spiegels oder dem Goldrahmen eines Ölbildes in Berührung kamen; vor den Fenstern aber hingen bunte Zitzgardinen, und der riesige, dunkle Ofen ragte grob und ungeschlacht in die zierliche Ausstattung und nahm ihr den letzten Anschein von Harmonie.

Sievert zerdrückte den im letzten Stadium aufflackernden und qualmenden Lichtdocht zwischen den Fingern und stellte dafür die frische Kerze auf den Tisch.

Die Frau, die einsam, in sich zusammengesunken in einem Sessel kauerte, bemerkte den wohltuenden Wechsel nicht – denn sie war blind – »blind geweint hat sich die arme Frau!« sagten die Leute, und sie hatten wohl nicht unrecht. Auch sie erhöhte den peinlichen Eindruck, den das Zimmer in seinen Widersprüchen erweckte; sie war mehr als einfach gekleidet, ihr dunkles, baumwollenes Kleid breitete sich förmlich hohnvoll über die strahlenden Polster des Lehnstuhles.

»Sind Sie endlich da, Sievert?« sagte sie verdrießlich mit schwacher, aber scharfklingender Stimme. »Sie brauchen ja immer eine halbe Ewigkeit zu Ihren Ausgängen! Meine Tochter übt und hört mein Rufen nicht – ich habe mich fast heiser geschrien... Mich friert. Jedenfalls haben Sie den Ofen nicht gehörig versorgt, ehe Sie fortgegangen sind, und Jutta hat vergessen, das Fenster zu verhängen – Sie hätten auch daran denken können... Und was für schauderhafte Lichte bringen Sie jetzt immer ins Haus – das ist ja ein Geruch und ein Qualm –, nicht in unserer Domestikenstube hätte ich früher dergleichen gelitten!«

Der alte Diener ließ diese Vorwürfe ohne Widerrede über sich ergehen. Wachs- und Stearinlichte konnte die gnädige Frau nicht bezahlen, noch weniger aber das Öl, das die prachtvolle, aus dem Ruin gerettete Astrallampe verbrauchte. Er öffnete schweigend einen Schrank, nahm eine verblichene, rotseidene Steppdecke heraus und hängte sie vor das der Kranken am nächsten liegende Fenster.

Frau von Zweiflingen ergriff eines ihrer langen Haubenbänder und rollte es mechanisch zwischen den dünnen, wachsgelben Fingern auf und ab – es lag etwas nervös Aufgeregtes in dieser Bewegung.

»Sie haben einen abscheulichen Rauchgeruch in Ihren Kleidern mit hereingebracht, Sievert«, hob sie wieder an und richtete ihre erloschenen Augen nach dem Fenster, wo sie Sievert noch hantieren hörte. »Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nasses Holz brennen, wenn ich auch nicht begreife, wie Sie dazu kommen... Sie haben doch ohne Zweifel unser Winterholz im Sommer zur rechten Zeit einfahren lassen – denn Sie sind ja sehr praktisch –, liegt es denn nicht an einem trockenen Ort?«

Ein beißendes Lächeln glitt um Sieverts Lippen, als er das Wort »einfahren« hörte. Ja, auf diesen seinen Schultern hatte er heuer das Winterholz der gnädigen Frau »eingefahren«, und es mochte freilich mancher noch grüne Ast mit untergelaufen sein, der jetzt im Ofen zischte und die Nase der Dame beleidigte... Sievert hatte die Kasse der Frau von Zweiflingen unter seinen Händen, seit er bei ihr eingetreten war. Früher gelang es ihm, auszukommen und, wenn auch mit großer Mühe, den Anschein eines behaglichen Auskommens der Welt gegenüber aufrecht zu erhalten; aber jetzt kostete die Krankheit viel Geld. Daran dachte die Frau nicht im entferntesten; ebensowenig hatte sie eine Ahnung, daß das Abendbrot, welches sie heute essen sollte, wie auch das verabscheute Talglicht, aus Sieverts Tasche bezahlt seien – denn es war kein Groschen mehr im Hause.

Der alte Diener versicherte indes seiner Gebieterin, daß das Holz wohlverwahrt im nördlichen Turm liege, und schob alle Schuld auf den Sturm, der den Rauch in die Halle blase. Dabei nahm er gleichmütig eine Serviette, zwei Tassen und eine messingene Teekanne aus dem Schranke und arrangierte einen Teetisch vor dem Sofa.

In diesem Augenblick schloß das Klavierspiel im Nebenzimmer mit einem rauschenden Akkord. Frau von Zweiflingen seufzte erleichtert auf und preßte ihre Hände einen Moment gegen die Schläfe – für ihr zerrüttetes Nervensystem mußte die geräuschvolle Musik eine wahre Marter gewesen sein.

Die Tür des Nebenzimmers ging auf. Wenn statt der Gardinen plötzlich bestaubte Spinnweben die tiefen Fensternischen des Turmgemachs überhangen hätten, wenn die elegante Möbeleinrichtung in den Erdboden gesunken und statt des Teetisches eine Kunkel zur Seite der Frauengestalt im Sessel auferstanden wäre, dann hätte Prinzessin Dornröschens Erscheinen bei der mörderischen Frau Stubenpoesie nicht lieblicher verkörpert werden können als in diesem Augenblick. Dicht neben dem greulichen schwarzen Ofenungeheuer, im Rahmen der Türöffnung, erschien ein junges Mädchen. Diese kinderhaften Hände, die jetzt prüfend und ordnend durch die auf die Büste niederfallenden dunkeln Locken glitten, waren eben noch mit ungewöhnlicher Energie über die Tasten hingeflogen. Wie leicht mußte das so schwierige Klavierstück der jungen Spielerin geworden sein – auch nicht die leiseste Röte der Erregung lag auf dem Gesicht, das zwar blaß, aber frühlingsfrisch wie die Blüte des Kirschbaumes war. Es hatte nichts gemein mit jenem hippokratischen Frauenprofil, das so lebensmüde und mumienhaft braun auf dem gelben Seidenpolster lag – wohl aber wiederholten sich seine köstlichen Linien voll griechischer Schönheit immer und immer wieder in der langen Bilderreihe der Halle, und die schwarzen Augen, die da draußen in wilder Jagdlust funkelten oder in ihrem aristokratischen Bewußtsein kalt gleichgültig auf die Welt niedersahen, strahlten auch hier groß und weit geöffnet aus dem weißen Mädchengesicht. Um den Kontrast zwischen Mutter und Tochter noch schreiender zu machen und letztere in allem lediglich als Sproß der Zweiflingen zu kennzeichnen, die fast durchgängig in grünem, mit Goldstickerei bedecktem Samt prunkten, umrauschte die jugendliche Gestalt ein durchwirktes, blaßblaues Seidenkleid, um dessen viereckigen Halsausschnitt sich echte Spitzen in gelblicher Weiße kräuselten.

»Nun, Sievert«, sagte das junge Mädchen, in das Zimmer tretend, »kann man endlich heißes Wasser bekommen?« Ihre Augen fielen auf den Teetisch. »Wie, nur zwei Tassen?« rief sie. »Haben Sie vergessen, daß wir Besuch erwarten?«

»Der Besuch kann nicht kommen, weil der Herr Student krank geworden ist«, erwiderte Sievert kurz, während er die Teekanne noch einmal prüfend neben das Licht hielt, ob sie auch fleckenlos blinke.

Die junge Dame sah plötzlich aus, als seien ihre sämtlichen Lebenshoffnungen vor ihr ins Wasser gefallen – ein Zug der bittersten Enttäuschung flog um ihre Lippen.

»Oh, wie abscheulich!« klagte sie. »Darf man sich denn auch auf gar nichts mehr freuen?... Krank soll der junge Ehrhardt sein? Was fehlt ihm denn, wenn man fragen darf?« Eine Beimischung von Ironie und Unglauben trübte mißtönend die kinderklare Stimme des jungen Mädchens.

»Hm – der Student wird sich auf der Reise erkältet haben«, erwiderte Sievert trocken, indem er nach der Tür schritt.

»Nun meinetwegen denn – aber ich sehe nicht ein, weshalb da nun auch der Hüttenmeister zu Hause bleibt... Fürchtet er sich auch vor dem Schnupfen?« fragte die junge Dame.

»Sei nicht so kindisch, Jutta!« schalt Frau von Zweiflingen ärgerlich. »Wie kannst du verlangen, daß er den kranken Bruder allein lassen soll, den er seit zwei Jahren nicht gesehen hat, und ihn obendrein zum erstenmal im eigenen Hause beherbergt!«

»O Mama, das entschuldigst du auch?« rief Jutta und schlug in unwilligem Erstaunen die Hände zusammen. »Würde es dich nicht tief geschmerzt haben, wenn Papa dich um anderer willen hätte vernachlässigen wollen, und –«

»Schweig, Kind!« gebot Frau von Zweiflingen so rauh und heftig, daß die Tochter erschrocken verstummte. Die Kranke lehnte den Kopf kraftlos an die Stuhllehne und legte die Hand über die achtlosen Augen.

»Sei nicht böse, Mama«, hob das junge Mädchen nach einer Pause wieder an; »aber in dem Punkte kann ich mich nicht ändern – eine solche Rücksichtslosigkeit von seiten Theobalds macht mich sehr unglücklich! Ich habe nun eben einmal meine hohen Ideale und weiß, daß alle Damen aus dem Hause der Zweiflingen zu allen Zeiten hochgefeiert gewesen sind. Lies nur unsere Hauschronik; da wirst du finden, daß die edlen Herren in den Tod gegangen sind für die Dame ihres Herzens, und was waren ihnen Eltern und Geschwister, wenn es sich um das Wohl und die Freuden der Geliebten handelte! Nun ja, das waren eben auch adlige Gesinnungen!«

»Du Törin!« zürnte die kranke Frau. »Ist dieser bodenlose Unsinn das ganze Resultat meiner Erziehung?« Sie hielt inne, denn Sievert trat eben wieder in das Zimmer. In der einen Hand trug er ein Glas frisches Wasser und in der andern die mitgebrachte weiße Papiertüte, die er Jutta hinreichte. Sie schlug das Papier auseinander – auch nicht ein Zug des Gesichts veränderte sich beim Anblick der duftenden Liebesboten, die ihre unschuldigen Köpfchen furchtlos in die Winterzeit gewagt hatten, um die an Licht, Duft und Wärme verarmten Menschen erquickend zu trösten. Es ist reizend, wenn ein junges Mädchen die vom Geliebten gesandten Blumen leise und verstohlen an ihre Lippen drückt – diese Braut aber war wohl augenblicklich zu tief gekränkt; sie bog nicht einmal den Kopf nieder, um den süßen Duft einzuatmen; das Papier auf dem Tisch ausbreitend, warf sie das Bukett auseinander und zog nur die Tazetten heraus... Sievert stand noch da und hielt ihr das Glas hin; sie stieß es zurückweisend mit der Hand weg.

»Ach, dazu sind sie nicht abgeschnitten«, sagte sie verdrießlich. »Ich kann die trübe Lache in den Gläsern nicht ausstehen!« Sie trat an den Spiegel und steckte die Tazetten diademartig in ihre Locken, und zwar so anmutig und ungezwungen, als seien die weißen Blumensterne auf das dunkle Haar geschneit. Die unglückliche Mutter war in diesem Augenblick doppelt bedauernswürdig, daß sie ihr unvergleichlich schönes Kind nicht sehen konnte; vielleicht hätte sie über der Erscheinung den »bodenlosen Unsinn« vergessen, den die in innerer Befriedigung jetzt lächelnden Lippen vorhin so herb ausgesprochen – »sehr unglücklich« sah das Gesicht ganz gewiß nicht mehr aus.

Der alte Diener warf auch nicht einen Blick auf die geschmückte Gestalt vor dem Spiegel; aber ein böses Lächeln zog seine Mundwinkel herab, als er mit dem Glas zur Tür hinausging. Die Dichter besingen in zahllosen Variationen das vermutliche Wonnegefühl der Blumen bei ihrem Verscheiden im Haar oder an der Brust eines schönen Mädchens – der rauhe Soldat aber fluchte innerlich, daß er »die armen Dinger« so sorgsam durch Schnee und Wetter getragen, damit sie nun »elendiglich« hier umkommen sollten. Er brachte nach kurzer Zeit das Teewasser, Brot und Butter herein, und schob die kranke Frau im Lehnstuhl näher an den Tisch; dann zog er sich in seine im Erdgeschoß des nördlichen Turmes gelegene Stube zurück. Da kam, wie allabendlich, seine Erholungszeit. Er heizte den Ofen tüchtig, stopfte sich eine Pfeife und las – astronomische Werke.

Jutta schlug die feinen Spitzenmanschetten am Handgelenk zurück. Sie strich Butterbrote und bereitete den Tee.

»Ich weiß nicht, mein Kind«, sagte die Blinde, das Ohr aufmerksam nach ihrer Tochter hinneigend, »es rauscht heute bei jeder deiner Bewegungen wie schwere, starre Seide –«

Die junge Dame erschrak sichtlich; ein glühendes Rot färbte für einen Augenblick Gesicht und Hals, und unwillkürlich rückte sie einen Schritt weiter aus dem Bereich der Mutter.

»Hast du deine schwarzseidene Schürze vorgebunden?« forschte die blinde Frau weiter.

»Ja, Mama!« Diese Antwort klang halberstickt, aber sie erfolgte sofort.

»Merkwürdig – das Geräusch ist mir nie so aufgefallen. Hättest du über ein seidenes Kleid in deiner Garderobe zu verfügen, dann wollte ich darauf schwören, du machtest dir das lächerliche Vergnügen, im alten Waldhaus als Salondame zu paradieren... Was hast du für ein Kleid an?«

»Mein altes braunes Wollkleid, Mama.«

Das Examen war zu Ende, Jutta atmete erleichtert auf, sie klirrte beim Teetrinken mehr als nötig mit der Tasse, im übrigen aber hielt sie sich plötzlich steif und unbeweglich wie ein Wachsbild.

Die Kranke genoß so viel wie nichts. Ein dünnes Schnittchen des feinen Brotes, das Sievert um ihretwillen aus Schloß Arnsberg geholt hatte, zerbröckelte zwischen ihren Fingern, kaum einige Krumen kamen über ihre Lippen sie war offenbar dem letzten Stadium ihrer Krankheit sehr nahe.

»Du könntest mir etwas vorlesen, Jutta, wenn du mit deinem Abendbrot fertig bist«, sagte sie. »Der Sturm heult zu unheimlich!«

»Gern, Mama. Ich will die Sappho von Grillparzer holen. – Theobald hat sie mir gestern mitgebracht.«

Ein nervöses Aufzucken durchflog die Glieder der blinden Frau. »Nein, nein!« rief sie mit abwehrender Heftigkeit. »Weißt du, was diese Sappho ist? Ein unglückliches, verratenes Weib!... Ein Sturm der qualvollsten Seelenschmerzen geht durch dies Buch, schlimmer als der da draußen, und – ich will ihn ja doch vergessen!«

Die junge Dame erhob sich, um ein anderes Buch zu holen; dabei streifte sie unbewußt mit ihrem Kleid die herabhängende Rechte der Kranken – diese Hand erfaßte plötzlich die vorübergleitenden Rockfalten und hielt sie krampfhaft fest, während die Linke prüfend in fieberhafter Hast über den Stoff hinfuhr.

»Jutta, bist du wahnsinnig?« schrie sie auf.

Das junge Mädchen sank sofort neben dem Lehnstuhl nieder. »Ach, Mama, verzeihe mir!« flüsterte sie. Der Schrecken hatte ihre Lippen schneeweiß gefärbt.

»Leichtsinniges, liebloses Geschöpf du«, zürnte die Mutter und stieß die Hände zurück, die ihre Rechte erfaßten. »Hast du auch nicht einen Funken von Scham und Scheu empfunden, als du mein Heiligtum an dich rissest?... Mein Brautkleid, das ich gehütet habe wie einen Augapfel, als einzigen Zeugen einer himmlisch schönen Zeit – dieses Kleid, von dem du weißt, daß es mit mir gehen soll, wenn ich endlich erlöst sein werde von meinem Leiden, schleifst du zur Verhöhnung unserer ganzen armseligen Verhältnisse über die elenden Dielen des Waldhauses und führst damit eine Farce auf, wie sie sich lächerlicher und erbärmlicher nicht denken läßt?«

Jutta erhob sich rasch, mit einer zornigen Gebärde. In diesem Moment verflüchtigte sich auch die letzte Spur der Dornröschenlieblichkeit bei dem jungen Mädchen. Der zürnenden Mutter den Rücken halb zugewendet, war sie Zoll für Zoll die geharnischte Opposition. Ein impertinenter Zug flog um die leichtvibrierenden Nasenflügel, und höhnisch lächelnd richtete sie ihre sprühenden Augen auf ein Damenporträt, das über dem Sofa hing. Es war eine jugendliche Mädchengestalt mit einem Mulattenköpfchen. Vollkommen unregelmäßig in seinen Linien und von entschiedenem bronzefarbenem Teint, fesselte dies kleine magere Gesicht unwiderstehlich durch den pikanten, geistreichen Ausdruck der Züge und durch ein tiefes halbverschleiertes Augenpaar, in dem die Leidenschaft verstohlen glimmte. Die zarten, bräunlichen Schultern umfloß weiße Seidengaze, unter der schwerer Atlas schimmerte, und in den dicken, dunkeln Haarflechten steckte ein Granatblütenstrauß, den eine Brillantnadel festhielt.

Juttas Blicke hingen an der eleganten Toilette des Bildes.

»Du tust, als hätte ich ein Kriminalverbrechen begangen, Mama«, sagte sie kalt. »Ich habe das Kleid nicht an mich gerissen, sondern mir nur erlaubt, es für einige Stunden zu leihen. Die paar Nähte, die ich verändern mußte, sind im Nu wieder aufgetrennt; im übrigen ist es unversehrt... Theobald wollte uns heute abend seinen Bruder vorstellen; es ist wohl sehr natürlich, daß ich dem neuen Verwandten wenigstens einen anständigen Eindruck machen wollte. Mein braunes Wollkleid ist lächerlich unmodern und hat Flicken, die sich nicht gut mehr verbergen lassen – du erlaubst ja nie, daß Theobald mir dergleichen schenkt... Mama, du hast vergessen, daß du auch einmal jung gewesen bist; oder vielmehr, du kannst nicht begreifen, wie ich fühle und leide, denn deine Jugend war ja so ganz anders!... Wenn ich dort dein Bild ansehe und den weißen Atlas mit meiner brillantesten Toilette, eben dem kostbaren braunen Wollkleide, vergleiche, dann frage ich: Warum bin ich ausgestoßen aus dem Paradiese, in dem du, Mama, leben und glänzen durftest?«

Die Blinde stöhnte und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich bin auch jung und von edlem Geschlecht!« fuhr die Tochter unerbittlich fort. »Ich fühle auch den Beruf in mir, oben zu stehen und mit den Großen zu verkehren, und muß elend in einem dunkeln Winkel verkümmern!«