Reifes Leben - Richard Rohr - E-Book

Reifes Leben E-Book

Richard Rohr

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Beschreibung

Richard Rohrs Buch über die spirituelle Dimension des Älter- und Reiferwerdens: Was ist von Bedeutung auf der Lebensreise? Während Menschen in der ersten Hälfte in Beruf und Partnerschaft an der »Form" ihres Lebens arbeiten, rückt in der zweiten Lebenshälfte dessen »Inhalt" in den Mittelpunkt. Darüber entscheiden nicht zuerst Altersstufen, sondern vor allem Erfahrungen des Loslassens und wie wir damit umgehen - auf dem Weg zu unserem »wahren Selbst".

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Richard Rohr

Reifes Leben

Eine spirituelle Reise

Aus dem Amerikanischenvon Annette Nau

Impressum

Als deutsche Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes

Vollständige deutschsprachige Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Falling Upward: A Spirituality for the Two Halves of Live

© Richard Rohr 2011. Alle Rechte vorbehalten.

Veröffentlicht von Jossey Bass. A Wiley Imprint, San Francisco/USA

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © madochab / photocase.

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80890-6

ISBN (Buch): 978-3-451-06356-5

Für meine franziskanischen Brüder, die mich so gut in den Fertigkeiten und der Spiritualität der ersten Lebenshälfte unterwiesen haben, dass sie mir gleichzeitig die Bodenhaftung, den Raum, den Ruf und die Unausweichlichkeit einer zweiten, fantastischen Reise schenkten.

Inhalt

Einladungzu einer weiteren Reise

Einleitung

Erstes KapitelDie beiden Hälften des Lebens

Zweites KapitelDie Reise des Helden und der Heldin

Drittes KapitelDie erste Hälfte des Lebens

Viertes KapitelDas tragische Lebensgefühl

Fünftes KapitelÜber Stolpersteine stolpern

Sechstes KapitelNotwendiges Leiden

Siebtes KapitelHeimat und Heimweh

Achtes KapitelAmnesie und die große Geschichte

Neuntes KapitelEine zweite Einfalt

Zehntes KapitelEine helle Traurigkeit

Elftes KapitelDie Schattenländer

Zwölftes KapitelNeue Probleme und neue Richtungen

Dreizehntes KapitelNach oben fallen

Meditation

Anmerkungen

Literaturhinweise

Quellenverzeichnis

Personen- und Sachregister

Zum Autor

Die größten und wichtigsten Probleme des Lebens sind im Grunde genommen unlösbar. Sie können nie gelöst, sondern nur überwachsen werden.

C. G. Jung

Erst kommen wir zu Fall, dann erholen wir uns von diesem Fall. Beides ist die Gnade Gottes!

Juliana von Norwich

Einladung

zu einer weiteren Reise

Jeden von uns erwartet eine Reise in die zweite Hälfte des Lebens. Nicht jeder tritt diese Reise auch an, wenngleich wir alle älter werden und manche von uns ein sehr hohes Alter erreichen. Aus irgendeinem Grund jedoch ist diese «zweite Reise» ein gut gehütetes Geheimnis. Viele von uns wissen nicht einmal, dass sie überhaupt existiert. Es gibt einfach zu wenige Menschen, die uns davon erzählen, und noch weniger, die uns den Weg weisen können oder wissen, dass sich diese Reise von der in der ersten Lebenshälfte unterscheidet. Aus welchem Grund möchte ich also versuchen, ein wenig Licht auf den Weg zu werfen? Warum glaube ich, dass ich in dieser Hinsicht überhaupt etwas zu sagen habe? Und warum wende ich mich an Menschen, die sich noch auf ihrer ersten Reise befinden und glücklich dabei sind?

Der Grund, warum ich darüber schreiben möchte, ist folgender: Nachdem ich nun vierzig Jahre als franziskanischer Lehrer mit den unterschiedlichsten Menschen in vielen religiösen Kontexten, Ländern und Institutionen gearbeitet habe, habe ich das Gefühl, dass viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen und Institutionen den Belangen der ersten Lebenshälfte verhaftet bleiben. Damit meine ich, dass sich die Sorgen der meisten Menschen unverändert darum drehen, ihre eigene (oder eine bessere) Identität zu finden, sich selbst gegen andere abzugrenzen, nach Sicherheit zu streben, Beziehungen aufzubauen und sich an Projekte oder Menschen zu binden, die ihnen wichtig erscheinen. Diese Aufgaben sind bis zu einem gewissen Grad gut und notwendig. Wir alle sind wie der griechische Philosoph Archimedes auf der Suche nach einem «festen Stand und einem langen Hebel», um so die Welt wenigstens ein bisschen zu bewegen. Der Welt ginge es um einiges schlechter, wenn wir uns dieser ersten und wichtigen Aufgabe nicht widmen würden.

Ich bin jedoch der Meinung, dass es bei der Aufgabe der ersten Lebenshälfte lediglich darum geht, den Ausgangspunkt zu finden. Sie ist nicht mehr als eine Aufwärmübung, nicht die komplette Reise. Sie ist das Floß, doch nicht das Ufer. Wenn Sie sich klarmachen, dass es eine weitere Reise gibt, werden Sie die Aufwärmphase anders gestalten, um besser auf das vorbereitet zu sein, was danach kommen wird. Ganz gleich, wie alt wir sind, müssen wir den gesamten Lebensbogen im Blick haben und wissen, wohin er sich neigt.

Wir wissen um diese zweite Reise, weil uns jene, die sie bereits unternommen haben, mit klarer Stimme dazu einladen, weil uns geistliche wie weltliche Schriften dazu auffordern, und weil wir selbst Menschen beobachten, die dieses neue Terrain betreten haben – und traurigerweise auch jene, die sich nie weiterzubewegen scheinen. Die zweite Reise erscheint für gewöhnlich wie eine verlockende Einladung, eine Art Versprechen oder Hoffnung. Es gibt niemanden, der uns einen Marschbefehl erteilt, wir werden lediglich dazu aufgefordert, uns in Bewegung zu setzen; vielleicht, weil man sich auf diesen Weg nur aus freien Stücken begeben kann, mitsamt all dem chaotischen und unverarbeiteten Material unseres eigenen einzigartigen Lebens als Gepäck, das wir mit uns herumschleppen. Wir werden nicht gezwungen zu gehen, und wir sind auch nicht allein auf dem Weg. Es gibt Wegweiser, einige allgemeingültige Muster, neue Zielvorgaben, Warnhinweise und sogar persönliche Führer, die uns auf dieser zweiten Reise unterstützen können. Ich hoffe, dass ich Ihnen helfen kann, indem ich in diesem Buch von all dem etwas anbiete.

Dass es so viele Quellen und Hilfsmittel gibt, macht mir Mut; ich habe das Bedürfnis, den Versuch zu wagen, eine Landkarte für diese zweite Reise zu entwerfen, die auch das Terrain der ersten Reise umfasst – wobei natürlich die notwendigen Übergangspunkte besonders wichtig sind. Wie Sie an den Kapitelüberschriften erkennen können, sind die üblichen Übergangspunkte für mich eine Art «notwendiges Leiden»: ein Stolpern über Stolpersteine, Schattenboxen, doch meistens einfach nur ein nagendes Bedürfnis nach «uns selbst», nach einem «Mehr», oder etwas, das ich als «Heimweh» bezeichnen möchte.

Ich vertraue darauf, dass Sie die Wahrheit dieser Landkarte erkennen werden, allerdings handelt es sich dabei um jene Art von Seelenwahrheit, die wir nur «in einem Spiegel» (1 Korinther 13,12) sehen können. Jeder Spiegel, durch den wir sehen, ist von Menschenhand gemacht, wie zum Beispiel der meine. Die Sprache der Spiritualität ist zwangsläufig metaphorisch und symbolisch. Das Licht kommt von anderswo, doch es muss durch jene von uns reflektiert werden, die sich noch immer selbst auf der Reise befinden. Wie Desmond Tutu mir kürzlich auf einer Reise nach Kapstadt sagte: «Wir sind Glühbirnen, Richard, und unsere Aufgabe besteht lediglich darin, fest in der Fassung verankert zu bleiben!»

Ich glaube, dass Gott uns bei unserer eigenen «unbefleckten Empfängnis» unsere Seele gibt, unsere tiefste Identität, unser Wahres Selbst,1 unseren einzigartigen Entwurf. Unser ureigenstes kleines Stück vom Himmel wird gleich zu Anfang vom Hersteller im Produkt installiert! Uns wird eine bestimmte Spanne an Jahren gegeben, um es kennenzulernen, uns dafür zu entscheiden und unser Schicksal in vollem Umfang auszuleben. Wenn wir das nicht tun, wird unser Wahres Selbst in unserer eigenen, einzigartigen Form nie wieder erscheinen. Vielleicht ist das der Grund, warum fast alle religiösen Traditionen in diesem Zusammenhang äußerst emotionsgeladene Begriffe wie «Himmel» und «Hölle» verwenden. Die Entdeckung unserer Seele ist äußerst wichtig, bedeutsam und von äußerster Dringlichkeit für uns und für die Welt. Nicht wir «machen» oder «erschaffen» unsere Seele – wir ziehen sie lediglich groß. Wir sind die unbeholfenen Verwalter unserer eigenen Seele. Wir haben alle Voraussetzungen, um zu erwachen, und der Großteil unserer spirituellen Arbeit liegt darin, diesem eher natürlichen Wachstum und Erwachen nicht im Wege zu stehen. Wie es scheint, müssen wir vieles verlernen, um zu dem grundlegenden Leben zurückzugelangen, das «in Gott verborgen» ist (Kolosser 3,3). Ja, Transformation bedeutet oft eher, etwas zu verlernen als zu lernen, weshalb die religiösen Traditionen diesen Vorgang auch «Bekehrung» oder «Umkehr» nennen.

Für mich sagt das kein Dichter so treffend wie der wahrhaft unnachahmliche Gerard Manley Hopkins in seinem von Duns Scotus inspirierten Gedicht «Wie Eisvögel Feuer fangen».2

So tut jegliches sterbliche Ding ein Ding nur und das gleiche:

Teilt aus das Sein, das in einem jeden wohnt;

Selbstet – wird es selbst; «ich selbst» so spricht es, spricht sich vor,

Rufend: «Was ich tue, das bin ich, hierzu kam ich her».

Alles, was wir zurückgeben können, und alles, was Gott von uns will, ist, dass wir ihm das, was uns gegeben wurde, demütig und stolz hinhalten – das heißt uns selbst! Wenn ich den Heiligen und Mystikern Glauben schenken soll, ist dieses Endprodukt wertvoller für Gott, als es für uns ist. Was auch immer das Geheimnis ist, wir sind definitiv daran beteiligt! Wahre Religion ist immer die tiefe Intuition, dass wir schon jetzt an etwas Großartigem teilhaben, so sehr wir uns auch bemühen, das zu leugnen oder zu umgehen. Tatsächlich zeigt die moderne Theologie in ihrem besten Sinne einen starken «Hang zur Teilnahme», im Gegensatz zu einer Religion, der es lediglich um Beobachtung, Bestätigung, Moralismus oder Gruppenzugehörigkeit geht. Es geht nicht darum, irgendeiner Gruppe beizutreten, sondern darum, etwas als Teilnehmer zu erkennen, zu erleiden und zu genießen. Schon jetzt sind wir Teil des ewigen Stroms, den Christen als das göttliche Leben der Dreifaltigkeit bezeichnen.

Ob wir unser Wahres Selbst finden, hängt weitgehend von der Summe der Momente ab, die jedem von uns zugeteilt sind, und den Momenten der Freiheit, die jeder von uns während dieser Zeit erhält und annimmt. Das Leben ist tatsächlich «folgenreich»: Es ist setzt sich zusammen aus einer Abfolge von Momenten, in denen unser tieferes «Ich» langsam offenbar wird, falls wir bereit sind, es zu sehen. Es ist tatsächlich von allergrößter Bedeutung, dass wir an unserem inneren Entwurf (was eine gute Beschreibung unserer Seele ist) festhalten und ihn demütig der Welt und Gott zurückgeben: durch Liebe und Dienst. Jedes Ding und jeder Mensch muss seine Natur voll ausleben, koste es, was es wolle. Dies ist der Sinn unseres Lebens und die tiefste Bedeutung des «Naturgesetzes». Wir sind hier, um das, was uns gegeben wurde, vollständig und freiwillig zurückzugeben – doch nun versehen mit unserer persönlichen Note. Es ist vielleicht der mutigste Willensakt, den wir je tun werden – und es braucht beide Hälften unseres Lebens, um ihn zu Ende zu bringen. In der ersten Lebenshälfte geht es darum, den Inhalt des Drehbuchs festzulegen, in der zweiten Hälfte, es tatsächlich zu schreiben und auszuleben.

Machen Sie sich also bereit für das große Abenteuer – das Abenteuer, für das wir eigentlich geboren wurden. Wenn wir es nicht schaffen, zu unserem kleinen Stück Himmel vorzudringen, ergibt unser Leben nicht viel Sinn. Stattdessen erschaffen wir uns dann unsere eigene «Hölle». Machen Sie sich also bereit: für eine neue Freiheit, eine gefährliche Erlaubnis, eine unverhoffte Hoffnung, ein unerwartetes Glück, einige «Stolpersteine», etwas radikale Gnade und eine neue und zwingende Verantwortung für Sie selbst und unsere leidende Welt.

Einleitung

Was für einen jungen Menschen ein normales Ziel ist, wird im Alter zu einem neurotischen Hindernis.

C. G. Jung

Kein Weiser hat sich je gewünscht, jünger zu sein.

Indianisches Sprichwort

Vieles deutet darauf hin, dass es im Leben eines Menschen mindestens zwei Hauptaufgaben gibt. Die erste Aufgabe besteht darin, ein stabiles «Gefäß» oder eine Identität aufzubauen; die zweite ist es, den Inhalt finden, für den das Gefäß bestimmt ist. Die erste Aufgabe betrachten wir ganz selbstverständlich als den eigentlichen Sinn des Lebens, was jedoch nicht bedeutet, dass wir sie auch gut erfüllen. Der zweiten Aufgabe, so höre ich immer wieder, begegnet man eher zufällig, als dass man danach sucht; nur wenige bereiten sich auf sie vor oder gehen bewusst und mit viel Leidenschaft an sie heran. Sie fragen sich nun vielleicht, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich mit einem Reiseführer für ein Land zu beschäftigen, das wir noch gar nicht betreten haben. Doch genau das ist der Grund, aus dem wir es tun müssen. Es ist unerlässlich, zu wissen, was vor uns liegt und jeden von uns erwartet.

Wir leben in einer «Kultur der ersten Lebenshälfte», in der es hauptsächlich darum geht, erfolgreich zu überleben. Bisher haben sich wahrscheinlich die meisten Kulturen und Individuen in der Geschichte nicht über die erste Stufe ihrer Entwicklung hinausbewegt, da für mehr auch gar keine Zeit blieb. Wir alle versuchen die Aufgabe zu erfüllen, die uns das Leben anscheinend als Erstes stellt: eine Identität, ein Heim, Beziehungen, Freundschaften, Gemeinschaft, Sicherheit und ein Fundament für unser Leben aufzubauen.

Wir brauchen jedoch um Einiges länger, bis wir die «Aufgabe in der Aufgabe» entdecken, wie ich es gerne nenne: was wir tatsächlich tun, wenn wir tun, was wir tun. Zwei Menschen mit derselben Arbeitsplatzbeschreibung können ihre Arbeit ganz unterschiedlich tun: der eine führt sie mit mehr oder weniger subtiler Lebensenergie (eros) aus, der andere mit mehr oder weniger subtiler negativer Energie (thanatos). Vermutlich bewegen sich die meisten von uns irgendwo dazwischen.

Tatsächlich reagieren wir auf die Energie, die von anderen ausgeht, viel stärker als auf das, was sie tatsächlich sagen oder tun. In jeder Situation ist unser Geben oder Nehmen von Energie das, was wir tatsächlich tun. Jeder von uns kann den Unterschied spüren, unter ihm leiden oder ihn genießen, doch nur wenige können wirklich sagen, was genau da vor sich geht. Warum fühle ich mich angezogen oder zurückgestoßen? Was wir alle voneinander ersehnen und brauchen, ist natürlich die Lebensenergie, die Eros heißt! Sie zieht Dinge an, erschafft und verbindet sie miteinander

Das ist gewiss, was Jesus damit meinte, dass man gute und schlechte Bäume nur «an ihren Früchten» (Matthäus 7,20) voneinander unterscheiden kann. Wenn sich eine Gruppe oder Familie innerhalb der Lebensenergie (eros) bewegt, ist sie produktiv und voller Energie; bewegt sie sich innerhalb der Todesenergie (thanatos), wird jede Interaktion von übler Nachrede, Zynismus und Misstrauen bestimmt. Meistens kann man allerdings nicht genau sagen, was da eigentlich vor sich geht. Dies gehört zur Weisheit der zweiten Lebenshälfte, zu dem, was Paulus die «Unterscheidung der Geister» (1 Korinther 12,10) nennt. Vielleicht kann dieses Buch eine Schule für eine solche Auslegung und Weisheit sein. Das ist zumindest meine Hoffnung.

Erst wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Aufgabe in der Aufgabe richten und in ihr nach Integrität zu streben beginnen, vollziehen wir den Schritt von der ersten Hälfte des Lebens zur zweiten Hälfte. Integrität hat größtenteils damit zu tun, unsere Absichten zu läutern und ehrlicher gegenüber unseren eigentlichen Motiven zu werden. Das bedeutet harte Arbeit. In den meisten Fällen schenken wir dieser inneren Aufgabe keine Aufmerksamkeit, bis wir bei unseren äußeren Aufgaben zu Fall kommen oder scheitern. Dieses Muster ist aus Gründen, auf die ich später noch näher eingehen werde, immer gleich.

Wenn wir ganz ehrlich zu uns sind, setzt sich das Leben, trotz all unseres hoffnungsvollen Wachstums und unserer Erfolge, aus vielen Momenten des Scheiterns und Fallens zusammen. Dieses Scheitern und Fallen erfüllt einen bestimmten Zweck, den weder die Kultur noch die Kirche je ganz verstanden hat. Die meisten von uns empfinden jede Art von Scheitern als verwirrend, doch so muss es nicht sein. Meine Beobachtungen sagen mir, dass viele praktische Fragen und zwiespältige Situationen sich auflösen, wenn wir nur ein wenig besser verstehen, welche natürlichen Phasen und Stufen der Lebensbogen vorsieht und in welche Richtung er sich neigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Reise selbst umgehen können. Jeder von uns muss sie selbst unternehmen, bevor wir das große Bild des menschlichen Lebens wirklich verstehen können.

Vielleicht sollten wir dieses Buch einfach «Tipps für unterwegs» nennen und es wie eine Art Begleiter verstehen, der hilfreiche Hinweise für unterwegs anbietet. Oder wie eine Gesundheitsbroschüre, in der die möglichen Symptome eines drohenden Herzanfalls beschrieben werden. Sie zu lesen, wenn es einem noch gut geht, mag wie eine Zeitverschwendung erscheinen, doch könnte ihr Wissen einmal über Leben und Tod entscheiden, sollte es tatsächlich zu einem Herzanfall kommen. Was ganz gewiss auf jeden Fall eintritt, ist die zweite Hälfte Ihres Lebens, auch wenn ich hoffe, dass es kein Herzanfall sein wird, wodurch sich der Übergang für Sie ankündigt (außer natürlich, Sie verstehen «Herzanfall» symbolisch!).

Wenn ich sage, dass die zweite Hälfte des Lebens auf jeden Fall eintritt, meine ich das nicht im strikt chronologischen Sinne. Manche junge Menschen sind jetzt schon dort angelangt, weil ihnen früh im Leben Leid widerfahren ist und sie dadurch gelernt haben, während viele ältere Menschen immer noch recht kindisch sind. Wenn Sie sich noch in der ersten Hälfte Ihres Lebens befinden, egal ob chronologisch oder spirituell, so hoffe ich, dass dieses Buch Ihnen einige gute Ratschläge, Warnungen, Grenzen, Erlaubnisse und viele Möglichkeiten bietet. Wenn Sie bereits in der zweiten Hälfte Ihres Lebens angekommen sind, hoffe ich, dass dieses Buch Ihnen zumindest die Sicherheit geben kann, dass Sie nicht verrückt sind – und Ihnen außerdem ein Stück herzhaftes Brot für Ihre Reise mit auf den Weg gibt.

Niemand gelangt allein aus eigenem Antrieb oder einer vollkommen freien Willensentscheidung zu spiritueller Reife. Wir werden von einem Geheimnis geleitet, das religiöse Menschen zu Recht als Gnade bezeichnen. Die meisten von uns müssen dazu überredet oder verführt werden, oder, so unglaublich es klingen mag, durch eine Art «Sünde» hineingeworfen werden, wie Jakob, der sich sein Erstgeburtsrecht durch eine List erschlich, und Esau, der es durch Versagen verlor (Genesis 27). Menschen, die die gesamte Strecke der Reise zurücklegen, bezeichnet die Bibel als «berufen» oder «auserwählt»; in Mythologie und Weltliteratur werden sie vielleicht als «vom Schicksal bestimmt» oder «ausersehen» bezeichnet, doch immer sind es diejenigen, die eine Art tiefe Einladung zu «mehr» vernommen haben und die sich aufgemacht haben, um dieses «Mehr» durch Gnade und Mut zu finden. Die meisten bekommen von anderen nur wenig Rückhalt oder sind selbst nicht gänzlich überzeugt, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen haben. Sich aufzumachen ist immer ein Akt des Glaubens, ein Risiko im wahrsten Sinne des Wortes und gleichzeitig auch ein Abenteuer.

Das Bekannte und Gewohnte wiegt uns in falscher Sicherheit, sodass die meisten von uns dort dauerhaft ihr Lager aufschlagen. Das Neue ist per definitionem unbekannt und unerprobt – also müssen Gott, das Leben, das Schicksal, das Leid uns einen Schubs geben, meist einen kräftigen, oder wir gehen nicht los. Jemand muss uns klarmachen, dass ein Lager nicht dazu da ist, um für immer dort zu leben – sondern lediglich, um von dort aus weiterzuziehen.

Den meisten von uns wird nie gesagt, dass wir das Bekannte und Gewohnte hinter uns lassen können, um uns auf eine zweite Reise zu begeben. Unsere Erwartungen und Institutionen, einschließlich unserer Kirchen, sind fast vollständig darauf ausgelegt, uns zu den Aufgaben der ersten Lebenshälfte zu ermutigen, uns dabei zu unterstützen, zu belohnen und zu bestätigen. Das ist schockierend und enttäuschend, aber ich denke, es ist wahr. Wir kämpfen mehr darum, zu überleben als zu wachsen, wir sind mehr damit beschäftigt, «durchzukommen» oder es nach oben zu schaffen als herauszufinden, was uns denn eigentlich «oben» erwartet oder was «unten» bereits gewesen ist. Der amerikanische Mönch Thomas Merton stellte fest, dass wir unser ganzes Leben damit verbringen können, die Sprossen der Erfolgsleiter emporzuklimmen, nur um oben angekommen festzustellen, dass unsere Leiter an der falschen Mauer lehnt.

Viele haben in ihrer ersten Lebenshälfte den Verdacht, dass es nicht richtig gut läuft, dass das nicht alles sein kann – und vermutlich ist das richtig. Diese erste Hälfte kann nicht für sich allein stehen. Man hat uns lediglich gesagt, dass wir einen ordentlichen Keller und irgendeine Art von Fundament für unser Haus bauen sollen, doch hat uns niemand einen Bauplan oder auch nur einen Hinweis darauf gegeben, dass wir darüber auch einen «Lebensraum» bauen müssen, ganz zu schweigen von einer nahrhaften Küche, einem erotischen Schlafzimmer und einer eigenen Kapelle. Viele von uns – wenn nicht sogar alle – geben sich beim Bau ihres Lebenshauses mit Backsteinen und Mörtel, dem Überlebensnotwendigsten, zufrieden und gelangen nie zu dem, was ich das «einheitliche Feld» des Lebens nennen möchte. Bill Plotkin, ein weiser Lehrer, hat ein schönes Bild dafür gefunden: Er sagt, dass viele von uns ihren «Überlebenstanz» einstudieren, ohne je ihren eigentlichen «heiligen Tanz» zu erproben.

Der Weg nach oben und der Weg nach unten

Die Seele birgt viele Geheimnisse. Sie werden nur jenen offenbart, die sie auch sehen wollen, sie werden uns nie einfach aufgezwungen. Eines der bestgehüteten Geheimnisse, das sich gleichzeitig direkt vor unseren Augen versteckt, ist, dass der Weg nach oben der Weg nach unten ist. Oder, wenn Ihnen das lieber ist: Der Weg nach unten ist der Weg nach oben. Überall in der Natur ist dieses Muster erkennbar, im Wechsel der Jahreszeiten und Substanzen auf dieser Erde, in den 600 Millionen Tonnen Wasserstoff, die die Sonne jeden Tag verbrennt, um unsere Erde zu erhellen und zu wärmen, und selbst in den metabolischen Gesetzen der Schlankheits- oder Fastenkuren. Auch in der Mythologie begegnen wir diesem «Runter-Rauf-Muster» immer wieder, wie etwa in der Geschichte von Persephone, die in die Unterwelt hinabsteigen und Hades heiraten muss, damit es wieder Frühling werden kann.

In Legenden und in der Literatur geht es fast ausschließlich darum, dass etwas geopfert werden muss, wenn etwas anderes erreicht werden soll. Faust muss seine Seele an den Teufel verkaufen, um Macht und Wissen zu erlangen; Dornröschen muss hundert Jahre schlafen, bevor sie den Kuss des Prinzen empfangen kann. In der Bibel sehen wir, dass Kampf und Verwundung notwendig sind, damit aus Jakob Israel werden kann (Genesis 32,26–32), und der Tod und die Auferstehung Jesu sind nötig, um das Christentum entstehen zu lassen. Das Muster des Verlusts und der Erneuerung ist so konstant und universell, dass man es eigentlich überhaupt nicht als Geheimnis bezeichnen kann.

Und doch ist es immer noch ein Geheimnis, vielleicht, weil wir es nicht sehen wollen. Wir wollen keine zweite Reise antreten, wenn wir das Gefühl haben, dass diese nach unten führt, besonders dann nicht, wenn wir viel Schweiß und Tränen darauf verwendet haben, um nach oben zu gelangen. Das ist sicherlich der Hauptgrund, warum viele Menschen niemals zur Fülle ihres Lebens gelangen. Die Dinge, die wir in der ersten Lebenshälfte als unsere Erfolge betrachten, müssen auseinanderfallen und sich in irgendeiner Weise als mangelhaft erweisen – oder wir bewegen uns einfach nicht weiter. Warum sollten wir auch?

Normalerweise müssen wir unsere Arbeit, unser Vermögen oder unseren guten Ruf verlieren, unser Haus muss überflutet werden, der Tod oder eine Krankheit müssen in unser Leben hereinbrechen. Das Muster ist tatsächlich so offensichtlich, dass man sich schon sehr anstrengen oder geistig äußerst träge sein muss, um diese Lektion, die uns das Leben fortwährend erteilt, zu übersehen. Auch Scott Pecks kommt in seinem Bestseller The Road Less Traveled (dt. Der wunderbare Weg) zu dieser Erkenntnis. In einem persönlichen Gespräch sagte er mir einmal, er habe das Gefühl, dass die meisten Menschen im Westen einfach spirituell faul seien. Und wer faul ist, bleibt auf dem Weg, auf dem er sich befindet, selbst wenn sich dieser als Sackgasse erweist. Es ist das spirituelle Äquivalent zum zweiten Gesetz der Thermodynamik: Alles wird langsamer, es sei denn, eine Kraft von außen treibt es wieder an. Wahre Spiritualität könnte man als diese «Kraft von außen» bezeichnen, auch wenn sie überraschenderweise «innen» ihren Ursprung hat. Aber darauf werden wir später noch näher eingehen.

Unsere Reise beinhaltet immer irgendeine Art des Fallens oder, wie ich es später erläutern werde, ein «notwendiges Leiden». Die Quellen scheinen dies zu bestätigen, angefangen bei Adam und Eva und allem, wofür sie stehen. Ja, sie haben «gesündigt» und wurden aus dem Garten Eden vertrieben, doch waren es eben diese Vorgänge, die ihnen ihr «Bewusstsein», ihr Gewissen verliehen und dazu führten, dass sie sich weiterentwickeln konnten. Aber alles begann mit einem Verstoß. Nur Menschen, die mit religiösen Geschichten nicht vertraut sind, lassen sich davon überraschen, dass Adam und Eva von der Frucht aßen. Sobald wir hören, dass Gott es ihnen ausdrücklich verboten hat, wissen wir, dass sie es tun werden! Damit ist die ganze Geschichte angelegt, in der auch wir uns wiederfinden.

Es ist nicht so, dass Sie vielleicht leiden oder versagen werden oder dass es Ihnen nur dann passiert, wenn Sie etwas Böses tun (wovon die meisten religiösen Menschen überzeugt sind). Genauso wenig widerfährt es nur Pechvögeln oder jenen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Sie können es auch nicht umgehen, wenn Sie sich nur schlau genug anstellen oder rechtschaffen leben. Nein, es wird passieren, und zwar genau Ihnen! Verlieren, Versagen, Fallen, Sünde und das Leid, das durch diese Erfahrungen hervorgerufen wird – all dies ist ein notwendiger und sogar guter Teil der menschlichen Reise. Wie meine Lieblingsmystikerin, Juliana von Norwich, schon sagte: «Sünde ist nützlich.»

Sünde oder Fehler können Sie ohnehin nicht vermeiden (Römer 5,12), und wenn Sie dies allzu fieberhaft versuchen, verursacht dies oft noch schlimmere Probleme. Jesus erzählte gerne Geschichten wie die vom Pharisäer und dem Zöllner (Lukas 18,9–14) oder wie das bekannte Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11–32), in denen ein Charakter in seinem Leben alles richtig macht, tatsächlich aber komplett danebenliegt; der andere macht alles falsch, ist aber am Ende der, den Gott liebt! Das müssen Sie sich vor Augen führen! Gleichzeitig erklärt uns Jesus, dass es zwei Gruppen gibt, die besonders gut darin sind, diese beschämende Überraschung zu verleugnen oder zu vermeiden: jene, die sehr «reich» sind, und jene, die sehr «religiös» sind. Diese beiden Gruppen haben vollkommen andere Pläne für sich selbst, denn sie versuchen, ihre eigenen Schiffe auf ausgewählten Routen zu steuern. Beiden geht es darum, immer nur nach «oben» zu steigen und mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie nach «unten» fallen.

Die Ansicht, dass der Weg zuerst nach unten führen muss, bevor er uns nach oben bringen kann, passt weder in unsere westliche Philosophie des Fortschritts noch zu unserem Streben nach sozialem Aufstieg oder zu unserer religiösen Auffassung von Vollkommenheit oder Heiligkeit. «Hoffen wir, dass es nicht stimmt, zumindest nicht für mich», sagen wir uns alle. Doch lehrt uns die Philosophia perennis oder Weisheitstradition, wie sie manchmal genannt wird, dass es immer zutrifft und zutreffen wird. Der heilige Augustinus nannte es das «Pessachmysterium», das Mysterium des Durchgangs (durch das Schilfmeer). Heute würden wir vielleicht eine der folgenden Metaphern verwenden: den Rückwärtsgang einlegen, die Marschroute ändern, vom Wagen stürzen, den wir so sorgfältig konstruiert haben. Niemand würde sich freiwillig für einen solchen Umbruch entscheiden; wir müssen irgendwie «hineinfallen». Jene, die besonders sorgfältig an den Systemen zur Aufrechterhaltung ihrer Überlegenheit herumtüfteln, wollen so etwas natürlich nicht zulassen. Aber es ist eben nichts, was wir tun, sondern etwas, das uns angetan wird, das uns widerfährt. Manchmal sind nichtreligiöse Menschen für einen solchen Strategiewandel viel offener als religiöse Menschen, die ihren eigenen Erlösungsplan schon minutiös ausgearbeitet haben. So würde ich auf jeden Fall Jesu geheimnisvolle Worte deuten: «Die Söhne dieser Welt sind ihresgleichen gegenüber klüger als die Söhne des Lichtes» (Lukas 16,8). Ich habe zu viele starrköpfige und zornige alte Christen und Geistliche getroffen, um vor dieser traurigen Wahrheit die Augen verschließen zu können. Es scheint jedoch auf alle Religionen zuzutreffen, solange sie nicht tatsächlich zur Verwandlung eines Menschen führen.

In diesem Buch möchte ich beschreiben, inwiefern diese Botschaft des Nach-unten-Fallens und Nach-oben-Steigens tatsächlich die widersprüchlichste Botschaft der meisten Weltreligionen ist – einschließlich und ganz besonders des Christentums. Wir reifen spirituell viel mehr, wenn wir Fehler machen, als wenn wir alles richtig machen. Vielleicht ist genau das die wichtigste Aussage darüber, wie spirituelles Wachstum funktioniert; dennoch sträubt sich alles in uns, das auch zu glauben. Doch ich denke, nur so können wir die fast schon verschwundene Vorstellung von der «Ursünde» verstehen. Von Beginn an befand sich eine Fliege im heilenden Balsam, und unsere Aufgabe ist es, sie zu erkennen und mit ihr umzugehen, ohne den heilenden Balsam gänzlich fortzuschütten.

Wenn es so etwas wie menschliche Vollkommenheit überhaupt gibt, dann scheint sie genau daraus zu entspringen, wie wir mit der allgegenwärtigen Unvollkommenheit umgehen, vor allem mit unserer eigenen. Welch cleverer Zug von Gott, die Heiligkeit genau dort zu verstecken, sodass nur die Demütigen und Aufrichtigen sie finden können! Ein «vollkommener» Mensch ist letztendlich jemand, der bewusst vergeben und Unvollkommenheit annehmen kann, statt zu denken, er oder sie sei über alle Unvollkommenheit erhaben. Es wird offensichtlich, sobald man es laut ausspricht. Ich möchte sogar sagen, die Forderung nach Vollkommenheit ist der größte Feind des Guten. Vollkommenheit ist ein mathematisches oder göttliches Konzept, Güte ist ein wunderschönes menschliches Konzept, das uns alle einschließt.

Schon viele haben sich selbst davon abgehalten, zu ihren geistigen Tiefen – und damit auch zu ihren geistigen Höhen – zu gelangen, weil sie ihren Schmerz verleugnen und das nötige Fallen vermeiden. Die Religion der ersten Lebenshälfte befasst sich fast immer mit verschiedenen Arten von Reinheitsvorstellungen oder «Du-sollst-nicht»-Geboten, um uns, wie gute Pfadfinder, aufrecht, klar, sauber und beieinander zu halten. Eine gewisse Art von «Reinheit» und Selbstdisziplin ist, zumindest während der ersten Lebenshälfte, auch «nützlich», wie es die jüdische Tora auf brillante Weise darlegt. Ich war selbst ein guter Pfadfinder und zudem ein Ministrant, der schon im zarten Alter von zehn Jahren morgens um sechs zur Kirche geradelt ist, um bei der Frühmesse zu dienen. Ich hoffe, Sie sind genauso beeindruckt von mir, wie ich es damals war.

Da keiner von uns sich wünscht, danach strebt oder auch nur erwartet, dass der Weg zum Wachstum nach unten und durch Unvollkommenheit hindurch führt, muss uns die Botschaft mit der Autorität einer «göttlichen Offenbarung» übermittelt werden. Jesus macht daraus einen zentralen Grundsatz: die Letzten haben tatsächlich einen Vorsprung, wenn es darum geht, die «Ersten» zu werden, und jene, die zu viel Zeit auf ihre Bemühungen verwendet haben, «Erste» zu werden, werden nie dorthin gelangen. Jesus sagt das ganz deutlich an verschiedenen Stellen und in zahlreichen Gleichnissen, auch wenn jene von uns, die sich noch immer auf ihrer ersten Reise befinden, nicht in der Lage sind, das zu erkennen. Es wurde schon immer bloß für religiöse Schaumschlägerei gehalten, wie der Großteil der westlichen Geschichte gezeigt hat. Selbst unter ernsthaften Christen ist der Widerstand gegen diese Botschaft so groß, dass wir von einem kompletten Leugnen sprechen können. Das menschliche Ego würde alles, einfach alles tun, um ja nicht fallen, sich ändern oder sterben zu müssen. Das Ego ist der Teil von uns, der den Status quo liebt, selbst wenn er nicht funktioniert. Es klammert sich an die Vergangenheit und Gegenwart und fürchtet die Zukunft.

Wenn Sie sich in der ersten Lebenshälfte befinden, können Sie sich nicht vorstellen, dass irgendeine Art des Scheiterns oder Sterbens überhaupt möglich ist, schon gar nicht notwendig oder gut. (Jesus zufolge könnten jene, die nie nach oben gestiegen sind, wie die Armen und Ausgegrenzten, tatsächlich einen spirituellen Vorsprung haben!) Doch normalerweise benötigen wir zumindest ein paar Erfolge, um eine gewisse Egostruktur und Selbstbewusstsein aufzubauen und uns in Bewegung zu setzen. Aus reiner Gnade verbirgt Gott den Gedanken ans Sterben vor den jungen Menschen, aber leider verbergen wir ihn dann auch vor uns selbst, bis er sich in späteren Jahren unserem Bewusstsein regelrecht aufdrängt. Vor einigen Jahren sagte Ernest Becker einmal, es sei gut möglich, dass nicht die Liebe die Welt am Laufen halte, sondern «die Verleugnung des Todes». Was, wenn er recht hat?

Das Prinzip, dass der Weg zuerst nach unten führen muss, bevor es nach oben gehen kann, haben manche als «Spiritualität der Unvollkommenheit» oder als «den Weg der Wunde» bezeichnet. Im Christentum wurde dies von der heiligen Thérèse von Lisieux mit ihrem «Kleinen Weg», vom heiligen Franziskus mit seinem «Weg der Armut» und von den Anonymen Alkoholikern mit ihrem notwendigen «ersten Schritt» bestätigt. Der heilige Paulus lehrte diese unliebsame Botschaft mit seiner rätselhaften Aussage: «Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark» (2 Korinther 12,10). Dabei baute er natürlich lediglich auf das auf, was er die «Torheit» der Kreuzigung Jesu nannte – ein tragisches und absurdes Sterben, das zur Auferstehung selbst wurde.

Wie Eisschnellläufer kommen wir nur voran, indem wir uns ständig von einer Seite zur anderen bewegen. Dieses Phänomen erwies sich als Kernstück und zentrales Thema meiner Forschungen zur männlichen Initiation,3 und heute erkennen wir ganz deutlich, dass es im gesamten Universum zu finden ist. Vor allem in der Physik und in der Biologie ist das Muster der Entropie allgegenwärtig: ständiger Zerfall und Erneuerung, Tod und Verwandlung, die Veränderung von Formen und Kräften. Manche sehen es sogar im Zusammenhang mit der «Chaostheorie»: Die Ausnahmen sind die einzige Regel, und dann schaffen sie neue Regeln. Gruselig, oder?

Das Verleugnen dieses Musters scheint eine Art praktischer Alltagsatheismus oder bewusste Ignoranz unter vielen Gläubigen und Geistlichen zu sein. Viele haben sich für die sanfte Version der Religion, die dem Ego schnellen Trost spendet, für das menschliche Wachstumsmodell oder das «Wohlstandsevangelium» entschieden, das im Christentum des Westens und sämtlichen Teilen der Welt, die wir spirituell kolonialisieren, inzwischen weit verbreitet ist. Ja, wir wachsen und steigern uns, aber auf einem völlig anderen Weg, als es sich das Ego je vorstellen könnte. Nur die Seele weiß und versteht das.

Ich hoffe, dass ich Ihnen in diesem Buch den Ablauf, die Aufgaben und die Richtung der beiden Lebenshälften deutlich machen kann, ohne dabei allzu große Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Dann werden Sie in der Lage sein, Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Aus diesem Grund habe ich der amerikanischen Ausgabe den Titel Falling upward, «Nach oben fallen», gegeben. Jene, die bereit dazu sind, werden die Wahrheit dieser Botschaft erkennen: Nur wer nach «unten» gegangen ist, weiß, was «oben» bedeutet. Nur wer auf irgendeine Weise gefallen ist, und gut gefallen ist, kann nach oben steigen, ohne das «Oben» zu missbrauchen. Ich möchte beschreiben, wie das «Oben» in der zweiten Lebenshälfte aussieht – und aussehen kann! Ganz besonderes Augenmerk möchte ich jedoch darauf legen, wie wir von der einen Hälfte zur anderen gelangen – und betonen, dass dieser Übergang nicht durch unsere eigene Willenskraft oder moralische Vollkommenheit geschieht. Es wird anders sein als alles, was wir uns bisher vorgestellt haben, und wir haben es nicht selbst in der Hand. Es widerfährt uns einfach.

Eine Warnung, wenn man es überhaupt so nennen kann, möchte ich noch aussprechen: Sie werden nicht wissen, ob diese Botschaft wahr ist, bevor Sie nicht «oben» angelangt sind. Sie können sich auch nicht vorstellen, dass sie tatsächlich wahr sein soll, bevor Sie nicht selbst das «Unten» durchschritten und die andere Seite in verwandelter Gestalt erreicht haben. Sie müssen «von oben» dazu gedrängt werden, durch Schicksal, Lebensumstände, Liebe oder Gott, denn nichts in Ihnen ist dazu bereit, es zu glauben oder zu durchleben. Nach oben zu fallen ist ein «Geheimnis» der Seele, das nicht durch Nachdenken oder einen Beweis zu lösen ist, sondern nur, indem Sie es – wenigstens einmal – riskieren; indem Sie – wenigstens einmal – die Kontrolle aufgeben und sich führen lassen. Wer das einmal zugelassen hat, weiß, dass es stimmt, doch immer erst hinterher.