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In der gesamten Schöpfung und in allen Gesellschaften lässt sich ein universelles Muster der Weisheit erkennen. Es ist der Dreischritt von Ordnung, Unordnung und Neuordnung. Wir finden es in der Philosophie genauso wie in den Geschichten der Heiligen Schrift, in Leben, Tod und Auferstehung Jesu, im Aufstieg und Fall von Zivilisationen und in unserem eigenen Leben. Richard Rohr ermutigt, Zeiten der Unsicherheit und Unruhe als Anstoß zu spirituellem Wachstum zu begreifen, um einen neuen Weg zu Vertrauen, innerer Ruhe, Gelassenheit und Weisheit zu beschreiten. Rohrs zeitloser Text, ursprünglich unter dem Titel „Hoffnung und Achtsamkeit“ erschienen, wurde vom Autor persönlich überarbeitet und mit einem aktualisierten Vorwort versehen.
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Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Richard Rohr, The Wisdom Pattern: Order – Disorder – Reorder.
Veröffentlicht 2020 von Franciscan Media, 28 W. Liberty Street, Cincinnati, OH 45202, USA. www.FranciscanMedia.org
(Überarbeitete Neuausgabe des 2001 erschienenen Buches „Hope Against Darkness: The Transforming Vision of Saint Francis in an Age of Anxiety“)
© 2001, 2020 Richard Rohr OFM und John Feister
Übersetzung von Bernardin Schellenberger © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Übersetzung des Vorworts zur überarbeiteten Neuausgabe von Bernardin Schellenberger © Claudius Verlag, München 2021
Hinweis zur deutschen Übersetzung: Dieses Buch basiert auf Vorträgen Richard Rohrs, die aufgezeichnet wurden. Die Übersetzung versucht nicht, den Charakter des mündlichen Vortrags wesentlich zu verändern.
Als deutsche Bibelüberetzung ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Vollständige deutschsprachige Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Claudius Verlag München 2021
www.claudius.de
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
unter Verwendung von: © shutterstock/iulias
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021
ISBN 978-3-532-60098-6
Gewidmet Vanessa Guerin –
dafür, dass sie mir geholfen hat, zu sehen,
was schon immer da war.
Deus Meus et Omnia
Mein Gott und Alles
Leitwort der Franziskaner
Cover
Titel
Impressum
Danksagung
Vorwort zur überarbeiteten Neuausgabe
Erster Teil Das heutige Dilemma
1Die Chance der Postmoderne
2Jenseits der Opferrolle
3Zeiten großen Erwachens
4Verwandlung
5Das „kosmische Ei“, das Sinn schenkt
6Unseren Blick erneuern
Zweiter Teil Der dritte Weg
7Wie sieht Ihr Fenster zur Wirklichkeit aus?
8Die große Kette des Seins
9Die Kraft der Vergebung
10Grenzen sind gute Lehrmeister
11Leben mit Finsternissen
12Credo für den Wiederaufbau
Zum Schluss
Danksagung
Der Autor möchte für die Inspiration und ständige Ermutigung von Pater Jeremy Harrington OFM und Schwester Pat Brockman OSU danken.
Anstelle eines ausführlicheren Vorworts zur Vorstellung dieses Buchs liefere ich Ihnen hier schlicht und einfach eine Zusammenfassung. Denn mir wurde klar, dass ich fast mein ganzes Erwachsenenleben lang das Gleiche gelehrt habe:
Ordnung will normalerweise jede Unordnung und Vielfalt beseitigen, was eine Enge und kognitive Starre in Menschen und Systemen erzeugt.
Unordnung schließt uns von sich aus von jeglichem ursprünglichen Einssein, Sinnvollen und womöglich sogar Gesunden aus, sowohl in Menschen als auch in Systemen.
Neuordnung oder Verwandlung von Menschen und Systemen geschieht, wenn beide – Ordnung und Unordnung – zusammenarbeiten.
Die großen Spiritualitäten und Philosophien lehrten dies oft ganz direkt, aber mit unterschiedlichen Vokabeln, Symbolen und Metaphern:
Die Naturvölker nannten es den Zyklus von Tag – Nacht – Sonnenaufgang, oder: Sonne – Mond – Sonne, oder: Sommer – Herbst – Winter – Frühling.
Wissenschaftler sprechen von Stern – Supernova-Explosion – gewaltigen Mengen von Licht und Energie. Mythologien auf der ganzen Welt erzählen Geschichten von Reise – Sündenfall – Rückkehr in eine neue Heimat.
Religionen verwenden oft in irgendeiner Form die Begriffe von Geburt – Sünde – Wiedergeburt, oder: Gesetz – Scheitern – Vergebung, oder: „Alles ist gut“ – Katastrophe – Hoffnung.
Die Bibel erzählt vom Garten Eden – Sündenfall – Paradies.
Walter Brueggemann lehrt drei Arten von Psalmen: Psalmen zur Orientierung – Psalmen der Orientierungslosigkeit – Psalmen zum Neuorientieren. (In: Spirituality of the Psalms, „Die Spiritualität der Psalmen“, 2002)
Die hebräische Heilige Schrift ist dreigeteilt in: Gesetz – Propheten – Weisheit.
Redner und Schriftsteller beziehen sich oft auf „drei Schritte vorwärts und zwei Schritte zurück“.
Hegel nannte es These – Antithese – Synthese.
Georg Ivanovich Gurdjieff (1866–1949) nannte es „Heilige Bejahung“ – „Heilige Leugnung“ – „Heilige Versöhnung“. (In: Beelzebub’s Tales to His Grandson, „Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel“, 1950)
In der Philosophie ist die Rede von Klassik/Essentialismus – Postmoderne/Existenzialismus/Nihilismus – Prozess- bzw. Evolutionsphilosophie.
Die Chemie veranschaulicht dieses Muster durch Lösung – Auflösung – Neulösung.
Paul Ricoeur (1913–2005) sprach von Erster Naivität – Komplexität – Zweiter Naivität, oder: Erster Einfachheit (gefährlich) – Neubewertung – Zweiter Einfachheit (Erleuchtung). (In: The Symbolism of Evil, „Die Symbolik des Bösen“, 1967)
Die Wiederherstellungs-Bewegung spricht von Unschuld – Sucht – Erholung.
Viele sprechen jetzt einfach ganz allgemein von Konstruktion – Dekonstruktion – Rekonstruktion.
Die Christen nennen es Leben – Kreuzigung – Auferstehung.
Angesichts der Dominanz dieses ständig wiederkehrenden Themas muss man es jetzt als schuldhaftes Blindsein betrachten, dass die meisten Menschen dies immer noch als eine Art Überraschung betrachten, als Skandal, Geheimnis oder etwas, das man meiden oder überwinden solle, indem man einfach munter von Stufe eins auf Stufe drei springt. Das ist menschliche Hybris und Illusion. Der Fortschritt verläuft niemals auf einer ganz geraden und ununterbrochenen Linie. Aber wir alle sind von der abendländischen Fortschrittsphilosophie geprägt, die uns lehrt, dass dies der Fall sei, und damit lässt sie uns hoffnungslos und zynisch zurück.
Das vorliegende Buch wurde jetzt dank des liebevollen Bemühens von Vanessa Guerin und Shirin McArthur in eine überarbeitete Fassung gebracht. Wir werden tatsächlich dann „erlöst“, wenn wir dieses universale Realitäts-Muster erkennen und uns ihm ausliefern. Die Kenntnis des ganzen Musters befähigt uns dazu, unsere erste Ordnung loszulassen, der Unordnung zu vertrauen und – was zuweilen das schwierigste ist – der neuen Neuordnung zu vertrauen. Drei große Glaubens-Sprünge für uns alle, und jeder von ihnen hat seinen ganz eigenen Charakter.
Bevor du über den Frieden sprichst,
musst du ihn in deinem Herzen gefunden haben.
Wir sind dazu berufen, Wunden zu heilen,
zu vereinen, was auseinandergefallen ist,
und diejenigen nach Hause zu bringen,
die vom Weg abgekommen sind.
Franz von Assisi
Dreigefährtenlegende, Nr. 58,
vergl. Engelbert Grau, 1993
In der heutigen Welt scheinen viele Menschen den Mut zu verlieren, weil sie sich verwirrt und ohnmächtig fühlen. Ein wichtiger Grund dafür ist die Erfahrung, erdrückenden Mächten ausgeliefert zu sein: Unser Leben wird maßgeblich bestimmt von Konsumrausch, Rassismus, Militarismus, Individualismus, patriarchalischen Strukturen und Konzern-Molochen. Diese „Mächte und Gewalten“ (Epheser 6,12) scheinen alles fest im Griff zu haben. Das weckt in uns das Gefühl, unser eigenes Leben gar nicht mehr selbst wählen, gar nicht mehr normal leben und gar keinen übergreifenden Sinn mehr in alldem sehen zu können.
Dies wurde nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001 umso deutlicher. Alles, was bis dahin so wichtig schien – Aktien, Konsum, ein zunehmend wohlhabenderer Lebensstil – verblasste plötzlich. Die Zahl der Kirchenbesucher stieg plötzlich an. Religiöse Websites verzeichneten einen sprunghaften Anstieg der Zugriffe. Wir erlebten eine Welle des Patriotismus, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten. Einige Menschen hatten sogar den Mut, in unser kollektives Gewissen zu schauen und zu hinterfragen, ob die Industrieländer genug getan haben, um die weltweite Armut zu beseitigen. In den zwei Jahrzehnten seit dem 11. September 2001 haben wir gesehen, wie es zu weiteren Brüchen in der amerikanischen Gesellschaft und in der Welt kam, zusammen mit globalen Bedrohungen wie der COVID-19-Pandemie. Der Patriotismus ist eher spaltend als einschließend geworden. Der sprunghafte Anstieg der Kirchenbesucherzahlen ist eine ferne Erinnerung und kleinere Gemeinden sind weiter herausgefordert, da sich der Gottesdienst durch das monatelange „social distancing“ ins Internet verlagert hatte. Es gibt viel weniger Glauben an die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens als in den Monaten nach dem 11. September 2001, auch wenn der „Wir bleiben zu Hause“-Zustand einige hoffnungsvolle Zeichen hervorbrachte, wie z.B. das Singen auf Balkonen und spontane Online-Versammlungen. Es ist klar, dass Amerika nicht das einzige Land ist, das mit diesen Problemen kämpft. All dies deutet auf ein langjähriges, tiefes Bedürfnis nach sozialem Wiederaufbau hin, das wir dringend angehen müssen.
So befinden wir uns derzeit meiner Ansicht nach in einer tiefen Sinnkrise. Die Welt kommt uns ungeheuer komplex vor und wir fühlen uns darin furchtbar klein. Können wir denn mehr tun, als uns von den Wogen der Geschichte treiben zu lassen und dabei zu versuchen, einigermaßen den Kopf über Wasser zu halten?
Aber vielleicht können wir diese Geschichte doch etwas genauer anschauen und darin einige Denk- und Handlungsmuster erkennen oder Menschen, die diese Muster durchschaut haben. Darum soll es in diesem Buch gehen. Von daher ist es einerseits ein sehr auf die Tradition bezogenes Buch; allerdings führen andererseits viele heutige Muster zu revolutionären Schlüssen. Dabei möchte ich auch auf jenen Mann zu sprechen kommen, über den – im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten der Geschichte – die meisten Bücher geschrieben worden sind: ein Italiener des 13. Jahrhunderts namens Franz von Assisi oder kurz Franziskus. Er muss über einen ganz besonderen Genius verfügt haben, wenn er eine solche Anziehungskraft auf so viele Kulturen und Religionen ausübte und auch heute noch, nach achthundert Jahren, mit vielen seiner Antworten hochaktuell ist.
Franziskus trat in eine Welt ein, die gerade durch die neu entstehende Marktwirtschaft von Grund auf umgeformt wurde. Er lebte in einer zerfallenden alten Ordnung, in der sein Vater habgierig die Ländereien seiner Schuldner aufkaufte und damit rasch in die neue Unternehmerklasse aufstieg. Die Kirche, die Franziskus vorfand, hatte anscheinend weithin den Kontakt zu den Massen verloren. Aber er vertraute auf eine innere Stimme und eine größere Wahrheit. Er suchte eine klare Mitte und machte sich von ihr aus auf den Weg.
Dieser eine eindeutige Mittelpunkt war für Franziskus Jesus, der Menschgewordene. Von diesem personalisierten Bezugspunkt her verstand er alles andere. In ihm erkannte er den einzigen archimedischen Punkt, an dem er festen Halt finden und von wo aus er seine Welt aus den Angeln heben konnte. Das tat er auf mindestens drei eindeutige Weisen.
Erstens erschloss er sich die Tiefen des Gebets seiner eigenen Tradition, statt nur alte fromme Formeln zu wiederholen. Zweitens suchte er Anleitung im Spiegel der Schöpfung selbst, statt von theoretischen Ansichten und vorfabrizierten Ideen und Idealen auszugehen. Und, was am radikalsten war, er befasste sich drittens intensiv mit der Unterschicht seiner Gesellschaft, der „Gemeinschaft aller, die leiden“, um zu begreifen, wie Gott Menschen verwandelt. Mit anderen Worten: Er fand Tiefe und Weite – und eine Lebensweise, darin zu bleiben.
Die Tiefe bestand aus einem inneren Leben, in dem er sich allen Schatten, Rätseln und Widersprüchen in sich selbst und seiner Mitwelt stellte – einem inneren Leben, in dem sie wahrgenommen, angenommen und vergeben werden. Er glaubte, dass man nur in dieser Tiefe Gott in Fülle und Wahrheit begegnen könne.
Die Weite erlebte er in der tatsächlichen Welt als solcher, die er als sakramentales Universum verstand, nicht als ideale, kirchliche oder gedankliche Welt, sondern als unmittelbar vor Augen liegende, überall vorhandene, als faktische, reale Welt im Gegensatz zu einem Wunschbild von ihr.
Und schließlich lebte er eine Weise, wie man darin bleibt: indem er sich kühn in die Welt der menschlichen Ohnmacht hineinbegab. Er sah bewusst alles unter dem Aspekt dessen, was er als „Armut“ bezeichnete, womit er genau so ansetzte wie Jesus zu seiner Zeit. So machte sich Franziskus daran, die Wirklichkeit mit den Augen und vom Standpunkt derer aus zu deuten, die „leiden und verachtet werden“ – und am Ende als Auferstandene dastehen. Dies ist offensichtlich jene „privilegierte Sichtweise“, die zur alles entscheidenden Einsicht verhilft, wie man sie auf keine andere Weise gewinnen kann. Es ist die spirituelle Lebenstaufe, mit der wir im Sinne Jesu getauft werden müssen (vgl. Markus 10,39). Mein Angelpunkt in diesem Buch heißt, dass diese „Taufe“ es ist, die uns zu neuen Menschen macht, nach Gottes Geist und Sinn. Sie überschreitet jede Religion oder Konfession. Der Geist Gottes erteilt sie uns direkt im wirklichen Leben.
Über die Kernbotschaft Jesu sind ganz unterschiedliche Lehrmeinungen vertreten worden. Nicht zu rütteln ist jedoch an der Tatsache, dass er arm gelebt und zur spirituellen Wahrnehmung der Wirklichkeit vorzugsweise die Sichtweise „von unten her“ gewählt hat. Alle anderen noch so klugen Ausführungen kommen an dieser überwältigenden Gegebenheit nicht vorbei. Franziskus ließ sich ohne Wenn und Aber darauf ein. Dies wurde für ihn der Lackmustest jeglicher Rechtgläubigkeit und der ausschlaggebende Weg zur ständigen weiteren Verwandlung in Gott hinein. Wer außer Gott hätte auf eine solche Lebenstaufe der Umwandlung zu wahrem Menschsein kommen können?
Man kann bei Franziskus einen Dreischritt finden: Zuallererst gilt es, die Grundfrage „Wer bin ich?“ für sich zu entdecken und für sich zu klären; hier geht es um das Finden des „wahren Selbst“ auf dem Weg des Gebets. Hierauf gilt es zu erkennen, dass man in einem von großem Sinn erfüllten Kosmos lebt (also den sakramentalen Charakter des Universums zu entdecken). Und schließlich muss man ganz arm werden (um die konkrete Wirklichkeit von der Seite der eigenen Ohnmacht und der endlosen Fürsorge Gottes her lesen zu können).
So lehrte Franziskus, das Gegengift gegen Verwirrung und Lähmung bestehe grundsätzlich in der Rückkehr zur Einfachheit, zu dem, was man unmittelbar vor Augen hat, zum Offensichtlichen. Er verfügte sozusagen über den Genius, das im Offenkundigen Verborgene ans Licht zu bringen. Das war so einfach, dass es ungemein schwierig erschien, so weit zu kommen. Um eine derartige Einfachheit beschreiben zu können, bedarf es dieses gesamten weiteren Buches.
Es ist schon merkwürdig, es eigens lernen zu müssen, wie man die Wirklichkeit einfach und klar anschaut und durchschaut. Für viele mag das überraschend klingen, aber auf dem Weg zum wahren Menschsein kommt es vor allem darauf an, Gelerntes infrage zu stellen und wenn nötig abzulegen, und nicht so sehr darauf, etwas Neues zu lernen.
Bei einem spirituellen Leben geht es darum, alles auf das Wesentliche zu konzentrieren und zu reduzieren, während unser Ego von Natur aus der Auffassung ist, es gehe darum, etwas zu erreichen, etwas zu leisten und Erreichtes anzusammeln. Bei echter Spiritualität geht es jedoch immer und vor allem ums Loslassen. Erst dann entsteht, wird Raum frei für Gott – und vielleicht paradoxerweise Raum für unsere eigene wahre, unzerstörbare Größe. Was alle großen Frauen und Männer auszeichnet, denen ich begegnet bin, ist, dass sie sich freuen, zu den „ganz einfachen Leuten“ zu gehören, ohne vornehm zu tun oder großartige Titel zu tragen. In wahrem Menschsein ist bereits die tiefste Spiritualität anwesend. Vielleicht ist auch deshalb die häufigste Bezeichnung, die Jesus für sich gebraucht (im Neuen Testament 79-mal bezeugt!), die des „Menschensohnes“, des Menschen und Menschlichen, des Jedermann und Jedefrau.
Wir leben in einer ganz ähnlichen Zeit wie der des Franziskus und auch Jesu, und zwar insofern, als sie nach einem inneren Umbau geradezu schreit. Aber beginnen wir unseren Umbau, unsere Neuorientierung zunächst einmal mit einer Bestandsaufnahme. Versuchen wir, unsere jüngste Vergangenheit zu verstehen, ohne sie zu verurteilen: Wie sind wir in das derzeitige Sinnchaos geraten? Gibt es da noch einen Ausweg? Noch wichtiger allerdings erscheint mir, dass wir uns deutlich vor Augen halten: Wir brauchen gar nicht etwas Bestimmtes ganz genau zu wissen, nicht unbedingt das richtige Buch zu lesen – auch nicht das vorliegende! – oder den perfekten Kurs, das außergewöhnliche Seminar mitzumachen. Alles, was wir brauchen, sind eine scharfe Brille, Tiefenschärfe, Achtsamkeit. Es kommt vor allem darauf an zu begreifen, wie wir sehen, und nicht so sehr, was wir sehen sollen. Dann wird uns Gott von diesem Punkt an weiterführen. Ich verspreche es Ihnen.
Das Geheimnis unserer Vergöttlichung – wenn Sie mir gestatten, ein so gewagtes Wort von Augustinus zu gebrauchen – kann auf keinen Fall darin bestehen, dass jeder Mensch einen gigantischen Wissenstest darüber ablegen muss, ob er sich möglichst viele weltliche oder katechetische Informationen korrekt und umfänglich angeeignet hat. Jedoch wird die Wachheit dafür, sich vergöttlichen zu lassen, davon abhängen, ob man seine innere Sehkraft mehr und mehr schärft, um wirklich sehen zu können, worum es geht. Es geht nicht darum zu definieren, was man sehen soll – worüber wir nur endlos diskutieren würden –, sondern darum, den Seher und die Seherin selbst zu einer neuen und wahren Identität umzugestalten. Das ist der eklatante Unterschied zwischen Religion als einer Summe von Formeln und Glaubenssätzen, die man für wahr hält, und Religion als spirituelle Verwandlung des Menschen.
Kümmere dich darum, auf die Reihe zu bringen, wer du bist; dann kümmert sich das Was um sich selbst. Das ist Religion als Vergöttlichung (ein eher in den Ostkirchen geläufiger Begriff) im Gegensatz zu Religion als Katechismus, Moralkodex und Kult.
Ich bin überzeugt davon, dass, sobald die grundsätzliche Frage „Wer bin ich?“ beantwortet ist, Katechismus, Moralkodex und Kult von allein zu ihrem zweitrangigen Stellenwert finden. Ist dagegen die Frage nach dem Wer nicht beantwortet, bewirken alle Fragen mit Was und Wie, Wenn und Wo immer mehr Spaltung.
Wie konnten wir uns so weit von Franziskus’ Welt entfernen? Was wir als die Moderne bezeichnen, reicht in seinen Ursprüngen in die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zurück. Das war die Zeit des Rationalismus. Die Aufklärung führte zu einem großartigen wissenschaftlichen Geist. Ihre rein materialistische Weltsicht lehrte, alles zu messen, und nur noch das Messbare und Beweisbare galten als wirklich. Der Glaube konnte auf dieser Ebene nicht mithalten, wurde zurückgedrängt oder zog sich selbst zurück. Die Wissenschaft war überzeugt – und das führte zur grandiosen Überheblichkeit modernen Denkens –, sie wisse mehr, als jemals jemand gewusst habe. Sie übersah jedoch, dass sich das neue Wissen auf einen nur kleinen, äußeren Bereich beschränkte und sie in ihrer Begeisterung über unzählige Neuentdeckungen wesentliche andere Bereiche vernachlässigte. Die Analyse von Teilen wurde wichtiger als die Synthese des Ganzen.
Von diesem neuen weltlichen Wissen sind wir schon drei Jahrhunderte lang wie benommen, paralysiert. Der moderne Geist ist in sich selbst verliebt und fasziniert von seiner Fähigkeit, Dinge in Gang zu setzen, neuerdings sogar Gene und Chromosomen und Atome neu anordnen und Resultate genau voraussagen zu können. Dies fühlt sich für manchen Zeitgenossen wie eine geradezu göttliche Macht an – und ist es auch. Es bescherte uns eine Philosophie immens beschleunigten Fortschritts, im Gegensatz zu dem bisherigem Weltverständnis, das von ewigen Kreisläufen, von Sterben und Auferstehen ausging.
In letzterer, vor allem asiatischer Weltsicht der alleinen Harmonie (aus Asien kamen ja alle großen Religionen) müssen Tod und Leben genau wie alles andere auch ständig im Gleichgewicht gehalten werden. Heutiger Zeitgeist dagegen stellt sich lieber vor, das Mysterium des Todes so gut wie überwinden zu können. Viele Zeitgenossen glauben, alles werde noch immer besser, perfekter, effektiver etc. – ein Glaube allerdings nicht ohne Schwindelgefühle. Diese Sicht der Dinge kennt viele Versatzformen, aber im Allgemeinen kennzeichnet sie das, was wir als die moderne Welt kennen. Das hat uns alle tief geprägt, namentlich im Abendland. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass Bildung, Verstand und Wissenschaft die Welt immer besser machen.
Aber dann ging der Holocaust ausgerechnet von dem Land aus, das vielleicht das gebildetste, der Logik verpflichtetste, am meisten in die Vernunft verliebte Land war. Für die Europäer begann der Absturz ins postmoderne Denken an diesem Punkt: „Wenn Menschen so brutal, so unmenschlich sein können, ist vielleicht überhaupt nichts mehr richtig. Alle wichtigen Institutionen haben elendig versagt.“
Die Amerikaner blieben dank der Isolation von der Absurdität jenes irrsinnigen Krieges auf eigenem Boden verschont, verfügten über ungeheure Macht und unverbesserliche Unschuld, sodass sie bis spät in die 1960er-Jahre in der Moderne verharrten. Ich erinnere mich noch gut, wie mir in den 1950er-Jahren Lehrer in der Grundschule noch beibrachten, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hätten wir alle großen Krankheiten ausgerottet. Doch wie wir alle wissen, kam es dazu ganz und gar nicht. In Wirklichkeit sind wir jetzt mit ganz neuen physischen Krankheiten und vielen schweren Krankheiten von Geist und Seele konfrontiert.
Von den letzten fünfzig Jahren des 20. Jahrhunderts spricht man allgemein nicht mehr als Moderne, sondern bezeichnet sie als Postmoderne – das heißt als eine Kritik an falschem Optimismus und naivem Vertrauen auf den unaufhaltsamen Fortschritt. So leben wir also jetzt in der postmodernen Zeit, zumindest in Europa und Nordamerika und den von dort aus beeinflussten Ländern (was mehr oder weniger fast alle sind). Uns geht allmählich auf, dass es nicht allzu förderlich war, die Wirklichkeit einfach nur vom Paradigma der Wissenschaft, der praktischen Vernunft und des technologischen Fortschritts her zu deuten. Vor allem unserer Seele hat das gar nicht gut getan, ebenso wenig unserem Herzen und unserer Psyche. Auch für die globale Menschheitsfamilie war das nicht förderlich. Es muss mehr geben als nur den physischen, weltlichen, äußeren Blick aus dem Erdenfenster. Das Physische hat uns zwar äußerlich mächtig und effizient werden lassen, aber zugleich die wesentlichen, wirklich wichtigen inneren Bereiche unseres Menschseins völlig vernachlässigt. Unser innerer Mensch, dem es um den Sinn von allem geht, ist unterernährt geblieben.
Im derzeitigen Stadium der säkularen Entwicklung scheinen sich unsere Seele, unsere Psyche und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen in einem sich immer mehr beschleunigenden Maß geradezu aufzulösen. Die moderne Gesellschaft bringt sehr viele unglückliche und ungesunde Menschen hervor. Es ist beängstigend, wie sehr sich überall die Gewalttätigkeit ausbreitet. Uns geht daher allmählich auf, dass die postmoderne Geisteshaltung auf dem Hintergrund einer zerfallenden Weltsicht entstand. Sie weiß nicht mehr, wozu wir da sind, und genauso wenig, wogegen wir sind und wovor wir Angst haben. In intellektuellen Kreisen gilt es geradezu als naiv, wenn man noch eine positive Einstellung zum Leben hat. Man wird nicht mehr ernst genommen, sondern eher als Einfaltspinsel betrachtet.
Wenn wir dem nicht mehr trauen können, was wir für logisch und vernünftig halten, und wenn sich herausstellt, dass die Naturwissenschaft gar nicht in der Lage ist, ein völlig voraussagbares Universum zu erschaffen, dann drängt sich die Ahnung auf: Vielleicht gibt es überhaupt kein sinnvolles Grundmuster. Damit leben wir unversehens in einer Welt, die „entzaubert“ ist und Angst macht: In ihr scheint keine Intelligenz mehr zu walten. Sie scheint über keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende zu verfügen. Was übrig bleibt, sind nur noch private Ichs mit ihren privaten Versuchen, kurzfristig etwas Sinn zu finden und etwas in den Griff zu bekommen. Das ist dann Thema des postmodernen Romans, der dekonstruktivistischen Kunst und der Filme mit zielloser Ausrichtung und voll willkürlicher Gewaltausübung – eine Welt, welche die meisten Menschen prägte, die seit Mitte der 1960er-Jahre aufgewachsen sind. Ihr ist ein eigentlicher Sinn abhanden gekommen, man greift nach allem und jedem.
Postmoderne Geisteshaltung geht davon aus, dass man nichts wirklich wissen kann und alles ein soziales oder sogar intellektuelles Konstrukt ist, das schon bald wieder durch neue Informationen überholt sein wird. Paradoxerweise glaubt der Postmodernist gleichzeitig, er wisse mehr als jeder andere, und zwar genau aus dem Grund, weil es nichts Absolutes gebe, keine zeitlos wahre Wirklichkeit. Damit ist man schließlich so weit, dass man sich fast gottähnlich („ich weiß“) und zugleich extrem ratlos gibt („ich muss mir meine eigene Wahrheit ganz allein erschaffen, denn es gibt keine allgemeingültigen Anhaltspunkte“). Die Folge ist, dass der postmoderne Mensch in einem schizophrenen Zwiespalt lebt. Eine derartige Überforderung hätten sich die Menschen früherer Zeiten nie zugemutet. Kein Wunder also, in welchem Ausmaß heute sogar Kinder von Depression und Selbstmord gefährdet sind.
Postmodernes Denken ermächtigt dazu, alles in Misskredit zu bringen und abzuwerten, was uns schließlich in einen Zustand der Einsamkeit und Absurdität versetzt. Philosophisch bezeichnet man dies als Nihilismus (von lat. nihil, das heißt „nichts“). Am Nihilismus kranken wir heute alle mehr oder weniger, aber am meisten die ganz oben und die ganz unten in jeder Gesellschaft. Die Elite verfügt über die Freiheit, alles, worüber sie sich erhebt, gering zu schätzen und abzuwerten. Die Unterdrückten finden schließlich eine Erklärung für ihren traurigen Zustand. Diese Tragödie lässt sich deutlich bei den Minderheiten und Unterdrückten in der Welt ablesen sowie auch an der suchtartigen Spaßkultur der Reichen. Die Reichen schweben auf einem trügerischen Hoch, die Armen sacken in ein ungerechtes Tief, und letztlich sind beide Verlierer.
Der Jurist und Schriftsteller Stephen Carter, ein erstrangiger Kulturkritiker, beschuldigt viele seiner eigenen schwarzen Brüder und Schwestern sowie Amerika insgesamt, in eine nihilistische und unvermeidlich materialistische Weltsicht verfallen zu sein; die einzige Ausnahme seien diejenigen, die ihren religiösen Wurzeln treu geblieben sind (in: The Culture of Disbelief, „Die Kultur des Unglaubens“, 1994). Wir könnten dies von den meisten Bevölkerungsgruppen im Westen sagen, aber nur ein Schwarzer selbst kann das seinen eigenen Leuten vorhalten. Er konstatiert, in Amerika glaube man an nichts anderes mehr als an Macht, Besitz und Prestige, und all dem hänge man nur noch ein fadenscheiniges religiöses Mäntelchen um. Der jüdische Philosoph und Psychologe Michael Lerner sagt seiner jüdischen Leserschaft ziemlich das Gleiche (in: The Politics of Meaning, „Sinn-Politik“, 1996).
Ein weiterer Aspekt der postmodernen Geisteshaltung ist, dass sie nachhaltig vom „Markt“ geprägt ist. In einer vom Markt beherrschten Gesellschaft wie der heutigen hat nichts mehr in sich einen Wert, sondern nur noch einen Marktwert. Die allererste und oft einzige Sorge der Markt-Mentalität kreist um die Fragen: „Verkauft sich das? Bringt das etwas ein? Sind wir stärker als die Konkurrenz? Nach wenigen Jahren schon lässt diese Mentalität uns sehr hohl und konturlos werden und stachelt uns trotzdem noch einmal für einen weiteren Tag lang an. Der „Tempel“ der Schöpfung ist damit zum bloßen Kauf- und Verkaufsplatz verkommen. Kein Wunder, dass Jesus angesichts einer entsprechenden Szene in Wut geriet, „eine Geißel aus Stricken“ machte und die Händler damit aus dem Tempel jagte (vgl. Johannes 2,15).
Wenn wir den eigentlichen Sinn für den Wert verlieren, den etwas hat, geht uns jegliche Hoffnung darauf verloren, noch echte Werte zu finden, geschweige das Heilige. Selbst bei religiösen Menschen, die nicht wirklich beten, verfällt die Religion praktisch zu einer „Marktwert“-Religion. Es geht ihnen nicht mehr um das große Geheimnis, das mystische Einswerden und die Verwandlung, sondern nur noch um sozialen Rang und Macht. Moralvorschriften und priesterliche Hierarchien dienen dann nur noch dazu, die Menschen einigermaßen zu zivilisieren. Die Religion vieler, wenn nicht sogar der meisten Christen des Abendlandes spielt sich in den Kategorien von „Vergehen und Strafe“ ab, statt in denen von „Gnade und Barmherzigkeit“, wie sie Jesus verkündet hat.
Das wird dann zur einzigen Weise, auf die der postmoderne Christ glaubt, dem grundsätzlich konturlosen, schlechten Roman namens „Leben des Menschen“ etwas Gestalt geben zu können. Sie mag wie eine Antwort oder sogar eine Frohbotschaft aussehen, ist in Wirklichkeit aber wieder genau das gleiche alte Rezept wie in der ganzen bisherigen Menschheitsgeschichte: Wer groß und stark ist, gewinnt; Prometheus ersetzt Jesus. Ich muss zugeben, dass das auch das einzige Evangelium war, das ich in meinen frühen Seminarjahren mitbekommen habe. Welch frohe Überraschung war es dann für mich, als ich mich schließlich in die Evangelien versenkte und darin die Anleitung zu einer wirklichen Verwandlung der Menschen entdeckte!
Als Grundwerte einer nihilistischen Weltsicht bleiben schlussendlich nur mehr Vulgarität und Schock übrig. Wenn es keine Kriterien mehr für echte Qualität gibt, kann man es nur noch mit Quantität wettmachen, das heißt durch ständige Steigerung von Emotion, Gewalt, Sex und Lautstärke, was gewöhnlich zu einer vollständigen Entwertung von fast allem führt. Bald lautet die Sorge nur noch: „Wie kann ich mich hemmungsloser als alle anderen aufführen?“, und: „Wie kann ich alles verspotten, bevor es mich enttäuscht?“ Da es keine Heldinnen und Helden mehr gibt, verfällt der Einzelne in eine Art von negativem Heldentum, indem er möglichst hemmungslos alle menschlichen Schwächen, Süchte und Gemeinheiten öffentlich auslebt. Ich muss dann selbst nicht mehr erwachsen werden, sondern kann mir darin gefallen aufzuzeigen, dass alle anderen im Grunde genommen auch nicht besser und sowieso alle verlogen sind. Geht es so nicht auch weithin im politischen Leben zu? Bei diesem ganzen Spiel geht es darum, sich gegenseitig möglichst tief in den Dreck zu ziehen, was rein gar nichts mit der Abwärtsbewegung zu echter Demut zu tun hat. Es handelt sich lediglich um die Abwärtsspirale eines allumfassenden Skeptizismus. Wir bringen nicht mehr die Disziplin auf, menschliche Lebensformen zu entwickeln, weil wir nicht mehr glauben, dass es solche überhaupt gibt.
Seltsamerweise artet dies zu einer säkularen Form des Puritanismus aus; denn immer noch versuchen wir, die Sünden der Welt aufzudecken und zu verabscheuen; nur definieren wir sie jetzt anders. Die Art, wie Sexskandale in Washington behandelt werden, unterscheidet sich recht wenig davon, wie die alten irischen Priester darauf versessen waren, in ihrer Pfarrei alle Unzüchtigen aufzuspüren. Wir meinen, wir könnten unser Schatten-Ich in den Griff bekommen, statt es in eine größere Ganzheit einzubeziehen, indem wir es annehmen, ihm vergeben und es verwandeln. Kein Wunder also, dass sich Jesus überhaupt nicht auf das Schatten-Ich konzentrierte, sondern fast nur auf das wahre Selbst.
Wo es für die Welt keinen zusammenhängenden Sinn oder göttlichen Zweck gibt, fällt es viel leichter, nach jemandem zu suchen, den man entlarven, anklagen, vertreiben oder bloßstellen kann. Schließlich muss ich ja einen Schuldigen dafür finden, dass ich so unglücklich bin! Solange ich versuche, mich mit dem Geheimnis des Bösen auf andere Weise zu befassen als mit einer Haltung des Vergebens und Heilens, erschaffe ich weiterhin negative Ideologien wie Fundamentalismus hier, Nihilismus dort, in ihren zahllosen Spielarten. Der eine fordert vollkommene Ordnung; der andere behauptet, eine solche sei grundsätzlich gar nicht möglich. Jesus tat keines von beidem; er lebte vielmehr mitten im Zwiespalt des Menschen.
In den letzten Jahren haben wir erlebt, was wir vor Kurzem noch für undenkbar gehalten hätten. Diese Schauspiele beschränken sich durchaus nicht auf einzelne kulturelle Tabubrecher, sondern dieser Trend äußert sich im Hauptstrom zeitgenössischer Kunst und Medien, im Schreiben und in jedem Aspekt des Lebensstils: Von wem wird denn noch erwartet, sich an die klassischen Disziplinen von irgendetwas zu halten, zumal es solche angeblich ja überhaupt nicht mehr gibt?
Es ist die eine Sache, die Jahre disziplinierten Übens auf sich zu nehmen, die man braucht, um eine bestimmte Kunst oder ein Handwerk zu beherrschen, und sich dann auf neue und kreative Weise auf dem Papier oder in einem anderen Medium auszudrücken. In manchen Fällen mag daraus große Kunst werden. Bevor man die Regeln brechen kann, muss man sie aber zuerst einmal kennenlernen. Im „Brechen von Regeln“ kann sich eine gewaltige Kreativität oder gar echte Heiligkeit äußern. Aber wenn man, noch ehe jemals einen Pinsel in der Hand gehabt zu haben, gleich damit anfängt, Farbe aufs Papier zu klecksen, und dies als großartigen Selbstausdruck bezeichnet, bleibt es eine kurzlebige Sache. Diese „Kunst“ verfügt über nichts, was sie mit dem kollektiven Gedächtnis oder dem Archetypischen verbinden würde. Sie zeigt nur, was ich fühle. Das Ich steht beherrschend und lässt anderen so gut wie keinen Platz. Alle Anknüpfung für Gemeinschaftliches, das sich mit anderen teilen ließe, fehlt.
Private Gefühle sind unsere heutige Form der Wahrheit; es ist eine Art vollständigen Aufgehens in sich selbst – verständlich, denn es gibt ja keine allgemeinen Muster mehr. Menschen meinen, wenn sie ihre privaten Gefühle zum Ausdruck brächten, leisteten sie etwas Großartiges. Das kann man in Talkshows sehen: Menschen, die sich da aussprechen, haben nie etwas anderes gelesen oder studiert, zu nichts anderem gebetet und auf nichts anderes gehört als auf ihre eigenen tyrannischen Gefühle. Doch sind sie fest davon überzeugt, sie hätten ein Recht darauf, dass ihre uniformierten Ansichten über das Sozialsystem, die Religion oder die Ökosteuer öffentlich bekannt gemacht und ernst genommen werden! Kein Wunder, dass unsere öffentliche Diskussion verfällt, selbst in den Bereichen von Gericht, Parlament, Universität und auch Kirche.
Es stimmt, dass viele Leute wütend und frustriert sind und etwas darüber zu sagen haben; aber wir sollten auch auf größere Geister hören, auf größere Herzen, größere Seelen, die nicht lediglich darauf versessen sind, sich selbst kundzutun: „So bin ich“, sondern auch das größere Spektrum von „So sind wir“ ansprechen und insbesondere die großen Lebensthemen (im 5. Kapitel wird davon ausführlicher die Rede sein). Das sind Menschen, die dazu beitragen, große Lebensperspektiven aufzubauen, Menschen, auf die zu hören und mit denen zu reden sich lohnt. Ich denke, dies bedeutet, Teil des großen Prozessionszugs der Menschheit durch die Geschichte zu sein, statt nur ein isoliert in der Gegend herumstehendes Individuum; Glied am kosmischen Leib Christi zu sein, statt sich nur mit der widersprüchlichen Selbstbezeichnung eines „individuell Glaubenden“ zu versehen.
Ein eingefleischter Individualist ist keineswegs ein Glaubender; denn glauben heißt, sich im Vertrauen an etwas zu binden, sich auf etwas oder jemanden ganz und gar einzulassen, zu etwas dazuzugehören und definitiv Verantwortung zu tragen. Bevor wir unsere heutige im spirituellen Sinne verfallende, minimierte Lebenskultur wieder aufbauen können, müssen wir zunächst einmal selbst intensiv an etwas angeschlossen sein. Dies erst weckt wahre Religion; denn re-ligio heißt „Rück-Bindung“, „Wieder-Anbindung“. Vielleicht ist das auch eine Umschreibung für „sich wieder auf elementare Grundwerte einlassen“.
Jede Sichtweise geschieht von einem bestimmten Standpunkt aus. Solange man nicht seine eigenen, kulturell und zeitbedingten Sichtweisen wirklich kennt, wird man sie kaum relativieren oder bedenken wollen, dass sie nicht die einzig möglichen sind. So lebt man mit einem hohen Maß an Illusion und Einseitigkeit, die schon so manches Leid und so manchen Unfrieden ausgelöst haben. Ich denke, genau darum ging es auch Simone Weil, als sie sagte: „Die Liebe zu Gott ist die Quelle aller Wahrheit.“ Nur ein nicht nur in uns selbst gründender universaler Bezug verschafft unserem Geist und Herzen einen ganz verlässlichen Ausgangspunkt.
Einer der Schlüssel zur Weisheit besteht darin, seine eigenen Zwiespältigkeiten zu erkennen, seine eigenen süchtigen Abhängigkeiten und Fixierungen sowie den Umstand, dass man aus irgendeinem Grund viele Dinge einfach nicht wahrnehmen will. Solange man die eigenen Denk- und Verhaltensmuster nicht durchschaut (das meint Kontemplation in ihrer Frühphase), ist man nicht in der Lage, das zu sehen, was man nicht sieht. Kein Wunder also, dass Teresa von Ávila sagte, Selbsterkenntnis sei das erste und unerlässliche Eingangstor zur „Seelenburg“. Ohne ein selbstkritisches Bewusstsein dafür, wie eng die eigenen Perspektiven sind, besteht kaum Aussicht, dass jemand wirklich Erkenntnis oder bleibende Weisheit erlangt.
Die Postmoderne zerschlägt aus Enttäuschung in einem wütenden Rundumschlag alles, was ihr im Weg steht, um sich den drei beherrschenden Maximen der Moderne (siehe unten), die unser Zeitalter geprägt hat, zu widersetzen. (Wie wir noch sehen werden, hat dieses Zerschlagen, deconstruction, nicht nur negative, sondern auch positive Auswirkungen. Ohne ein gewisses Maß an Dekonstruktion wird alles zum Götzen. Die Propheten waren daher „religiöse Dekonstruktivisten“.)
Erstens glaubte die Moderne, die Wirklichkeit beinhalte eine feste Ordnung. Das postmoderne Denken behauptet, es gebe überhaupt keine Ordnung. Paradoxerweise nähert sich die Postmoderne sowohl dem Nihilismus als auch der Mystik; denn sie vertritt die Auffassung, entweder sei niemand oder es sei jemand verantwortlich. Das Einzige, was wir inzwischen sicher wissen, ist, dass unser Denken und unser Verstand es jedenfalls nicht sind! Von daher erklärt sich das Neuerstehen von Spiritualitäten in allen nur erdenklichen Formen. Die alten Kirchen bekommen unversehens eine Menge Konkurrenz, während sie eine lange Zeit hindurch über ein Monopol verfügen konnten.
Ich finde es bemerkenswert, dass im Englischen die Priesterweihe als Holy Orders bezeichnet wird, also wörtlich als „heilige Ordnungen“. Diese Bezeichnung dürfte verraten, was vom Priestertum im Grunde erwartet wird: Ordnung, ordnende Leitlinien, Grenzvorgaben, Kontrolle, Klarheit. Das sind an sich keine schlechten, vielmehr dringend notwendige Eigenschaften, und das Verlangen nach ihnen könnte sogar erklären, warum sich die Kirche mit den Grundvorstellungen der Moderne wohler fühlte als mit der „heiligen Unordnung“, die sich jetzt zeigt.
Das Kreuz ist eindeutig eine Ausrufung der Unordnung im Herzen der Wirklichkeit. Echtes Christentum glaubte noch nie an eine perfekte Ordnung oder an ein totales Chaos, sondern an eine mit Widersprüchen behaftete Wirklichkeit. Zudem erklärte es diese eine und einzige Welt zur Welt Gottes. Jesus wurde am „Zusammenprall der Gegensätze“ gekreuzigt.
Zweitens dachte die Moderne, die Wirklichkeit lasse sich mittels der menschlichen Vernunft erkennen; das Naturgeschehen sei voraussagbar und daher zu einem gewissen Grad beherrschbar. Doch die Quantenphysik sagt, dass sich mit den Begriffen der „Indetermination“, der „Probabilität“, mit „Chaostheorien“ und Heisenbergs „Unschärfeprinzip“ vermutlich zutreffender das letzte Geheimnis der Wirklichkeit bezeichnen lasse als mit den Begriffen der klassischen Physik.