13,99 €
Teufel, Sünde, Schuld, das Böse – diese Worte sind vielen Menschen fremd geworden. Doch was bedeuten sie überhaupt? In der Geschichte haben die christlichen Kirchen das Böse oft als individuelle Schuld oder moralisches Versagen definiert. Dabei haben sie das strukturelle Böse wie soziale Ungerechtigkeit, Missbrauch, Gewalt und Krieg nicht nur übersehen, sondern zum Teil sogar legitimiert. Reife Religion muss uns anleiten, die vielen Verkleidungen des Bösen zu durchschauen. Rohr zeigt mit seiner faszinierenden Deutung der Lehren von Jesus und Paulus, wie wir unsere Verstrickung erkennen und geistlich sogar daran wachsen können. Mit Weisheit und göttlicher Gnade, mit Kontemplation und vergebender Liebe können wir uns dem Bösen entgegenstellen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
What Do We Do with Evil?
Copyright © 2019 Center for Action and Contemplation
CAC Publishing, Center for Action and Contemplation, PO Box 12464, Albuquerque, New Mexico 87195, USA, cac.org
Die Bibelzitate folgen der Einheitsübersetzung sowie den Übertragungen von Richard Rohr.
© Claudius Verlag München 2022
www.claudius.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, MünchenGesetzt aus der Adobe Garamond Pro und Corporate SPro E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2022
ISBN 978-3-532-60109-9
Einführung
Die Welt, das Fleisch und der Teufel
Das spirituelle Genie des Paulus
Wir alle sind Nutznießer und Teilhaber des Bösen
Die Verstecke des Todes
Ein Weg heraus und hindurch
Die Spirale der Gewalt
Die Kritik Jesu am Sündensystem
Wie wir überleben und spirituell wachsen können
Liebe und Vergebung
Die Paulinische Dialektik
Die Spannung halten
Alles in allem
Endnoten
Zuerst müssen wir fallen und dann vom Fall wieder aufstehen – beides entspringt der Gnade Gottes.
Juliana von Norwich
Ich beginne mit diesem wundervollen Zitat meiner Lieblingsmystikerin Juliana von Norwich (1342–1416), die uns immer wieder so viele befreiende Gedankenexperimente, Möglichkeiten und Herausforderungen aufzeigt. Denn ihre Gedanken sollen mir als Unterströmung für dieses Buch dienen, in dem es um die oft falsch verstandene Idee der Sünde und das erschreckende Konzept des Bösen geht. Ich hoffe, Sie werden sogleich begreifen, worauf ich hinauswill.
Betrachten wir als Erstes die „Sünde“. Finden Sie es nicht auch merkwürdig, dass der Begriff „Sünde“, der uns in der Bibel immer wieder entgegentritt, heutzutage kaum noch gebraucht wird? Dabei würde der Großteil von uns wohl kaum bestreiten, dass es das Böse und die Schuld gibt (was ja auf der Hand liegt). Doch das Wort „Sünde“ selbst scheint heute veraltet, und in den meisten Fällen scheint seine Verwendung die Diskussion weder voranzubringen noch zu einer Klärung beizutragen. Bei jeder Debatte lässt es das Gespräch in einem verwinkelten Kaninchenbau aus Seitenhieben, Werturteilen und Erklärungen enden, die vom eigentlichen Thema ablenken. Dabei mache ich immer wieder dieselbe Feststellung: Viele progressive Gläubige hassen das Wort und viele konservative überstrapazieren es, ohne auch nur den Versuch einer Definition zu unternehmen.
Vielleicht ist der Grund, warum so viele Menschen diesen Begriff aus ihrem Wortschatz gestrichen haben, der, dass wir die Sünde in dem engen Kontext unserer eigenen kulturellen Kategorien angesiedelt haben, ohne uns der eigentlichen Subtilität, Tiefe und Bedeutung seines Kontexts bewusst zu sein. Da jede Kultur und Religion „Sünde“ auf ihre eigene, idiosynkratische Weise definiert hat, hat das Wort seinen Nutzen und Wert eingebüßt. Wir Katholiken zum Beispiel haben irgendwann erkannt, dass freitags kein Fleisch zu essen nichts damit zu tun hat, dem Bösen zu widersagen, sondern dass dieses Gebot auf die Regeln und die Praxis einer zeitgebundenen Kirche zurückgeht. Und doch galt es seit dem 16. Jahrhundert als „Todsünde“, freitags Fleisch zu essen und sonntags nicht zur Kirche zu gehen. (Siehe 1 Johannes 5,16–17, wo von der Sünde die Rede ist, „die zum Tode führt“). Wirklich? Diese Lesart führte dazu, dass man vielen Dingen misstraute, die Gott angeblich „kränkten“. Letztlich aber kränkten sie nur die christlichen Moralapostel.
So haben wir entdeckt, dass Sünde und das wahre Böse nicht immer dasselbe sind. Das wirklich Böse ist immer tödlich. Die Sünde hingegen ist ein guter und häufig notwendiger Markstein für Grenzen, aber sie deutet nicht immer auf das objektiv Böse und ist daher nicht immer tödlich oder „führt zum Tode“. Selbst in der katholischen Auslegung galten viele Sünden als „lässlich“, was bedeutet: nicht schwerwiegend, sondern entschuldbar und leicht verzeihlich.
Schließlich stellten wir fest, dass es keine objektive Definition für das Wort „Sünde“ gibt. Stattdessen gebrauchten wir es für bestimmte Tabus, für kulturelle Erwartungen, die häufig mit den körperlichen Reinheitsgeboten zusammenhängen. Dass Frauen, die keine Nonnen sind, lange Kleider und Kopftücher tragen, gilt im Islam als tugendhaft, wird in den meisten christlichen Ländern aber als Praxis der Unterdrückung betrachtet. Am Sabbat zu arbeiten, also von Freitagabend bis Samstagabend, ist den orthodoxen Juden verboten, für die meisten Familien im Westen ist dies gewöhnlich der geschäftigste Tag. Manche Katholiken erlauben das Trinken und Tanzen, während die Angehörigen der Southern Baptist Convention darin obszönes Verhalten erblicken.
Haben wir es in den aufgezählten Fällen wirklich mit dem objektiv Bösen zu tun? Oder trivialisieren wir damit die ganz reale Idee des Bösen und lassen uns vom Eigentlichen ablenken? Vergessen wir nicht, dass das Dritte Reich in einem Land entstand, das sich zur Hälfte als katholisch, zur Hälfte als protestantisch verstand. Und wenn man all die Kirchen und Priesterseminare in Deutschland betrachtet, haben die Menschen es damit durchaus ernst gemeint. Wer also hat das „Recht“ zu bestimmen, was die „richtige“ Definition von Sünde ist? Wer hat in dieser Angelegenheit die „Definitionshoheit“ oder auch nur eine Vorstellung vom Bösen, die uns weiterbringt? Ich glaube, das trifft auf Jesus zu und auf Paulus. Um diese beiden wird es hier in diesem Buch gehen.
Meine These und Überzeugung aber ist, dass der Begriff der Sünde für viele von uns deswegen seinen Nutzen eingebüßt hat, weil wir, um die tödliche Natur des wahrhaft Bösen zu erkennen, uns auf ein anderes Gebiet begeben müssen. Niemand kann leugnen, dass es das Böse gibt. Aber was viele Menschen heute als das wahre Böse betrachten, das die Welt zerstört, scheint sich massiv von dem zu unterscheiden, was die Mehrheit als „Sünde“ bezeichnet. Letzteres nämlich bezieht sich in erster Linie auf persönliche Fehler, auf Schuld oder angebliche Kränkungen Gottes. Und damit ist die schreckliche Natur des Bösen nicht einmal ansatzweise umrissen. Also haben wir das Interesse an der Sünde verloren.
Dieses Interesse ging uns auch verloren, weil wir den Begriff der Sünde meist mit dem Verurteilen, Ausschließen oder Kontrollieren unserer Mitmenschen in Verbindung brachten oder mit Scham bzw. Kontrolle über uns selbst. Statt ihn als Weg zur Einsicht zu sehen, zur Erkenntnis unseres Menschseins, vielleicht sogar zu Mitgefühl und Vergebung. Je stärker Religionen und Kulturen von der Idee der Sünde besessen sind, desto liebloser und rigoroser treten ihre Vertreter meiner Erfahrung nach auf. Nehmen wir nur die schambasierte Kultur vieler homogen islamischer Länder oder die von Stammesdenken geprägten, kulturell unkritischen Formen des Judentums, die Humorlosigkeit von Calvins Genf oder die Grausamkeit der Puritaner in Neuengland. Nehmen wir den Glauben der Lutheraner, die auf die Gnade verzichten, oder die Inquisition in Spanien und in vielen anderen katholisch regierten Ländern.
Bei klarer, ehrlicher Betrachtung erkennen wir, dass das tatsächliche Böse häufig „der Art dieser Welt entspricht“ (eine Formulierung, die sich so in den Texten des Paulus findet, zum Beispiel in Epheser 2,2). Tatsächlich ist es eher die Regel als die Ausnahme. In Wahrheit wird das Böse oft sogar kulturell akzeptiert, bewundert oder für notwendig erachtet. Zum Beispiel, wenn ein Land in den Krieg zieht, den Großteil seines Etats für Waffen ausgibt, Luxus über das schier Notwendige stellt, sich zu Tode amüsiert oder sein Wasser und seine Luft vergiftet. Das Böse scheint als Gemeingut bewundernswert und notwendig zu sein, lange bevor es persönlich und beschämend wird. Wie der Apostel Paulus (oder einer seiner Schüler) im Brief an die Epheser an einer dicht formulierten, dreiteiligen und höchst aufschlussreichen Stelle schreibt: „Ihr wart tot infolge eurer Verfehlungen und Sünden. Ihr wart einst darin gefangen, wie es der Art dieser Welt entspricht, unter der Herrschaft jenes Geistes, der im Bereich der Lüfte regiert.“ (Epheser 2,1–2)
Betrachten wir also diese kompakte Aussage einmal genauer. Sie nennt wenigstens drei Quellen des Bösen: 1) die Verfehlungen und Sünden der Welt, in der wir gefangen waren (unsere Teilhabe an einer bereits kriminellen und sündigen Kultur); 2) die Art der Welt, die unser Leben bestimmte (die meisten Kulturen gründen auf falschen oder oberflächlichen Vereinbarungen in Bezug auf Werte, Würde und Erfolg); und 3) die Illusionen und Täuschungen, die unser Bewusstsein so vollständig in Beschlag nehmen, dass die meisten von uns sie gar nicht mehr erkennen können. Sie „beherrschen“ uns. Und wie die Luft, die wir atmen, werden sie nie infrage gestellt. Diese drei Quellen bezeichne ich hier als „das Fleisch, die Welt und der Teufel“. Das sind die drei klassischen Wurzeln des Bösen, wie ich sie später ausführlicher beschreiben werde.
Als einige Menschen (meist im letzten Jahrhundert) erkannten, dass alle religiösen Bekehrungen der Welt letztlich keinen einschneidenden sozialen Wandel oder moralische Besserung mit sich brachten, dämmerte es so manchem, dass die Sünde und das Böse mehr sein müssen als eine persönliche oder private Angelegenheit. Auch wenn man die Menschen so weit brachte, ihre individuellen Fehler einzusehen, änderte das nichts am Zustand der Welt. Paulus war ein vorausschauendes Genie. Er hatte dies längst erkannt. Meiner Ansicht nach lehrte er, dass sowohl die Sünde als auch die Erlösung vor allem eine gemeinschaftliche, soziale Realität sind. Diese Erkenntnis hätte einer seiner wesentlichen Beiträge zur Geschichte sein können. Und ich glaube immer noch, dass diese Erkenntnis möglich ist.