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Reinhard Gehlen war eine der umstrittensten politischen Gestalten der Bonner Republik. Einst als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost mitverantwortlich für Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion, baute er nach 1945 unter Anleitung der US Army mit ehemaligen Generalstabsoffizieren der Wehrmacht einen westdeutschen Geheimdienst auf. Die Organisation Gehlen wurde 1956 zum Bundesnachrichtendienst (BND), der bis 1968 unter Gehlens Leitung stand. Auf der Grundlage erstmals zugänglicher BND-Akten und vieler weiterer Quellen hat Rolf-Dieter Müller die Biografie Reinhard Gehlens rekonstruiert und zeigt die Bandbreite seines Handelns und seiner persönlichen Verantwortung. Gehlens Biografie bietet einzigartige Einblicke in die Welt der Geheimdienste.
(Band 7 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)
Im ersten und zweiten Kapitel wird die Zeit von 1902 bis 1950 behandelt, werden Gehlens Aufstieg zum Generalmajor der deutschen Wehrmacht und seine Rolle als Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres geschildert. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er seinen Kampf gegen die Sowjetunion aufseiten der US Army mit dem Aufbau der Organisation Gehlen fort.
Im dritten und vierten Kapitel (1950–1979) werden Gehlens Rolle bei der bundesdeutschen Wiederbewaffnung sowie als Akteur in der westdeutschen Innenpolitik und die Übernahme der Organisation Gehlen in den Dienst der Bundesrepublik beleuchtet. Von 1956 bis 1968 leitete Gehlen den BND und war auch danach um die Pflege des Mythos um seine Person bemüht.
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Seitenzahl: 2486
Veröffentlichungen der UnabhängigenHistorikerkommission zur
Erforschung der Geschichte desBundesnachrichtendienstes1945–1968
Herausgegeben von Jost Dülffer,Klaus-Dietmar Henke, WolfgangKrieger und Rolf-Dieter Müller
BAND 7
Rolf-Dieter Müller
Geheimdienstchef im Hintergrundder Bonner RepublikDie Biografie. 1902–1979
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, Januar 2018
entspricht der 1. Druckauflage vom November 2017
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; [email protected]
Covergestaltung unter Verwendung zweier Fotos von Reinhard Gehlen
als Generalmajor, Dezember 1944 (Bundesarchiv, B206, GN13-08-24) und
in der Schweiz, 1951 (BND-Archiv, N 46/2)
Lektorat: Dr. Stephan Lahrem, Dr. Daniel Bussenius
eISBN 978-3-86284-409-8
Vorbemerkung
Einleitung
I.Der General
1.Familiengeheimnisse (1902–1919)
2.Der junge Artillerieoffizier (1920–1932)
3.Ausbildung zum »Führungsgehilfen« (1933–1935)
4.Kriegsvorbereitungen im Generalstab des Heeres (1935–1939)
5.Erste Erfahrungen im Krieg (1939/40)
6.Planung und operative Führung des Unternehmens »Barbarossa« (1940/41)
7.Neuer Abteilungsleiter von Fremde Heere Ost (1942)
8.Reorganisation der Abteilung nach Stalingrad (1943)
9.Exkurs zur Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes in Deutschland
10.Rückzugsgefechte (1943/44)
11.Vorbereitungen auf das Ende (1944/45)
Zwischenbilanz: Erfahrungshorizont am Ende seiner militärischen Karriere
II.In US-Diensten
1.Von der »Alpenfestung« zur US Army (1945/46)
2.Vom »Basket« nach Pullach (1946/47)
3.Erste Führungskrisen in Pullach (1948)
4.Übernahme durch die CIA (1948/49)
5.Erste Kontakte zur Bundesregierung (1949/50)
III.Auf dem Weg zum Bundesnachrichtendienst
1.Der Koreakrieg sichert die Kontinuität der Organisation Gehlen (1950)
2.Gehlens Mehrfrontenkrieg (1951)
3.Gehlens Kampf um Bonn (1952)
4.Stalin-Note und Ausbau der politischen Aufklärung (1952/53)
5.Nach dem Volksaufstand in der DDR (1953/54)
6.Irritationen und Endspurt (1954/55)
IV.Der Präsident
1.Der »Doktor« wird Präsident (1956)
2.Ausbau des BND und der Partnerschaft mit der CIA (1957–1959)
3.Berlinkrise und Kampf gegen den Weltkommunismus (1959–1961)
4.Gehlen vor dem Absturz: Felfe und die Spiegel-Affäre (1961/62)
5.Adenauers Bruch mit Gehlen (1962–1965)
6.Die Versuchung des Gaullismus (1965/66)
7.Wann geht Gehlen? (1966–1968)
8.Ein glanzloser Abgang (1968)
9.Nachwirkungen: Entfremdung vom BND und Kampf gegen die neue Ostpolitik (1968–1971)
10.Misslungene publizistische Paukenschläge (1971–1974)
11.Guillaume-Affäre und Mercker-Bericht: das Ende Gehlens (1974–1979)
Persönlichkeit, Führungsstil und Weltanschauung – Bemerkungen zur historischen Bedeutung von Reinhard Gehlen
Anhang
Quellen und Literatur
Abkürzungen
Bildnachweis
Personenregister
Über den Autor
Fußnoten
Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zuallererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monografien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.
Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.
Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.
Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),
Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller
Nach dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 zogen es manche Deutsche vor, mit falschem Namen unterzutauchen. Zu ihnen gehörte Generalmajor Reinhard Gehlen, bisheriger Chef der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) im Generalstab des Heeres. Der suchte nicht die Anonymität, sondern ein sicheres Versteck und einen neuen Dienstherrn, der ihm eine Abdeckung gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den Häschern des sowjetischen Geheimdienstes bieten konnte. Gehlen war davon überzeugt, der beste Kenner der Sowjetarmee und ihrer Kriegführung zu sein. Schließlich hatte er am Plan für den Krieg gegen die Sowjetunion an entscheidender Stelle mitgearbeitet und war noch immer überzeugt davon, dass die Rote Armee militärisch hätte besiegt werden können, wenn man nur auf seinen Rat gehört hätte. Weil Hitler ihn verschmäht hatte, sei der Krieg verloren gegangen. Nun bot Reinhard Gehlen den amerikanischen Siegern an, seine Kompetenz und die von ihm versteckten Akten zu nutzen, um in dem sich abzeichnenden Kalten Krieg zwischen den Siegermächten den Kampf gegen den bolschewistischen Weltfeind fortzusetzen.
Die skeptischen US-Militärs nahmen den feindlichen General erst einmal gefangen und ließen sich dann von der Nützlichkeit des deutschen Kollaborateurs überzeugen. In den folgenden zehn Jahren dirigierten und finanzierten sie die von Gehlen aufgebaute Hilfstruppe, die hauptsächlich in der militärischen Aufklärung gegen den Osten eingesetzt wurde. Sie ließen »Dr. Schneider« unter allerlei Decknamen im Dunkeln des west-östlichen Spionagekrieges und hinter den Kulissen der Bonner Bühne wirken. Als Chef einer Schattenarmee von Spionen jenseits des Eisernen Vorhangs und einer von ehemaligen Generalstabsoffizieren der Wehrmacht geführten Geheimorganisation spielte er zugleich eine wesentliche Rolle bei der bundesdeutschen Wiederbewaffnung sowie als Akteur in der westdeutschen Innenpolitik. Er wirkte im Verborgenen als ein Mann, der scheinbar kein Gesicht hatte und das Licht der Öffentlichkeit scheute. Wie sein Gegenspieler aufseiten der DDR, Markus Wolf, verhinderte er über Jahre, dass sein Foto bekannt wurde.
Die Amerikaner unterstützten Gehlens Bestrebungen, mit der nach ihm benannten »Organisation Gehlen« (kurz: Org) in den Dienst der jungen Bundesrepublik übernommen zu werden und einen mächtigen Nachrichtendienst als Instrument in der Hand des Kanzlers aufzubauen. Denn damit schien gewährleistet, dass dieser neue deutsche Geheimdienst unter US-Kontrolle bleiben würde. Der 1956 gegründete Bundesnachrichtendienst erlebte bis 1968 unter der Leitung seines ersten Präsidenten Reinhard Gehlen Höhen und Tiefen. Über den Mann mit dem Decknamen (DN) »Doktor« erfuhr man bis zu seiner Pensionierung wenig. Eine Vielzahl von Legenden, die teilweise bis in die Gegenwart hineinwirken, schützte seinen Ruf. Seine Persönlichkeit blieb dabei zu großen Teilen im Dunkeln. Einige wenige Informationen zu Lebensweg und Werk platzierte Gehlen selbst, sodass sein Bild in der westdeutschen Öffentlichkeit und in den Medien bis in die 1960er-Jahre weitgehend intakt blieb, trotz der Enthüllungen und Verleumdungen durch die DDR-Propaganda.
Drei Jahre nach seiner Pensionierung publizierte Gehlen 1971 überstürzt seine Memoiren Der Dienst,1 parallel zu einer Spiegel-Serie über den BND, die von den Journalisten Hermann Zolling und Heinz Höhne recherchiert worden war und anschließend als Buch erschien und noch heute als bahnbrechendes Werk zur Geschichte des BND gilt.2 Unter tätiger Mithilfe aus der Pullacher Geheimdienstzentrale und nach Kommentaren von Gehlen zum Textentwurf gewährte die Publikation einige Einblicke in Gehlens Karriere, allerdings oft auf nicht überprüfbare Aussagen von Zeitzeugen gestützt. Der »Doktor«, der schon früh an einer Autobiografie gebastelt hatte,3 ließ seinen Ghostwriter, Wilfried Hertz-Eichenrode, die Schilderung des Werdegangs als Berufssoldat verkürzen und begann nach einem kurzen Vorspann mit seiner legendären Tätigkeit als Chef FHO im Zweiten Weltkrieg. Bis dahin habe er den »Lebensgang jedes beliebigen Generalstabsoffiziers« durchschritten. Da Anfang der 1970er-Jahre noch Millionen ehemaliger Wehrmachtsoldaten lebten, konnte er unterstellen, dass eine solche Laufbahn den meisten Lesern bekannt war. Diese erste prägende Hälfte seines Lebens konnte er also kurzfassen, wirkliche Einblicke vermeiden und recht tiefstapeln – im Gegensatz zum Hauptteil, in dem er einen legendengespickten Überblick über die Geschichte der Org und des BND präsentierte. So wurde Gehlens Autobiografie hauptsächlich zu einer politischen Kampfschrift gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung, was er anschließend in zwei weiteren Büchern4 vertiefte.
Von den Vermutungen über das abenteuerliche Leben des vermeintlichen Superspions angetrieben, erschien 1971 ebenfalls die Gehlen-Biografie des britischen Geheimdienstlers Edward Spiro (DN »E. H. Cookridge«).5 Sie war eine Melange aus Erzählungen, die er in Pullach sowie durch einen Besuch im Hause Gehlen aufgeschnappt hatte, und enthielt mancherlei Spekulationen sowie Fehlinformationen, die Gehlen schließlich veranlassten, das Buch für ein Produkt sowjetischer Desinformation zu halten.6 Ein gewisses Aufsehen erregte dann 1972 die englische Übersetzung der Erinnerungen von Gehlen, in die er zusätzliche Informationen eingefügt hatte, die hauptsächlich seinen Kampf gegen die neue Ostpolitik und die Veränderungen im BND betrafen.7 In einer ihm wohlgesinnten US-Schrift wurde er sogar als deutscher Meisterspion bezeichnet.8 Reinhard Gehlen wurde endgültig zu einer umstrittenen Figur der Zeitgeschichte, als durch Enthüllungen im Zusammenhang mit seinem Auftritt vor dem Guillaume-Untersuchungsausschuss 1975 die Kritik an seiner Person noch stärker wurde. Zudem äußerte bereits damals ein jüngerer Historiker begründete Zweifel an Gehlens angeblicher Erfolgsgeschichte in seiner Zeit als Chef FHO, was diesen umso mehr ins Zwielicht setzte.9 Zwei Jahrzehnte später trug die junge Amerikanerin Mary Ellen Reese die inzwischen hauptsächlich aus amerikanischen Quellen verfügbaren Informationen über die Frühphase der Org zusammen. Die deutsche Übersetzung der kleinen Schrift erschien 1992, steuerte zur Bewertung der Rolle Gehlens allerdings nicht viel Neues bei.10
Der glanzlose und skandalumwitterte Abgang Reinhard Gehlens hatte seine reale Persönlichkeit und seine historische Bedeutung im Zweiten Weltkrieg sowie in der Frühgeschichte der Bundesrepublik weitgehend verdeckt. Lange nach seinem Tod 1979 fiel zum Beginn des neuen Jahrtausends mehr Licht zumindest in die Phase seiner Übernahme durch die Amerikaner, als eine Reihe von Akten durch den Nazi War Crimes Disclosure Act (1998) in den USA zugänglich gemacht wurde.11 Hinzu kamen die Erinnerungen von James H. Critchfield, dem ehemaligen CIA-Führungsoffizier in Pullach, der das spannungsreiche Verhältnis zu dem ehemaligen deutschen General zumindest andeutete, auch wenn er ihm im Rückblick einigen Respekt erwies und die nach seinem Tod erschienene Schrift offenbar einige Glättungen von berufener Hand erfuhr.12 Die Erinnerungen seines unmittelbaren Vorgesetzten und langjährigen Deutschlandchefs der CIA, Gordon Stewart, sind bis heute unter Verschluss.
Als dann 2006 eine geheime Dokumentensammlung der CIA über die Zusammenarbeit mit der Org teilweise zugänglich gemacht wurde,13 schien die Erforschung dieser Phase der Ära Gehlen und seines wichtigsten beruflichen Erfolgs zumindest von amerikanischer Seite endlich auf eine breitere Quellengrundlage gestellt zu werden. Für die Amerikaner war die Bewertung Gehlens inzwischen ein Gegenstand bei der Neuauflage des historisch-politischen Streits um den Umgang der USA mit früheren Nazis in der Nachkriegszeit.14 Vereinzelte Enthüllungen über Aktionen, für die Gehlen Verantwortung getragen hat, etwa im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem oder im Zuge der Spiegel-Affäre, fügten sich bislang nicht zu einem Gesamtbild. Wenn Gehlen in seinen Memoiren eine angeblich missverstandene Pressefreiheit mit Verfälschungen und Indiskretionen gegenüber dem Nachrichtendienst beklagte, die es in keinem anderen Land gäbe,15 so betraf das nur wenige kritische Enthüllungen. Was hinter den streng bewachten Mauern von Pullach tatsächlich passierte – oder versäumt wurde –, blieb der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
Die 2011 eingesetzte Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK), zu der auch der Autor gehört, erkannte die Notwendigkeit, erstmals auch eine wissenschaftlich fundierte Biografie des ersten Präsidenten des BND vorzulegen, dessen Persönlichkeit ab 1945 die Vorläuferorganisation und dann seit 1956 die Geschichte des BND entscheidend geprägt hat und der noch heute vielfach als Schöpfer und Traditionsfigur des deutschen Auslandsnachrichtendienstes gilt. Die Forschung konnte unter einmalig günstigen Bedingungen erfolgen, weil ein uneingeschränkter Aktenzugang zugesichert wurde. Es ist ein weltweit einzigartiger Vorgang, dass ein Geheimdienst, der von seinen Geheimnissen lebt und diese möglichst zu verbergen sucht, seine kompletten Unterlagen aus zwei Jahrzehnten für einen Forschungsauftrag an externe Historiker zur Verfügung stellte. Die Möglichkeit der Einsichtnahme wurde selbstverständlich im Hinblick auf die Veröffentlichungen durch ein Freigabeverfahren ergänzt. Dabei waren auf gesetzlicher Grundlage die »Staatswohlinteressen« zu berücksichtigen. Das betraf die Bewahrung der Funktionsfähigkeit des BND, unter anderem im Hinblick auf die weitere Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten, und den Quellenschutz. Kompromisse sind in diesem Projekt nicht über jene Grenzen hinausgegangen, die vom wissenschaftlichen Ethos des Historikers gesetzt werden. Die Unterstützung aus dem politischen Raum, insbesondere des Bundeskanzleramts und des Parlaments, sowie die wohlwollende Haltung mehrerer Präsidenten des BND sicherten dem Unternehmen den Erfolg, auch über spürbare interne Widerstände einer Großbehörde hinweg.
Den Anstoß für den Auftrag an die UHK lieferte ein Beschluss des Deutschen Bundestages, NS-Kontinuitäten in der Nachkriegszeit und den Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit in allen oberen Bundesbehörden und Ministerien aufarbeiten zu lassen. Das hatte mit einiger Verzögerung auch den BND erfasst. Nachdem die erste Beauftragung eines renommierten Historikers gescheitert war, weil der damals desolate Zustand des BND-Archivs befürchten ließ, dass eine gründliche historische Aufarbeitung nicht möglich sein würde, setzte die UHK in eigener Zuständigkeit ein umfassendes Forschungsprogramm durch. Es stellte die Frage nach der NS-Belastung in den Zusammenhang einer Gesamtgeschichte des BND und seiner Vorläuferorganisation von 1945 bis zum Ende der Ära Gehlen 1968. Im Zuge der Erarbeitung einer umfassenden Übersicht über die vorhandenen, bislang meist unerschlossenen Akten stellte sich heraus, dass die umfangreichen Präsidentenakten offenbar weitgehend erhalten sind, obwohl Gehlen nach seiner Pensionierung zunächst versucht hatte, wichtige Unterlagen und Dossiers zu verstecken. Es erwies sich, dass bei einer vom BND für den Notfall vorgenommenen Aktenverfilmung in den frühen 1960er-Jahren auch Massen von geheimen Unterlagen erfasst worden waren. So ließen sich in späteren Jahren nicht auffindbare Dokumente rekonstruieren, als man im BND begann, zumindest die eigene Frühgeschichte, die Zeit der Org, systematisch zu dokumentieren.
Im Zuge dieser Arbeiten entstand Ende der 1960er-Jahre eine Chronik, die zu einem Überblick über wichtige Daten und Ereignisse verhilft. Sie war eine erste Schneise in dem Wust von Unterlagen, als Gehlen nach seinem Ausscheiden aus dem BND im Rahmen eines Werkvertrags durch die »Gruppe Bohlen« dabei unterstützt wurde, alte Akten aufzubereiten und Erfahrungsberichte aller Bereiche des BND einzuholen. Das half Gehlen, der anschließend seine Memoiren verfassen ließ. Aber diese Anfänge einer historischen Aufarbeitung dienten noch immer ausschließlich der internen Erkenntnis. Die Einrichtung eines eigenen Archivs bot dann Anfang der 1980er-Jahre die Gelegenheit, ehemalige leitende Mitarbeiter des BND um Stellungnahmen zu offenen Fragen der Frühgeschichte, Tagebücher und Erlebnisberichte zu bitten.
Aus den umfangreich erhaltenen Präsidentenakten und den mehr als 80 Nachlässen ergibt sich ein deutlich konturiertes Bild – natürlich aus der Perspektive der Zentrale in Pullach. Darin spiegelt sich nur bedingt die Gesamtgeschichte des BND in allen Facetten. Sein bewusst gepflegtes Abschottungssystem im Dienst macht schon die Rekonstruktion der jeweiligen Arbeitsgliederung zu einem kaum lösbaren Problem. Die »organisierte Desorganisation« sollte es einem möglicherweise eingedrungenen Gegner erschweren, sich über das Ganze zu orientieren – um den Preis, dass auch die eigenen Mitarbeiter keinen Überblick erhielten. »Deckung vor Wirkung« lautete die Maxime des gelernten Artilleristen. Es gab zudem in seiner Amtszeit nur selten und unregelmäßig gemeinsame Besprechungen der Abteilungsleiter. Hinzu kamen häufige Änderungen der Decknamen, Bezeichnungen und Kompetenzen. Zu Details der Arbeit des BND und für tiefer gehende kritische Forschungen zu einzelnen Sachgebieten sollten daher auch die anderen Bände der UHK-Publikationsreihe hinzugezogen werden.
Gespräche mit einigen wenigen noch lebenden Zeitzeugen vermittelten einen atmosphärischen Eindruck von Personen und Ereignissen. Dazu hatte sich zunächst auch die Familie Gehlen bereit erklärt. Zwei Kinder des Generals (Christoph und Dorothee) beantworteten Fragen und kommentierten in offenen Gesprächen vorläufige Erkenntnisse und Hinweise. Das wertvollste Ergebnis dieser Bemühungen war das »plötzliche Auffinden« zweier Holzkisten mit dienstlichen Dokumenten des Generals, sinnigerweise einer original Wehrmacht- und einer US-Army-Kiste. Es handelt sich dabei um Unterlagen aus dem Zeitraum 1927 bis 1946, die Gehlen als Pensionär zurückbehielt, als er unter dem Druck des Kanzleramts, des BND und des Bundesarchiv-Militärarchivs Mitte der 1970er-Jahre größere Mengen von Dokumenten zurückgab, manche davon unter der Maßgabe, dass sie nicht dem damals SPD-geführten Kanzleramt, sondern dem BND- bzw. dem Militärarchiv übergeben werden sollten. Angeblich soll es sieben weitere Kisten mit Unterlagen aus der BNDZeit geben, die ein Journalist gesehen haben will.
Christoph Gehlen überließ die beiden historisch wertvollen Kisten zur Auswertung der UHK, ebenso eine Kopie des Teilentwurfs (etwa 50 Seiten) seines Vaters für die ursprünglich geplanten Erinnerungen. Er umfasst Kindheit, Jugend und seine Ausbildung zum Generalstabsoffizier bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Diese Episoden finden sich nicht in Der Dienst, wurden aber damals auch für Interviews des Expräsidenten, zum Beispiel in der Illustrierten Quick, verwendet. Außerdem wurde das Kopieren von alten Fotos aus dem Familienalbum erlaubt. Privates Schrifttum, Briefe oder Tagebücher seien nicht vorhanden, hieß es. Als die Familie dann Einblick in den Rohentwurf der Biografie für den Zeitraum bis 1945 erhielt, reagierte sie empört über das gezeichnete Bild, obwohl es sich auf eine gut erforschte militärhistorische Grundlage stützen kann. Es entsprach offenbar nicht den eigenen Erinnerungen an die Erzählungen des Vaters. Sie brachen daraufhin alle Gespräche ab und verlangten die zur Verfügung gestellten Materialien zurück. Die bereits im Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam archivmäßig verzeichneten Akten in den Gehlen-Kisten wurden von der Familie 2015 für Ausstellungszwecke dem Militärhistorischen Museum in Dresden zur Verfügung gestellt, ebenso die Fotoalben, deren Zugänglichkeit aber für fünf Jahre gesperrt.16 Es sollte auf diese Weise »ein Zeichen« gesetzt werden, wie dem Autor mitgeteilt wurde. So konnte der Eindruck entstehen, dass die wissenschaftliche Arbeit der UHK nicht unterstützt werden sollte.
Gehlens Geheimnisse: eine Original-Wehrmacht-Transportkiste aus seinem Nachlass
Eine Biografie Gehlens als Geheimdienstchef nach 1945 wäre ohne Quellen seines ersten Auftraggebers nicht denkbar gewesen. Die 2006 von Ruffner editierte Quellensammlung der CIA wird hier erstmals im Blick auf Gehlen in der Frühphase seiner Organisation umfassend ausgewertet. Sie stellt allerdings nur eine zensierte Auswahl dar, ebenso wie neu zugängliche CIA-Dokumente aus den National Archives der USA in Maryland. Das lässt zumindest für die US-Kontrollgruppe in Pullach und andere CIA-Ebenen in Deutschland sowie für den zuständigen Bereich in der Zentrale wichtige Einblicke zu. Trotz der Fürsprache des BND blieb der UHK ein Zugriff auf weitere Dokumente und Informationen der höchsten strategischen Ebene versperrt. Berichte über Gehlens Dienstreisen in die USA und seine Gespräche mit den CIA-Chefs bilden eine Ausnahme. Dennoch erwiesen sich die US-Materialien als wertvolle Ergänzung zu den BND-Akten über die Zusammenarbeit mit den Amerikanern. Noch restriktiver verhielten sich andere angesprochene Nachrichtendienste, die zwar Interesse für das ungewöhnliche historische Experiment der Deutschen bekundeten, aber keine Kooperationsbereitschaft beim Aktenzugang zeigten.
Materialien aus anderen deutschen Archiven, insbesondere dem Bundesarchiv-Militärarchiv, ergänzten die Pullacher Unterlagen. Da die Org in den frühen Jahren westdeutsche politische Institutionen und wichtige Behörden »unterwandert« hatte und auch als BND bis zum Ende der Ära Gehlen starke innenpolitische Aktivitäten entwickelte, finden sich vielfach Spuren, die auf Gehlens dicht gesponnenes Netz an Informanten verweisen. Ein Gegenbild findet sich in den Akten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Dabei zeigt sich, dass sich die Stasi nur sporadisch mit ihrem Gegenspieler beschäftigte und zur Person nur von Zeit zu Zeit Berichte aus Gehlens engster Umgebung sammelte. Von zentraler Bedeutung für die Forschungsarbeit der UHK und damit auch für diese Gehlen-Biografie ist die umfassende Einsichtnahme in die VerschlusssachenRegistratur des Bundeskanzleramts. Das betrifft zum einen die enge Zusammenarbeit zwischen Gehlen und der rechten Hand Adenauers, Hans Globke, deren schmale Überlieferung vonseiten Globkes nun aus den Unterlagen Gehlens ergänzt werden kann. Zum anderen werden die Bemühungen des Kanzleramts besser erkennbar, Gehlen und den BND nach dem Abgang von Globke 1963 stärker zu kontrollieren und dem politischen Primat zu unterwerfen.
Es ist auffällig, dass in der Memoiren- bzw. biografischen Literatur der damaligen Gesprächspartner Gehlens sein Name nur selten auftaucht. Man ließ sich offensichtlich auch nicht mit ihm zusammen ablichten. Das gilt nicht nur für Adenauer und Globke, seine wichtigsten Auftraggeber, sondern zum Beispiel auch für Franz Josef Strauß, Willy Brandt und viele andere Repräsentanten der Bonner Republik. Nach seinem unrühmlichen Abgang galt Reinhard Gehlen ihnen anscheinend als nützlicher Zuarbeiter, den sie aber wohl zeitweilig überschätzt hatten und der aus dem Ruder gelaufen war. Viele, die ihn zuzeiten öffentlich gelobt hatten, wie etwa die Grande Dame des westdeutschen Journalismus, Marion Gräfin Dönhoff, schwiegen. Schon bei seinem Begräbnis 1979 reagierte selbst die konservative Presse verhalten.
Im Hinblick auf die quantitative Verteilung der verfügbaren Quellen zu Gehlen im BND-Archiv überrascht es nicht, dass die Org-Jahre (1945–1956) reichhaltiger sprudeln als seine Präsidentschaft des BND (1956–1968). In den ersten »wilden« Jahren in amerikanischen Diensten wurde von Tag zu Tag um die Weiterführung der Arbeit und um konzeptionelle und personelle Probleme gerungen, mussten die Erwartungen auf eine rasche Übernahme durch die Bonner Regierung immer wieder gebremst werden. Das fand seinen Niederschlag in zahlreichen Memoranden, Entwürfen, Berichten und Tagebuchaufzeichnungen, die es ermöglichen, die Rolle und das Selbstverständnis der Organisation Gehlen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und während der Aufbauphase der Bundesrepublik genauer zu bestimmen – ebenso die teilweise konträren Auffassungen der amerikanischen Geldgeber und der Bonner Politik.17
Nachdem die Org als BND institutionalisiert worden war, brachen ab 1956 ruhigere Jahre des Ausbaus und der Festigung an, auch eine Zeit der Bürokratisierung und Verrechtlichung, wie Gehlen oft beklagte. Das erhöhte aber im Präsidentenbüro nicht die Aktenproduktion, weil sich der »Doktor« aus Teilen seines Verantwortungsbereichs zurückzog und sich vor allem um seine geheimnisumwitterten »Sonderverbindungen« sowie um politische Ränke in Bonn kümmerte. Umfangreicher wurden damals hauptsächlich die von ihm persönlich geführten Dossiers, die offenbar nach seiner Pensionierung größtenteils vernichtet wurden bzw. verschwanden.18
Als er Anfang der 1960er-Jahre Adenauers Wohlwollen verlor und nach dessen Abgang von der politischen Bühne 1963 geriet Reinhard Gehlen als Präsident des BND immer stärker in die Isolation. Es entwickelte sich das persönliche Drama eines ehemals einflussreichen Mannes hinter den Kulissen der Bonner Republik, der den Anschluss an die neue Zeit und zu seinem Dienst verlor und um sein Bild in der Geschichte kämpfte. Dabei nutzte er skrupellos alle Mittel, um Medien und Öffentlichkeit in seinem Sinne zu beeinflussen, bis an den »Abgrund von Landesverrat«, wie man im Kanzleramt befürchtete. In Pullach stöhnte manch einer seiner früheren Mitarbeiter: »si tacuisses«. Gleich nach seiner Pensionierung begann eine geheime Untersuchungskommission des Kanzleramts, eine Fülle von Beschwerden und kritischen Eingaben von BND-Mitarbeitern über die Amtszeit Gehlens aufzuarbeiten. Der geheim gehaltene Mercker-Bericht von 1969, den selbst Gehlen nicht zur Kenntnis erhielt, wirft ebenso wie die Protokolle über seine Vernehmung 1974 durch den Guillaume-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags grelle Schlaglichter auf die Spätphase der Ära Gehlen im BND. Für die letzten Jahre vermitteln vor allem die Berichte der Münchener CIA-Residenten über Begegnungen mit Gehlen wichtige Eindrücke von einer herausragenden Persönlichkeit, die in den frühen Jahren der Bundesrepublik Zeitgeschichte mitgeschrieben hat.
Sein Lebensweg als Soldat und Generalstabsoffizier hat ihn bis zur Lebensmitte entscheidend geprägt. Dieser Teil der Biografie verdient schon deshalb größere Beachtung, weil sich durch ihn viele Bezüge öffnen zur Mentalität und zum Erfahrungshintergrund jener Männer, die sich über die militärische Laufbahn mit Gehlen verbunden fühlten und ab 1945 bis zum Ende der 1960er-Jahre den Leitungskader der Org und des BND bildeten. Das Porträt Reinhard Gehlens in seinem Dienst für die CIA und für Kanzler Adenauer wäre ohne diese militärische Prägung und die Erfahrung der Niederlage von 1945 nicht verständlich.
Die Biografie folgt seinem Lebensweg überwiegend in breit angelegten chronologischen Etappen. Sie ist keine episodenhafte Chronique scandaleuse, sondern verfolgt die Absicht, die ganze Bandbreite seines Handelns und seiner persönlichen Verantwortung erkennbar zu machen. Nur so wird ein differenziertes Urteil ermöglicht. Der abschließende Essay zielt auf seinen Charakter, Führungsstil und seine Weltanschauung ab, weil sich darin seine Erfahrungen und Denkweisen widerspiegeln, die ihn mit der Kriegs- und Aufbaugeneration verbinden, aber auch seine Individualität und das »Besondere« seines Lebensweges hervorheben. Das Interesse gilt einem früheren General der Wehrmacht, der sich nach 1945 zunächst erfolgreich in der Politik behauptete und kräftige Spuren in der Geschichte der frühen Bundesrepublik hinterlassen hat, obwohl er von Anfang an eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Bonner Republik war. Ob er sich dabei tatsächlich zu einem »höchst gerissenen Hochstapler, Glücksritter und Rufmörder« entwickelte, wird zu prüfen sein.19 Seine Biografie bietet jedenfalls einen einzigartigen Einblick in die verborgene Welt der Geheimdienste.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Deutsche Kaiserreich in seiner höchsten politischen und wirtschaftlichen Blüte. Alles schien darauf hinzudeuten, dass ihm auch künftig ein »Platz an der Sonne« gewiss sein würde. Unter dem jungen Kaiser Wilhelm II. präsentierte sich das Reich als kraftstrotzende Großmacht mit globalen Ambitionen, selbstbewusst bis zur Arroganz. Seine weltweit bewunderten technischen Innovationen sicherten ihm einen Spitzenplatz in der Weltwirtschaft und damit einen steigenden Wohlstand seiner wachsenden Bevölkerung. Das half, die Masse der Arbeiterschaft politisch zu integrieren, deren sozialistisch orientierte Vertreter auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hofften. Monarchie und Adel spielten noch eine zentrale Rolle, unterstützt von einem aufstrebenden, machtbewussten Bürgertum, zu dem auch die Familie im thüringischen Erfurt gehörte, in die Reinhard Gehlen am 3. April 1902 hineingeboren wurde.1
Die Familie Gehlen entstammte dem Geschlecht des Gaugrafen Johannes Geylener (Gehlen), der im 15. Jahrhundert in Paderborn residierte.2 Für eine gutbürgerliche Familie im wilhelminischen Kaiserreich befestigte ein solches Wissen um die Herkunft das eigene Sozialprestige und prägte das Selbstverständnis. Der Dienst für den Staat ist in der Familie auch für das 19. Jahrhundert belegt. Franz Gehlen (1793–1879) war zuletzt Kreisgerichtsrat in Warburg. Sein ältester Sohn Reinhard Christopherus Gehlen (1832–1873) diente bei seinem Vater als Referendar am Kreisgericht, wurde 1868 Mitglied der Königlichen Eisenbahndirektion der oberschlesischen Eisenbahn in Breslau und war als Verwaltungschef während der deutschen Kriege 1866 und 1870 mit der Organisation von Truppentransporten betraut. Der Großvater des späteren BND-Chefs starb früh im Alter von 41 Jahren als Preußischer Regierungsrat und Präsident der Eisenbahndirektion Saarbrücken.
Die Familie ruhte fest in ihrem sozialen Milieu. Die Ehefrau von Reinhard Gehlen sen., Luise, geb. Wiede, Tochter eines Siegener Maschinenfabrikanten, heiratete nach dem Tod ihres Ehemanns wieder einen nachmaligen Eisenbahndirektionspräsidenten und starb 1909 in Erfurt. Gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann hatte sie vier Kinder: Theodora, Natalie, Max und Walther. Ihre älteste Tochter, Theodora, machte ihr Glück durch die Heirat mit Karl von Rabenau (1845–1908), der als Secondelieutenant der Reserve bei der Feldartillerie am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teilgenommen hatte. Der studierte Jurist wurde Präsident der preußisch-hessischen Staatsbahn. Der jüngste Sohn aus dieser Ehe war Friedrich von Rabenau, der spätere General der Artillerie und Chef der Heeresarchive in der Wehrmacht.
Die zweite Tochter von Reinhard und Luise Gehlen – Natalie – heiratete einen Geheimen Justizrat und lebte danach in Erfurt. Der älteste Sohn Max, von ihm wird noch die Rede sein, wurde ebenfalls Jurist. Der jüngste Sohn war Benno Erwin Felix Walther Gehlen. Da sein Vater bereits zwei Jahre nach der Geburt starb, wuchs Walther vaterlos auf und war vermutlich stark auf seine Mutter fixiert, was seine langjährige Neigung zu älteren, starken Frauen und seinen ausgeprägten Familiensinn erklären mag.
Coblenz (heute Koblenz), Erfurt und Breslau waren Großstädte und Regierungszentren, mit denen die Familie Gehlen verbunden gewesen ist. Reinhard Gehlens Vater Walther kam in Coblenz am 24. Juli 1871 zur Welt, kurz nach dem deutschen Sieg über Frankreich, und starb in Breslau wenige Tage nach der katastrophalen deutschen Niederlage in Stalingrad. Die Daten kennzeichnen die historische Spannweite einer Generation, in die der spätere BND-Präsident eingebunden war.
Walther Gehlen war der erste Berufsoffizier in der langen bürgerlichen Familientradition. Dazu wurde er vermutlich auch ermutigt, weil das Geheime Militärkabinett im März 1890 angeordnet hatte, den Kreis der offiziersfähigen Familien zu erweitern. Der Adel der Gesinnung ergänzte den Adel der Geburt und trug der zunehmenden Verbürgerlichung des Offizierskorps Rechnung.3 Die Wahl der Feldartillerie entsprach der damals üblichen Präferenz von Offiziersbewerbern »gutbürgerlicher« Herkunft. Seit ihrer Entstehung im 16. Jahrhundert galt die Artillerie als eine bürgerliche Domäne. Im 19. Jahrhundert schätzte man die (reitende) Feldartillerie als eine zumindest halbfeudale Waffengattung. Die von den Offizieren selbst aufzubringenden Kosten waren geringer als bei der Kavallerie, die das höchste Ansehen besaß. Aber wer als Offizier bei der Feldartillerie diente, musste ein hervorragender Reiter sein und gab sich deshalb gern im Familienkreis als Kavallerist aus. Auch Walther Gehlen wurde später so gehandelt.
Seine militärische Karriere scheint allerdings nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein. Als der 30-jährige Oberleutnant beim 1. Thüringischen Feldartillerie-Regiment Nr. 19 in Erfurt4 am 8. Dezember 1900 heiratete, war die Beförderung zum Hauptmann eigentlich längst fällig. Immerhin war es ihm gelungen, eine adlige Braut heimzuführen: Die aus flämischem Adelshaus stammende Katharine (Käthi) von Vaernewyck – geboren am 19. Juni 1878 in Bremen, gestorben am 1. März 1922 in Breslau – war entfernt verwandt mit dem späteren General der Infanterie und Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika im Ersten Weltkrieg, Paul von Lettow-Vorbeck.5
Eine größere Mitgift hatte Katharine vermutlich nicht vorzuweisen, denn ihr Vater soll als Arzt durch die kostenlose Behandlung von Armen fast sein gesamtes Vermögen aufgebraucht haben. Seine fürsorgliche und sozial engagierte Haltung hat die Tochter sicher nicht unberührt gelassen. Zwar konnte auch der Bräutigam nicht gerade als vermögend gelten, als Offizier aber gab er eine standesgemäße Partie ab. So verwundert es nicht, dass ein Foto von Walther Gehlen am Tag vor seiner Hochzeit einen eher jovial und entspannt wirkenden königlichen Oberleutnant zeigt.
Aber es gab ein Problem: Die Braut war im sechsten Monat schwanger. Nach den moralischen Prinzipien jener Zeit und Gesellschaftsschicht waren solche Umstände nicht comme il faut, aber auch nicht unbedingt eine Katastrophe. Nach der Familienüberlieferung ist eine verzögerte Heiratsgenehmigung daran schuld gewesen. Als Offizier musste Walther Gehlen über den Regimentskommandeur Oberst Fritsch die Genehmigung des Preußischen Königs einholen. Das dauerte regulär nur vier Wochen und war im Falle Gehlens eigentlich bloß eine Formsache. Der Bräutigam war älter als 27 Jahre, konnte sicher auch den Nachweis erbringen, eine Familie ernähren zu können, die Braut stammte aus erwünschten Kreisen – und sollte »einen einwandfreien Ruf genießen«.
Zwar hatte es vorehelichen Verkehr mit Folgen gegeben, was durch die Heirat aber legitimiert werden konnte. Fragt sich nur, warum dies so spät geschah? Schwer vorstellbar, dass die Braut und Arzttochter mehrere Monate gebraucht haben sollte, um festzustellen, dass sie schwanger ist, und Walther Gehlen war sicherlich kein Schwerenöter und skrupelloser Verführer, der erst durch langes Ringen zu seiner Verantwortung gezwungen werden musste. Gleichwohl kam es zu der Verzögerung und das junge Paar gab sich zudem alle Mühe, den Zustand der Braut zu verbergen, offenbar auch vor den eigenen Eltern. Vermutlich hat der Oberleutnant bei seinem offiziellen Antrag auf Heiratsgenehmigung seinem Regimentskommandeur gegenüber falsche Angaben gemacht und die Schwangerschaft verschwiegen.
Die Gründe sind bis heute unklar. Sogar von einem Halbbruder ist die Rede.6 Könnte es sein, dass Walther für einen anderen eingesprungen ist und die Ehe arrangiert wurde? Vielleicht hat z. B. ein Regimentskamerad Käthi geschwängert. Dass es allein eine romantische Liebesbeziehung zwischen Walther und Katharine war, die beide zusammenführte, ist schwer vorstellbar angesichts des Schicksals, das sie später ihrem erstgeborenen Sohn zufügten und von dem noch ausführlich die Rede sein wird. Materielle Motive scheiden aus. Dass die Braut außer ihrer adligen Herkunft nicht viel mehr in die Ehe einbrachte, gereichte dem beruflich nicht sonderlich erfolgreichen Bräutigam auch kaum zur Ehre. Ganz anders stand sein drei Jahre älterer Bruder Max – geboren am 31. August 1868 in Breslau, gestorben am 20. März 1931 in Leipzig – da, der sich als promovierter Jurist am Beginn einer geschäftlich erfolgreichen Karriere befand. Als frisch berufener Geschäftsführer des renommierten Leipziger Verlagshauses Hirt & Sohn hatte er sich »ordentlich« verlobt und heiratete zehn Monate später als Walther Margarete Ege, Tochter eines hoch angesehenen Reichsgerichtsrats und Mitverfassers des Bürgerlichen Gesetzbuches. Neben den Vorlieben für Jurisprudenz und dem Eisenbahnwesen wurde der Verlag für die Familie Gehlen bald zum wirtschaftlichen Standbein. Davon profitierte schließlich auch Walther.
Der von Ferdinand Hirt 1822 in Breslau gegründete Verlag hatte sich von einer Sortimentsbuchhandlung für die »gelehrten und vornehmen Kreise« zu einem Verlagsimperium entwickelt, in dem bald auch Jugendschriften, Landkarten und Schulbücher eine herausragende Rolle spielten. Dem 1843 geborenen Sohn und Erben Arnold Hirt stand seit Anfang 1900 mit Dr. Max Gehlen ein Geschäftsführer zur Seite, unter dessen tatkräftiger und energischer Leitung der alte Ruf der Firma aufrechterhalten werden konnte. Max Gehlen wurde Mitinhaber und überführte einen Teil des Sortiments in einen eigenen Leipziger Verlag.7
Zurück zu Walther und Katharine, die der Familie in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1900 eine heile Welt vorspielten, obwohl sich hinter der Kulisse eine mittlere private Katastrophe entwickelte. Das frischgebackene Ehepaar unternahm über den Jahreswechsel eine Hochzeitsreise nach Rom. Dort fand die heimliche Entbindung am 15. März 1901 statt, nachdem Walther bei seinem Regiment eine Verlängerung des Heiratsurlaubs erbeten hatte. Der erstgeborene Sohn erhielt den Namen Johannes (1901–1986), ebenfalls ein Abweichen von der »Norm«. Erst ein Jahr später wurde der offiziell »erstgeborene« Reinhard mit dem Namen des Großvaters versehen und in der Militär-Kirche evangelisch getauft.8 Der zweite (eigentlich dritte) Sohn erhielt dann den Namen des Vaters: Walther (geb. 1905). Es kam später noch die Tochter Barbara (geb. 1912) hinzu.
Der heimlich im katholischen Rom zur Welt gebrachte Sohn des protestantisch-preußischen Offiziers wurde evangelisch getauft, sofort einer deutschjüdischen Pflegefamilie übergeben, samt einer ordentlichen finanziellen Ausstattung.9 Mit einer verspäteten Heiratsgenehmigung und der Sorge vor dem »Gerede der Leute« ist dieses Verhalten gegenüber dem Erstgeborenen kaum verständlich zu erklären. Denn die Lüge fand eine merkwürdige Fortsetzung, die dem tradierten Bild einer liebevollen, fürsorglichen Familie des Oberleutnants Walther Gehlen nur bedingt entspricht.
Anna Baum, eine gute Bekannte von Käthi, Zahnärztin, verheiratet mit einem Gynäkologen, nahm den kleinen Johannes als Ersatz für den unerfüllt gebliebenen eigenen Kinderwunsch zu sich. Er wuchs in den nächsten zwei Jahrzehnten als ihr Sohn auf und besuchte, mit heimlichen Zuwendungen aus Breslau, die Deutsche Schule in Rom bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Dann – sicher wegen des deutsch-italienischen Kriegszustands – folgten Schuljahre und die Reifeprüfung im schweizerischen Schiers im Kanton Graubünden. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder Reinhard, der ein humanistisches Gymnasium in Breslau besuchte (Latein/Griechisch mit etwas Französischkenntnissen), besaß Johannes ein außergewöhnliches Sprachtalent (Französisch, Englisch, Italienisch perfekt, später Schwedisch sehr gut sowie gute Kenntnisse in Spanisch, Dänisch und Norwegisch). 1919 trat er als Bankangestellter in die römische Filiale der Barclays Bank ein und entschloss sich, parallel dazu ein Studium der Handels- und Wirtschaftswissenschaften in Rom zu beginnen.
Als er sich für die Immatrikulation eine Geburtsurkunde besorgen wollte, stellte man fest, dass es für das angegebene Geburtsdatum keinen Eintrag für einen Johannes Baum, wohl aber für einen Johannes Gehlen gab. Zur Rede gestellt, gab Anna Baum ihrem Sohn gegenüber zu, dass er ein angenommenes Kind war. Johannes setzte daraufhin alles daran, seine leiblichen Eltern in Breslau kennenzulernen. In der Odermetropole angelangt, begegnete er seinem Vater Walther zum ersten Mal. Der fing Johannes am Bahnhof ab, um ihm zu erklären, dass er ihn »zu Hause« nicht als Sohn vorstellen könne. Es gebe noch die achtjährige Schwester Barbara, die das nicht verstehen würde. Deshalb werde er ihn als römischen Vetter präsentieren. Genau betrachtet war das eine merkwürdige Erklärung, denn wenn auf diese Weise die kleine Schwester in ihrem Glauben an die Enthaltsamkeit bis zur Hochzeitsnacht (auch ihrer Eltern) nicht erschüttert werden sollte, stellte sich bei jedem neugierigen Familienmitglied doch die Frage nach der Abstammung des ominösen Vetters. Es gab ja keinen Onkel in Rom. Johannes haderte sehr mit seinen Eltern, vor allem mit dem Vater, wie es heißt, und kehrte bald nach Rom zu seiner geliebten »Mama Baum« zurück, die bis zu ihrem Tod 1939 in der italienischen Hauptstadt lebte. Mehr als zwei Jahrzehnte blieb er in Breslau der »römische Vetter«.
Johannes stürzte sich in Rom mit Feuereifer in das Studium. Am Ende hatte er mehrere Doktortitel erworben. Den ersten in Bankwissenschaften. Da er tagsüber in der Bank arbeitete, blieb für das Lernen nicht viel Zeit. Was Fleiß betrifft, so stand er zu dieser Zeit seinem jüngeren Bruder Reinhard offenbar nicht nach. 1928 wurde Johannes Prokurist, Reinhard war Oberleutnant. Ein Jahr später lernte Johannes die Schwedin Agda Torborg Paulson, geboren am 24. April 1908 in Norrköping, kennen. Sie heirateten am 18. Mai 1933 in Rom, nicht in Breslau. Sein Bruder Reinhard, inzwischen auf der Kriegsakademie, reiste mit seiner jungen Ehefrau an. Johannes wollte unbedingt weiterstudieren. Eine kleine Erbschaft seiner Frau gab ihm die Möglichkeit, den Bankdienst zu quittieren und 1935 ein Zweitstudium in Mathematik und Physik in Leipzig zu beginnen. Er promovierte in beiden Fächern und wurde 1940 Assistent an der Universität Leipzig bei dem Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901–1976), für den er angeblich einige Publikationen vorbereitete. 1942 ging Johannes Gehlen als außerordentlicher Assistent ans Kaiser-Wilhelm-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg. Anfangs unabkömmlich gestellt, erhielt er in den letzten Kriegstagen noch die Einberufung zum Volkssturm. Nach Kriegsende gelangte er mithilfe seines Bruders zurück nach Rom und erhielt einen Posten im Außenamt des Malteserordens, was zahlreiche Auslandsreisen als Tarnung für die Tätigkeit im Auftrag der Organisation Gehlen (kurz Org genannt) ermöglichte.10 Erst 1947 soll Reinhard Gehlen seinen eigenen Kindern Johannes als seinen Bruder vorgestellt haben, obwohl sich dieser schon seit mehr als einem Jahrzehnt wieder in Deutschland befand.11
War es wirklich Rheuma, was den königlichen Oberleutnant Walther Gehlen 1903 dazu zwang, die Uniform an den Nagel zu hängen? Reinhard, der legitime Sohn, blieb zeitlebens bei der offiziellen Version, sein Vater habe aus gesundheitlichen Gründen den Abschied nehmen müssen, auch wenn es ihm sehr schwergefallen sei.12 Die medizinische Begründung (chronischer Gelenkrheumatismus) kann natürlich stimmen, aber auch die dem Sohn vertraute offizielle Formel gewesen sein, die man bei einem arrangierten Abschied vom Militär benutzte. Der Rekurs auf die angeschlagene Gesundheit kann jedenfalls nicht recht überzeugen, denn Walther Gehlen, ein leidenschaftlicher Reiter, leitete danach noch in Breslau die Reitausbildung der Reserveoffiziere und übernahm als Offizier im »Beurlaubtenstand« eine Reihe anderer militärischer Pflichten, neben seiner zivilen Tätigkeit. Schließlich diente er als Offizier vier Jahre lang im Ersten Weltkrieg.
Völlig abwegig ist auch die Spekulation, der Oberleutnant Walther Gehlen habe das Interesse am Offiziersberuf verloren. Sein Bruder Max habe dann »dem müden Artilleristen den Weg ins Buchgeschäft« geebnet.13 Sein Sohn erlebte dagegen immer wieder, wie der Vater mit großer Trauer seiner Regimentszeit nachhing.
Ob die Braut tatsächlich von einem anderen schwanger gewesen ist, lässt sich heute nicht mehr klären. Es heißt, dass sich Reinhard und Johannes sehr ähnlich gesehen hätten, was spätere Fotos andeuten. Ihrem Wesen nach sind sie aber doch sehr unterschiedlich gewesen: Reinhard, geprägt von der Militärakademie, wurde als Familienoberhaupt auch von dem älteren Johannes anerkannt, den Reinhard wegen seiner italienischen Lebensart beneidete, die sich der Chef des BND nicht erlauben konnte.
Vielleicht hat Walther Gehlen aber auch nur schlicht von seinen beruflichen Fähigkeiten her nicht die Voraussetzungen für den längst anstehenden nächsthöheren Dienstgrad erfüllt. Das hätte ebenfalls zur Entlassung führen können. Jedenfalls hat er ein Jahr nach der Geburt von Reinhard seinen Abschied genommen. In der Rangliste wurde er bereits 1903 als Reserveoffizier geführt, zugewiesen der 2. Landwehr-Division, zunächst in Bitterfeld, dann ab 1904 in Halle an der Saale. Walther Gehlen arbeitete dort vermutlich in einer Filiale des Ferdinand-Hirt-Verlags, bevor er als Verlagsdirektor und Mitinhaber den Schulbuch-Verlag Ferdinand Hirt in Breslau übernahm. Die Familie zählte dort zu den »streng soliden Patrizierhäusern der alten Odermetropole« und bewohnte das »hochherrschaftliche« Haus Königsplatz 1, in dessen Räumen im Erdgeschoss die Filiale des Verlags untergebracht war.
Im Haus Königsplatz 1 (Bildmitte) wohnte die Familie Gehlen; im Erdgeschoss befanden sich die Räume des Hirt-Verlages; historische Postkarte um 1900
Ein Programmschwerpunkt des HirtVerlages waren Schulbücher; Titelseite einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1904
1904 erhielt der zweijährige Reinhard einen Cousin Arnold (1904–1976), der ein bedeutender deutscher Philosoph und Soziologe werden sollte.14 Arnold war der Sohn des Verlegers Max Gehlen. Arnold Gehlen heiratete am 7. Juli 1937 in Pasing Veronika Reichsfreiin von Wolff. Ihre Tochter Caroline Gehlen kam ein Jahr später, am 5. Juli 1938, im ostpreußischen Königsberg zur Welt. Reinhard blieb Breslau und Schlesien verbunden, sein Vetter Arnold seinem Geburtsort Leipzig. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler studierte Arnold zwischen 1924 und 1927 in Leipzig und Köln, während sein Vetter Reinhard seine Leutnantszeit im schlesischen Schweidnitz verbrachte. Arnold Gehlen trat als Privatdozent für Philosophie der NSDAP bei und gehörte zu den Unterzeichnern des »Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat«.15 Dass zahlreiche Professoren aus politischen und rassischen Gründen an den Universitäten entlassen wurden, beförderte seine eigene akademische Laufbahn. Seine philosophische Anthropologie blieb allerdings frei von Antisemitismus. Er gehörte zu jenen Rechtsintellektuellen, die nach anfänglicher Nähe nach 1933 von der offenen Unterstützung des Nationalsozialismus wieder abrückten, »abgestoßen vom plebejischen Habitus« und enttäuscht vom Mittelmaß seiner »geistigen« Repräsentanten.16
Der Wissenschaftler Johannes Gehlen war mit Arnold gut und eng befreundet. Man traf sich später öfters in Rom. Ob sich der Offizier Reinhard Gehlen ausführlich mit dem Werk seines Vetters beschäftigt hat, ist nicht bekannt. Seine eigenen Neigungen gingen jedenfalls nicht in diese Richtung, wenngleich man Anklänge an die Philosophie Arnold Gehlens in seiner Lebenseinstellung durchaus erkennen kann. Dessen These vom Menschen als einem »Mängelwesen«, der starker Institutionen wie Familie, Kirche und Staat bedürfe, war Reinhard Gehlen zeitlebens einsichtig. Als »historisch gewachsene Wirklichkeiten« sind Institutionen nach Arnold Gehlens Verständnis eine selbstständige »Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis in ihr Herz hinein geltend macht«. Der Mensch müsse sich als geschichtliches Wesen von den Institutionen »konsumieren lassen«.17 Als Arnold 1940 sein Hauptwerk »Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt« veröffentlichte,18 bereitete Reinhard den Überfall auf die UdSSR vor. Im Oktober 1941, als Arnold zur Wehrmacht einberufen wurde, konnte der Vetter im Oberkommando des Heeres womöglich helfen. Arnold Gehlen erhielt jedenfalls einen ruhigen Etappenposten als Kriegsverwaltungsrat in der Personalprüfstelle des Heerespsychologischen Amtes im schönen Prag. Reinhard verschaffte seinem Vetter noch im August 1944 den Auftrag zu einer kriegswichtigen gemeinsamen »Übersicht über höhere militärische Führer der Roten Armee«,19 konnte dann aber doch nicht verhindern, dass Arnold in den letzten Kriegstagen seinen Verwaltungsposten in Prag verlor und als Leutnant schwer verwundet wurde.
Reinhard Gehlens Erinnerungen an die Kindheit in Erfurt beschränkten sich, abgesehen von einzelnen späteren Besuchen, auf das Haus der Großmutter, bei der die jungen Eltern einige Jahre wohnten. Großmutter Luise starb 1909. Als Dreijähriger sei er dort einmal eine Kellertreppe hinuntergefallen, was helle Aufregung bei der ganzen Familie ausgelöst habe.
Auch ein ähnliches Erlebnis, das seine Eltern schockierte, war ihm noch mehr als sechs Jahrzehnte später in allen Einzelheiten im Gedächtnis. An einem Herbsttag des Jahres 1905, als Vater Walther und Mutter Katharine am gedeckten Mittagstisch auf den dreieinhalbjährigen Reinhard warteten, ließ dieser zwei Stunden auf sich warten.20 Reinhard war kurz vor dem Mittagessen aus der Wohnung weggelaufen zu dem zwei Stockwerke höher lebenden Hauswirt, den er sehr mochte. Das war ein alter Herr, der für die Kinder des Mietshauses immer eine lustige Geschichte parat hatte und – das war die besondere Attraktion – einen großen Musikschrank besaß, wie er um die Jahrhundertwende in vielen Haushalten stand: ein Ungetüm aus Mahagoni mit riesigen durchlöcherten Messingplatten. Gehlen erzählte einem Freund:
Damals, als meine Eltern mit dem Essen auf mich warteten, was ich natürlich schon vergessen hatte als ich die Wohnungstür hinter mir schloß, versuchte ich mich an dem Musikschrank hochzuhangeln. Und dann passierte es: Der Schrank kippte um, stürzte auf mich, und nur durch einen glücklichen Umstand kam ich heil davon. Der Musikschrank war vorn durch eine Glastür verschlossen, die zwar zerbrach, aber in dem Hohlraum dahinter blieb ich unverletzt, obwohl der Schrank nun über mir lag.
Der erschrockene Hauswirt brachte Reinhard zu den Eltern hinunter. Der Vater nahm ihn wortlos in Empfang. Und dann erhielt der Junge eine ordentliche Tracht Prügel.
Mein Vater stand auf dem Standpunkt, daß jedes Kind einmal im Leben – natürlich nur aus wirklich berechtigtem und schwerwiegendem Anlaß – gründlich Prügel kriegen mußte, aber nur einmal, damit dieser Fall fest im Gedächtnis haftete.
Bei Reinhard hatte es die erwünschte Wirkung: Die Lektion behielt er zeitlebens. Man sagte ihm später nach, dass er persönliche Konfrontationen scheute und nur im äußersten Notfall heftig werden konnte, wenn Gehorsam nicht mit guten Worten zu erreichen war.
Walther Gehlen hatte den stärksten Einfluss auf die Erziehung seines Sohnes, für den freilich die Mutter das warmherzigste Wesen war, das ihm jemals begegnet ist, wie er beteuerte. Für ihre Kinder habe sie alles Verständnis gehabt und sie mit Liebe zu nehmen gewusst. Ihr Erstgeborener in Rom scheint davon ausgenommen gewesen zu sein. Von Reinhard ist keine Äußerung über diese Grausamkeit überliefert. Dass er sich später immer wieder um seinen älteren Bruder gekümmert hat, spricht jedoch dafür, dass er das Unrecht durchaus empfunden hat, aber offenbar nicht die Mutter dafür verantwortlich machte.
An der familiären Mittagstafel bezogen die Eltern ihre Kinder auch in Gespräche über allgemeine politische Fragen ein. Dabei handelte es sich häufig um Pflichten des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staat. Die Pflichterfüllung sollte in erster Linie nicht dem Monarchen, sondern dem Staat gelten. Der Vater hob die Auffassung des älteren Moltke hervor, dass ein Armeeführer nicht nur seinem Vorgesetzten gegenüber, sondern dem ganzen Volke gegenüber die Verantwortung für seine Handlungsweise trage – eine Maxime, die Gehlen drei Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg auf seine ganz persönliche Weise interpretierte.
In der wöchentlichen Tafelrunde mit Freunden und Geschäftspartnern bekam der junge Reinhard viel von der Lebensphilosophie seines Vaters mit. Nach seiner Erinnerung sei der Vater zwar konservativ gewesen, aber dem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen. Sein Vorbild war in dieser Hinsicht Friedrich der Große, der sich als erster Diener seines Staates bezeichnet hatte (Gehlen residierte später in seinem Dienstzimmer unter einem Bild von der Totenmaske des Preußenkönigs). Gehlen erinnerte sich:
Mein Vater unterstrich nicht selten, daß ein richtig verstandener Konservatismus und die Auffassungen der Sozialdemokratie im Grunde verhältnismäßig nah beieinander wohnten. So hatte mein Vater damals auch einzelne Freunde, die der Sozialdemokratischen Partei angehörten und denen ich in meinem Elternhaus auch oft begegnet bin. Es gab dann öfters Streitgespräche, die aber in durchaus freundschaftlichem Geiste geführt wurden. Ich habe später noch sehr oft wehmütig an diese Tatsache zurückgedacht. Denn wie oft mußte ich in den zwanziger Jahren, geschweige denn in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches, aber auch in der Nachkriegszeit erleben, daß politische Gegnerschaft bei uns Deutschen sehr oft in persönliche Feindschaft ausartet.21
Sein Vater sei ein lebenskluger Mann gewesen, der an die Notwendigkeit einer klaren Autorität glaubte, die im Staat dem Bürger die nötige Gedankenfreiheit lässt und in der Familie nicht in verständnislose Strenge ausartet, sondern die Eigenarten der Kinder berücksichtigt. Das Geheimnis seiner Erziehung sei es gewesen, dass er konsequent, aber sensibel handelte. Er habe die Kinder beim Gedankenaustausch immer als gleichberechtigte, wenn auch noch nicht fertige Mitmenschen gesehen. Man habe natürlich Streiche verübt und Unfug gemacht, aber es sei nie zu ernsthaften Spannungen mit den Eltern gekommen, sofern es sich nicht um Boshaftigkeit handelte. Der Begriff »anständige Gesinnung« sollte für Gehlens späteres Leben eine Schlüsselrolle spielen, wenngleich in seiner ganz individuellen Auslegung.
Seine Eltern, so erinnerte sich Gehlen später, hätten versucht, die Kinder zu Idealisten zu erziehen. Geld und materielle Güter, so lehrten sie, seien zwar als Lebensgrundlagen notwendig, dürften aber nicht als lebensentscheidend gewertet werden. Notfalls müsse man auf sie zugunsten seiner Ideale verzichten. Auch hier fand Gehlen Anlehnung an ein positiv verstandenes Preußentum. Ihn fesselte die Gestalt Friedrichs des Großen, wie sie damals allerorten popularisiert wurde: moderne Staatsauffassung, gewisse Pressefreiheit, geordnete Staatsverwaltung. Friedrich als Soldatenkönig kam ihm näher, als er vor dem Ersten Weltkrieg – wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Wechsel auf das Gymnasium – als Zehnjähriger in den konservativen »Jungdeutschlandbund« eintrat. Hier erlebte er eine Art von Pfadfindergemeinschaft. Jedes Wochenende erwanderte man die Natur, übernachtete in Zelten und bereitete das Essen in Kochgräben zu. Das zusammen dürfte den späteren Entschluss gefördert haben, Soldat werden zu wollen, nicht aus einem kriegerischen Geist heraus, sondern aus der Auffassung, dass man in diesem Beruf Staat und Volk am besten dienen könne. Eine solche Haltung fand sich auch in »Preußens Heer – Preußens Ehr! Militär- und kulturgeschichtliche Bilder aus drei Jahrhunderten«, vier populären Bänden von Oskar Höcker, die um 1910 bereits in der 9. Auflage vom väterlichen Hirt-Verlag verkauft wurden. In diesem Zusammenhang sind auch die Feierlichkeiten in Breslau 1913 zu sehen, die anlässlich des 100. Jahrestags der Befreiungskriege stattfanden und bei denen mit großem Aufwand eine prächtige Ausstellungshalle eingeweiht wurde, die noch heute das Stadtbild prägt. Der preußische Kronprinz als Schirmherr eröffnete zugleich eine großartige historische Ausstellung, die Preußens kriegerischen Ruhm und den Sieg gegen Napoleon gebührend feierte.22 Das wird auf den damals Elfjährigen nicht ohne Eindruck geblieben sein.
Jahrhunderthalle in Breslau; historische Postkarte von 1915
Reinhard Gehlen besuchte zunächst die Volksschule und wechselte 1912 in das renommierte König-Wilhelm-Gymnasium in Breslau. Seine Schulzeit blieb ihm als eine gute Zeit in Erinnerung.23 Das Lernen fiel ihm offenbar nicht schwer. Auf die Lehrer verstand er sich einzustellen. Nicht auszuschließen, dass er aus ihrer Sicht sogar zeitweilig ein Musterschüler gewesen ist. Er galt als überdurchschnittlich begabt und fleißig. Oft war er bei der Zeugnisvergabe der Klassenbeste, mit Ausnahme des Schuljahres 1914/15, was besondere Gründe hatte, über die noch zu sprechen sein wird. Schulbücher waren für den Pennäler Reinhard Gehlen von Hause aus vertraut, für die Familie ein sicheres Geschäft, die geistig-politische Nähe zum Staat zwar selbstverständlich, nicht jedoch die zu rechtsextremistischen Zirkeln wie den Alldeutschen. Obwohl er in Breslau aufgewachsen ist, einer alten Universitätsstadt, einem geistigen Zentrum, das Strömungen aus ganz Europa in sich vereinte24 und in dem der Hirt-Verlag seines Vaters eine herausragende Rolle in einem vielfältigen Verlags- und Bibliothekswesen spielte, hat Reinhard Gehlen wenig Zugang zu den geistig-kulturellen Schätzen gefunden. Er ist zeitlebens kein »Bücherwurm« gewesen, der sich in schöngeistiger oder philosophischer Literatur vergraben hätte.
Ein besonders gutes Verhältnis hatte er als Schüler zu seinem Lateinlehrer Sylvius Kreuzwendedich von Monsterberg-Münkenach, von den Schülern in Analogie zu Mons »Berg« genannt. Gehlens Faible für Logik und Systematik mag von dieser Seite angeregt worden sein. Dass ihm der Name des Lateinlehrers in Erinnerung blieb, hängt wohl mit der auffälligen Namensgebung zusammen. Vielleicht war er auch ein schrulliger Lehrer, wie man ihn aus vielen Erzählungen kennt. In dieser Begegnung lag aber zugleich auch eine besondere Symbolik. Kreuzwendedich war ein schon damals selten gebrauchter männlicher Vorname für Kinder, deren ältere Geschwister zuvor gestorben waren. Traf das nicht in gewisser Weise auch für den Schüler Reinhard zu, der nicht wusste, dass es einen älteren Bruder in Rom gab, der für die Breslauer Familie gleichsam nicht mehr existierte? Mit Mathematik und speziell Arithmetik beschäftigte er sich am liebsten, was dem späteren Artilleristen zugutekam. Aber auch Altgriechisch hat ihn fasziniert. Die Schulferien verbrachte die Familie zumeist in Eisenach bei einem Bruder der Großmutter. Dessen Haus lag in der Nähe der Wartburg in einer idyllischen Landschaft. Reinhard und sein Vetter Arnold planten fleißig Geländespiele und organisierten z. B. zwischen der Eisenacher Burg und Breitengescheid eine Blinkverbindung unter Verwendung von Morsezeichen.
Im August 1914 wurde Walther Gehlen im Alter von 43 Jahren reaktiviert und als Adjutant der 22. Schlesischen Landwehr-Brigade eingesetzt.25 Sie gehörte zum Landwehrkorps Schlesiens, das Generalfeldmarschall Remus von Woyrsch führte, der als ein alter, allseitig beliebter Herr galt. Sein Stabschef war der damalige Oberst i. G. Wilhelm Heye, später Chef der Heeresleitung und darin Nachfolger Hans von Seeckts. Gehlen machte zehn Jahre danach als junger Oberleutnant über seinen Vater die nähere Bekanntschaft Heyes.
Die Familie befand sich 1914 in den Sommerferien wieder in Eisenach. Als der Vater die Mobilmachungsorder erhielt, verließ er sofort die Familie. Das schlesische Landwehrkorps drang bis zur Weichsel vor und deckte dann in einer dreitägigen schweren Schlacht bei Tarnawka den Rückzug der verbündeten Österreicher. Ein Vierteljahrhundert später betrat Reinhard Gehlen als Stabschef einer Landwehrdivision das Schlachtfeld, auf dem sein Vater als Adjutant gedient hatte. 1914 blieb die besorgte Mutter Katharine mit den Kindern noch für einige Wochen in Eisenach. Der zwölfjährige Reinhard betätigte sich als Helfer beim Roten Kreuz.
Nach der Rückkehr gab es Schwierigkeiten in der Schule. Der Gymnasialprofessor eröffnete dem Jungen, dass seine Versetzung im Frühjahr 1915 gefährdet sei, weil er so lange gefehlt und auch sonst keine besonderen Leistungen gezeigt habe. Es drohte Reinhard der erste Rückschlag seines Lebens, und das in einem Augenblick, in dem der Vater an der Front war. Ihn wollte und durfte er nicht enttäuschen. Jeden Morgen um sechs Uhr stand er nun auf, arbeitete vor dem Frühstück eine Stunde und hielt sich strikt an einen täglichen Stundenplan, der den ganzen Tag ausfüllte, bis zum Abendessen. Gehlen meinte später als Pensionär, er habe selten in seinem Leben so intensiv gearbeitet wie in dieser Zeit und sich zum Ziel gesetzt, Lücken zu schließen und Versäumtes nachzuholen. Sein schwächstes Fach sei Französisch gewesen, wo ihm eine Fünf drohte. Nach den Herbstferien bekam er erstmals für eine Französischarbeit die Note »gut«, zugleich eine Verwarnung wegen Abschreibens, weil es nach der Ansicht des Lehrers unmöglich sei, dass er in den dreiwöchigen Ferien so viel gelernt haben könnte. Bei der nächsten Arbeit habe er am Katheder Platz nehmen müssen, sodass sich kein Mitschüler in der Nähe befand, der ihm hätte helfen können. Diese Arbeit ergab wieder ein »gut«, die nicht mehr angezweifelt werden konnte. Das war der Anfang, seine schulischen Leistungen verbesserten sich in allen Fächern, was ihm im Frühjahr doch die Versetzung einbrachte.26
Der Gymnasiast Reinhard Gehlen, ca. 1918
Reinhard wurde nicht nur versetzt, sondern rückte auch zu den Besten seiner Klasse auf. Ein namentlich nicht bekannter Freund erinnerte sich später, Gehlen habe damals die Erfahrung gemacht, dass sorgfältig geplante und intensive Arbeit zum Erfolg führt – das sei für sein weiteres Leben entscheidend gewesen. Seine Lehrer hätten einen scharfen, analytischen Verstand bei ihm entdeckt und seine Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften gefördert. Sie sagten ihm sogar eine glänzende Karriere als Akademiker voraus.27Er sei in allen Fächern dank einer gewissenhaften, gründlichen Arbeit »so im Bilde« gewesen, dass er in den höheren Klassen, als ein großer Teil des Stoffs wiederholt und vertieft wurde, nur verhältnismäßig wenig zu arbeiten hatte. Damit konnte er sich anderen »erfreulichen Dingen des Lebens widmen«, wie der ersten Tanzstunde, dem Sport und Reiten.
In der Schweidnitzer Vorstadt verbrachte Reinhard Gehlen einen Großteil seiner Jugend; Stadtplan von Breslau, 1909 (Ausschnitt)
Bis 1911 ging Reinhard gewöhnlich mit einem jüdischen Klassenkameraden, der in der Nähe wohnte, von der Schule nach Hause. Der Weg führte durch die Siebenhufener Straße, dann am Stadtgraben entlang. Theodor Eckstein wohnte damals in der Reuschestraße 51 und hatte, nachdem sich Reinhard gewöhnlich am Bismarck-Brunnen verabschiedete, noch ein kleines Stück weiter zu gehen.28
Theodor Eckstein hatte im Alter von sechs Jahren seinen Vater verloren. Seine mittellose Mutter scheute keine Arbeit, »um ihren beiden Kindern eine gute Erziehung und Bildung zu teil werden zu lassen«, was der gut situierte Mitschüler Reinhard sehr bewunderte.29 Die Kinderfreundschaft endete damit, dass Eckstein nach der Untertertia aus finanziellen Gründen auf eine andere Schule wechselte. Er arbeitete später im Buchhandel, begann 1928 ein Studium der Mathematik und Physik an der Breslauer Universität, das er unterbrechen musste, um als Lehrer an einer Höheren Privatschule in Breslau seinen Lebensunterhalt zu sichern. 1933 emigrierte er nach Palästina. Als David Even-Pinnah gründete und leitete er ein Gymnasium in Haifa. Es erhielt seinen Namen, er selbst wurde Ehrenbürger der Stadt. Als er von der Pensionierung von Reinhard Gehlen durch eine Zeitungsnotiz erfuhr, nahm er nach fast 60 Jahren mit dem alten Schulfreund wieder Kontakt auf – zwei völlig unterschiedliche Lebenswege, die zu einem interessanten Dialog zweier alter Männer führten, von dem noch die Rede sein wird.
Theodors älterer Bruder Ernst meldete sich im August 1914 als Kriegsfreiwilliger, wurde mehrfach verwundet und brachte es bis zum Feldwebel in der Infanterie, trotz der antisemitischen Ressentiments, die es damals in Teilen der politischen Öffentlichkeit gab und die zur sogenannten Judenzählung in der Armee führten. Weil die antisemitische Propaganda im Reich behauptete, Juden würden sich vor dem Militärdienst drücken, ordnete die Armeeführung eine Zählung der jüdischen Soldaten an. Damit ließ sich die Verleumdung zwar widerlegen, aber die Stigmatisierung blieb.30 Ernst Eckstein (1897–1933) wurde nach dem Krieg Rechtsanwalt und einer der führenden Köpfe der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP).31 Direkt nach dem Reichstagsbrand 1933 wurde er verhaftet und starb nach Folterungen im Konzentrationslager Breslau-Dürrgoy. Bei seiner Beerdigung kam es unter Beteiligung Tausender Breslauer Arbeiter zu einer der letzten legalen Demonstrationen gegen den Nationalsozialismus. Eine Cousine der Eckstein-Brüder war die Philosophin und Frauenrechtlerin Edith Stein, die – obwohl als Jüdin geboren – Nonne wurde und in Auschwitz starb. Sie wird heute als Heilige in der katholischen Kirche verehrt. 1911 am Breslauer Gymnasium hat sie ihr Abitur gemacht. Auf dem Schulhof ist sie wahrscheinlich auch dem kleinen Reinhard und ihrem Cousin Theodor begegnet. Breslau gehörte damals zu den größten jüdischen Gemeinden in Deutschland.
Wenn die gemeinsame Erinnerung der beiden Mitschüler stimmt, dass sich Reinhard schon in der Schulzeit entschlossen zeigte, den Offiziersberuf zu ergreifen,32 dann hing das womöglich mit der damaligen Situation des Vaters zusammen, der sich als Verlagsdirektor offenbar nicht wirklich wohlfühlte und der entgangenen Militärkarriere nachtrauerte. Als er zwei Jahre später in den Krieg zog, bot der Vater für den Sohn ein soldatisches Vorbild, und Reinhard war nun gleichsam das Familienoberhaupt, was sein Verhältnis zu der geliebten Mutter noch vertieft haben dürfte.
Der Offiziersberuf war Reinhard Gehlen keineswegs vorbestimmt. Er entstammte keiner der traditionellen Soldatenfamilien. Sein Vater war in der Familie von Beamten und Juristen der erste Berufsoffizier und ist nicht weit gekommen. Dass der 16-Jährige kurz vor Kriegsende noch den Entschluss gefasst hat, sich bei dem früheren Regiment seines Vaters, dem Feldartillerie-Regiment 19 in Erfurt, als Kriegsfreiwilliger zu melden, geschah sicher eher aus einem patriotischen Gefühl heraus, dem bedrängten Vaterlande helfen zu wollen, denn als Entscheidung für einen Beruf. Die letzten Hoffnungen, die in der Bevölkerung mit der Frühjahrsoffensive 1918 verbunden waren, wurden aber bald durch die Rückschläge an der Front zunichtegemacht. Im Westen und Südosten befand sich die Entente auf dem Vormarsch. Die Heimatfront wankte, und der Osten war in revolutionärer Erregung, militärisch aber noch halbwegs in deutschen Händen.
Für die Aufnahme als Fahnenjunker brauchte es formal ein Immediatge-such an den Kaiser und dessen Genehmigung. Dann konnte man mit einem Notabitur die Schule vorzeitig beenden. Reinhard Gehlen schickte das Gesuch ab, aber dann brach die Revolution in Berlin aus, und das Gesuch kam unbearbeitet zurück. Der Briefumschlag mit der Adresse »An Seine Majestät den Kaiser und König …« trug jetzt den Stempel »Unbestellbar, Adresse unbekannt«. Reinhard wird das Gesuch nicht ohne die Genehmigung seines Vaters abgeschickt haben, doch dieser befand sich irgendwo im Westen, mitten im Zusammenbruch der so hoffnungsvoll gestarteten Großoffensive »Michael«. Jetzt war die höchste Autorität entschwunden. Schlimmer noch, die gefürchtete Revolution erschien plötzlich vor der eigenen Haustür.
Reinhard erlebte sie zusammen mit seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern zu Hause am Breslauer Königsplatz. Dort drängten sich am Abend große Menschenmassen, später wurde in der ganzen Stadt geschossen. Der Heranwachsende musste damit rechnen, selbst die Familie beschützen zu müssen. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass es zu keinem blutigen Umsturz gekommen war, sondern die Soldaten der Garnison aus Freude über das Ende des Kriegs ihre überflüssige Munition in die Luft geschossen hatten.
Reinhard Gehlen bewegte sich in den anbrechenden unruhigen Zeiten mit äußerster Zurückhaltung. Der harmoniebedürftige, autoritätshörige Primaner wurde zu einem Einzelgänger in der Klasse, der es vorzog, bei politischen Diskussionen in Deckung zu bleiben und ein »Buddha-Lächeln« aufzusetzen, allenfalls mit klugen Einwürfen sich zu Wort zu melden.33 Sein ehemaliger jüdischer Klassenkamerad Theodor Eckstein trat dagegen 16-jährig in die SPD ein. Für ein solches aktives politisches Engagement war Reinhard Gehlen nicht zu haben. Während sich die anderen leidenschaftlich über die Tagesprobleme erhitzten, wirkte er unbeteiligt, hörte sich die Argumente an, um dann sehr selten als listenreicher Dialektiker seinen Einwand zur Geltung zu bringen.34 Als der Vater aus dem Krieg zurückkehrte, entschied er, Reinhard solle nicht das Notabitur machen, um sich womöglich wie andere Schulkameraden beim Grenzschutz Ost zu melden. Es sei besser, einen regulären Schulabschluss zu erwerben und sich dann für einen bestimmten Beruf zu entscheiden.
In den letzten zwei Schuljahren hielt Reinhard zwar an dem »Lieblingsgedanken« fest, Soldat zu werden, doch stellte er sich zugleich darauf ein, stattdessen vielleicht Physik oder Medizin zu studieren. Die Alternative eines Physikstudiums35 scheint mehr gewesen zu sein als ein bloßes Gedankenspiel – diesen Weg gingen später sein älterer Bruder Johannes und auch der eigene Sohn –, und auch das Interesse an der Medizin, insbesondere an der Pharmazie, blieb ein Leben lang. Das systematische naturwissenschaftliche Denken und das Streben nach Erkenntnis verbanden sich zugleich mit der Erwartung, in seinem weiteren Lebensweg aus der Masse herausragen zu können, dem Besonderen und Einzigartigen zu begegnen.