Der Feind steht im Osten - Rolf-Dieter Müller - E-Book

Der Feind steht im Osten E-Book

Rolf-Dieter Müller

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Beschreibung

Das »Unternehmen Barbarossa«, der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, gilt in der Geschichtsschreibung als die letzte Phase von Hitlers Stufenplan zur Eroberung von »Lebensraum im Osten«.
Der renommierte Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller bestreitet in seinem neuesten Buch diese Sichtweise. Auf Grundlage von bislang weithin unbeachteten Quellen kann er zeigen, dass Hitler sich seit seinem Machtantritt 1933 immer wieder mit der Möglichkeit eines baldigen Interventionskriegs gegen die UdSSR beschäftigt hat. Dafür setzten er und die Wehrmacht zunächst auf Verhandlungen mit Polen und zogen auch früh eine Allianz mit Japan in Erwägung. Noch im September 1939, nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, war ein unmittelbarer militärischer Zusammenprall mit der Roten Armee möglich. Die Wehrmacht scheute ihn nicht.
Der Blick auf die Vorgeschichte zeigt: Es gab weder einen festgelegten Stufenplan für die Ostexpansion, noch war das »Unternehmen Barbarossa« ein Präventivkrieg, wie manche Publizisten meinen.

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Rolf-Dieter Müller

Der Feind steht im Osten

Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von 2011)

© Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von der Frontfahrt Hitlers nach Łódź am 13. September 1939; v. l. n. r.: der Oberbefehlshaber der 10. Armee Walter von Reichenau, der Kommandant des Führerhauptquartiers Erwin Rommel, Reichsleiter Martin Bormann, Adolf Hitler, der Kommandeur der 18. Infanterie-Division Friedrich-Carl Cranz, der Adjutant des Heeres im Führerhauptquartier Gerhard Engel (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz/Heinrich Hoffmann)

Inhalt

Einleitung

Deutschland und die Nachbarn im Osten

Deutsche Außen- und Bündnispolitik im 19. Jahrhundert

Der Erste Weltkrieg und die Wiedergeburt Polens

Rapallo und das deutsch-sowjetische Zweckbündnis

»Lebensraum im Osten«? Hitler und die Ostpolitik

1935: Kommt die Gelegenheit für einen Feldzug gegen die UdSSR?

Die UdSSR in der operativen Planung der Wehrmacht

Ein Interventionskrieg gegen die Sowjetunion?

1936: »In vier Jahren kriegsbereit«!

Erste operative Planungen

Kriegsspiele der deutschen Kriegsmarine

1938: Hitlers Ostexpansion beginnt

Wende im deutsch-polnischen Verhältnis

Hitlers letztes Werben um Polen

Planungen für den »Fall Ost« – auch ohne Polen

Vorbereitungen auf den Ostkrieg

Der Albrecht-Plan

Weichenstellung im Mai 1939

Nervenkrieg

Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«

»Alles was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet.«

September 1939: Erhält Hitler »freie Hand im Osten«?

Das besetzte Polen als zusätzliches Aufmarschgebiet gegen die UdSSR

Hitler stellt seine antisowjetischen Pläne zurück

Grenzsicherung Ost offensiv lösen: Der Halder-Plan im Juni 1940

Der Mythos des 31. Juli 1940: Hitlers Entscheidung für den Ostkrieg

Das Ringen um den Operationsplan

Der Plan »Barbarossa« scheitert im August 1941

Resümee

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungen

Personenregister

Einleitung

Vor 70 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auf die UdSSR. Der Deckname des Unternehmens lautete »Barbarossa«. Es war der Auftakt zum größten und blutigsten Krieg der Weltgeschichte. Siegesgewiss marschierten Hitlers Armeen in den ersten Wochen nach Osten, trotz hoher Verluste und bei einem nachlassenden Marschtempo. Doch Stalins Imperium brach nicht wie erwartet beim ersten Ansturm zusammen. Unter ungeheuren Opfern verstärkte sich der Widerstand der Roten Armee. Zwar gelang es den Deutschen, innerhalb von fünf Monaten bis an den Stadtrand von Moskau vorzudringen, doch dann schlug Stalin zurück und brachte die deutsche Ostfront ins Wanken. Die sowjetischen Streitkräfte brauchten aber weitere 40 Monate, um sich den langen Weg nach Westen zu erkämpfen, bis sich Hitler in seinem Berliner Bunker vergiftete und damit den Weg zur Kapitulation freimachte.

Der deutsch-sowjetische Krieg steht im Zentrum der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Er war mehr als ein Duell der Diktatoren. Hitler verstand seinen Krieg als rassenideologischen Vernichtungskrieg. Er sorgte von deutscher Seite dafür, dass diese militärische Auseinandersetzung mit größter Härte und Entschlossenheit geführt und durch eine verbrecherische Besatzungspolitik begleitet wurde. Es war hinsichtlich seiner Zielsetzung zweifellos der größte Raub- und Vernichtungskrieg, der in seinen destruktiven Elementen den Schrecken eines Dschingis-Khan verblassen ließ. Im Ergebnis der deutschen Niederlage wurde nicht nur das Deutsche Reich zerstört, sondern auch die Staatenwelt Ostmitteleuropas, die für mehr als 40 Jahre vom sowjetischen Imperium beherrscht wurde. Die Teilung Europas und der Kalte Krieg zwischen Ost und West prägten in dieser Zeit das Weltgeschehen.

Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung ist der deutsche Überfall am 22. Juni 1941 gewesen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass dieser Krieg noch immer einen herausragenden Platz in der kollektiven Erinnerung einnimmt und die Historiker zu Fragen an die Geschichte veranlasst.1 Manche Zeitgenossen betrachteten schon während des Zweiten Weltkriegs den Entschluss zum Überfall auf die UdSSR als den größten Fehler Hitlers. Die Siegermächte sahen in der Vorbereitung des Angriffskrieges eines der größten Verbrechen des NS-Regimes, zumal das Deutsche Reich erst im August 1939 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abgeschlossen hatte. Der Überfall knapp zwei Jahre später erfolgte ohne zwingenden Anlass, wortbrüchig, hinterhältig und heimtückisch.

In seiner Erklärung gegenüber den Soldaten der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung hatte Hitler dagegen behauptet, der sowjetischen Expansionspolitik durch einen Präventivkrieg entgegentreten zu müssen.2 Verfechter dieser unsinnigen Begründung findet man noch heute, vereinzelt sogar unter Historikern und pensionierten Generalen.3 Für die Richter des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals stand dagegen außer Frage, dass »Barbarossa« ein räuberischer Überfall gewesen ist. Sie folgten allerdings weitgehend der Interpretation der Angeklagten und ihrer Verteidiger, wonach Hitler den Entschluss allein gefällt und am 31. Juli 1940 der militärischen Spitze als Auftrag übergeben habe. Ob er dabei stärker unter strategischen oder ideologischen Gesichtspunkten handelte, blieb offen. Während Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes, die engsten militärischen Berater Hitlers, zum Tode verurteilt wurden, blieben die Verantwortlichen im Oberkommando des Heeres (OKH) unbehelligt. Hitlers Generale konnten nach 1945 unwidersprochen den Eindruck vermitteln, dass sie im Anschluss an die Entscheidung des Diktators einen genialen Feldzugsplan entworfen und umgesetzt hätten, der nur wegen der ständigen Eingriffe Hitlers gescheitert sei. Ihr größter Feind sei nicht die Rote Armee gewesen, sondern der eigene »Führer«. Zu der Legende von der »sauberen Wehrmacht« kam die Legende von der überlegenen Professionalität ihrer militärischen Führungsspitze.

Die These, dass Hitler allein für den Angriff gegen die UdSSR verantwortlich war und sich dabei von seinen ideologischen Obsessionen leiten ließ, deren Ursprung in seiner frühen politischen Programmschrift Mein Kampf zu finden ist, ist zu einem festen Pfeiler des Geschichtsbildes geworden. Darauf stützt sich seit Jahrzehnten eine weiträumige Interpretation von Hitlers Außenpolitik. Sie nimmt an, dass sich der Diktator zielstrebig und konsequent nach der Machtübernahme, der inneren Festigung seines Regimes und einer gigantischen Aufrüstung schrittweise seinem eigentlichen Ziel, dem Lebensraumkrieg im Osten, genähert hat. Nach Österreich und der Tschechoslowakei folgte Polen als Opfer deutscher Expansionspolitik. Das waren die notwendigen Voraussetzungen, um Frankreich niederzuwerfen und so für Hitler den Rücken freizumachen, sich seinem eigentlichen Ziel zuwenden zu können. Die Eroberung der UdSSR sollte dann die Basis schaffen, um den »Kampf gegen Kontinente«, das heißt den Kampf um die Weltvorherrschaft, zu führen.

Verfügte Hitler tatsächlich über einen solchen Stufenplan und die Fähigkeit, ihn konsequent und taktisch klug umzusetzen? Stand für ihn die UdSSR erst an vorletzter Stelle dieses Plans? Ist Hitler also in den ersten Kriegsjahren ein erfolgreicher Stratege gewesen, dem fast alles gelang und der über eine Wehrmacht verfügte, die mit der Taktik des »Blitzkrieges« nahezu unbesiegbar war? Die ältere Geschichtsschreibung war davon überzeugt. Sie stützte sich auf eine Reihe bahnbrechender Studien von Historikern der Leutnants-Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren höchstes Ansehen erlangten und bis heute das Verständnis der Vorgeschichte und Ursachen von »Barbarossa« prägen. Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen sind ihre prominentesten Vertreter. Bedeutsam für die Interpretation von Hitlers »Stufenplan« ist insbesondere Klaus Hildebrands systematische Darstellung der Außenpolitik des »Dritten Reiches« gewesen. Viele andere Historiker des In- und Auslands bewegten sich auf diesen Bahnen. Auch das Serienwerk des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hat sich mit der ausführlichen Darstellung des »Unternehmens Barbarossa« in seinem vierten Band (1983) auf diese Linie festgelegt. Kaum beachtet blieb dort eine wichtige Entdeckung von Ernst Klink, der festgestellt hatte, dass die ersten militärischen Überlegungen und Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die UdSSR im Juni 1940 vom Oberkommando des Heeres angestellt worden sind, ohne jegliche Vorgaben von Hitler. Vereinzelt wurde diese Feststellung mit der Erklärung heruntergespielt, dass im OKH Hitlers Ostprogramm natürlich bekannt gewesen sei und man sich gleichsam in vorauseilendem Gehorsam auf die Wünsche des Diktators eingestellt habe.4

In den letzten drei Jahrzehnten haben sich Geschichtsforschung, Öffentlichkeit und Medien in Deutschland fast ausschließlich mit den verbrecherischen Aspekten des »Unternehmens Barbarossa« beschäftigt. Die umstrittene Hamburger Wehrmachtausstellung hat dazu 1995 wichtige Anstöße gegeben. Heute besteht kaum noch Zweifel daran, dass die Wehrmachtführung ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Enthemmung des Ostkrieges trägt. Unbestritten ist auch, dass der »Weltanschauungskrieg« bereits bei der Planung und Vorbereitung des Feldzugs angelegt gewesen ist und seinen Ausdruck in den berüchtigten verbrecherischen Befehlen gefunden hat.

Aber gab es hierbei einen Zusammenhang mit der Kühnheit der operativen Planungen des OKH, und ließen sich die Militärs womöglich selbst von antibolschewistischen, antislawischen Vorurteilen leiten? War der Plan »Barbarossa« ein Meisterstück des deutschen Generalstabs, und sind nur einige der Grundannahmen falsch gewesen, verursacht etwa durch das Bild von der UdSSR als einem »tönernen Koloss«? Ist die im Sommer 1940 beginnende militärische Planung tatsächlich originell, geprägt von einem Übermut, der dem Rausch des unerwarteten Sieges gegen Frankreich entsprang – eine »gleichsam aus dem Stegreif« entworfene Skizze, wie Andreas Hillgruber meinte,5 oder griff man womöglich auf frühere Entwürfe zurück? War ein Krieg gegen die Sowjetunion zwischen 1933 und 1940 allenfalls eine Zukunftsvision fanatischer Nazis, außerhalb eines nüchternen militärischen Kalküls? Hatte Hitler in seinem Selbstverständnis als »größter Feldherr aller Zeiten« eigene Vorstellungen, wie ein Ostkrieg militärisch zu führen sei?

Dies sind Fragen, die auf das Feld der klassischen Militärgeschichte führen, in die Welt militärischer Führungsstäbe und Entscheidungsträger. Das ist gegenüber einer weithin vorherrschenden kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise in der Geschichtswissenschaft ein scheinbar »altmodischer« Zugang zum Thema, zumal einzuräumen ist, dass die Frage militärischer Operationsplanung und Kriegsvorstellung im Zusammenhang mit »Barbarossa« seit drei Jahrzehnten als beantwortet gilt. Natürlich wird man es bei dem in diesem Buch vorgenommenen neuen Gang durch eine alte Geschichte auch immer wieder im notwendigen Maße mit politischen, ideologischen, sozialen und vor allem wirtschaftlichen Aspekten zu tun haben. Aber der Fokus zielt auf die militärische Planungsebene.

Deshalb beginnt die Untersuchung nicht mit einer Analyse von Mein Kampf, sondern mit der Frage, wann in Deutschland zum ersten Male ein Krieg gegen Russland, genauer ein Kampf zur Eroberung russischen Territoriums, für Politik und Militär denkbar gewesen ist, welche Vorstellungen entwickelt und welche Bedenken vorgetragen worden sind. Der mühsam errungene, letztlich allerdings vergebliche militärische Sieg über die russische Armee 1917/18 prägte eine Generation von Offizieren, die später als Hitlers Generale den zweiten Ostkrieg planten und führten. Dass dieser Erfahrungshorizont, in dem Hitler seine Lebensraum-Ideologie entwickelte, die deutsche Armee nicht auf eine Einbahnstraße in Richtung Stalingrad brachte, wird ein kurzer Überblick über die Zeit der Weimarer Republik erweisen. Militärische Führungseliten verfügten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über beträchtlichen politischen Einfluss, speziell in Deutschland, aber sie waren zugleich auch dem politischen Primat unterworfen.

Wie stellte sich die militärische Führungsspitze nach 1933 darauf ein, dass nun nicht mehr ein möglicher Krieg mit Hilfe der UdSSR gegen Polen zu planen war, sondern durch Hitlers Pakt mit Polen ab 1934 ein Krieg gegen die Rote Armee denkbar wurde, womöglich im Bündnis mit Japan und Polen? Mit der Einbeziehung dieser Mächte, denen es selbst schon einmal (1905 bzw. 1920) gelungen war, die russische Armee zu schlagen, wählt die vorliegende Untersuchung eine ganz neue Perspektive. Damit wendet sie sich vor allem gegen jeglichen Versuch, die Vorgeschichte von »Barbarossa« als deutsche Nabelschau betreiben zu wollen. Denn bei einer solchen Nabelschau werden wichtige Aspekte der deutschen Außenpolitik und Kriegsplanung marginalisiert, die – wie zu zeigen sein wird – die Vorstellungen von einem Krieg gegen Russland bis 1939 nicht nur führender Militärs, sondern auch Hitlers beeinflusst haben.

Die Übersicht über das operative Denken im deutschen Heer rückt dann jenen Raum zwischen Riga, Minsk und Kiew ins Blickfeld, in dem sich das Schicksal der russischen Armee entscheiden sollte, so wie im Ersten Weltkrieg, im sowjetischpolnischen Krieg, dann auch in dem künftigen. Die Vorgeschichte von »Barbarossa« wird deshalb als Dreiecksgeschichte erzählt, stets mit einem Blick auch auf Japan als dem möglichen Partner einer strategischen Zangenbewegung, mit der das russische Reich zerbrochen werden sollte. Dabei wird auch diskutiert, wie ernst die Gespräche über eine antirussische Militärallianz im Zeichen des Hitler-Piłsudski-Paktes von 1934 gewesen sind und wie sich 1939 die Wendung Hitlers gegen Polen zum Hitler-Stalin-Pakt entwickelt hat. Die deutsch-polnischen Militärbeziehungen der dreißiger Jahre sind noch immer ein weitgehend unbekanntes Feld der Historiographie. Hier gilt es Schneisen zu schlagen.

Zu fragen ist also, wann im »Dritten Reich« Pläne zu einem Krieg gegen die UdSSR entstanden und Gegenstand militärischer Überlegungen geworden sind? Welche Rolle spielte das Verhältnis zu Polen als einem »antirussischen Schützengraben«? Folgte Hitlers Wendung gegen Polen im Frühjahr 1939 in der Absicht, die Voraussetzungen für einen nachfolgenden Angriff im Westen oder im Osten zu schaffen? Diese Fragen führen zum Kernbereich der Untersuchung. Die folgenden Betrachtungen basieren auf der These, dass für den deutschen Weg in den Zweiten Weltkrieg bis Oktober 1939 mehrere Optionen offenstanden, zu denen auch ein militärischer Zusammenprall mit der Roten Armee gehörte. Entgegen einer weitverbreiteten Anschauung in der Geschichtsschreibung ist ein deutscher Krieg gegen die UdSSR schon 1939 denkbar und möglich gewesen.

Um dies zu verdeutlichen, werden neue und wenig bekannte oder vergessene Quellen aufgegriffen, wird an historische Episoden und Zusammenhänge erinnert, die unter Nutzung kontrafaktischer Betrachtungen die festgefügte Interpretation der deutschen Expansionspolitik in Frage stellen. Grundsätzlich bleibt zu beachten, dass bei den deutschen militärischen Planungen 1939 einiges im Dunkeln liegt, weil Akten aus dem Vorfeld des Zweiten Weltkriegs verlorengegangen sind und zentrale Quellen wie das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (ab August 1940) und das des Generalstabschefs des Heeres, Franz Halder (ab 14. August 1939), erst spät einsetzen.6 Hinzu kommen fragwürdige Überlieferungen von Schlüsselquellen und dreiste Fälschungen.

Unbestritten ist, dass Hitler 1939 fest entschlossen war, so schnell wie möglich einen Krieg in Europa zu entfesseln. Er wollte endlich Feldzüge organisieren und »freie Hand im Osten« haben. Er war es leid, Verhandlungen zu führen und Kompromisse zu akzeptieren. »Schläge« wollte er austeilen. Die Reihenfolge solcher militärischen Schläge war ihm letztlich gleich. Nur für die Abschätzung von Risiken und Chancen hatte er noch einen gewissen Sinn. Aber er scheute sich nicht, notfalls auch den gefürchteten totalen Krieg an mehreren Fronten zu führen. Die Generalrichtung stand für ihn seit zwei Jahrzehnten fest: Russland!

Ein Überfall auf die UdSSR, davon war Hitler auch 1939 fest überzeugt, sei ein leichtes Spiel und würde sein »Drittes Reich« für alle Zeiten unangreifbar machen. Ein »Barbarossa 1939« hätte wahrscheinlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zur Vernichtung Russlands geführt. Stalins Entgegenkommen war nützlich als Bluff gegenüber den Westmächten. Als diese sich einem Einvernehmen mit Hitler verweigerten, kostete es ihn große Mühe, seinen Generalstab auf einen Feldzug nach Westen festzulegen.

Im letzten Abschnitt des Buches wird Hitlers neuerliche Wendung nach Osten im Sommer 1940 zu analysieren sein. Gab tatsächlich der Diktator den Anstoß, welche Rolle spielten ideologische Motive, und welche Kriegsvorstellungen entwickelte er? Oder legte ihm sein Generalstabschef ältere Pläne für einen begrenzten Krieg gegen die UdSSR vor? Dabei wird man in Rechnung stellen müssen, dass die später vor dem alliierten Kriegsverbrecher-Tribunal in Nürnberg angeklagten Generale Hitlers guten Grund hatten, ihre frühen Planungen gegen die UdSSR zu vertuschen. Wie aus dem Modell eines Interventionskrieges von 1939 das Unternehmen »Barbarossa« als Eroberungs- und Vernichtungskrieg entstand, der 1941 militärisch-operativ bereits nach wenigen Wochen scheiterte – das enthüllt eine größere Mitverantwortung der Heeresführung, als bislang diskutiert worden ist.

Deutschland und die Nachbarn im Osten

Deutsche Außen- und Bündnispolitik im 19. Jahrhundert

Eine »Heilige Allianz« sorgte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die längste Periode friedlicher und konstruktiver deutsch-russischer Zusammenarbeit. Sie stützte sich im Wesentlichen auf ein Bündnis der drei Großmächte Mittel- und Osteuropas – Österreich, Preußen, Russland –, das als Ergebnis der Napoleonischen Kriege entstanden war. Das gemeinsame Interesse richtete sich gleichermaßen auf die Niederhaltung Frankreichs wie jener revolutionären und nationalistischen Strömungen, die scheinbar von dort aus die konservativen, multinationalen Imperien bedrohten. Im Mittelpunkt dieses europäischen Dreiecks Berlin – Wien – Moskau lag das Königreich Polen, das nach drei Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte verschwunden war. Napoleons Rekonstruktion eines »Großherzogtums Warschau« war nur von kurzer Dauer gewesen und hatte rund 100 000 polnischen Soldaten das Leben gekostet, als der Korse sie mit seiner Grande Armée in die Weiten Russlands geführt hatte. Von den drei Mächten hatte Russland den größeren Teil Polens annektiert.

Mit der 1815 vom Wiener Kongress geregelten Nachkriegsordnung bestand für Preußen und das spätere Deutsche Kaiserreich für ziemlich genau 100 Jahre eine lange gemeinsame Grenze mit Russland. Für die polnischen Untertanen beiderseits dieser Grenze verblasste der Traum von einer Wiedergeburt der eigenen Nation jedoch nicht. »Noch ist Polen nicht verloren« – diese Parole wurde von den Intellektuellen in die Herzen der Menschen getragen. Und für dieses Ziel waren Polen bereit, zu kämpfen und zu sterben. So wurde das Land im 19. Jahrhundert zum größten Unruheherd des Kontinents, in dem es immer wieder zu Aufständen kam. Meist richteten sie sich gegen die harte Herrschaft des Zaren und konzentrierten sich auf die Hauptstadt Warschau. Aber auch Krakau (Österreich) und Posen (Preußen) bildeten Schwerpunkte des Aufruhrs, der militärisch stets erfolglos blieb.

Die preußisch-russische Allianz bewährte sich in diesem stürmischen Jahrhundert des Aufbruchs und der dramatischen Veränderungen. Sie wurde getragen von den monarchischen Kräften und prägte Generationen von Offizieren. Im liberalen Bürgertum Deutschlands hingegen überwog lange Zeit eine Polenbegeisterung, die sich mit eigenen demokratischen und nationalen Ambitionen verband.

Diese Stabilität in den Beziehungen zum östlichen, russischen Nachbarn veränderte sich nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1870/71. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck hatte großen Wert auf das Einvernehmen mit Russland gelegt, was nicht zuletzt eine Voraussetzung für die Einigung des Reiches gewesen war. Als Reichskanzler versuchte er einen Balanceakt zwischen Selbstbehauptung und Selbstbescheidung durchzuhalten. Die anderen Großmächte mussten davon überzeugt werden, dass Deutschland »saturiert« war und keine weiteren territorialen Ansprüche in Europa erheben würde. Mit Österreich und Russland gelang Bismarck 1873 der Abschluss eines Dreikaiserbündnisses, das die außenpolitischen Interessen in Mitteleuropa ausglich und noch einmal die Gemeinsamkeit der konservativen Großmächte gegen revolutionäre Gefahren betonte.1

Dieser sicherheitspolitische Konsens erwies sich freilich als fragil und erforderte ein ständiges deutsches Bemühen um seine Kräftigung. Österreich-Ungarn und das Zarenreich verfolgten konkurrierende Ambitionen auf dem Balkan, wo sich durch die Schwäche des Osmanischen Reiches ein machtpolitisches Vakuum bildete. Bereits 1878 musste Bismarck auf dem Berliner Kongress als »ehrlicher Makler« den Konflikt entschärfen, was ihm allerdings nur teilweise gelang, weil sich Russland benachteiligt fühlte. Deutsch-russische Spannungen entstanden und verschärften sich, als Berlin zum Schutz seiner heimischen Landwirtschaft hohe Schutzzölle gegen russische Importe verhängte und 1887 sogar den deutschen Kapitalmarkt für die Russen sperrte. Das Zarenreich war aber dringend auf ausländisches Kapital angewiesen, um seine Wirtschaft zu modernisieren. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes spielte dabei eine entscheidende Rolle, doch die Schienenwege im Westen Russlands verstand man in Berlin auch als strategische Bedrohung, würden sie doch im Kriegsfall einen russischen Aufmarsch erleichtern.

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