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Die Waise Clarissa entschlieβt sich vom Haus ihres Onkels wegzulaufen, nachdem dieser versucht sie mit einem alten Mann zu verheiraten. Auf ihrem Weg nach Southampton trifft sie einen Fremden – Conrad Veryan. Nach einem Reitunfall kümmert sie sich aufopfernd um ihn bis er gesund genug ist, seine Reise wiederaufzunehmen. Doch Clarissa ist ihm ans Herz gewachsen. Er nimmt sich ihrer an und macht sie zu seiner Komplizin auf einer Reihe fantastischer Abenteuer, die sie bis nach Mexiko und ins Reich der Liebe führen.
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Seitenzahl: 170
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2017
Copyright Cartland Promotions 1985
Gestaltung M-Y Books
„Darf ich fragen, mit wem du korrespondierst, Clarissa?”
„Was meinst du damit, Onkel Marcus?” erwiderte Clarissa verlegen und versuchte den scharfen Blicken ihres Onkels standzuhalten, der am oberen Ende des Tisches thronte und wie gewöhnlich den Lauf der Unterhaltung bestimmte.
Sie wußte genau, worauf er anspielte, denn auch ihr war der Brief sofort aufgefallen, als sie das Frühstückszimmer betreten hatte.
„Soll das heißen, daß du keinen Brief erwartet hast?”
„Richtig, Onkel Marcus.”
„Dann bist du sicherlich neugierig, wer dir schreibt. Ich schlage vor, du öffnest den Brief und liest ihn uns allen vor.”
Clarissa sah hilfesuchend zu den anderen Familienmitgliedern hin und senkte schließlich resigniert den Blick. Ihr Onkel war ein Tyrann, der seiner Familie mit eiserner Strenge seinen Willen aufzwang. Es gab niemanden im Hause, der es wagte, sich ihm zu widersetzen.
„Ich verstehe nicht, warum ausgerechnet Clarissa Post bekommt”, ließ sich Sophie in diesem Augenblick verdrießlich vernehmen.
Sophie war ein großes, grobknochiges Mädchen mit einem nichtssagenden, flächigen Gesicht. Ganz offensichtlich erweckte die bloße Tatsache, daß an ihre Cousine ein Brief gerichtet war, ihren Neid. Es schien ihr ein Dorn im Auge zu sein, daß man Clarissa, die in der Familie letztlich nur geduldet war, mehr Aufmerksamkeit zollte als ihr.
Die beiden Mädchen waren schon von der äußeren Erscheinung her so gegensätzlich, daß man sich kaum eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen ihnen vorstellen konnte.
An Clarissa schien alles vollkommen zu sein. Sie war klein und schmalgliedrig mit einem zarten, herzförmigen Gesicht. Ihre dunkelblauen Augen waren von dichten Wimpern umschattet und standen riesengroß über der feinen Nase. Das üppige Haar schimmerte rotgolden wie die erste Morgenröte und ließ ihre Haut noch durchsichtiger erscheinen. Sie war im Gegensatz zu Sophie ein überaus lieblicher Anblick.
Ihre Hände zitterten leicht, als sie jetzt mit einer zögernden Bewegung nach dem Brief griff und ihn langsam zu öffnen begann.
„Nun, wer ist der Absender des Briefes?”
„Es ist Mr. Philip Radfield, Onkel Marcus.”
„Das ist gelogen!” Sophie sprang erregt auf. „Mr. Radfield ist ein Verehrer von mir! Es gibt überhaupt keinen Anlaß, warum er dir schreiben sollte.”
Sie lief um den Tisch herum und riß Clarissa den Brief aus den Händen. Fassungslos blickte sie auf ihn nieder.
„Oh, wie gemein von dir, Clarissa”, ereiferte sie sich. „Du machst mir jeden Mann abspenstig. Du hetzt sie alle gegen mich auf. Oh, wie ich dich hasse!”
„Schluß jetzt!” dröhnte die Stimme Marcus Pleytons durch den Raum. „Setz dich auf deinen Platz, Sophie! Ich habe mit euch zu reden.”
„Es ist ungerecht, Vater”, verteidigte sich Sophie. „Warum haben alle Männer nur Augen für Clarissa? Sie verhext jeden, der in ihre Nähe kommt.”
„Setz dich endlich hin und hör mir zu!” wiederholte Marcus Pleyton scharf. „Clarissa wird mir den Brief aushändigen, und ich werde es übernehmen, ihn entsprechend zu beantworten.”
Gehorsam nahm Clarissa den Brief auf und reichte ihn ihrem Onkel.
„Es tut mir wirklich leid, Onkel Marcus, aber ...”
„Das, was ich euch jetzt zu sagen habe, betrifft euch beide.” Unwillig hatte Marcus Pleyton seiner Nichte das Wort abgeschnitten. „Es geht um euer zukünftiges Leben.”
Überrascht blickte Clarissa zu ihrer Tante hin, die still und unbeweglich das ganze Geschehen verfolgt hatte. Ihre Miene war undurchdringlich, und Clarissa fragte sich wieder einmal, was wohl im Kopf dieser blassen, zurückhaltenden Frau vor sich gehen mochte.
„Du hast mir schon viel Kopfzerbrechen bereitet, Sophie.” Die Stimme des Onkels riß sie aus ihren Überlegungen. „Ich glaube, wir sollten endlich konkret über deine Zukunft sprechen.”
„Meine Zukunft?” Sophie blickte ihren Vater fassungslos an.
„Du hast richtig verstanden”, erwiderte er. „Du bist immerhin zwanzig Jahre alt, und es wird höchste Zeit für dich, zu heiraten.”
„Heiraten?” rief Sophie aufgebracht. „Das ist ja schön und gut, aber es hat noch niemand um meine Hand angehalten. Und das wird wahrscheinlich nie passieren, solange Clarissa im Haus ist.”
„Kurzum, ich habe eine Partie für dich ins Auge gefaßt”, unterbrach Marcus Pleyton den Redestrom seiner Tochter. „Ich wünsche, daß du den Marquis of Truro heiratest.”
„Einen Marquis”, flüsterte Sophie ehrfürchtig. „Bist du sicher, daß er um mich anhalten wird, Vater?”
„Das ist bereits geschehen”, entgegnete er knapp. „Es ist alles zu deinem Besten geregelt.”
„Aber er hat mich doch noch gar nicht gesehen!”
„Das läßt sich nachholen. Ich erwarte ihn in den nächsten Tagen hier im Haus. Er wird dich offiziell um deine Hand bitten, damit ich deine Verlobung bekanntgeben kann.”
„Wie sieht er aus, Vater?” Sophies Augen glänzten vor Aufregung. „Wie alt ist er?”
„Einzelheiten erfährst du später, mein Kind. Du wirst ganz bestimmt zufrieden sein. Du beginnst noch heute damit, nach den Anweisungen deiner Mutter den Empfang des Marquis vorzubereiten. Er soll sehen, daß er mit meiner einzigen Tochter eine gute Partie macht.”
Es entstand eine kleine Pause.
„Ich nehme an, Vater, damit wolltest du andeuten, daß der Marquis verarmt ist.”
„Gelegentlich kannst du sehr scharfsinnig sein, mein Kind.” Marcus Pleyton lächelte spöttisch. „Das kannst du nur von mir geerbt haben. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Marquis besitzt nichts außer seinem Titel, während du eine reiche Erbin bist. Was bietet sich mehr an, als eine Verbindung zwischen euch herzustellen?”
„Ich werde eine Marquise sein”, murmelte Sophie voller Genugtuung.
Dann aber wich plötzlich der selbstzufriedene Ausdruck von ihrem Gesicht, und ihr Blick heftete sich voller Feindseligkeit auf Clarissa.
„Vater, ich möchte in keinem Fall, daß Clarissa hier anwesend ist, wenn der Marquis eintrifft. Sie ist imstande, ihn für sich zu gewinnen. Du mußt sie fortschicken.”
„Beruhige dich, auch an Clarissa habe ich gedacht”, versetzte Marcus Pleyton.
Etwas an seinem Tonfall ließ Clarissa frösteln.
„Sie wird in Kürze heiraten.”
„Du hast für mich eine Ehe geplant?” Clarissa hob jäh den Kopf und sah ihren Onkel mit weit aufgerissenen, erschreckten Augen an.
„Gewiß, Clarissa. Auch für dich habe ich nur das Beste im Sinn. Dein widerspenstiger Charakter braucht endlich eine starke, energische Hand.”
Marcus Pleyton hielt inne und blickte zu Clarissa hin, als erwarte er einen Einwand. Aber Clarissa war unfähig, ein Wort zu finden oder sich auch nur zu rühren. Wie gelähmt starrte sie ihren Onkel an.
„Ich gebe mir die Ehre, Clarissa”, fuhr er schließlich fort, „dir mitzuteilen, daß General Warrington um deine Hand angehalten hat.”
„General Warrington?” preßte Clarissa mühsam hervor. „Aber er ist alt! Er ist viel zu alt für mich!”
„Mein liebes Kind, er ist sechzig Jahre alt - ein Mann in den besten Jahren. Außerdem halte ich einen Mann mit Erfahrung für sehr geeignet, deinen, mit Verlaub zu sagen, etwas ungewöhnlichen Charakter zu lenken.”
„Du wirst es hoffentlich verstehen, wenn ich mich weigere, diese Heirat überhaupt in Betracht zu ziehen, Onkel Marcus.”
In Clarissas Augen war ein ärgerlicher Ausdruck getreten, und kampfeslustig sah sie ihren Onkel an.
„Erstens kann ich General Warrington nicht leiden, und zweitens ist er mir zu alt.”
„Ich höre wohl nicht richtig!” rief ihr Onkel mit Donnerstimme. „Wer bist du denn, daß du es wagst, einen Mann dieser gesellschaftlichen Position auszuschlagen? Du hast wohl vergessen, daß du von meiner Mildtätigkeit lebst. Was hast du denn einem Mann zu bieten? Andere Frauen in deiner Lage würden sich glücklich schätzen, eine solche Heirat eingehen zu können.”
„Dann soll er eine von diesen Frauen heiraten”, gab Clarissa schlagfertig zur Antwort. „Ich jedenfalls werde in diese Ehe niemals einwilligen.”
„Leider kann ich darauf keine Rücksicht nehmen”, erwiderte Marcus Pleyton eisig. „Ich halte ihn für einen geeigneten Ehemann für dich, und als dein Vormund werde ich sämtliche mir zur Verfügung stehenden Rechte nehmen, dich von meinen Vorstellungen zu überzeugen. Du wirst den General heiraten, ob du nun einverstanden bist oder nicht. Das ist mein letztes Wort.”
„Das werde ich nicht, und wenn es der einzige Mann auf der Welt wäre!”
„Wagst du es noch immer, mir zu widersprechen?” Marcus Pleyton ließ seine Faust mit solcher Wucht auf den Tisch niedersausen, daß die Teller und Tassen klirrten.
„Ich werde niemanden heiraten, den ich nicht liebe.”
„Wie du willst.”
Er zog seine goldene Uhr aus der Westentasche und erhob sich langsam.
„Ich fahre jetzt nach London und werde gegen sechs Uhr wieder zurück sein. Ich erwarte dich dann in meinem Arbeitszimmer. Solltest du bis dahin deine Meinung nicht geändert haben, dann werde ich deine Zustimmung erzwingen müssen.”
Damit wandte er sich um und verließ grußlos das Frühstückszimmer.
Bei seinen letzten Worten war alle Farbe aus Clarissas Wangen gewichen, denn sie wußte nur allzu gut, was diese Drohung bedeutete.
Gewalt war für sie immer nur ein leeres Wort gewesen, denn ihre Eltern hatten sie sehr freiheitlich erzogen und stets dazu ermuntert, ihre Meinung offen zu äußern und verschiedene Standpunkte in Gesprächen zu klären. Ihr Onkel dagegen hatte andere Erziehungsvorstellungen, und während der vergangenen drei Jahre, seitdem sie in diesem Haus lebte, hatte sie häufig die Erfahrung gemacht, was er unter körperlicher Züchtigung verstand.
Oh, wenn ihre Eltern doch noch lebten! Niemals hätten sie von ihr verlangt, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte.
Plötzlich trat ein Hoffnungsschimmer in Clarissas Augen, und sie wandte sich hilfesuchend zu ihrer Tante um.
„Tante Alice, bitte hilf mir doch! Du bist eine Schwester meiner Mutter. Du weißt, wie glücklich Vater und Mutter lebten, wie sehr sie sich geliebt haben. Niemals hätte es Mutter zugelassen, daß ich einen Mann heirate, den ich nicht liebe.”
„Es ist völlig sinnlos, wenn ich mich einmische”, entgegnete Mrs. Pleyton mit bitterer Stimme. „Du weißt, wie starrsinnig dein Onkel ist. Niemals wird er nachgeben! Dir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Es hat keinen Sinn, sich ihm zu widersetzen, denn er gewinnt immer.”
Zum ersten Mal entdeckte Clarissa einen menschlichen Zug an ihrer Tante. Vielleicht war sie früher ebenso fröhlich und glücklich gewesen wie ihre Mutter. Vielleicht war sie nur durch die langen Ehejahre mit Marcus Pleyton zu diesem farblosen, ausdruckslosen Geschöpf geworden. Impulsiv streckte sie ihrer Tante die Arme entgegen.
„Tante Alice ...”, flehte sie, aber Mrs. Pleyton erhob sich und ging zur Tür.
Langsam faltete Clarissa ihre Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch zurück. Dann ging sie, mit den Tränen kämpfend, in ihr Schlafzimmer hinauf.
Sie hatte noch etwa neun Stunden Zeit, bis ihr Onkel eine Entscheidung von ihr verlangen würde.
„Ich kann nicht heiraten, ohne zu lieben”, wiederholte sie immer wieder und fuhr beim Gedanken an die Peitsche ihres Onkels schaudernd zusammen.
Er würde sie bis zur Besinnungslosigkeit schlagen, und früher oder später würde sie nachgeben.
Plötzlich hatte sie einen Entschluß gefaßt.
„Ich muß fliehen”, dachte sie. „In keinem Fall werde ich mir Gehorsam und Unterwürfigkeit einprügeln lassen.”
Sie preßte die Hand an die Stirn, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Wohin konnte sie gehen?
Es war ihr vollkommen klar, daß sie sich gut verstecken mußte. Denn ihr Onkel würde alles daransetzen, sie zurückzuholen, und dann würde er sie wahrscheinlich ebenso behandeln wie den kleinen Stallburschen, der fortgerannt war, nur weil ein Pferd zu lahmen begonnen hatte.
Ihr Onkel hatte den Jungen ins Haus zurückgeholt und ihn derart verprügelt, daß er zwei Wochen lang nicht mehr aufstehen konnte.
So wird es mir auch ergehen, dachte Clarissa entsetzt. Niemals werde ich es ertragen können.
Ein Klopfen an der Tür riß sie aus ihren Überlegungen.
„Wer ist da?” fragte sie ängstlich, denn sie hatte das Gefühl, ihre geheimsten Gedanken hätten sich bereits im ganzen Haus herumgesprochen.
„Die gnädige Frau läßt Ihnen ausrichten, daß sie mit Miss Sophie in die Stadt fährt.” Die Tür war aufgegangen, und eines der Mädchen war eingetreten. „Sie wird nicht vor dem Mittagessen zurück sein.”
„Vielen Dank, Lucy.”
Als die Tür hinter dem Mädchen wieder ins Schloß gefallen war, ging Clarissa langsam zum Fenster hinüber.
Das war ihre Chance! Wenn sie wirklich fliehen wollte, dann mußte sie es jetzt tun.
Aber wohin sollte sie nur gehen? Es mußte wirklich ein Ort sein, wo ihr Onkel sie nicht finden konnte.
Ich könnte versuchen, nach Frankreich zu entkommen, und dort in ein Kloster eintreten. Vor weiteren Heiratsanträgen wäre ich dann in Zukunft sicher, dachte sie, aber irgend etwas in ihr rebellierte gegen die Vorstellung, den Rest ihres Lebens in einem Kloster verbringen zu müssen.
Ganz bestimmt gibt es in Frankreich Menschen, die Englischunterricht brauchen, spann sie ihren Gedankengang weiter. Aber woher soll ich das Geld nehmen, um das Schiff nach Le Havre zu bezahlen?
Punkt für Punkt entwickelte sie einen Plan. Sie wußte, daß sie von ihrer Mutter eine Brosche geerbt hatte. Ein altes Familienstück, das sicherlich hundert Pfund wert war. Es lag im Safe ihres Onkels, da er ihr verboten hatte, Schmuck zu tragen.
Kurz entschlossen setzte sie sich an ihren kleinen Sekretär und verfaßte einen Brief an ihren Onkel.
Lieber Onkel Marcus!
Ich kann General Warrington nicht heiraten, und meine Eltern wären mit Deiner Entscheidung sicherlich nicht einverstanden. Ich sehe mich daher gezwungen, Dein Haus zu verlassen.
Ich danke Dir, daß Du mich nach dem Tod meiner Eltern aufgenommen hast, obwohl ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, nicht sehr willkommen gewesen zu sein.
Ich weiß, daß Du für mich eine Brosche aufbewahrst, die mindestens hundert Pfund wert sein dürfte. Ich gestatte mir daher, fünfundzwanzig Pfund in bar mit mir zu nehmen, außerdem den Hengst Rollo, für den Du vergangene Woche siebzig Pfund bezahlt hast. Die restlichen fünf Pfund verrechne ich für Sattel und Zaumzeug, denn der Gedanke, in Deiner Schuld zu stehen, wäre mir unerträglich.
Bitte verzeih mir diese Entscheidung, aber ich kann und werde keinen Mann heiraten, den ich nicht liebe.
Deine ergebene, wenn auch ungehorsame Clarissa
Clarissa überflog die Zeilen nochmals, steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb den Namen ihres Onkels darauf und legte ihn zurück in ihren Sekretär.
Hier würde ihr Onkel ihn nicht sofort nach seiner Rückkehr finden, und ihr Vorsprung würde sich vergrößern.
Dann kleidete sie sich hastig um. Sie zog unter ihr Reitkleid noch ein einfaches Seidenkleid und mehrere Unterröcke. Dann raffte sie in aller Eile ein paar Habseligkeiten in einen Korb zusammen, bedeckte ihn mit einem Wollschal und verließ ihr Schlafzimmer.
Sie steuerte geradewegs auf den Salon ihrer Tante zu, denn sie hatte sich daran erinnert, daß es zu den Pflichten ihrer Tante gehörte, am Ende des Monats die Dienerschaft auszubezahlen. Sie zögerte einen Moment, als sie der kleinen silbernen Dose, in der ihre Tante das Geld aufzubewahren pflegte, fünfundzwanzig Pfund entnahm.
Es ist mein eigenes Geld, das ich nehme, beruhigte sie sich energisch. Sicherlich ist die Brosche viel mehr wert als hundert Pfund.
Sie steckte das Geld in den Korb und ging entschlossenen Schrittes zu den Stallungen hinüber.
„Ich möchte auf Rollo ausreiten”, erklärte sie dem Stallburschen.
„Sehr wohl, Miss. Wenn es Ihnen recht ist, dann besorge ich jemanden, der Sie begleitet.”
„Das ist wirklich nicht nötig”, erwiderte Clarissa schnell. „Ich möchte nur kurz ins Dorf reiten.”
„Wie Sie wünschen, Miss.” Der Stallknecht streifte ihren Korb mit einem kurzen Blick. „Trotzdem müssen Sie vorsichtig sein. Rollo ist seit Tagen nicht bewegt worden und deswegen sehr ungeduldig und draufgängerisch.”
Er führte den Hengst in den Hof, und Clarissa beglückwünschte sich im Stillen zu ihrer guten Wahl.
Rollo war ein feuriger, kräftiger Hengst und würde sie schnell vorwärtsbringen. Sie ließ sich in den Sattel helfen und ritt in gemächlichem Trott bis zum Ende des Parks. Hinter einer mächtigen Eiche brachte sie das Pferd zum Stehen, sprang auf den Boden und begann, die Habseligkeiten aus dem Korb in einen Schal zu wickeln. Sie band den Schal zu einem handlichen Bündel zusammen, das sie am Sattel befestigte. Den Korb warf sie mit einer schwungvollen Bewegung in einen vorbeifließenden Bach. Dann saß sie wieder auf, gab dem Pferd die Sporen und galoppierte in südlicher Richtung davon.
Nach einem dreistündigen Ritt quer durch Wiesen und Wälder machte sie an einem Gasthaus halt, um Rollo eine kurze Rast zu gönnen. Auch sie fühlte plötzlich Heißhunger in sich aufsteigen, denn die Vorfälle am Frühstückstisch hatten ihr am Morgen restlos den Appetit verschlagen.
Gierig fiel sie über das einfache Mahl her, das der Gastwirt ihr vorsetzte, und nach einem Glas Most, zu dem sie sich hatte überreden lassen, kehrte langsam wieder etwas Farbe in ihr Gesicht zurück.
Das ganze Essen kostete sie nur wenige Pennies, und guter Dinge setzte sie ihren Weg nach Süden fort.
Am späten Nachmittag, als die Sonne langsam am Horizont verschwand, begann es plötzlich kalt zu werden. Da es ein warmer Herbsttag gewesen war, hatte Clarissa ihren Mantel vergessen. Fröstelnd überquerte sie einen frisch gepflügten Acker und näherte sich einem kleinen Waldstück.
Plötzlich vernahm sie den langgezogenen Klang eines Jagdhorns, und unmittelbar darauf tauchte vor ihr ein Fuchs auf. Er kam aus dem nahen Wald gerannt und versuchte, sich vor der hechelnden Hundemeute, die ihm dicht auf den Fersen war, in Sicherheit zu bringen.
„Auf diese Chance wartet jeder Jäger44, ertönte eine tiefe Stimme dicht hinter Clarissa.
Überrascht wandte sie sich um und erblickte einen gutaussehenden Reiter, der sie mit abschätzenden Blicken musterte. Sie war so in das Schauspiel vor sich versunken gewesen, daß sie sein Herannahen völlig überhört hatte.
„Ich bin nicht auf der Jagd, Sir44, erwiderte Clarissa kühl und abweisend, um jede weitere Unterhaltung im Keim zu ersticken.
„Ich auch nicht.“ Er lächelte sie unverfroren an. „Trotzdem sollte man sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen.“
Wortlos drehte Clarissa ihm wieder den Rücken zu. Der Fuchs war schon fast ihrem Blickfeld entschwunden, die Hunde waren immer noch dicht hinter ihm her. Gegen ihren Willen spürte sie, wie sie das Jagdfieber packte. Es war tatsächlich eine Gelegenheit, wie sie sich selten bot. Onkel Marcus hatte ihr selten erlaubt, ihn auf die Jagd zu begleiten. Meistens hatte sie sich darauf beschränken müssen, in den weitläufigen Parkanlagen auszureiten.
Aber Onkel Marcus hatte ihr nichts mehr vorzuschreiben. Sie war frei. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.
Als hätten sich ihre Gedanken auf Rollo übertragen, setzte er sich langsam in Bewegung. Zunächst verfiel er in einen gemächlichen Trott, dann wurde er immer schneller, und ehe sie sich versah, rasten sie in wildem Galopp über das Feld. Sie sah, daß der Fremde dicht an ihrer Seite ritt.
Wir können sie kaum noch einholen, dachte sie atemlos.
Der Hufschlag dröhnte ihr in den Ohren, der Wind verfing sich in ihren Haaren, von Ferne hörte sie das Bellen der Hunde, All das versetzte sie in Hochstimmung. Mit einem kurzen Seitenblick nahm sie wahr, daß der Fremde groß und breitschultrig war und daß ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte.
Das Feld war von einer hohen Hecke begrenzt. In wenigen Sekunden waren sie davor angelangt. Rollo setzte mit einem glänzenden Sprung darüber hinweg und kam sicher auf der anderen Seite auf. Clarissa blickte sich nach dem Fremden um und beobachtete voller Entsetzen, wie sich sein Pferd am oberen Rand der Hecke verfing und ins Straucheln geriet. Der Fremde wurde aus dem Sattel geschleudert und blieb einige Meter entfernt still und unbeweglich auf dem durchweichten Boden liegen.
Mit einem kräftigen Ruck brachte Clarissa Rollo zum Stehen und glitt hastig aus dem Sattel.
„Wo bin ich?”
Verschwommen nahm er einen goldenen Schleier wahr, der sich wie Sonnenlicht vor seinen Augen ausbreitete. Wie aus weiter Ferne drang eine weiche, melodische Stimme an sein Ohr.
„Es ist alles in Ordnung. Schlafen Sie noch ein wenig.”
Er spürte eine Tasse an den Lippen, nahm einen Schluck Flüssigkeit zu sich und ließ sich ermattet zurücksinken, bis ihn wieder tiefe Bewußtlosigkeit umfing.
Als er das nächste Mal zu sich kam, war es Nacht. Durch den Schein einer flackernden Kerze hindurch erkannte er eine Gestalt, die sich aus dem Schatten des Zimmers löste und an sein Bett trat.
„Wer sind Sie?“fragte er.
Dann erinnerte er sich plötzlich an die zwei großen dunkelblauen Augen.
„Der Fuchs”, flüsterte er, „haben wir ihn erwischt?”
„Nein, er ist entkommen”, hörte er wieder dieselbe sanfte Stimme sagen.
Irgendwann riß ihn ein Gespräch endgültig aus dem Schlaf. Ganz deutlich konnte er zwei Stimmen voneinander unterscheiden.
„Heute morgen geht es ihm schon viel besser, Mrs. Hayward.”
„Dann müssen Sie jetzt endlich an sich selbst denken, Miss. Ich bringe Ihnen eine Kleinigkeit zum Essen. Haben Sie einen besonderen Wunsch?”
„Ich habe noch nie so guten Schinken gegessen wie bei Ihnen!”
„Ach was, Miss. Sie übertreiben.”
„Und wenn schon, Mrs. Hayward. Sie sind so freundlich zu uns.”
„Ich freue mich doch über jede Abwechslung, Miss.
Es verirrt sich so selten jemand in diese gottverlassene Gegend.”
„Für uns war es ein Segen, daß sich Ihr Hof gerade hier befindet.”
„Na ja, es hat alles zwei Seiten. Auf jeden Fall brauchen wir hier auf das Gerede der Nachbarn keine Rücksicht zu nehmen.”