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Die 90-jährige energische Maxine ist aus dem Seniorenheim ausgebüxt, um ihr Ableben selbstbestimmt zu regeln. Der schüchterne Student Alex hat Liebeskummer und braucht frischen Wind. Das Schicksal führt sie über ein Mitfahrportal zusammen. In einem uralten Twingo brechen sie zu einer Fahrt durch Frankreich nach Brüssel auf. Als Maxine von der Polizei gesucht wird, beginnt ein atemloses Abenteuer - mit Blick auf die grandiose Vielfalt des Lebens.
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Seitenzahl: 475
Die neunzigjährige energische Maxine ist aus dem Seniorenheim ausgebüxt, um ihr Ableben selbstbestimmt zu regeln. Der schüchterne Student Alex hat Liebeskummer und braucht frischen Wind. Das Schicksal führt sie über ein Mitfahrportal zusammen. In einem uralten Twingo brechen sie zu einer Fahrt durch Frankreich nach Brüssel auf. Nach und nach fassen sie Vertrauen zueinander, erzählen sich Dinge, die sie niemals zuvor preisgegeben haben, machen sich gegenseitig Mut, bestehen unfreiwillige Abenteuer und sehen sie schließlich ganz klar vor sich – die grandiose Vielfalt des Lebens.
Zoe Brisby ist Kunsthistorikerin und literaturbegeistert. Ihre eigene schriftstellerische Karriere begann 2016, und REISE MIT ZWEI UNBEKANNTEN ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Zoe Brisby schätzt Humor und Herzensweisheit und ist der Meinung, dass ungewöhnliche Lebenssituationen einen manchmal im besten Sinn über sich hinauswachsen lassen.
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www.facebook.com/Zoe-Brisby-Auteur-596379780536037/
Zoe Brisby
REISE MIT ZWEI UNBEKANNTEN
ROMAN
Übersetzung aus dem Französischen vonMonika Buchgeister
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Titel der französischen Originalausgabe:
»L’habit ne fait pas le moineau«
Für die Originalausgabe:
Copyright © Mazarine/Librairie Arthème Fayard, 2019
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
unter Verwendung einer Illustration von © shutterstock: mhatzapa
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9511-2
www.eichborn.de
www.luebbe.de
Für uns,hic et nunc(hier und jetzt)
www.mitfahrgelegenheit.com
PROFIL
Vorname: Alex
Alter: 25
Auto (Marke, Modell und Baujahr): Renault, Twingo, 2002
Anzahl der Reisenden (inkl. Fahrer): 2
Ziel: Brüssel
Autobahnnutzung: ja
Gepäckumfang: klein
Rauchen erlaubt: ?
Alex zögerte. Sollte er bei der Raucher-Frage »ja« oder »nein« anklicken? Entschied er sich für ein Nein, würde das die Zahl der möglichen Interessenten erheblich verringern. Bei einem Ja hingegen bestand die Gefahr, dass er sich einen Mitfahrer aufhalste, der rauchte wie ein Schlot. Sollte er eher an seinen mageren Geldbeutel oder an das Wohlergehen seiner Lungen denken? Es wäre wirklich unschön, aufgrund einer das ganze Gefährt vernebelnden Rauchwolke die Straße nicht mehr sehen zu können. Ja, besser man klickte »nein« an. Schon aus Sicherheitsgründen.
Allerdings würde ein Ausschluss der Raucher auch eine Diskriminierung bedeuten. In seinem jugendlichen Oppositionsgeist widerstrebte es ihm, sich dem herrschenden Diktat, das die Raucher ausgrenzte, zu beugen. Zuerst waren es die Raucher, und wer war dann als Nächstes dran? Nein, da klickte man wohl doch besser »ja« an.
Rauchen: ja
Tiere: ?
Es war das erste Mal, dass er jemanden über eine Mitfahrzentrale in seinem Auto mitnehmen würde, und allein schon der Fragebogen ging ihm ziemlich auf die Nerven. Im Gegensatz zu den Beweggründen, mit denen die Internetseite warb, hatte er sich eher aus finanziellen Motiven dort eingefunden als um »in den Genuss einer gemütlichen Stimmung« zu kommen und dabei »gleichzeitig etwas für den Erhalt unserer Erde« zu tun. Der CO₂-Abdruck war gewiss ein hehres Motiv, aber am Ende war er derjenige, der womöglich einen Kettenraucher ertragen musste.
Jetzt also die Frage nach den Tieren. Er mochte Tiere, also dürfte diese Frage eigentlich kein Problem sein, aber in Alex’ Leben wurde alles zum Problem. Depressiv. Die Diagnose, die der Arzt ihm bei seinem letzten Besuch in der Praxis gelangweilt und ohne jedes Einfühlungsvermögen aufgetischt hatte, war ein Faustschlag ins Gesicht gewesen.
»Ist das schlimm?«, hatte Alex schicksalsergeben gefragt.
»Eigentlich sind heutzutage alle depressiv.«
»Dann ist es also nicht schlimm?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Nach einem müden Seufzer hatte er eine Definition aus dem Lehrbuch zitiert:
»Die Depression ist eine Krankheit. Sie kann vorübergehend oder chronisch sein. Die Auswirkungen können von bloßer Erschöpfung bis hin zu Selbstmord reichen.«
»Selbstmord?«
»Ja, bei Menschen, die an schweren Depressionen leiden, schon.«
»Leide ich an schweren Depressionen?«
»Verspüren Sie manchmal den Wunsch zu sterben?«
Alex hatte kurz nachgedacht. Sterben – das hatte er noch nie in Betracht gezogen. Allerdings erschreckte ihn die Vorstellung auch nicht. Es würde das Ende aller Beschwerlichkeiten bedeuten. Keine Antriebslosigkeit mehr am Morgen, kein Hadern mehr beim Schlafengehen am Abend.
»Äh …«
»Gut, dann leiden Sie nicht an einer schweren Depression. Höchstens an einer mittelschweren.«
Der Arzt hatte seinen Rezeptblock hervorgezogen und dann angemerkt:
»Ich verschreibe Ihnen sogenannte Antidepressiva. Keine mit besonders schlimmen Nebenwirkungen, aber wundern Sie sich nicht, wenn Sie anfangs ein wenig groggy sind. Auch Verstopfung könnte auftreten. Eventuell kommt es auch zu Erbrechen und Kopfschmerzen. Aber Sie werden rasch merken, dass Sie sich besser fühlen.«
Er hatte das Rezept aus dem Block gerissen und Alex gereicht.
Da dieser keine Reaktion zeigte, hatte er hinzugefügt:
»Ich rate Ihnen außerdem, einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Und machen Sie lange Spaziergänge. Sie können hinausgehen.«
»Was meinen Sie damit? Soll ich mich mit Freunden treffen?«
»Nein, ich meine, dass Sie jetzt aus dem Sprechzimmer hinausgehen können. Draußen warten noch andere Patienten. Aber Freunde treffen – das ist auch eine gute Idee.«
Alex hatte daraufhin beschlossen, nach Brüssel zu fahren. Seinen Eltern würde er niemals gestehen, warum er Brüssel als Ziel gewählt hatte: Über das Internet hatte er herausgefunden, dass Alice Laferty dort lebte. Wirklich eine vollkommen idiotische Idee.
Womöglich erinnerte sie sich nicht einmal mehr an ihn. Womöglich war sie hässlich geworden, und es gab das kleine Mädchen mit den braunen Locken gar nicht mehr, das er aus der Grundschule kannte. Womöglich würde sie ihn nicht einmal wiedererkennen. Womöglich würde er sie auch gar nicht besuchen. Aber immerhin hatte ihn diese Idee zu einer Entscheidung gebracht; es war der Impuls, den er gebraucht hatte, um seine Lethargie abzuschütteln. Und genau deshalb saß er heute vor diesem dämlichen Formular einer Mitfahrzentrale. Er hatte den Eindruck, auf einem Online-Dating-Portal unterwegs zu sein oder gar in einem Bewerbungsgespräch zu stecken – letztlich kam das aufs Gleiche heraus.
Waren Tiere nun okay? Warum nicht. Aber wenn sein Mitfahrer nun ein Punk mit einem riesigen Hund wäre? Oder ein Gothic-Typ mit einem Frettchen auf der Schulter? Frettchen stanken ganz fürchterlich. Er hatte zwar bereits einen Kettenraucher akzeptiert, aber das hieß noch lange nicht, dass er bereit war, einen Kettenraucher samt Ratte zu ertragen.
Tiere: ausschließlich kleine Hunde oder Katzen
Interessen (mindestens drei): ?
Das wurde ja immer schlimmer. Kräutertees, Dromedare und amerikanische Soulmusik. Nein, das konnte er unmöglich angeben. Dann würden alle wissen, dass ein Greis in ihm steckte. Alex hatte immer schon das Gefühl gehabt, älter zu sein, als er tatsächlich war – ein wenig so, als hätte man sich auf der Wöchnerinnenstation geirrt und seiner Mutter kein Neugeborenes, sondern ein älteres Kind mitgegeben. Und diese Wahrnehmung eines Altersunterschieds zu den Jugendlichen seiner Generation hatte sich bis heute bei ihm gehalten.
Wenn er jetzt schon stundenlang neben einem Fremden unterwegs sein musste, dann sollte es doch wenigstens eine Frau sein. Eine Frau war angenehmer, umgänglicher und außerdem – man konnte ja nie wissen.
Ganz schön optimistisch für einen Depressiven, oder etwa nicht?
Interessen (mindestens drei): Museen, Reisen und Literatur
Diese Auswahl war eine sichere Bank: Männer würden sich nicht angesprochen fühlen. Vielleicht hatte er ja das Glück, eine schöne Unbekannte kennenzulernen. Sie würden sich auf der Stelle gut verstehen, ihre Begegnung wäre der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte, die sie später ihren Enkeln bei jedem Weihnachtsfest aufs Neue erzählen würden. Bei einer hässlichen oder eingebildeten Frau hingegen könnte er sich einfach taub und stumm stellen oder ihr klipp und klar sagen, dass er depressiv sei. Denn so viel stand fest: Depressive wirkten abschreckend, die Leute hatten viel zu viel Angst, dass sie sie mit ihren Problemen behelligen könnten.
Er drückte sich selbst die Daumen und dann auf die »Senden«-Taste.
www.mitfahrgelegenheit.com
PROFIL
Vorname: Max
Alter: geht Sie nichts an
Ziel: Brüssel
Reisen Sie mit einem Tier: nein
Rauchen Sie: nein
Interessen (mindestens drei): Technik, Whisky, Tour de France
Nachdem sie ihr Profil erstellt hatte, warf Maxine einen Blick auf die Profile anderer Benutzer von www.mitfahrgelegenheit.com. Es gab tatsächlich jemanden, der nach Brüssel fuhr: Alex. Aber diese junge Frau würde vermutlich eine unerquickliche Begleitung abgeben! Interessen: Museen, Reisen und Literatur … Immerhin würde sie dann keine Schlafmittel benötigen, um unterwegs ein Nickerchen machen zu können. Aber Maxine musste nun einmal nach Brüssel, und eine andere Mitfahrgelegenheit gab es nicht. Sie nahm also das Angebot an, denn sie sagte sich, dass ihr nicht mehr allzu viel Zeit bliebe, um ihr Vorhaben durchzuführen. Sie brachte ihre Registrierung zum Abschluss, schickte ihre Anfrage ab, bezahlte und gab ihre Adresse an, denn anstatt einen Treffpunkt anzugeben hatte die Anbieterin angeboten, eventuelle Mitfahrer direkt zu Hause abzuholen. Ganz schön anständig, diese Alex. Vermutlich eins von diesen kleinen Dummchen, die im Bus aufstanden, um ihr einen Sitzplatz anzubieten, oder die ihr beim Überqueren der Straße behilflich sein wollten. Maxine war alt, aber nicht senil. Noch nicht.
Sie machte sich keineswegs frohen Herzens auf den Weg nach Brüssel. Noch dazu per Mitfahrgelegenheit. Lieber wäre sie in einer schönen Limousine gereist, mit einem attraktiven Chauffeur am Steuer, wie in Miss Daisy und ihr Chauffeur. Während der Fahrt hätte sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Sie hätte ihn mit lebensklugen Ratschlägen überhäuft, wie man sie seinem Sohn mit auf den Weg gibt. Er hätte es ihr mit der Beteuerung gedankt, dass er sie niemals vergessen würde. Sie würde immer die »Dame aus der Limousine« bleiben, die sein Leben verändert hatte. Er würde seine Arbeit als Chauffeur aufgeben, um Jura zu studieren, und dann würde er der beste Anwalt auf der ganzen Welt werden. Er würde all jene verteidigen, die keinen Fürsprecher hatten. Er würde den Armen und Unschuldigen zur Seite stehen. Und all das dank seiner Begegnung mit der »Dame aus der Limousine«.
Nun, vorerst musste sie sich wohl mit einem offenbar in jeder Hinsicht wohlgeratenen jungen Mädchen begnügen. Sie konnte sich diese Alex bereits vorstellen: vorstehende Zähne, Gleitsichtbrille auf der Nase – vielleicht sogar mit Klebeband geflickt –, leichenblass durch endlos währende Aufenthalte in Bibliotheken, fettige Haare … Vielleicht konnte sie, Maxine, mit ihren kostbaren Ratschlägen auch das Leben dieser jungen Frau verändern. Alex würde fortan auf sich achten, sich die Haare waschen, Kontaktlinsen tragen und sich besser kleiden. Ja, sie würde ein Topmodel werden, um das sich alle Agenturen reißen würden. Und das alles dank der »Dame von der Mitfahrzentrale«.
Es tat gut, sich auszumalen, dass sie noch zu etwas nützlich sein konnte. Jedenfalls für ein paar Stunden. Ihr wurde warm ums Herz, wenn sie sich ausmalte, dass sie auf diese Weise immerhin eine Spur ihres Verweilens auf dieser Welt hinterlassen würde. Diese Alex würde der letzte Mensch sein, mit dem Maxine eine echte Unterhaltung führen würde.
Klar, in Brüssel würde sie mit den Ärzten sprechen können, aber das wäre nicht das Gleiche. Die Ärzte bekamen jeden Tag alte Frauen zu Gesicht, die sterben wollten. Das war schließlich ihr Alltag. Da gab es keine Nähe. Keine Bindung. Keine Gefühle. Während es für Maxine doch um ihr Leben ging, wenn sie die Entscheidung traf, aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen.
Alex erreichte die Adresse, die Max ihm angegeben hatte. Mit einem solchen Namen und bei einem Interesse für Technik, Whisky und die Tour de France halste er sich zwar vielleicht keinen Kettenraucher auf, aber unter Umständen einen Schraubendreher, der während der gesamten Fahrt unentwegt über Motoren, Keilriemen, Bremsbeläge und Vergaser schwadronierte.
Angesichts dieser Adresse war er jedoch etwas perplex. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Natürlich. Man hatte ihn versetzt. Man hatte ihn für dumm verkauft. Warum sollte auch jemand in seiner Begleitung eine Reise antreten wollen?
Er parkte am Straßenrand und betrachtete noch einmal das am Eingang des Gebäudes befestigte goldene Schild. Residenz Beau Séjour. Wohn- und Erholungsstätte für alte, kranke oder hilfsbedürftige Menschen. Was für eine Ansage! Er brauchte gewiss auch Erholung und Ruhe, aber hier würde er es keinen Tag lang aushalten. Es war, als würden alte Mitmenschen einem ungeheure Angst einjagen, einem auf grausame Weise vor Augen führen, wie es irgendwann mit einem enden wird. Da beschloss man doch lieber, sie zu verstecken. Man sah weg, gab den Schlüssel ab und schickte hin und wieder einen Blumenstrauß, um ein reines Gewissen zu haben.
Aber im Grunde scherte es ihn nicht, was die fernere Zukunft an Krankheit, Traurigkeit oder Einsamkeit für ihn bereithielt: Er war schließlich jetzt schon depressiv.
Das schmiedeeiserne Gittertor der Einrichtung öffnete sich langsam und quietschend. Bereits das Tor legte hier also ein gehöriges Alter an den Tag. Die Angeln lagen offenbar in den letzten Zügen, und Alex rechnete beinahe damit, die Addams Family auftauchen zu sehen.
Anstelle von Morticia A. Addams oder Cousin Itt erschien jedoch ein kleines Mütterchen, dessen von Falten zerfurchte Haut dem rostigen Belag des Gittertors altersmäßig in nichts nachstand. Ihr Haar war makellos frisiert und blieb trotz einiger Windböen auf wundersame Weise in der von den Lockenwicklern vorgegebenen Form.
Sie trug eine lavendelfarbene Strickjacke – oder eher einen Cardigan, wie ihre Altersgenossen wohl sagen würden – und dazu einen schwarzen Rock, der sittsam die Knie bedeckte. Eine Perlenkette zierte ihren Hals und verlieh ihr das Aussehen einer betagten sonntäglichen Kirchgängerin.
Ihre kleinen, von Altersflecken übersäten Hände umschlossen fest den Griff eines kastanienbraunen Koffers, der ganz so aussah, als stammte er aus der Zeit vor dem letzten Weltkrieg. Mehrere Aufkleber zeugten von Reisen aus früheren Zeiten: Rom, New York, Sydney …
Alex öffnete das Fenster.
»Entschuldigen Sie bitte, Madame. Bin ich hier richtig in der Rue du Général-de-Gaulle Nummer 48?«
Die alte Dame wirkte ein wenig überrascht und brachte ihren Koffer hinter sich in Sicherheit. Beim Anblick der von dunklen Ringen unterlegten Augen des jungen Mannes kam ihr in den Sinn, dass sie es hier womöglich mit einem Rauschgiftsüchtigen zu tun hatte. Einem »Junkie«, der in der Lage wäre, eine alte Dame wie sie zu bestehlen, um seine nächste Dosis zu finanzieren.
Aber letztlich war es ihr auch egal. Sie hatte nichts zu verlieren. Außerdem lag irgendetwas in dem Blick des Rauschgiftsüchtigen, das sie berührte – eine Art tiefer Einsamkeit, innerer Verzweiflung. Als wäre alles in ihm zusammengebrochen und nur noch diese leere Hülle eines Schurken auf der Suche nach seinem nächsten Schuss übrig geblieben. Sie verspürte Mitleid.
»Ja, mein Lieber. Das ist genau hier.«
»Aha, danke.«
Alex schloss das Fenster wieder. Er kochte vor Wut. Er fühlte sich hintergangen von jemandem, den er gar nicht kannte. Man hatte ihm einen üblen Streich gespielt, indem man ihm die Adresse dieses Altenheims gegeben hatte, und er war natürlich – dämlich, wie er war – in die Falle getappt.
Maxine blickte auf ihre Armbanduhr. Drei Minuten Verspätung. Das gefiel ihr gar nicht. Diese Alex war unpünktlich. Und dann auch noch behaupten, dass man die Literatur liebt. Es ist acht Uhr, Herr Doktor Schweitzer. Acht Uhr heißt acht Uhr. Und nicht acht Uhr und drei Minuten.
Obendrein fühlte sie sich höchst unbehaglich, weil der junge Mann in seinem Auto an Ort und Stelle stehen blieb und ganz so aussah, als zögerte er nur noch, ob er den Strick oder die Pistole wählen sollte. Sie überlegte kurz, dann sagte sie sich, dass sie bei ihrer knapp bemessenen Lebenszeit nichts zu verlieren hatte, wenn sie versuchte, diesem Unglücksraben zu helfen. Vielleicht konnte sie ihn von seinen Drogenproblemen abbringen und wieder auf den rechten Weg zurückführen. Er würde Arzt werden, ein Spezialist für Entgiftung – dank seiner schicksalhaften Begegnung mit der »Dame mit dem Koffer«.
Zaghaft näherte sie sich dem Auto. Langsam. Sie wollte ihn keinesfalls erschrecken. Es erinnerte sie ein wenig an die Safaris, an denen sie während der sechziger Jahre in Indien mit dem Maharadscha teilgenommen hatte. Man musste ein wenig in die Knie gehen, um dem Raubtier zu zeigen, dass man seine Überlegenheit akzeptierte und in friedlicher Absicht unterwegs war.
»Brauchen Sie Hilfe, junger Mann?«
Der Rauschgiftsüchtige wirkte überrascht. Sie hatte ihn aus seiner Lethargie gerissen. Er sagte etwas in ihre Richtung, aber wegen der geschlossenen Fensterscheibe verstand sie nichts. Sie bedeutete ihm, das Fenster zu öffnen, und ahmte dazu eine kurbelnde Handbewegung nach wie alle Leute, die noch Autos ohne automatische Fensteröffnung kannten. Womöglich verstand der junge Mann das gar nicht. Doch. Er drückte auf einen Knopf, und die Scheibe senkte sich.
»Ich warte auf jemanden.«
»Ich auch.«
»Ach ja?«
»Na klar. Da brauchen Sie gar nicht so erstaunt zu schauen. Das ist beleidigend. Nur weil ich sechzig Jahre alt bin, heißt das noch lange nicht, dass ich kein Sozialleben mehr habe.«
Alex zog eine Augenbraue hoch. Sie verbesserte sich:
»Gut, ich gebe es zu. Siebzig Jahre.«
Zweifel standen ihm ins Gesicht geschrieben, als er sie von Kopf bis Fuß musterte.
»Nun, vielleicht auch achtzig Jahre …«
Er sagte nichts.
»Okay, neunzig und ein paar Zerquetschte. Aber in meinem Kopf fühle ich mich wie eine jung gebliebene Fünfzigjährige.«
»Ich dachte immer, dass Leute, äh … mit einem gewissen Alter stolz darauf wären, wie lange sie schon auf der Welt sind.«
»Stimmt genau, deshalb werde ich mich auch bald beim Guinness Book melden, damit man bei mir vorbeischaut und mein hohes Alter begutachtet.«
Eine peinliche Stille trat ein, welche die alte Dame jedoch rasch beendete. Bei Stille hatte Maxine sich noch nie wohlgefühlt.
»Ich verabscheue es, wenn Leute zu spät kommen.«
»Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.«
»Hoppla, wer von uns beiden ist denn nun alt?«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil ich mich nicht erinnern kann, diesen Ausdruck seit Roosevelt und der Konferenz von Jalta gehört zu haben.«
»Sie sind zu jung, um bei der Konferenz von Jalta gewesen zu sein.«
Die Wangen der alten Dame färbten sich rosig.
»Oh, das ist aber nett von Ihnen!«
»Wenn Sie tatsächlich neunzig Jahre alt sind, dann sind Sie ungefähr, äh …, um 1926 herum geboren. Also waren Sie 1945, zum Zeitpunkt der Jalta-Konferenz, noch keine zwanzig Jahre alt.«
Maxine war überrascht von den folgerichtigen Überlegungen des jungen Mannes. Offenbar hatten die Drogen noch nicht all seine Neuronen zerstört. Das war eine gute Nachricht. Es erhöhte ihre Chancen ungemein, ihn zu einem guten Arzt zu machen.
»Ich sagte, neunzig Jahre und ein paar Zerquetschte. Ab einem bestimmten Zeitpunkt zählt man nicht mehr so genau mit. Die Geburtstage ähneln eher einem Countdown als einem Fest. Außerdem gibt es im Altenheim selten Kuchen. Solche Leckereien werden dort als Provokation des großen Sensenmanns aufgefasst, der uns ankündigt, dass er bald vorbeischauen wird. Er ist nämlich ein Leckermaul. Aber Sie haben recht, es gibt auch ein paar Alte, die ihren Geburtstag immer noch gern feiern. Sie fühlen sich offenbar wie Superhelden. Nur habe ich noch nie gesehen, wie Superman sein Gebiss verliert oder eine Windel trägt wie Marty Schuberts.«
»Wer ist denn Marty Schuberts?«
»Mein Zimmernachbar. Und ich muss schon sagen, das ist kein besonders schöner Anblick … Deswegen mag ich das Altenheim nicht. Es gibt nur Alte dort drinnen, das ist ziemlich deprimierend. Ich habe mich noch nie mit Alten verstanden.«
»Ja klar, wie auch, wo Sie schließlich eine jung gebliebene Sechzigjährige sind.«
»Fünfzigjährige! Wie schön, Sie haben also verstanden, was ich meine.«
Sie lächelten sich an. Alex blickte auf die Uhr.
»Gut, ich mache mich dann mal auf den Weg. Sieht so aus, als hätte meine Verabredung mich versetzt.«
Maxine sah nach rechts und dann nach links. Niemand.
»Ich glaube, meine mich auch.«
»Brauchen Sie jemanden, der Sie irgendwohin bringt? Wenn Sie wollen, kann ich Sie mitnehmen.«
»Das ist nett, mein Junge, aber ich habe eine lange Reise vor mir. Ich fahre nach Brüssel.«
Alex sah sie mit großen Augen an.
»Max?«, fragte er nun zögerlich.
Maxine beugte sich über ihre Handtasche und zog eine Brille mit riesigen Gläsern hervor.
»Ja. Woher wissen Sie denn meinen Namen?«
»Ich bin Alex.«
»Alex?«
»Alex. Von der Mitfahrzentrale im Internet!«
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wie hätte ich denn darauf kommen sollen, dass Sie das sind?«
»Ich hatte doch keine Ahnung. Ich habe mit einem Mann gerechnet. ›Max‹ …«
»Ich bin … Maxine.«
»Das hätten Sie mir doch sagen können. Wir hätten uns beinahe verpasst. Und eigentlich hätten Sie mich schon erkennen können.«
»Wie hätte ich das denn anstellen sollen, junger Mann? Nur weil ich alt bin, bin ich noch lange keine Hellseherin!«
»Aber in meinem Profil hatte ich doch den Autotyp angegeben. Also wussten Sie, dass ich einen Renault Twingo fahre.«
»Ach, diese neuen Autos sehen doch alle gleich aus!«
»Mein Auto ist nicht neu, es ist von 2002, also schon vierzehn Jahre alt …«
»Für mich ist alles neu, was nach 1950 gebaut wurde.«
Maxine betrachtete – oder inspizierte vielmehr – das Innere des Autos, nachdem Alex ihren Koffer verstaut hatte. Seit sie eingestiegen war, hatte keiner der beiden auch nur ein Wort gesagt. Vielleicht war das auch besser so. Am Ende wurde der junge Rauschgiftsüchtige möglicherweise noch aggressiv.
Allerdings sah Maxine ihn aus irgendeinem Grund in einem milden Licht. Er ließ sie an ein Vögelchen denken, das aus dem Nest gefallen war, weil es zu früh versucht hatte davonzufliegen. Vielleicht hatte er sich gerade von seiner Freundin getrennt – oder von seinem Freund, das wusste man heutzutage schließlich nie genau. Vielleicht hatten seine Eltern ihn vor die Tür gesetzt. Vielleicht war er auf der Flucht, weil er seinen Dealer übers Ohr gehauen hatte und der ihm einen Killer auf den Hals gehetzt hatte. Vielleicht war ihm die Polizei auf den Fersen. Vielleicht war er aber auch ein Spion, der einen Maulwurf enttarnt hatte und nun in Lebensgefahr schwebte … Wie aufregend das alles war!
Oder er war ganz einfach ein junger Bursche, der nach Brüssel fuhr.
Keiner sagte etwas, doch beiden war bewusst, dass ein langer Weg vor ihnen lag. Maxine setzte ihre Inspektion des Autos fort. Sauber, aber unordentlich. Genau wie der Besitzer. Er strahlte eine allgemeine Nachlässigkeit aus. Lustlosigkeit. Überdruss.
Hoffentlich war er trotzdem in der Lage, vernünftig Auto zu fahren. Sie warf einen heimlichen Blick zu ihm hinüber. Er wirkte konzentriert. In Gedanken vertieft. Als nähme er nicht einmal wahr, dass sie neben ihm saß. Oder tat er nur so?
Ein Schweißtropfen perlte langsam über die Schläfe des Jungen herab. Vielleicht war er auf Entzug und brauchte seinen Stoff, seinen Joint, sein Dope, seinen Schuss. Vielleicht sollte sie aufhören, die Reportagen von Bernard de La Villardière anzuschauen.
Sie versuchte, die Atmosphäre zu entkrampfen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich absolut nichts gegen Rauschgiftsüchtige habe.«
Alex zog überrascht eine Augenbraue hoch, hielt seinen Blick aber weiter auf die Straße gerichtet.
Wollte ihm die alte Dame gerade irgendwelche Drogen andrehen? Das fehlte noch. Eine Fixerin mit Naphthalingeruch. Er hatte auch so schon genug Probleme, da würde ihm die Polizei gerade noch fehlen. Er beschloss, nichts zu erwidern, aber das hielt das Mütterchen nicht davon ab fortzufahren:
»Gegen einen kleinen Joint von Zeit zu Zeit hatte ich noch nie etwas einzuwenden.«
So, damit war wohl alles klar. Die Alte bot ihm Drogen an.
»Das ist Ihre Sache. Aber ich lasse lieber die Finger davon.«
Er bekräftigte seine Aussage mit einem entschlossenen Kopfnicken.
Maxine hatte sich geirrt. Der Zustand dieses jungen Burschen war weitaus schlimmer, als sie angenommen hatte. Er war bereits zu harten Drogen übergegangen. Sie kramte in den Tiefen ihres Gedächtnisses, um sich an die Namen anderer Drogen zu erinnern. Solche wie die, die sie damals in Woodstock ausprobiert hatte. Aber alles, was in diesen Abschnitt ihres Lebens gehörte, lag seltsam im Nebel.
Plötzlich erinnerte sie sich an eine Reportage über die Elendsviertel von Marseille und über den dort blühenden Drogenhandel.
»Vielleicht ziehen Sie Kokain vor?«
Für einen kurzen Moment löste Alex seinen Blick von der Straße und sah entsetzt zu Maxine hinüber.
»Ganz sicher nicht!«
Für einen Rauschgiftsüchtigen war er ein ziemlicher Snob.
»Doch nicht etwa Opium? Das ist teuer und völlig aus der Mode, wie Sie sicher wissen.«
»Sie scheinen sich ja erstaunlich gut auszukennen.«
»Oh nein, nicht sonderlich«, wehrte sie mit einer Bescheidenheit ausdrückenden Geste ab. »Ich versuche lediglich, mich auf dem Laufenden zu halten, das ist alles.«
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen, nein, ich rauche kein Opium.«
»Nun, dann bleibt ja nur noch Ecstasy. Oder vielleicht Oxycodon?«
Alex hielt an einer Ampel an. Nur ein paar Meter von ihm entfernt entdeckte er einen Polizisten, der sich gerade einen Kaffee bei Starbucks geholt hatte. Sollte er ihn um Hilfe bitten, um diese kleine Junkie-Oma loszuwerden? Was, wenn sie eine Waffe unter ihrer lavendelfarbenen Strickjacke versteckt hatte oder ein Schnappmesser in ihrem Faltenrock? Nein, der Polizist würde ihm niemals glauben – ein Drogenkurier mit Perlenkette und Rollator im Twingo –, er würde wie ein Idiot dastehen.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Madame …«
»Sie können mich Maxine nennen.«
»Auch gut, hören Sie mir zu, Maxine …«
»Und ich, kann ich Sie Alex nennen?«
»Von mir aus …«
»Vielleicht darf ich Sie ja auch duzen, schließlich könnte ich Ihre Schwester sein.«
»Äh …«
»Oder Ihre Mutter?«
»…«
»Schon gut, Ihre Großmutter.«
»Wie Sie wollen. Aber hören Sie mir jetzt bitte endlich zu, Maxine. Ich möchte ein für alle Mal etwas klarstellen: Ich bin kein Junkie.«
Sie sah ihn gerührt an. Natürlich, er leugnete seine Sucht.
»Alex, der erste Schritt besteht darin, dass man zugibt, ein Problem zu haben.«
»Oh, was das betrifft: Ich habe eine ganze Reihe von Problemen.«
»So ist es gut. Man muss darüber sprechen. Es erfordert viel Mut, um Hilfe zu bitten.«
»Aber genau das habe ich getan.«
»Das ist sehr gut, ich gratuliere dir dazu. Fährst du nach Brüssel, um dich behandeln zu lassen? Gibt es dort gute Entzugskliniken?«
»Noch einmal, ich bin kein Junkie!«
Maxine warf Alex einen vorwurfsvollen Blick zu und zeigte mit dem Finger auf ihn.
»Was haben wir gerade gesagt, junger Mann? Man darf seine Probleme nicht leugnen. Im Übrigen – findest du es nicht gefährlich, in deinem Zustand Auto zu fahren? Aber klar, ihr Rauschgiftsüchtigen wisst nicht mehr, was ihr tut, wenn ihr auf Entzug seid. Fahr rechts ran, ich werde fahren. Es ist zwar ungefähr dreißig Jahre her, dass ich zuletzt am Steuer gesessen habe, aber ich nehme an, es ist wie mit dem Fahrradfahren – man verlernt es nicht. Das Bremspedal war doch in der Mitte, stimmt’s?«
Sie machte Anstalten, nach dem Lenkrad zu greifen.
»Hören Sie sofort auf damit, sonst bauen wir noch einen Unfall!«
»Unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln zu fahren ist auch nicht gerade sicher. Aber wenn du darauf bestehst …«
Für einen kurzen Augenblick kehrte Stille ein. Alex holte tief Luft und atmete kräftig aus, um sich zu beruhigen. Wenn er das Mütterchen davon abbringen wollte, ihm mit dieser Drogen-Geschichte auf die Nerven zu gehen, musste er ihr wohl die Wahrheit sagen.
»Ich bin kein Junkie. Ich bin depressiv.«
»Depressiv? Aha, das erklärt alles. Die angespannten Gesichtszüge, die wächserne Hautfarbe, die dunklen Augenringe und dass du nur noch Haut und Knochen bist …«
Diese schonungslose Beschreibung seiner Person veranlasste Alex, sich im Rückspiegel zu mustern. Er sah nicht gut aus, keine Frage, aber seine Hautfarbe gleich als wächsern zu bezeichnen …
»Und die Haare …«
»Wie bitte? Was ist denn mit meinen Haaren?«
»Nun, wie soll ich es sagen? Man sieht gleich, dass sie nicht recht in Form gebracht sind. Und dann auch noch diese Fransen im Gesicht … Nicht einmal Justin Bieber trägt noch eine solche Frisur, das ist dir schon klar, oder?«
Wieder warf Alex einen raschen Blick in den Spiegel. Was kümmerten ihn seine Haare, die waren seine geringste Sorge. Aber derzeit brachte ihn jede noch so harmlose Bemerkung auf die Palme.
»Meine Haare sind ganz wunderbar, wie sie sind! Und von einer alten Frau mit violetten Haaren muss ich mir wohl kaum eine Lektion in Sachen Mode erteilen lassen!«
»Kein Grund, sich so aufzuregen, mein Kleiner. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Alex versuchte vergeblich, sich auf die Straße zu konzentrieren. Am liebsten hätte er seinen Wutausbruch und seine Worte ungeschehen gemacht, aber dafür war es jetzt zu spät. Er war gemein zu einer armen, alten Frau gewesen.
»Es tut mir leid. Ich hätte so etwas nicht zu Ihnen sagen dürfen. Es … Es ist nur so, dass mir im Augenblick alles sehr nahegeht.«
»Ich verstehe.«
»Waren Sie auch schon einmal depressiv?«
Kaum hatte er seine Frage gestellt, da wurde Alex bewusst, dass sie nicht sehr zartfühlend, wenn nicht gar unangebracht war. Vor allem die in seinem Tonfall unverkennbar mitschwingende Hoffnung war daneben. Normale Menschen hofften schließlich nicht, dass andere depressiv waren.
»Nein, aber ich habe Reportagen zum Thema Depression gesehen.«
»Das ist etwas ganz anderes. Ich habe eine Reportage über den Kilimandscharo gesehen, aber das ersetzt ja nicht die Reise dorthin.«
»Natürlich nicht. Ich versuche nur gerade, dir zu erklären, dass auch wenn bei mir nie eine Depression diagnostiziert wurde, das keineswegs heißt, dass ich niemals schwierige Phasen durchlebt habe. Oder glaubst du etwa, dass das Leben immer nur rosig war, wenn man so alt wird wie ich? Da bist du aber ganz schön auf dem Heuweg!«
Der Punkt ging an die alte Dame. Allerdings war sich Alex nicht sicher, ob die von ihr verwendete Redewendung so tatsächlich korrekt war.
Maxine sah, dass sie an einen wunden Punkt gerührt hatte. Gern hätte sie mehr erfahren, aber bei diesem jungen Mann bewegte sie sich auf schwierigem Terrain, das spürte sie. Taktvolles Vorgehen war gefragt, und Taktgefühl war noch nie ihre Stärke gewesen.
»Möchtest du die Gründe für deine schlechte Verfassung zufälligerweise mit mir teilen? Vielleicht würde es dir ja guttun, darüber zu sprechen. Natürlich verstehe ich auch vollkommen, wenn du mir nichts weiter davon erzählen willst. Ich bin schließlich nur eine alte Dame, die vorübergehend in deinem Auto sitzt, eine Unbekannte, die zufällig den gleichen Weg hat wie du …«
Reden? Wozu? Alex hatte bereits mit einem Psychiater geredet, oder besser, er hatte versucht, mit einem Psychiater zu reden. Der Therapeut hatte ihn jedoch lediglich gleichgültig angesehen und seine bedeutungsschweren Fragen wie »Und was haben Sie in diesem Augenblick empfunden?« mit einem ebenso bedeutungsschweren Kopfnicken untermalt, ohne sich für die Antwort zu interessieren.
Und doch fühlte er sich in genau dieser Minute bereit, mit dieser Frau zu sprechen. Vielleicht einfach, weil sie alt war und er weniger Gefahr lief, kritisiert zu werden. Vielleicht aber auch, weil sie eine Fremde war, die er nie wiedersehen würde. Er musste es jetzt auf der Stelle tun, sonst würde er es nie tun. Und so brach alles in einem einzigen, nahezu ununterbrochenen Wortschwall aus ihm heraus:
»Ich weiß, warum ich mich so schlecht fühle, aber ich schäme mich so. Es ist dermaßen dumm und banal, dass ich mich deswegen nur noch elender fühle. Unzählige Menschen haben das Gleiche durchlebt und machen kein solches Drama daraus wie ich. Es ist total albern, und deshalb bin ich einfach lächerlich.«
Maxine wagte nicht, ihn zu unterbrechen. Er fuhr fort:
»Ich bin depressiv, weil das Mädchen, in das ich verliebt bin, mich nicht einmal angesehen hat. Genauer gesagt, sie hat mich angesehen, aber sie hat mich nicht wirklich wahrgenommen. Seither fühlt es sich an, als würde ein Dorn in meinem Herzen stecken. Ist Aurore nicht ein wunderbarer Vorname? Es fällt mir sogar jetzt noch schwer, ihn auszusprechen. Er passt so gut zu ihr, denn sie ist lieblich und heiter, sie verströmt den goldenen Glanz der ersten Sonnenstrahlen des Tages. Ein Hauch ihrer Strahlkraft hätte ausgereicht, um mein Leben licht werden zu lassen. Aber daraus ist nichts geworden. Und so wurde es immer dunkler in mir.«
Er hielt inne in seiner Erzählung, biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob er fortfahren sollte. Doch dann nahm er, beinahe wie von selbst, den Faden wieder auf:
»Ich habe sie häufig in der Unibibliothek gesehen, habe beobachtet, wie ihr Haar auf ihren zarten Schultern ruhte, wie sie auf ihrem Bleistift herumkaute, wenn sie nachdachte. Und ihr Lachen. Ach, ihr Lachen! So klar wie ein Wasserfall, in den ich mich am liebsten hineingestürzt hätte.«
»Und dann? Was ist dann passiert?«
»Ich hatte alles genau geplant, jedes noch so kleine Detail unserer alles entscheidenden Begegnung einkalkuliert. Ich hatte ihren Stundenplan ausspioniert, ihre Reaktionen vorausberechnet …«
»Das klingt aber eher nach einem Stalker als nach einem schmachtenden Verehrer.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, schlug sie die Hand vor den Mund, als könne sie ihre Bemerkung auf diese Weise ungeschehen machen. Jetzt bestand die Gefahr, dass der Junge sich wieder verschloss wie eine Auster.
»Das war mir egal. Meine Absichten waren ja edel! Wir sind wie füreinander geschaffen. Das wusste ich. Das weiß ich. Wir haben die gleichen Vorlieben – ich habe das auf Facebook überprüft.«
Jetzt traute Maxine sich nicht, ihm zu gestehen, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
»Alles war genau bedacht. Wir sind uns wie geplant über den Weg gelaufen. Wir haben wie geplant miteinander gesprochen. Ich habe mich nach Kräften bemüht, mich von meiner besten Seite zu zeigen. Oder zumindest schien es mir so. Und dann ist nichts von alldem so eingetreten, wie ich es geplant hatte. Sie hat mit mir geredet wie mit jedem anderen auch. Mein großer Auftritt war für sie nichts weiter als eine belanglose flüchtige Begegnung. Während für mich qualvolle, zermürbende Wochen folgten, war für sie alles gleich vergessen. Es war, als hätte sie meine Existenz geleugnet. Ich habe ausschließlich auf diesen Augenblick hingelebt, in der Überzeugung, dass mein Leben eine Wendung nehmen würde, aber ich habe alles vermasselt. Ich bin eine Null, ein Nichts.«
»Geh nicht zu hart mit dir ins Gericht. Eine gescheiterte Liebe steckt man nie leicht weg. Du hast das Recht, aufgebracht zu sein.«
»Ich habe nicht einmal die Kraft, aufgebracht zu sein, schon gar nicht gegen sie.«
»Jetzt werde ich dir einmal erklären, wie ich die ganze Sache sehe. Du machst auf mich den Eindruck eines reizenden jungen Mannes. Würdest du dich gesund ernähren, öfter duschen und dir einen vernünftigen Haarschnitt zulegen, gäbst du einen recht gut aussehenden Burschen ab.«
Sie zwinkerte kurz zu ihm hinüber, bevor sie fortfuhr:
»Du hast dir große Mühe gegeben, dieses Mädchen kennenzulernen, auch wenn ich zugebe, dass mir die Tatsache, dass du ihren Stundenplan auswendig gelernt hast, schon ein wenig Angst einjagt. Fassen wir also zusammen: Du hast alles getan, um ihr nahezukommen. Es gibt nicht viele Menschen, die bereit wären, sich auf diese Weise einer Situation auszusetzen. Wie oft gehen Menschen an der Liebe ihres Lebens vorüber, weil sie sich zu sehr davor fürchten, zurückgewiesen zu werden? Du hingegen hast es gewagt, dieses Risiko einzugehen. Darauf solltest du stolz sein. Und wenn sie nichts von dir wissen wollte, dann ist sie diejenige, die etwas verpasst hat.«
»Ach was! Nichts als Lügen!« Alex schlug zornig mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Nichts als leere Worte, vollkommen hohl, nur um einem vorzugaukeln, dass morgen alles wieder gut ist. Bei mir war am nächsten Morgen rein gar nichts wieder gut und auch nicht am übernächsten Morgen. Ich bin in eine Depression gefallen, wie man von einem Felsen in die Tiefe stürzt. Ein schwarzer Gedanke folgt bei mir auf den anderen. Eine schlaflose Nacht jagt die nächste. Und tagsüber beherrscht mich eine Antriebslosigkeit, die ich nicht abschütteln kann. Das alles habe ich nun davon, dass ich gewagt habe, ein Risiko einzugehen.«
Maxine schämte sich ein wenig, dass sie so klischeehafte Aussagen bemüht hatte. Andererseits dachte sie wirklich so. Doch wie sollte sie ihm das begreiflich machen?
Sie suchte noch nach den richtigen Worten, als Alex plötzlich auffuhr:
»Und wissen Sie, was mich am meisten aufregt? Am meisten regt mich auf, dass ich mich selbst kaum wiedererkenne. Ich bin eigentlich kein solches Wrack mit wächserner Hautfarbe.«
Mit einer raschen Handbewegung wischte er eine leise Träne beiseite, die sich in einen Augenwinkel geschlichen hatte. Einen Moment lang sah er auf seine von der salzigen Flüssigkeit benetzte Fingerspitze. Er schämte sich zu weinen. Er weinte nie. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Aber das war jetzt auch egal! Er hatte nichts mehr zu verlieren, schließlich hatte er Maxine seine Geschichte ja schon größtenteils erzählt. Da konnte er genauso gut alles offenbaren.
»Ich fühle mich schuldig, dass ich ›wegen eines Mädchens‹, wie man so schön sagt, so tief gefallen bin. Man hat mir keinen Arm abgetrennt, und doch verspüre ich unaufhörlich heftige Schmerzen. So wie die Phantomschmerzen in einem nicht mehr vorhandenen Körperteil, nur sind es bei mir Phantomschmerzen wegen einer nie gelebten Liebe.«
»Ich weiß, dass dein Schmerz absolut real ist, aber ob er deswegen gleich mit einer Amputation verglichen werden muss … Da sollte man doch Vernunft herrschen lassen.«
»Walten lassen.«
»Was meinst du denn damit?«
»Die Redewendung. Es heißt ›Vernunft walten lassen‹, nicht ›Vernunft herrschen lassen‹.«
»Na und? Das habe ich doch gesagt.«
»Nein, Sie haben ›herrschen lassen‹ gesagt. Das weiß ich ganz sicher, schließlich habe ich Ihnen zugehört.«
»Und ich weiß ganz sicher, was ich gesagt habe. Aber zurück zum Wesentlichen: zu deinem Kummer.«
Alex beschlich allmählich der Gedanke, dass diese alte Dame ein Problem mit Redewendungen und anderen adverbialen Ausdrücken haben könnte. Aber das konnte ihm schließlich egal sein.
»Auf meinem Herzen und meinem Brustkorb lastet ein tonnenschwerer Stein, der mir das Atmen schwer macht.«
»Dann atme doch tiefer ein und aus!«
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden. Wenn dieser Stein so festsitzt, dann musst du ihn eben lösen. Oder zumindest verschieben.«
»Das sagt sich so leicht.«
»Ich sage nicht, dass du diese Enttäuschung vergessen musst. Das geht nicht. Aber entscheidend ist, dass es dir gelingt, damit umzugehen. Du musst deinem Gehirn etwas vormachen.«
»Meinem Gehirn etwas vormachen? Wie denn? Ich weiß ja nicht, wie gut Ihre Anatomiekenntnisse sind, aber das Gehirn ist das Befehlszentrum unseres ganzen Körpers, das Hauptquartier gewissermaßen. Deshalb halte ich es für ausgeschlossen, es täuschen zu können.«
»Danke für diese Erläuterung zur Anatomie, Doktor Bibber. Ich weiß ungefähr, wo das Gehirn sitzt. Du kannst dir aber gerade die Tatsache zunutze machen, dass das Gehirn die treibende Kraft deines Körpers ist, wenn er gesunden will. Es muss dir lediglich gelingen, dich davon zu überzeugen, dass du es schaffen wirst.«
»Und ich nehme an, Sie kennen auch eine geeignete Methode, um Gehirnen etwas vorzumachen …«
»Vor allem ist Selbstbeherrschung vonnöten. Aber das Ganze ist der Sorge wert.«
»Der Mühe. Das Ganze ist der Mühe wert.«
»Willst du jetzt wirklich immer wiederholen, was ich gesagt habe? Unterbrich mich nicht, wenn ich gerade etwas Interessantes sage … und auch nicht, wenn ich etwas Uninteressantes sage, das ist unhöflich.«
Maxine sah Alex mit großen Augen an, und dieser hatte plötzlich den Eindruck, als hätte ihm seine Lehrerin aus der Grundschule eine Rüge erteilt. Es fehlte nicht mehr viel, und er würde in der Ecke stehen müssen.
Maxines Laune schien sich wieder aufzuhellen, nachdem sie ein leichtes Erschrecken in den Gesichtszügen ihres Fahrers bemerkt hatte. Nun, da sie sich seiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher war, konnte sie mit ihrer Lektion fortfahren:
»Du musst jede Form der Negation aus deinen Überlegungen streichen. Du darfst dir nicht sagen ›Ich fühle mich nicht gut‹, sondern ›Es wird sicher gleich besser gehen‹. Dein Gehirn muss auf das Positive ausgerichtet sein. Es schickt schließlich Glücks- oder Stresshormone in deinen ganzen Körper. Wenn du es mit negativem Stoff versorgst, versorgt es dich mit Stress.«
»Ach, so einfach ist das? Sagen Sie bloß, Sie haben ein Rezept fürs Glücklichsein in der Tasche. Bei einer so revolutionären Entdeckung müssten Sie ja Milliardärin sein«, fuhr Alex ihr sarkastisch ins Wort.
»Was ich dir rate, ist weitaus schwieriger, als du es mit deinem schlichten Gemüt zu glauben scheinst. Es ist eine echte Herausforderung, das eigene Denken zu kontrollieren. Aber du machst mich mürbe, ich habe den Eindruck, Perlen vor die Schafe zu werfen.«
Alex wagte keine erneute Richtigstellung. Er hatte keine Lust, sich schon wieder den strengen Blick seiner Lehrmeisterin einzufangen.
»Woher wissen Sie das alles?«
»Ich habe Depressionen für Dummies gelesen.«
»Ehrlich?«
»Natürlich nicht. Mein Ehemann war Psychiater.«
Maxine sah zum Fenster hinaus. Alex begriff, dass er zu diesem Thema keine weiteren Fragen stellen sollte. Die Verwendung der Vergangenheitsform ließ keinen Zweifel.
Es herrschte Schweigen im Auto, jeder dachte über das nach, was der andere gesagt hatte. Während er seinen Blick starr auf die Straße gerichtet hielt, tauchte sie in die draußen vorüberziehende ländliche Gegend ein.
Alex nutzte die Stille für eine Analyse all dessen, was geschehen war, seit eine alte Dame mit violettem Haar auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Im Grunde hatte er seinen Kummer noch nie zuvor mit irgendeinem Menschen geteilt. Er hatte zu große Scham empfunden, um mit seinen Freunden oder seinen Eltern darüber zu sprechen. Allerdings schien der große Stein auf seinem Herzen nicht mehr ganz so schwer zu sein, seit er darüber gesprochen hatte. Zweifellos nur ein kleines bisschen weniger schwer, aber immerhin.
»Wissen Sie, ich habe Ihnen in zehn Minuten mehr erzählt als meinem Psychiater in zehn Sitzungen.«
»Was lehrt uns das?«
»Dass Psychiater zu nichts nutze sind?«
»Nein. Psychiater sind schon nützlich, wenn man ihnen die richtigen Informationen liefert, was du, wie ich stark annehme, nicht getan hast …«
»Was dann?«
»Dass ich mich dafür bezahlen lassen sollte!«
Das Auto war nun recht zügig auf der Autobahn unterwegs. Die Landschaft flog vorüber, und die Namen der unterschiedlichen Raststätten, die aufeinander folgten, waren einer kurioser als der andere.
Maxine hatte es sich mittlerweile bequem gemacht. Sie hatte ihre Strickjacke aufgeknöpft und die anfangs streng übereinandergeschlagenen Beine locker von sich gestreckt. Sie ließ ihren Kopf an die Rücklehne sinken und entspannte sich allmählich. Dieser junge Mann gefiel ihr. Er war ein empfindsames Wesen, seine Nerven lagen blank, aber sie ahnte, dass sie – gelänge es ihr erst einmal, ihn zu besänftigen – unter dieser harten Schale einen wahren Schatz finden würde.
Ein rascher Blick hinüber offenbarte ihr, dass Alex sich ganz in seine eigene Welt zurückgezogen hatte. Dachte er gerade über all das nach, was er ihr anvertraut hatte? War sie zu weit gegangen? War sie zu schulmeisterlich gewesen? Die alten Verhaltensmuster aus ihrer Zeit als Lehrerin hatten die Oberhand gewonnen. Sie verstand sich darauf, ein Potenzial zu erkennen. Zudem hatte sie sich in den vielen Jahren ihrer Berufstätigkeit einen Blick für gute Schüler angeeignet: Es waren nicht zwangsläufig die guten Noten, die sie ausmachten, auch wenn gute Ergebnisse natürlich immer von Vorteil waren, sondern es hatte damit zu tun, ob jemand wirklich etwas lernen wollte und bereit war, dafür Mittel und Wege zu finden.
Was diesem jungen Mann fehlte, war Vertrauen. Zunächst einmal Selbstvertrauen, aber darüber hinaus auch Vertrauen zu anderen, Vertrauen in das Leben, Vertrauen in die Zukunft.
Und da sie selbst keine Zukunft mehr vor sich hatte, zumindest keine, die über Brüssel hinausreichte, würde sie nun die wenige Zeit, die ihr blieb, darauf verwenden, Alex zu helfen. Das Schicksal schlug manchmal doch wirklich lustige Kapriolen: Es schickte einem einen Menschen über den Weg, den es zu retten galt, während man selbst ein hoffnungsloser Fall war. Ein letzter Streich, bevor die Lichter endgültig ausgingen.
Sie würde es sich hier und jetzt zur Mission machen, ihm wieder Lebensfreude und Vertrauen in seine Zukunft zu vermitteln. In ihrem Kopf formte sich eine Idee.
»Oh! Ich weiß, was wir machen. Halte doch bitte am nächsten Rastplatz an.«
»Jetzt schon? Wir sind doch gerade erst losgefahren.«
Sie wollte ihm keinesfalls offenbaren, was sie mit diesem Halt bezweckte, da er sonst Angst bekommen hätte. Also gab sie vor:
»Du weißt doch, wir Alten haben eine empfindliche Blase.«
»Muss es denn unbedingt jetzt schon sein? Wenn das so weitergeht, kommen wir ja nie an.«
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Doch, sicher. Ich muss in meiner Tasche irgendwo eine leere Wasserflasche haben. Die könnte ich benutzen. Es wird schon nicht allzu viel danebengehen, wenn du schön langsam fährst.«
Sie schickte sich an, in ihrer Tasche zu kramen. Alex setzte eine angewiderte Miene auf.
»Warten Sie! Wenn ich es recht bedenke, bin ich etwas müde. Ein kleiner Kaffee wird mir guttun. Noch zehn Kilometer, dann kommt die nächste Raststätte. Da halten wir an.«
»Wie du meinst«, antwortete Maxine und gönnte sich das Vergnügen, einen möglichst gleichgültigen Tonfall anzuschlagen.
Alex spürte sehr wohl, dass er sich gerade hatte manipulieren lassen. Misstrauisch musterte er die alte Dame aus den Augenwinkeln, aber sie wirkte ganz unschuldig, die Hände ruhten sittsam auf ihrer Tasche. In diesem Mütterchen steckte wahrlich etwas von Doktor Jekyll und Mister Hyde. Einerseits sah sie aus wie eine freundliche und harmlose alte Dame, andererseits bekam sie offenbar alles was sie wollte, und brachte ihr Gegenüber mühelos dazu, das Gegenteil von dem zu tun, was er eigentlich vorgehabt hatte.
Er setzte den Blinker und ordnete sich auf der Abbiegespur ein.
»Da, ein freier Platz!«, schrie Maxine und gestikulierte wild.
»Habe ich auch schon gesehen. Ich bin ja nicht blind. Sie brauchen nicht so ein Spektakel zu veranstalten, da kriegt man ja einen Herzanfall.«
»Kein Problem, ich habe einen Erste-Hilfe-Schein.«
»Das beruhigt mich ungemein.«
Bevor sie ihm noch vorschlagen konnte auszusteigen, um ihm – ganz wie eine Polizistin im Faltenrock – beim Einparken behilflich zu sein, drückte Alex ein wenig aufs Gas, stieß in die Lücke und drehte den Motor aus.
Zu seinem großen Erstaunen machte Maxine keinerlei Anstalten auszusteigen. Sie sah ihn seltsam unverwandt an.
»Wollen Sie nicht reingehen?«, fragte er sie.
»Warum denn?«
»Um, äh … Wollten Sie sich nicht frisch machen?«
»Ich bin auch so frisch genug, danke.«
»Auf die Toilette gehen, meine ich.«
»Ach so! Warum sagst du das dann nicht klar und deutlich?«
»Ich wollte dezent sein.«
Maxine sah ihn gerührt an.
»Das ist ja süß von dir! Aber weißt du, bei mir ist es am besten, wenn man ganz direkt ist und immer mit der Wahrheit rausrückt. Ich bin für klare Ansagen. Im Allgemeinen verstehe ich Andeutungen nicht sonderlich gut. In dieser Hinsicht bin ich, glaube ich, etwas unterbelichtet.«
Alex kam sich lächerlich vor. Selbst bei einer alten Dame schaffte er es, ins Fettnäpfchen zu treten.
Sie blieb immer noch sitzen und hörte nicht auf, ihn zu mustern.
»Sie haben mir vorhin gesagt, dass Sie auf die Toilette gehen müssten.«
»Ach das! Da habe ich dich angelogen.«
»Na, bravo! So viel dazu, dass man immer direkt mit der Wahrheit rausrücken soll, wie Sie vor ungefähr dreißig Sekunden gefordert haben«, kommentierte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr.
»Lügen ist vielleicht auch ein zu großes Wort. Sagen wir lieber, ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.«
»Das läuft aufs Gleiche hinaus.«
»Wirst du vom Wörterbuch der Synonyme gesponsert, oder was? Lass es mich erklären. Ich habe die Lösung für dein Problem.«
»Sagen Sie bloß, Sie kennen ein Rezept für einen Liebestrank?«
Maxine verspürte einen Anflug von Besorgnis, als sie in Alex’ Augen einen leisen Hoffnungsschimmer aufkeimen sah.
»Leider nein, Jungchen«, sagte sie und strich ihm liebevoll über die Wange. »Ich verbessere mich: Ich habe einen Lösungsansatz, der vielleicht bewirkt, dass du dich besser fühlst.«
»Etwa wieder eine Geschichte, in der Hormone und das Gehirn eine Rolle spielen?«
»Nein, aber vielen Dank für die Begeisterung.«
Sein Blick verfinsterte sich.
»Ich schlage dir vor, dich auf eine kleine Übung einzulassen. Eine Übung, bei der es um Vertrauen geht.«
Sie strahlte ihn über beide Ohren an. Alex hätte nicht zu sagen vermocht, ob dieses Strahlen Ausdruck von Vorfreude oder von Selbstzufriedenheit war. Als sie dann auch noch begann, frenetisch in die Hände zu klatschen, musste er unverzüglich an einen Seelöwen denken, der mit seinen Flossen applaudierte. Offenbar war sie sehr stolz auf ihren Einfall.
Er brachte es nicht übers Herz, Nein zu sagen. Außerdem hatte er das dumpfe Gefühl, dass eine Weigerung seinerseits zu einem Streitgespräch führen würde, das weitaus mehr Zeit in Anspruch nehmen würde als die angekündigte kleine Übung.
»Hmm … Ich ahne zwar, dass ich meine Frage bedauern werde, aber: Worin besteht denn Ihre ›Übung, bei der es um Vertrauen geht‹?«
Er untermalte seine Frage mit einer Geste, die Anführungszeichen nachahmte.
»Du wirst fallen.«
»Ihr genialer Lösungsansatz besteht also darin, dass ich mir den Schädel aufschlage?«
Sie hob den Blick zum Himmel.
»Du stellst dich mit dem Rücken zu mir, und dann lässt du dich nach hinten fallen, bis ich dich auffange. Das wird dich lehren, Vertrauen in andere Menschen zu haben. Vertrauen ist der Ausgangspunkt, die Grundlage, auf der du all deine sozialen Beziehungen aufbauen wirst – seien es freundschaftliche, berufliche oder Liebesbeziehungen. Eine Beziehung ohne Vertrauen ist wie ein Baguette ohne Salz – sie ist fade.«
Alex war mehr als skeptisch. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie ihm diese Übung helfen sollte. Er wollte einfach nur wieder losfahren, um so schnell wie möglich am festgelegten Ziel anzukommen. Zwar hegte er keinerlei Zweifel an den guten Absichten dieser alten Frau, aber sie war vor allem eines, nämlich anstrengend. Außerdem zweifelte er allmählich an ihrer geistigen Verfassung. Ein dringendes Bedürfnis vorzugeben, um ihn zu dieser dummen Übung zu verdonnern – ernsthaft? Sie musste vollkommen übergeschnappt sein.
Und er musste wohl genauso übergeschnappt sein, denn schließlich hatte er sich darauf eingelassen. Schicksalsergeben suchte er nach einem möglichst abgelegenen Plätzchen, das einigermaßen geschützt war vor den Blicken der koffeinlechzenden Autofahrer. Am äußersten Ende des Rastplatzes fand sich eine kleine Rasenfläche. Maxine stellte sich breitbeinig auf und ging dann leicht in die Knie, um sich in eine gute Stellung zu bringen. Sie sah beinahe wie eine Judoka aus, die sich in der nächsten Sekunde auf ihren Gegner stürzen wird – oder doch eher wie ein Hund, der unter Verstopfung leidet? In jedem Fall legte sie eine solche Ernsthaftigkeit an den Tag, dass Alex sich unter anderen Bedingungen das Lachen nicht hätte verkneifen können.
»Alles klar, ich bin bereit. Du kannst dich jetzt mir gegenüber hinstellen, und zwar mit dem Rücken zu mir.«
Mit großem Widerwillen und schlurfendem Schritt nahm Alex seine Position ein und kehrte Maxine den Rücken zu.
»Und jetzt soll ich mich also nach hinten werfen?«
»Nicht nach hinten werfen, schließlich bist du nicht der Orca Willy, der mit einem riesigen Satz über ein ganzes Felsmassiv springt. Lass dich einfach nur fallen.«
»Sie fangen mich aber auf, versprochen?«
»Versprochen.«
Alex schloss die Augen und presste die Kiefer aufeinander. Er trat von einem Fuß auf den anderen, als wolle er das Terrain noch einmal gründlich sondieren, dann gab er sich einen Ruck und ließ sich nach hinten sinken.
Er fiel.
Auf den Boden.
Klatschte mit einem dumpfen Geräusch auf die Erde.
»Autsch! Sie haben mich kein bisschen aufgefangen!«, schimpfte er und sah Maxine aufgebracht an.
»Es tut mir leid. Du warst zu schnell. Mir blieb keine Zeit, dich festzuhalten. Du hast so herumgezappelt, dass ich mich nicht konzentrieren konnte.«
»Da sehen Sie, wie recht ich hatte! Man kann einfach niemandem vertrauen!«
»Nein, damit liegst du vollkommen falsch. Das Einzige, was man daraus lernen kann, ist, dass ein alter Mensch nicht die gleichen Reflexe hat wie ein junger. Die Moral von der Geschichte lautet also höchstens: Bevor du dich auf so etwas einlässt, solltest du überprüfen, wie weit die Arthrose deines Gegenübers bereits fortgeschritten ist.«
Nach der gescheiterten Vertrauensübung stand es mit der Stimmung im Auto nicht zum Besten. Sie hatten ihre Fahrt wieder aufgenommen, schwiegen aber beide vor sich hin.
Maxine haderte mit sich, weil ihr großartiger Lösungsvorschlag sich als Desaster erwiesen hatte. Sie hatte ihre Kräfte überschätzt – sie hätte es niemals geschafft, ihn rechtzeitig aufzufangen. Ihre Moral und ihr Stolz hatten ganz schön eins aufs Dach bekommen.
Normalerweise stellte sie sich geschickter an im Umgang mit ihren Mitmenschen. Das war immer so gewesen in ihrem Leben. In der Regel gelang es ihr, sich schnell und präzise eine Meinung über die Menschen in ihrer Umgebung zu bilden. Diese Fähigkeit hatte sich auch ihren Schülern gegenüber als äußerst nützlich erwiesen. Dieser Alex jedoch blieb ihr ein Rätsel. Er hatte sich auf die Übung eingelassen, obwohl er sicher gewesen war, dass das Ganze ein schlechtes Ende nehmen würde – beinahe so, als hätte er sich gewünscht, dass es schlecht ausging. Seine Depression war schwerer, als sie gedacht hatte. Sie würde ihre Bemühungen fortsetzen und sich etwas Besseres einfallen lassen müssen.
Er hatte ihr Vertrauen entgegengebracht, als er ihr seine Geschichte erzählt und sich auf ihr Spiel eingelassen hatte. Und sie würde es ihm gleichtun müssen.
Noch immer empört von der Tatsache, dass er sich auf diese lächerliche Farce eingelassen hatte, hüllte Alex sich in Schweigen. Wieder einmal war er am Ende der Dumme gewesen. Es war doch wirklich verrückt, in welchem Maß das Schicksal sich gegen ihn verschworen hatte. Selbst bei einer einfachen Autofahrt musste es so kommen, dass er die verrückteste aller alten Damen auflas. Er war schon so weit, dem Kettenraucher mit seiner Ratte nachzutrauern.
Um solche Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, beschloss er, das Radio einzuschalten. Als er auf den Knopf drückte, schlug ihm zunächst ein sehr schriller Ton entgegen, gefolgt von so tiefen Bässen, dass sein Herz erbebte. Er befürchtete, dass eine derartige Beschallung bei Maxine am Ende einen Herzanfall auslösen könnte. Bei seinem Glück würde man ihm am Ende noch einen Mord anhängen. Mord durch Autoradio, mal etwas ganz Neues.
»Entschuldigung. Ich wollte nur ein bisschen Musik laufen lassen. Ich schalte es wieder aus.«
»Nein«, erwiderte Maxine und legte ihre Hand sacht auf seinen Arm. »Lass nur.«
»Dann suche ich etwas Ruhigeres. Ich nehme an, Sie bevorzugen den Klassiksender …«
»Nun, da liegst du vollkommen falsch. Was sind denn das für Vorurteile? Glaubst du etwa, nur weil ich alt bin, schlage ich meine Zeit abwechselnd mit dem Klassiksender und der Seifenoper Schatten der Leidenschaft tot?«
»Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen«, erwiderte Alex verlegen. »Sie mögen also Radio Klassik nicht?«
»Doch, natürlich, ich liebe Radio Klassik!«
»Aber Sie haben doch gerade das Gegenteil behauptet.«
»Keineswegs. Ich sagte lediglich, dass es klischeehaft, ja geradezu diskriminierend ist, allein aufgrund meines Alters davon auszugehen, dass ich diesen Sender mag.«
»Ach, wirklich? Und was ist mit Schatten der Leidenschaft?«
»…«
Alex war stolz darauf, endlich einen Punkt erzielt zu haben in ihrem rhetorischen Lanzenstechen. Voller Schadenfreude registrierte er, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte.
»Dazu möchte ich lieber nichts sagen, das ist mein kleines Geheimnis.«
Er hob eine Augenbraue und setzte einen zweifelnden Gesichtsausdruck auf, aber dann sagte er sich, dass ein Sieg schon genug sei. Außerdem war es schließlich kein Verbrechen, für Schatten der Leidenschaft zu schwärmen.
»Welche Musikrichtung möchten Sie denn hören? Schwebt Ihnen ein bestimmter Sender vor?«
»Stell einfach Fun Radio ein, da spielen sie immer die aktuellen Charts. Ich mag es gern rhythmisch. Vielleicht könnten wir auch die Lautstärke noch ein bisschen weiter aufdrehen.«
Ein gewinnendes Lächeln erhellte ihre Züge, während sie bereits mit dem Kopf wippte.
»Kommt nicht infrage!«, erwiderte Alex aufgebracht. »Ich hasse diese Art Musik.«
»Aber warum denn? Das ist allerdings komisch.«
»Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, gehöre ich eher nicht zu den komischen Typen.«
»Ja, ja, depressiv mit allem Pipapo. Ich hab’s kapiert. Dabei täte es dir ganz gut, wenn du dich mal ein bisschen lockermachen würdest.«
Sie vollführte ein paar kleine Armschwünge im Stil eines John Travolta in Saturday Night Fever. Alex beobachtete sie einen Augenblick, dann gewann die Ernsthaftigkeit wieder Oberhand. Sein Blick verschleierte sich, als er traurig gestand:
»Sie kennen doch sicher diese Leute, über die man sich auf einem Konzert lustig macht. Ich meine diejenigen, die mitsingen, tanzen oder wie verrückt Beifall klatschen. Manchmal wäre ich gern für ein paar Minuten an ihrer Stelle, würde gern den gegenwärtigen Augenblick so genießen wie sie. Aber ich bin immer nur damit beschäftigt, die anderen mit skeptischem Blick dabei zu beobachten, wie sie in vollen Zügen ihren Spaß haben. Ich beneide sie, denn ich bin dazu nicht in der Lage.«
»Du hast eben kein besonderes Talent, glücklich zu sein.«
»Vielen Dank, das habe ich auch schon gemerkt.«
»Ich meine damit, dass du von Natur aus nicht besonders talentiert bist im Glücklichsein. Manche Menschen kommen mit dieser Gabe auf die Welt, und andere, weniger begünstigte, müssen sich die Fähigkeit, in Verzückung zu geraten oder sich auszuleben, erst aneignen. Aber jetzt die gute Neuigkeit: Das ist möglich, auch du kannst das lernen. Vielleicht nicht jetzt im Moment, denn du steckst gerade zu sehr in deiner Depression fest, um schöne Dinge um dich herum wahrzunehmen, aber später schon, wenn etwas Zeit vergangen ist und du wieder etwas klarer siehst.«
»Wo haben Sie das denn wieder her? Stammt es etwa auch aus Depressionen für Dummies?«