Reisender Stillstand - Bernd Stiegler - E-Book

Reisender Stillstand E-Book

Bernd Stiegler

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Beschreibung

Dies kein Buch für Stubenhocker, Agoraphobe oder Reisemuffel. Und dennoch geht es um eine besondere Art von Stubenhockern: um Zimmerreisende. Das sind Menschen, die einen oder mehrere Tage lang ihr Zimmer regelrecht bereisen, sowie ihre Verwandten, die es immerhin bis hinaus auf die Straße bringen. Unendliche Weiten der Nähe tun sich auf, die mit einem Blick erforscht werden, als hätte man die vertrauten Räume nie zuvor gesehen. Das Buch ist ein reich illustrierter historischer Reiseführer durch einen Topos der Literatur mit Gefährten wie de Maistre, Kierkegaard, Baudelaire, Robbe-Grillet, Handke, Borges, Cortázar und gibt Einblick in die über zweihundertjährige Geschichte einer Fortbewegungsart, die, ohne vom Fleck zu kommen, vieles in Bewegung setzt. »stilistisch souverän und mit umfassender Bildung« Ronald Düker, Die Zeit »Eine geistreiche, höchst anregende Lektüre, die ganze Regale von Reiseführern ersetzt.« Marion Lühe, Die Welt »eine wunderbare Kulturgeschichte, eine kurzweilige Räume erschließende Erkundungsfahrt durch einen Topos der Literatur« Ulrich Rüdenauer, Der Tagesspiegel »ein gescheites und kurzweiliges Sachbuch« Karl-Markus Gauß, Die Presse

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Seitenzahl: 273

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Prof. Dr. Bernd Stiegler

Reisender Stillstand

Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum

FISCHER E-Books

Inhalt

Meine Reise auf meinem ZimmerKleiner ReiseführerErste Etappe Die Reise um das ZimmerZweite Etappe PilgerreisenDritte Etappe FrauenzimmerPostskriptumVierte Etappe Expeditionen in die NäheFünfte Etappe Gerahmte BlickeSechste Etappe Das Leben der PflanzenSiebte Etappe Das Leben der DingeAchte Etappe Die Reise in den BilderbergNeunte Etappe Dunkle KammernZehnte Etappe InterieurElfte Etappe Der FlaneurExkurs und Zwischenhalt Reise um die Erde in 80 TagenExkursZwischenhaltZwölfte Etappe PeregrinationenDreizehnte Etappe Reisen mit dem ZimmerVierzehnte Etappe Ein filmischer BaedekerFünfzehnte Etappe Die Reise nach La DéfenseSechzehnte Etappe Reisen im Text der WeltSiebzehnte Etappe Die Reise im IchAchtzehnte Etappe Durchqueren – DurchkreuzenNeunzehnte Etappe Filmische ErkundungenZwanzigste Etappe Nahe FerneEinundzwanzigste Etappe Die letzte ReiseDankAbbildungsverzeichnisNamenregister

Meine Reise auf meinem Zimmer

(Fliegendes Blatt)

Der Schneider Franz, der reisen soll,

Weint laut und jammert sehr:

»O! Mutter lebet ewig wohl,

Euch seh ich nimmermehr!«

Die Mutter weint entsetzlich:

»Das laß ich nicht geschehn,

Du darfst mir nicht so plötzlich

Aus deiner Heimath gehn.«

O! Mutter, nein, ich muß von hier,

Ist das nicht jämmerlich!

»Mein Kind, ich weiß dir Rath dafür,

Verbergen will ich dich.

In meinem Taubenschlage,

Verberg ich dich mein Kind,

Bis deine Wandertage

Gesund vorüber sind.«

Mein guter Schneider merkt sich dies,

Und thut als ging er fort,

Nahm kläglich Abschied und verließ

Sich auf der Mutter Wort,

Doch Abends nach der Glocke,

Stellt er sich wieder ein,

Und ritt auf einem Bocke

Zum Taubenschlag hinein.

Da ging er, welch ein Wanderschaft,

Im Schlage auf und ab,

Und wartete bis ihm zur Kraft

Die Mutter Nudeln gab,

Beim Tag war er auf Reisen,

Und auch in mancher Nacht,

Da hat er mit den Mäusen

Und Ratten eine Schlacht.

Einst hatte seine Schwester Streit,

Nicht weit von seinem Haus,

Er hört wie die Bekämpfte schreit,

Und gukt zum Schlag hinaus,

Mein Schneiderlein ergrimmte,

Macht eine Faust und droht:

»Wär ich nicht in der Fremde,

Ich schlüge dich zu todt.«

 

Aus: Achim von Arnim, Des Knaben Wunderhorn, 2. Band

Kleiner Reiseführer

»Dabei kommt es gar nicht darauf an, daß man wirklich weit weg in unbekannte Fremde fährt. Dieser Zustand des Reisens ist ein innerer Zustand. Man verhält sich anders zur Außenwelt. […] Vielleicht müßte man gar nicht aus dem Zimmer gehen?«

Balázs, 94

 

Auch wenn es vielleicht den Anschein haben könnte, so ist dies kein Buch für Stubenhocker, Agoraphobe oder Reisemuffel, die allerdings, das sei unumwunden eingestanden, nicht selten Gegenstand der im folgenden behandelten Texte sind. Doch dieses Buch versteht sich nicht als Anleitung zum Zimmerreisen, sondern vielmehr zuallererst als eine Geschichte dieser besonderen Art der Reise: Zimmerreisen. Reisender Stillstand. Reisen in die nahe Ferne und die ferne Nähe. Reisen ohne zu reisen. Reisen ohne sich vom Fleck zu bewegen und dabei doch vieles in Bewegung zu setzen. Regelrechte Erkundungsreisen der Alltagswelt, die dabei eigentümlich fremd wird. Darum geht es in diesem Buch.

So wie Zimmerreisen eine Art Experiment darstellen, das den Reisenden von der gewohnten Umgebung abrücken, ohne daß er diese zu verlassen hätte, so ist auch dieses Buch ein Experiment: Wenn wir, so wäre die leitende Frage zu präzisieren, eine Vielzahl von Zimmerreisen aus einem Zeitraum von über mehr als zwei Jahrhunderten sammeln, können wir dann diese auch als Erkundung von Erfahrungsräumen lesen? Um welche Art von Erfahrung geht es dann in diesen sehr unterschied-lichen Reisen? Und schließlich: Ergibt die Geschichte der Zimmerreise auch eine Geschichte dieser veränderten Erfahrungsräume?

D’Houay, Voyage dans ma maison. Frontispiz

Das Verfahren der Zimmerreise läßt sich vielleicht auf eine Formel bringen, die ich Viktor Šklovskij verdanke: Entfamilia-risierung, ostranenie, eine »Verfremdung der Dinge«. »Das Ziel […] ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Emp-finden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist« (Šklov-skij, 13), so bestimmt er die Aufgabe der Kunst. Und darum geht es der Zimmerreise: Vermeintlich bekannte Räume verfremden, sie mit dem dergestalt eingesetzten Blick eines Ethnologen in Augenschein nehmen und sie so zu erkunden, als handele es sich um einen Raum, den man zum ersten Mal betritt oder zumindest mit neuen Augen sieht.

Doch was ist überhaupt eine Zimmerreise? Friedrich Nicolai stellte sich bereits 1781 eine Frage, die die globalisierte Tourismusindustrie zu antizipieren scheint: Wie ist unter der Voraussetzung des Reisens ein Zuhausebleiben möglich? Nur kurze Zeit später wurde die Frage umgekehrt: Wie ist unter der Voraussetzung des Zuhausebleibens ein Reisen möglich? Xavier de Maistres Voyage autour de ma chambre aus dem Jahr 1794 war eine Antwort auf diese Frage und begründete zugleich ein eigenes Genre der Reiseliteratur. De Maistre nutzte einen 42tägigen Hausarrest, um ein angeblich längst geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen – … und bereiste sein Zimmer. Ergebnis war ein kleines, ironisches, witziges, tiefsinniges und ungemein anregendes Buch, das bis heute kaum an Frische verloren hat: ein besonderer Reisebericht, dem es um die ferne Nähe und die nahe Ferne geht und um Ereignisse in einem Raum, in dem es eigentlich keine Ereignisse gibt. Die Zimmerreise ist eine Art Ent-fernung, die abrückt von einem Raum der Gewohnheit und diesen neu erkundet und zugleich beschreibt.

Zimmerreisen sind – und hiermit sei die wichtigste Spiel-regel der folgenden Etappen benannt – keine imaginären Reisen. Sie entwerfen keine Utopien, die eben keinen Ort nirgends zum Gegenstand haben, sondern konzentrieren sich auf den vermeintlich bekannten Raum hier und jetzt. Sie beschreiben keine Traumwelten, sondern den banalen Raum des Alltags. Sie erkunden nicht die exotische Ferne, sondern bleiben in der unmittelbaren Umgebung: im Zimmer, in der eigenen Straße oder Stadt. Doch diese Räume können sich, wenn denn der Betrachter (zimmer)reisend unterwegs ist, verwandeln und zu regelrechten Erfahrungsräumen werden, die bis dahin verborgen oder vom Mehltau des grauen Alltags überzogen waren. Die Zimmerreise ist ein »Sesam öffne dich« des Alltags, der sich mit einem Mal anders auf- und erschließt.

Xavier de Maistres Reise sollte keineswegs die einzige ihrer Art bleiben: Bis heute wurden zahlreiche Texte dieses bisher kaum beachteten Bereichs der Literatur veröffentlicht. Die meisten von ihnen gehören auch nicht zu jener Literatur, die gemeinhin als kanonisch angesehen wird. Viele Autoren sind der Vergessenheit anheimgefallen, und viele Texte finden sich nur noch in verstaubten oder bis heute unaufgeschnittenen Exemplaren in großen Bibliotheken. Doch das schmälert keineswegs ihren Wert. Im folgenden geht es weniger um die literarische Bedeutung oder den ästhetischen Rang einiger nicht selten entlegen publizierter Texte, sondern vielmehr darum, sie als Experimente, als Erkundung und Beschreibung von Erfahrungsräumen zu lesen.

Der Raum des bereisten Zimmers wird sich im Laufe der folgenden Kapitel, die grosso modo einer chronologischen Ordnung folgen, sehr verändern und mit ihnen das Verhältnis des Menschen zur Nähe und zur Ferne, zu den Dingen, die ihn umgeben und nicht zuletzt auch zu sich selbst. Dies lesbar zu machen, ist das Verdienst dieser eigentümlichen Reiseberichte. Ihre Lektüre erfolgt in 21 Etappen, also genau der Hälfte jener von de Maistres Reise, und einem kurzen Exkurs, der einer Reise gewidmet ist, die fraglos in die Ferne geht, für viele Zimmerreisende aber einen wichtigen Bezugspunkt darstellte: Jules Vernes Reise um die Erde in achtzig Tagen. Jede Etappe kann dabei durchaus unabhängig von den anderen absolviert werden. An ihrem Ende finden sich Hinweise auf mögliche Reiselektüren, die auch für weitere Erkundungen hilfreich sein mögen. »So denke ich«, schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts der zimmerreisende Friedrich David Jaquet, »kann mir die Reise auf meinem Zimmer auch keine Langeweile verschaffen, und sie zu machen, ist mir wohl eben so gut verstattet, als Swiften eine in den Mond. Also das andere Extrem war da, und die Reise begann.« (Jaquet, 9) So möge es auch den Lesern dieses Buches ergehen. Doch: »Es ist Zeit! Lichten wir den Anker!« (Baudelaire, Die Reise)

Reiselektüre

Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, 12 Bde., Berlin / Stettin 1783 – 1796

Friedrich David Jaquet, Reise in meinem Zimmer in den Jahren 1812 und 1813, Riga 1813

Charles Baudelaire, Le voyage, in: Les fleurs du mal, Paris 2007 [Reprint der EA von 1861], S. 177 – 182; dt. Die Reise, in: Die Blumen des Bösen, Berlin 1930, S. 186 – 195

Béla Balázs, Reisen, in: Ein Baedeker der Seele und andere Feuilletons, Berlin 2002, S. 93 – 95 [Erstdruck in: Der Phantasie-Reiseführer / Das ist ein Baedeker der Seele / Für Sommerfrischler, Berlin / Wien / Leipzig 1925]

Viktor Šklovskij, Kunst als Kunstgriff [1916], in: ders., Theorie der Prosa, Frankfurt / Main 1984, S. 7 – 24 [russ. EA Moskau 1925]

Hans Joachim Piechotta, Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Beschreibung: Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, in: Ralph-Rainer Wuthenow (Hg.), Reise und Utopie, Frankfurt / Main 1976, S. 98 – 150

Erste EtappeDie Reise um das Zimmer

»Nirgendwo anders als bei sich selbst nach dem Geheimnis des Glücks suchen«

Abbé Gresset, Vert-Vert (1733), Motto der ersten Ausgabe von de Maistres Voyage autour de ma chambre

»Wie viele Menschen sind schon gereist ohne jemals ihr Zimmer verlassen zu haben«

Perin, Frontispiz

»Bei manchem zutiefst wissenschaftlichen Autoren hab ich gelesen, daß wer zuviel reist, der geht verloren«

Journal de Paris, 977 und Jaquet, 43

Im Frühjahr 1790 macht Xavier de Maistre, der Bruder des konservativen Staatstheoretikers Joseph de Maistre, aus einem Hausarrest das Beste und unternimmt eine 42tägige Zimmerreise, von der er in einem detaillierten Reisebericht Auskunft gibt, der zu einem überaus erfolgreichen Text der französischen Literatur werden sollte und zugleich ein eigenes Genre der Literatur begründete. De Maistre war jedoch keineswegs so reisescheu, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Er war kein Stubenhocker, sondern im Gegenteil welt-gewandt und auch technischen Innovationen gegenüber auf-geschlossen. Zusammen mit seinem Bruder Joseph unternahm er einen Aufstieg in einer Montgolfière, berichtete darüber in zwei Artikeln und war zudem Zeit seines Lebens viel unterwegs – nicht selten jedoch aus politischen Gründen.

Noch heute findet sich seine Voyage autour de ma chambre in -diversen Ausgaben und Übersetzungen und dient sogar als Gegenstand von Interpretationen im schriftlichen Abitur: ein klassischer Text, dessen Erfolg rasch, aber zumindest für den Autor unerwartet einsetzte, und der sich auch darin zeigt, daß viele Texte die Idee aufnahmen und weiterspannen. Bereits am 16. 2. 1803 wurde eine erste Vaudeville-Komödie von René Perin im Théâtre de l’Ambigu Comique in Paris aufgeführt, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts gleich mehrere folgen sollten, und schon wenige Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe finden sich zahlreiche Bücher und Reiseberichte nach ihrem Vorbild. Selbst de Maistre war ein wenig überrascht von dem Erfolg seines Buches. Am 31. 12. 1799, also zum Jahrhundertwechsel, schreibt er an seinen Bruder Joseph über seinen kolossalen Erfolg: »Ich habe es überall gefunden: es ist ins Deutsche übersetzt. Daraus wurde ein anderes Buch mit dem Titel Zweite Reise um, usw. ebenfalls übersetzt. Das ist sehr schön, und ein drittes nach diesem Vorbild: Reise durch meine Taschen, mittelmäßig« (de Maistre, Lettres, Bd. 1, 60). Viele Jahre später wird er selber eine Art Fortsetzung schreiben: eine Expédition nocturne autour de ma chambre, die aber nun nur noch eine Nacht dauert. Auch Charles Nodier kommentiert süffisant den Erfolg dieser neuen Reiseliteratur: »Seit langer Zeit wird nichts anderes mehr gedruckt als Bücher über Reisen oder für Kinder. Haben Sie Voyage autour de ma chambre, Le Voyage autour de vingt-quatre heures, Le Voyage au Palais-Royal, Le Voyage dans le boudoir de Pauline, Le Voyage dans mes poches […] gelesen? Es ist eine regelrechte Manie.« (Nodier, zit. nach Sangsue, 166)

De Maistres schlankes Buch Voyage autour de ma chambre, das kaum hundert Seiten umfaßt, ist voller Anspielungen auf die Tradition des Reiseberichts, aber auch der Literatur. Einer-seits setzt er sich ironisch von seinerzeit überaus erfolgreichen Berichten von implizit wie explizit zitierten Entdeckungsreisenden ab, indem er sich andererseits auf die durch Laurence Sternes Sentimental Voyage unternommene Neuakzentuierung des Reiseberichts bezieht, dem es nun weniger um aufsehenerregende Entdeckungen und Erkundungen fremder Menschen, Tiere, Sensationen als vielmehr um die sensations des Reisenden selbst geht. Doch auch ihre Schilderungen sind in seinem Reisebericht nicht frei von Ironie. Eine jede Entdeckung – und von diesen ist viel die Rede – ist, ob sie sich nun auf das Objekt oder das Subjekt bezieht, immer auch ironisch gebrochen, ist immer auch eine Entdeckung dessen, was schon entdeckt worden ist. De Maistres Reise erkundet die längst bekannte Welt, indem er sie mit den Mitteln der reisenden und der ironischen Distanzierung erneut in den Blick nimmt.

Der Neuausgabe seines Buches im Jahr 1812 stellte er ein Vorwort voran, das explizit auf den Topos der Entdeckungsreise ironisch Bezug nahm: »Es ist keineswegs unsere Absicht, die Verdienste derjenigen Reisenden zu schmälern, die vor jener Reise die Welt umrundet haben, deren Entdeckungen und interessante Abenteuer wir nun abermals veröffentlichen. Magellan, Drake, Anson, Cook, usw., waren zweifelsohne bemerkenswerte Männer: jedoch ist es uns erlaubt und, wenn wir uns nicht sehr getäuscht haben, ist es gar unsere Pflicht, auf ein besonderes Verdienst der Voyage autour de ma chambre hinzuweisen, das dieses Buch über alle jene, die ihm vorangegangen sind, erhebt. Die berühmtesten Reisen können wiederholt werden: eine feine gestrichelte Linie zeigt uns die Route auf allen Weltkarten an; und es sei jedem freigestellt, sich auf die Spuren -dieser kühnen Männer, die die Reisen einmal selbst angetreten sind, zu begeben. Anders verhält es sich mit der Voyage autour de ma chambre. Sie ist ein für alle Mal gemacht und kein Sterblicher kann sich dessen rühmen, sie noch einmal anzutreten; umso mehr als die Welt, in der sie sich abspielte, nicht mehr vor-handen ist.« (de Maistre 1984, 27) Während, so suggeriert de Maistre in ironischer Zuspitzung, die Schiffspassagen der Entdeckungsreisenden wiederholt werden können, ist die Reise um das Zimmer nolens volens passagerer Natur, ist notwendig singulär und zugleich nicht wiederholbar. Die Erfahrungen der Zimmerreise sind nicht nur an den Ort, sondern auch an die Zeit gebunden, sind Erkundungen eines Raums, die darauf zielen, Geschichten und Erfahrungen wieder zu holen, ohne ihrerseits wiederholbar zu sein. Auch wenn de Maistres Zimmerreise bis hin zur Gegenwart zum Modell von sehr zahlreichen ähnlichen Reisen werden sollte, sind die Entdeckungen, die ein jeder dieser Reisenden macht, von dem jeweiligen Erfahrungsraum des Zimmers abhängig. Zimmerreisen erkunden Erfahrungsräume und machen diese zum Gegenstand eines Reise-berichts.

Der von de Maistre beginnt in klassischer Manier mit einer Ortsbestimmung: »Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter dem fünfundvierzigsten Breiten-grad; seine Lage zeigt von Osten nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechsunddreißig Schritt im Umfang hat. Meine Reise«, so de Maistre weiter, »wird jedoch -deren mehr enthalten; denn ich werde in ihm oft ohne Plan und ohne Ziel hin und her und diagonal wandern.« (de Maistre, 11) Sein Reisebericht wird 42 Kapitel enthalten, die manchmal nur wenige Zeilen und in einem Fall sogar nur zwei Worte um-fassen, fast so als entspräche jedes Kapitel auch -einem Tag seiner Reise und einem Tageseintrag in seinem Logbuch. Die Kürze der Kapitel, die fehlenden Datierungen und die eigentümlich sprunghafte »Handlungsfolge« (wenn man überhaupt von einer solchen reden kann), die sich auf wenige Stunden raffen läßt, machen jedoch deutlich, daß es dem Reisetagebuch um einen anderen Typ von Erfahrung geht, der nicht einer chronologischen und rekonstruierbaren Folge bedarf, um nachvollziehbar zu sein. So wie sein Freund Rodolphe -Toepffer in seinen ebenfalls sehr erfolgreichen Voyages en zig-zag größere Entfernungen durchmißt und dabei aus dem fehlenden Reiseplan den größten Profit zieht, durchquert de Maistre sein Zimmer: einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer.

de Maistre, Voyage autour de ma chambre

Auf seinen Wanderungen entdeckt der »seßhafte Reisende« (de Maistre, 46) nicht nur die zweckmäßige Schönheit der Alltagsgegenstände – lauter gewöhnliche Dinge eines gewöhn-lichen Haushalts, wie etwa ein Bett und ein Lehnstuhl –, sondern berichtet auch von der Geschichte der im Zimmer aufgehängten Bilder und von seinen Entdeckungen in der kleinen Bibliothek. Vor allem aber erzählt de Maistre in loser Folge von Geschichten des Alltags – berichtet von seinem Diener, seinem Hund und seiner Geliebten –, Geschichten, in denen durch die aufgrund der Reisehaltung besonderen Rezeptivität wie Sensibilität die »Dichotomie von ›langweiligem Alltagsleben‹ und ›wunderbarer Welt‹« in eigentümlicher Weise suspendiert sind. (de Botton, 271) Das Alltägliche verwandelt sich in der spezifischen Perspektive der Zimmerreise in besondere Geschichten, denen es doch nur um die Macht der Gewohnheit geht, die hier für die kurze Zeit der Reise ihre Macht verliert.

Xavier de Maistre beschränkt sich bei seiner Reise ausschließlich auf den Raum seines Zimmers: Der Blick aus dem Fenster, der kurz darauf zum Topos der Literatur werden sollte (vgl. die fünfte Etappe), spielt ebensowenig eine Rolle wie die Umgebung des Gebäudes, die komplett ausgeblendet wird. Es geht einzig und allein um den Innenraum des Zimmers und auch um den Erfahrungsinnenraum des »Ringsherum-Rei-senden«. (de Maistre 1984, 28) Diese werden gerade dadurch, daß sie aus der Welt herausgenommen sind, zu Entdeckungsräumen.

Das eigene Zimmer ist eine »paradiesische Gegend, die alle Güter und Schätze der Welt in sich birgt« (de Maistre, 83) und keiner weiteren Ergänzung bedarf. Eine Welt vor dem Sün-denfall, unschuldig durch ihre kurzzeitige splendid isolation, -kurzfristig herausgenommen aus der Zeit und doch mit Geschichte angereichert. Hier macht er, wie er schreibt, »eine Entdeckung nach der anderen«. (de Maistre, 28) De Maistre ist dabei das Gegenbild zu den im 18. und auch frühen 19. Jahrhundert überaus populären Robinsonaden.[1] Während Robinson – in welcher Version auch immer, denn ihre Zahl ist Legion – auf seiner abgelegenen Insel im fernen und meist gar nicht so stillen Ozean die gesellschaftlichen wie kulturellen Ordnungsmuster seines Herkunftslandes rekapituliert, auf die Probe stellt und dann wieder neu einsetzt, erkundet der Zimmerreisende in einer abgeschiedenen und doch zentral gele-genen Behausung mitten in der Stadt den ihm bekannten Raum mit all seinen Habseligkeiten und Alltagsgegenständen mit -einem fremden Blick, der alles verwandelt, ohne es zu verändern. Alles bleibt an seinem Platz. Der Zimmerreisende arrangiert nicht die Dinge, die ihn umgeben, neu, sondern nimmt ihre ordnende Funktion in den Blick. Keiner der Gegenstände ist fremd, einzig der Blick auf sie. Er gibt ihnen das Maß an Fremdheit zurück, das sie im Alltag verloren haben. Die Gegenstände sind vertraut-fremde Orientierungspunkte seines Reiseberichts und seines Lebens, das sich, gerade indem er von den Dingen ausgeht, erzählen läßt.

Im Innenraum des Zimmers vollzieht de Maistre auch jene Introspektion, die zu einem besonderen metaphysischen Modell führt, das dann die weitere Reise prägt: Er entdeckt, daß er »doppelt« ist, daß er aus einer denkenden Seele und aus einem Körper besteht, den er als das andere beschreibt. »Niemals habe ich jedoch deutlicher wahrgenommen, daß ich doppelt bin.« (de Maistre, 83) Beide wiederum können nicht nur von ihm beobachtet werden, sondern können sich auch wechselseitig beobachten. So ist es das »erstaunlichste metaphysische Kunststück, das der Mensch vollbringen kann […], seine Seele anzuhalten, auf das Gebaren ihres Tiers zu achten, und es, ohne sich daran zu beteiligen, arbeiten zu sehen« (de Maistre 18 f.). Auch hier die Doppelfigur von Bewegung und Stillstand, von Eigenem und Fremdem, von Vertrautheit und Distanz, die seine Haltung insgesamt prägt. Und so ist auch das verborgene Ziel der Reise, die »Seele ganz alleine reisen lassen«. (de Maistre, 19) Xavier de Maistres Zimmerreise wird als Anleitung zu einer Seelenreise erkennbar, die gerade in der räumlichen Beschränkung auf die eigenen vier Wände die Innenwelt als Freiheit und als Selbstermächtigung erschließt: »Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen geographischen Punkt zu laufen; aber sie haben mir das ganze Universum überlassen: die Unermeßlichkeit und die Ewigkeit stehen zu meinen Diensten.« (de Maistre, 83) Auch diese Entdeckung kommentiert de Maistre in seinem späteren Vorwort ironisch als Antizipation der Transzendentalphilosophie, die einzig in Zimmerreisen in den Blick geraten könne: »Die Metaphysik ist eine Wissenschaft, mit der Reisende selten konfrontiert werden: mit einer rühmlichen Ausnahme jedoch, was die Voyage autour de ma maison [sic!] angeht, man findet darin ein vollständiges System der Transzendentalphilosophie; sodaß selbst jene Damen, die nicht gern und kaum umfang-reiche Bücher lesen, genauso viel über die Kritik der Seele wissen werden, wie der berühmte Professor Kant«. (de Maistre 1984, 28)

De Maistres Zimmerreise ist, so könnte man die Anspielung auf Kant fortführen, eine Kritik der reisenden Vernunft, die den reisenden Stillstand entdeckt und mit ihm einen fremden Blick auf einen vermeintlich bekannten Erfahrungsraum. Daniel Leuwers berichtet zweihundert Jahre nach de Maistres Reise von Ausflügen mit seinem Großvater nach Beauvais, wo Xavier de Maistre seine Reise schrieb, und bringt diese auf die schöne Formel: »Das Zimmer als idealer Ort der Zurückgezogenheit [retrait] – eher als einer des Rückzugs und des Ruhestands [retraite].« (Leuwers,103)

de Maistre, A Book of Discoveries

Reiselektüre

Laurence Sterne, Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, Nördlingen 1986 [EA London 1768]

Xavier de Maistre, Die Reise um mein Zimmer. Nächtliche Entdeckungsreise um mein Zimmer, Weimar 1976 [frz. EA Voyage autour de ma chambre, par M. le Chev. X*** *** O. A. S. D. S. M.S, Turin (i. e. Lausanne) 1794 (i. e. 1795)]

Ders., Préface des éditeurs, in: ders., Nouvelles, hg. Pierre Dumas u. a., Genf 1984, S. 27 – 30

Ders., Lettres à sa famille, hg. Gabriel de Maistre, 3 Bde., Clermond-Ferrand 2005 (Bd. 1) und 2006 (Bd. 2 und 3)

Ders. und Joseph de Maistre, Prospectus de l’expérience aérostatique de Chambéry, Chambéry 1784

Ders., Lettre de M. De S*** à M. Le Comte de C*** off*** dans la légion des Campements, Chambéry 1784

Anon., [Rezension der Voyage autour de ma chambre], in: Journal de Paris, Nr. 244, 20. Mai 1796, S. 977 f.

Friedrich David Jaquet, Reise in meinem Zimmer in den Jahren 1812 und 1813, Riga 1813

René Perin, Le Voyage autour de ma chambre. Vaudeville en un acte, Paris 21816

Rodolphe Toepffer, Voyages en zigzag, Paris 1843

Ders., Nouveaux Voyages en zigzag, Paris 1853

Adolphe Poujol und Edouard Scheidig, Voyage autour de ma chambre. Monologue melée de chants, représentée sur le théatre du gymnase des enfants, Paris 1851

Labiche und Delacour, Voyage autour de ma marmite, Erstaufführung Paris, Théatre du Palais-Royal am 29. November 1859 [= Théâtre contemporain illustré, 523e et 524e livraisons]

Albert Grisar, Voyage autour de ma chambre, Paris 1859

Luc Rey, Xavier de Maistre. Sa vie et ses œuvres, Chambéry 1865

Stephen Heller [Komponist], Voyage autour de ma chambre for Piano, Op. 140, 1875

Alfred Berthier, Xavier de Maistre. Etude Biographique et Littéraire, 1918

Michel Covin, Préface in: Xavier de Maistre, Expédition nocturne autour de ma chambre, Mayenne 1990, S. 7 – 19

Daniel Leuwers, Le Voyage immobile, in: ders., Le Voyage immobile, Saint-Estève 2001, S. 103 – 114

Daniel Sangsue, Le Récit excentrique, Paris 1987

Isabelle und Jean-Louis Vissière, Un micro-genre littéraire: »Le voyage autour de ma chambre«, in: Lettres et réalités. Mélanges de littérature générale et de critique romanesque offerts au professeur Henri Coulet par ses amis, Aix-en-Provence 1988, S. 417 – 430

Claudia Becker, Zimmer-Kopf-Welten. Motivgeschichte des Interieurs im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 31 – 41

Alain de Botton, Die Kunst des Reisens, Frankfurt / Main 2002

Zweite EtappePilgerreisen

»Reisen Sie wie ich in Ihrem eigenen kleinen Zimmer umher,befragen sie das, was sie umgibt, vernachlässigen Sie nichts in Ihrer Untersuchung, und wenn Sie am Ende Ihres Weges angelangt sind, gehen Sie in sich und sagen Sie dann, ob Sie nicht wohlwollender, gebildeter, wohltätiger, arbeitsamer, mit einem Wort, besser und folglich glücklicher als zuvor sind.«

Emma Faucon, X

»Für dich, meine Klosterzelle, mein zärtlich und innig geliebtes Domizil, ich liebe dich, weil ich, wie auch Pascal, davon überzeugt bin, daß die meisten Leiden daher rühren, daß man nicht genug in seinem Zimmer verweilt.«

R. P. Dom J. B. Vuillemin, 189

 

Wenn man heute durch islamische Länder reist, so wird man nicht selten auf den getünchten Hauswänden Zeichnungen oder sogar großflächige Gemälde finden, die in mehr oder -weniger zahlreichen Einzelbildern von einer Reise berichten. So finden sich selbst auf einigen weiß getünchten Lehmwänden der Oase Farafra, die am westlichen Rand Ägyptens, viele Busstunden von Kairo entfernt, mitten in der Libyschen Wüste liegt, Bilder von Schiffen oder Flugzeugen, von Autos und Bussen. Sie zeigen dem Betrachter, daß der Bewohner dieses Hauses die Hadj, die Pilgerreise nach Mekka, die von jedem gläu-bigen Muslim mindestens einmal in seinem Leben geleistet werden soll, erfolgreich absolviert hat und zeugen so zugleich von dem, so könnte man sagen, soteriologischen Wohlergehen des Gläubigen, der dem Seelenheil durch die Reise ein gutes Stück nähergekommen zu sein glaubt, und, da eine solche Reise sehr teuer ist, auch von seinem materiellen Wohlstand. Auch im Christentum und in vielen anderen Weltreligionen -haben Pilgerreisen eine lange Tradition. Doch mitunter gibt es gra-vierende Gründe, die solche Pilgerreisen verhindern: Kriege, Krankheiten oder auch schlicht der fehlende materielle Reichtum. Was aber tun, wenn mit der Reise viel, wenn nicht gar alles auf dem Spiel steht? In der christlichen Tradition findet sich ein eigentümlicher Kunstgriff, der die Reise in die Ferne simulierte und es dem Reisenden gestattete, in der Nähe zu bleiben und doch zu reisen. Es handelt sich um die sogenannten Sacri Monti, um »topographische Simulationen der Heiligen Stätten« mit -lebensgroßen bemalten Terracottafiguren. (Grau, 41) Allein in Varallo entstanden 43 Kapellen; um 1500 machte dieses Vorbild auch andernorts Schule, und bis ins 19. Jahrhundert entstanden insbesondere in Oberitalien zahlreiche weitere Pilgerstätten. Nun konnte man nur wenige Schritte gehen oder Kilometer reisen und doch die heiligen Orte abschreiten – und dem Seelenheil ein gutes Stück näherkommen. Papst Innozenz VIII . gewährte bereits 1488 den Pilgerreisenden nach Varallo einen Ablaß. Bis ins 18. Jahrhundert sollten viele weitere Päpste diesem Beispiel folgen – mitunter sogar verbunden mit einer sogenannten Plenarindulgenz, die Clemens VIII . 1599 bewilligt. Über dem Portal der Kirche von Domodossola findet sich noch heute eine Inschrift, die dem Reisenden den Ablaß von einem Jahr in Aussicht stellt. (Landgraf, 25 f.)

O’Kennedy, Toute Seule

Sacri Monti in Rapallo

Doch auch Seelen wandern bekanntlich viel und gern. Seelenreisen sind Topoi nahezu aller Weltreligionen. Und bereits zu Lebzeiten wirft die in der Regel postmortale Seelenreise -ihren dunklen Schatten auf die irdische Existenz. Wenn das -Leben als solches bereits eine Reise ist, wird das Reisen einfach kompliziert, kommt doch eine jede Reise erst im Moment der letzten an ihr eigentliches Ziel. Erst dann erreicht sie, so An-toine Caillots schöne Formulierung anläßlich einer Reise, die er im Jahre 1809 von Paris aus auf die vier Pariser Friedhöfe durchführt, jenen Kreis, »dessen Mitte überall ist und dessen Umfang nirgendwo« (Caillot, 41). Alle irdischen Reisen sind nur ein matter Abglanz der wirklichen Reise, die noch bevorsteht. Die Vorstellung, nur Gast auf Erden zu sein und erst nach dem Tod im Himmel die wahrhafte Heimstatt zu finden, war in der christ-lichen Tradition der zeitlich-eschatologische Rahmen, der eine jede irdische Reise an ihre irreduzible Vorläufigkeit erinnerte. »Die Menschen sind nur Reisende auf Erden; jedoch, und doch wollten viele sich auf ihr niederlassen; ein Christ muß aber die Erde als einen Ort des Exils und des Elends betrachten: er soll seine Seufzer pausenlos zum Himmel, seiner wahren Heimat richten.« (Anon., Voyage spirituel, o. S.)

Sacri Monti in Rapallo

Doch wenn das irdische Leben insgesamt nur eine Form des Exils ist, so bietet zumindest die Zimmerreise – wird sie denn in angemessener Form ausgeführt – eine Form von Geborgenheit: Die überlieferte Vorstellung, daß der Körper ein Haus sei, in dem die Seele wohne, die über die paulinische Theologie, wie sie etwa exemplarisch im ersten Korintherbrief formuliert wird, auch im Christentum ihre Fortsetzung fand, war zugleich eine Raummetapher, die ein jedes Zimmer in eine Analogie der menschlichen Existenz verwandeln und ihr Heimat versprechen konnte. Ein Zimmerreisender kann, so gesehen, indem er sein Zimmer bereist, mit seiner Seele auch seinen eigenen Kör-per bereisen, um beide, Seele wie Körper, auf die große Reise vorzubereiten und zugleich die Unordnung der transitorischen Lebensumstände in Ordnung zu fügen. Der christliche Zimmerreisende erblickt in seinem Zimmer die materialisierte, raumgewordene Reise seines Lebens und zugleich die Analogie der irdisch-körperlichen Hülle seiner Seele.

Wenn nun irdische Reisen grundsätzlich unter dem Zeichen des Vorläufigen stehen, ja im Wortsinn ein Vorläufer der letzten Reise sind und zudem eher Irrungen und Wirrungen als Orientierung versprechen, so soll die wohlausgeführte Zimmerreise die Kontingenz und Bedeutungslosigkeit des Lebens in Ordnung und Sinn und auch Zeit in Raum verwandeln. In christ-lichem Sinn kann es neben dem Pilger nur einen wahren Reisenden geben: den Zimmerreisenden. Er bereitet sich bereits im irdischen Leben reisend, schauend, prüfend, meditierend, betend und nicht zuletzt fragend auf die letzte Reise vor. Die Irrsale der irdischen Reise gelten für ihn nicht. Seine Reise ist bereits jetzt eine Form der immobilen Anschauung, die ihm idealiter auch nach seinem Tod bevorsteht. Reisender Stillstand.

Durch diese besondere Verwandlung des Raums reichert sich das Zimmer mit Bedeutung an, die jedoch dem säkularen Blick wie auch dem des Heiden verschlossen bleibt: »Dort, wo der Ökonom und der Eingeborene nichts weiter als einen ›Unterschlupf‹ sehen, sieht sie ein Heiligtum. Sie lädt uns ein, unser Zimmer als einen Ort zu betrachten, der unterschiedliche Sakramente in sich vereint.« (Gautier, 11) Und so nimmt es kaum wunder, daß das Zimmer in dieser Reise dank der gotischen Fenster einer Kathedrale ähnelt (Gautier, 19), ist doch die Körper-Zimmer-Kathedrale ein heiliger Ort, ein Ort der Sakramente, ein Ort der Opfer und des Heils, ein Ort der Verheißung und der Erlösung. Zimmer, Körper und Kathedrale zeigen das altbekannte philosophische Grundprinzip: »Das Schöne ist der Glanz des Wahren«. (Gautier, 63)

Im Schein dieser Verwandlung gewinnt auch jeder Gegenstand eine besondere Bedeutung und kann seinerseits verwandelt werden. Die christliche Zimmerreise ist eine spirituelle Transsubstantiation der Einrichtungsgegenstände, die somit eine enorme Bedeutung gewinnen. Ein jeder Gegenstand des Zimmers ist eine Etappe der Lebensreise, die zur Seelenreise werden soll, ist Gegenstand der unablässigen Meditation, die den Lebensweg als Reise bedenkt. So wie der Gläubige in seinem Wohnort und mitunter auch in einer Kirche die verschiedenen Stationen eines Kreuzwegs ablaufen kann, so rekapituliert der christliche Zimmerreisende anhand der Gegenstände seines Raums die Stationen seines Lebens. Eine zimmerreisende Imitatio Christi. Und diese erfolgt in einer wohlgeordneten Welt. Man lese etwa die sehr katholische Nouveau Voyage -autour de ma chambre