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Was haben Sherlock Holmes und Spiritismus gemeinsam? Conan Doyle kennt man vor allem als Autor der Sherlock Holmes-Geschichten. Sein Werk ist allerdings weitaus umfangreicher und verzweigter: Es umfasst historische Romane, politische Pamphlete, historische Studien, Science-Fiction-Romane und nicht zuletzt zahlreiche Publikationen zum Spiritismus. Die Photographie spielt dabei eine zentrale Rolle und lässt eine höchst eigentümliche Vorstellungswelt erstehen. Sie erlaubt es zugleich, die Welt um 1900 mit all ihren Merkwürdigkeiten in den Blick zu nehmen: Für die Zeitgenossen war Sherlock Holmes eine real existierende Figur, für seinen Autor aber bezeugten Photographien von Elfen, Verstorbenen und Geistern deren Existenz. Ihre Photos und die anderer merkwürdiger Wesen sammelt dieses Buch mitsamt dem Imaginarium, das sich um sie rankt. »Stiegler holt […] sein eigenes Fach aus dem Elfenbeinturm hermetischer Textanalysen und demonstriert, was Literaturwissenschaft zu leisten vermag.« Deutschlandfunk
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Seitenzahl: 363
Bernd Stiegler
Spuren, Elfen und andere Erscheinungen
Conan Doyle und die Photographie
FISCHER E-Books
0.1 und 0.2 Filmstills aus dem Fox Newsreal 1927
Im Sommer 1927, drei Jahre vor seinem Tod, tritt Sir Arthur Conan Doyle für »Fox Newsreal« vor die Kamera und spricht einzig über zwei Dinge, nach denen man ihn nach eigener Aussage auch ansonsten fortwährend befragt: die Erfindung von Sherlock Holmes und sein Engagement für den Spiritismus.[1] Das ist heute durchaus überraschend: Als Autor der Sherlock-Holmes-Texte kennt man ihn, aber als Verfechter des Geisterglaubens? Schließen sich nicht, so würde man denken, detektivischer Scharfsinn und spiritistischer Unsinn aus? Nicht für Conan Doyle, muß die Antwort lauten. Diese zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, und einige andere ebenso merkwürdige noch dazu. Die Verwunderung über diese befremdliche Koexistenz von etwas, was offenkundig nicht zusammenzugehören scheint, stand auch am Anfang dieses Buches. Sie wurde nicht kleiner, als immer neue Bereiche hinzukamen: der Glaube an die Authentizität von Elfenphotos, aber auch Conan Doyles Engagement für die Aufklärung der Kongo-Greuel, einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Kolonialpolitik des belgischen Königs Leopold II., und der Abenteuer-Roman The Lost World mit photographischen Illustrationen einer Reise in die Welt der Dinosaurier. Detektivische wie politische Aufklärungsarbeit und jahrelanges Predigen für die vermeintlich frohe Botschaft des Spiritismus stehen nebeneinander. Ihre eigentümliche Logik zu erkunden und zu erklären ist Aufgabe dieses Buchs. Hat vielleicht nicht, so wäre zu fragen, Sherlock Holmes doch etwas mit dem Spiritismus zu tun, und umgekehrt dieser etwas mit dem Meisterdetektiv? Und was bedeutet es, wenn wir bis heute seine Wohnung in der Baker Street 221B, die es niemals gab, besuchen oder mit der neuen Serie »Sherlock« staunend den Wundern der Aufklärung dunkler Fälle folgen? Hat das nicht auch etwas Magisches? Conan Doyle machte sich über den durchaus verbreiteten Glauben, Sherlock Holmes sei eine real existierende Gestalt, lustig und ist doch stolz, die besondere Gestalt, die wir bis heute alle kennen, erfunden zu haben.
Hören wir noch ein wenig zu, was er seinen Lesern vor fast einem Jahrhundert zu sagen hatte, denn dieses einzige von ihm erhaltene Filmdokument ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Conan Doyle inszeniert sich mit seinem schottischen Dialekt und seinem Walroß-Bart als verläßlicher Zeuge seiner eigenen Geschichte ohne jede Starallüren. Er verläßt sein Haus mit einem Buch in der Hand und in Begleitung seines Hundes. Das Buch legt er mitsamt seinem Hut, den er, als er zu reden beginnt, abnimmt, auf einen Gartentisch, und weist dem Hund daneben seinen Platz zu, um ihn dann während seines zehnminütigen Monologs hin und wieder zu streicheln. Am Ende verabschiedet er sich, nimmt das Buch wieder in die Hand und geht mit dem Hund zurück ins Haus. Nach ihm das Nachleben. Jenes nach dem Tode sei gewiß. Und das Verschwinden Sherlock Holmes’ ebenso. Das ist seine Botschaft.
In dem kurzen Film gibt es keine Fragen, sondern nur Auskunft. Diese nimmt für beide Themen in etwa die gleiche Zeit in Anspruch. Das bedeutet jedoch nicht, daß Conan Doyle Sherlock Holmes ebenso wichtig wäre wie seine spiritistische Botschaft. Letztere liegt ihm nach eigener Auskunft weit mehr am Herzen und soll ihn auch in Zukunft beschäftigen, während die Tage des Detektivs vorüber sind, denn auf neue Sherlock-Holmes-Geschichten werden die Zuschauer vergeblich warten müssen. Für diese finde er angesichts der besonderen Bedeutung der »Neuen Offenbarung«, so der Titel eines seiner Bücher, keine Zeit mehr.[2] Sie habe er zu verkünden. Sherlock-Holmes und der Spiritismus – und das ist das eigentlich Befremdliche seiner Botschaft – werden von Conan Doyle nacheinander und zugleich als miteinander korrespondierend vorgestellt. Allerdings ist es keineswegs so, daß Sherlock Holmes etwas mit dem Spiritismus zu tun hätte; er ist hier vor allem Mittel der rhetorischen Überzeugungsarbeit, der Spiritismus ist ihm gänzlich fremd. Dieser erscheint im »Kanon«, so nennen die Anhänger voller Verehrung das Ensemble der Sherlock-Holmes-Romane und Erzählungen, allenfalls als zu bekämpfender und auszuschließender Fremdkörper. Sherlock Holmes konnte, bemerkenswert genug, mit der Spiritismusbegeisterung seines Schöpfers wenig anfangen und distanziert sich explizit von übernatürlichen Erscheinungen. Hier gibt es keine Geister, nur den scharfsinnigen des Detektivs. So heißt es etwa in »Der Vampir von Sussex«: »Die Agentur hier steht mit beiden Füßen fest auf der Erde, und da muß sie auch bleiben. Uns reicht die Welt schon so, wie sie ist; für Geister haben wir keine Verwendung.«[3] Conan Doyle respektiert diese selbstgesetzten Vorgaben und nimmt dabei sogar in Kauf, daß seine Schriften Bereiche mit unterschiedlichen Regeln haben, die sich wechselseitig ausschließen. Der »Kanon« und die Publikationen zum Spiritismus sind dabei nur zwei von zahlreichen weiteren Feldern. Bereits Conan Doyles erster mehr als nur spiritismusaffiner Biograph John Lamond konstatiert: »Es waren mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Wesen in Arthur Conan Doyle verkörpert.«[4] Sein Werk ist eine eigene Welt, in der in eigentümlicher Weise höchst unterschiedliche und höchst heterogene Diskurs-Kontinente mit eigenen Klimaten und Biotopen koexistieren: Der »Kanon« steht neben zahlreichen historischen Romanen, die Conan Doyle ohnehin für literarisch bedeutsamer als seine Sherlock-Holmes-Texte hielt, und spiritistische Manifeste, wie eine umfangreiche Geschichte des Spiritismus, finden sich neben politischen Interventionen, historische Schriften neben einer Verteidigung der Existenz von Elfen und literarische Essays neben Aufsätzen zur Amateurphotographie und Abenteuerromanen. Das alles und noch viel mehr ist zu erkunden. Und das ist merkwürdig genug, zumal sich die Felder nicht trennscharf in unterschiedliche Phasen seines Werks einteilen lassen.[5] Den Widerstreit, den wir hier ausmachen, scheint es für ihn nicht gegeben zu haben. Es scheint sich vielmehr um harmonische Paralleluniversen zu handeln. Im postmodernen Jargon der 1970er Jahre wurde die Pluralität des Ich als Entdeckung verkündet. »Wir sind viele«, heißt es programmatisch in Rhizom von Deleuze und Guattari, wo diese rhizomatische Vielheit zugleich als eine neue Art des Denkens ausgegeben wird.[6] Doch bereits bei Conan Doyle, der in Habitus und ästhetischer Gestalt eher ein Autor des 19. Jahrhunderts ist und mit den Avantgarden schlicht nichts zu tun hat, ist diese Pluralität Programm. Conan Doyle, der »letzte britische Nationalschriftsteller«,[7] ist gerade in seiner für ihn typischen Existenz als Inkarnation des grundsoliden gesunden Menschenverstands, des common sense, ein Abbild der Widersprüchlichkeiten seiner Zeit. Seine offenkundig absurde und abwegige Begeisterung für die spiritistische Photographie und die Elfenbilder wirkt daher wie eine Provokation. Doch auch wenn uns heute Conan Doyle in seiner Verteidigung des Spiritismus gelinde gesagt merkwürdig vorkommt, teilte er seine Überzeugungen mit mehr als 10 Millionen Amerikanern und erreichte bei seinen Vorträgen, die ihn um die ganze Welt führten, etwa eine halbe Million Zuhörer, die zumeist für den Eintritt bezahlt hatten. Selbst dann, wenn er aus heutigen Augen Extrempositionen einzunehmen scheint, ist Conan Doyle recht gewöhnlich. Wenn wir daher über Conan Doyle sprechen, so sprechen wir eben auch über die Zeit zwischen 1880 und 1930 im allgemeinen, über ein halbes Jahrhundert, das zwischen Indizienparadigma und Spiritismusbegeisterung, der Zeichendeutung im Diesseits und im Jenseits pendelt. Conan Doyle ist wie ein Seismograph dieser Ausschläge; sein Werk zeichnet sie wie eine Fieberkurve nach. Wenn wir seine Texte lesen, so durchstreifen wir das Imaginarium dieser Zeit, das hier üppig wuchert: Darwin, Dinosaurier und Detektive bevölkern es ebenso wie Phantome, Photographien und Phantasien des »schwarzen Kontinents«. Diese wuchernde Vielfalt zeichnet sein Werk wie auch seine Zeit aus.
Im Fox-Film aus dem Sommer 1927 beschränkt sich Conan Doyle hingegen einzig auf Sherlock Holmes und den Spiritismus und beschreibt damit nur einen Teil seines Œuvres. Gleichwohl legt er die Matrix offen, die es gestattet, die konfligierende Heterogenität der Felder in eine friedliche Koexistenz zu überführen. Wie charakterisiert nun Conan Doyle diese beiden Bereiche? Sherlock Holmes verschreibt sich einzig und allein der wissenschaftlich genauen Beobachtung, den Fakten und setzt sich dezidiert vom Spiritismus ab. Dieser wiederum ist, so Conan Doyle über seine eigenen »übersinnlichen Erfahrungen«, ebenfalls auf Fakten gegründet – auch wenn wir heute diese Überzeugung nicht mehr teilen. Hier geht es nicht um Glauben, sondern um Wissen. Das ist Conan Doyles Strategie der Gegenüberstellung: Auf der einen Seite ein fiktiver Detektiv, der auf Fakten setzt, auf der anderen eine auf Fakten gegründete Bewegung, die nicht selten für reine Fiktion gehalten wird. In Conan Doyles Filminterview regiert daher eine inverse Logik: der »Kanon« der Sherlock-Holmes-Texte auf der einen Seite und der noch zu kanonisierende Spiritismus auf der anderen. Beide sind, so Conan Doyle vor der Kamera, in seinem Leben gleich ursprünglich. Erste spiritistische Erfahrungen habe er bereits 1886/87 gemacht, also just zu der Zeit, als er auch die Figur des Sherlock Holmes erfunden habe. Dabei verschweigt er allerdings, daß er seinerzeit den Séancen, die er besucht hatte, kritisch gegenüberstand. Zudem hatte er damals eine polemische Ablehnung von Reichenbachs Od-Licht publiziert, der Vorstellung, es gebe eine dem Magnetismus verwandte Lebenskraft, die, so wurde behauptet, mittels der Photographie eingefangen werden könne.[8] Gleichwohl erblickt er in den Séancen im Rückblick den Anfang seiner persönlichen Überzeugung. Er decodiert seine Geschichte und die nun mit aller Macht einsetzende Bewegung als Parallelgeschichten: Wenn auch sein Leben im Schatten von dieser stehe, so habe diese doch eine welthistorische Bedeutung. Und so wiederum zeichnen seine Lebenslinien welthistorisch bedeutsame Entwicklungen nach. Die Geschichte von Sherlock Holmes sei hingegen abgeschlossen. Die eine Geschichte, die des Spiritismus, deren Historie er ja zudem in einem zweibändigen Buch rekonstruiert hat, weist voraus in die Zukunft, die andere, die des Sherlock Holmes, ist beendet und somit historischer Altbestand.[9] Diese Einschätzung sollte sich bekanntlich nicht bewahrheiten, da Sherlock Holmes fortlebt, jünger und jünger zu werden scheint und proteusartig immer neue Gestalten annimmt, wie nicht zuletzt jene der famosen britischen Fernsehserie Sherlock. Conan Doyles spiritistisches Werk ist dagegen in Vergessenheit geraten und der Spiritismus zugunsten zahlloser weiterer esoterischer Strömungen weitgehend verschwunden. Heute erwecken wir Sherlock Holmes fortwährend zum Leben und haben die »dunkle Seite« Conan Doyles vergessen.
Doch wenn wir die inverse Logik von Doyles Filmrede betrachten, so müssen wir noch einen Schritt weiter gehen: Conan Doyle sieht eine besondere Ordnung der Dinge vor. Auf der einen Seite steht der Detektiv, der nach Auskunft und Überzeugung seines Erfinders als erster für sich in Anspruch nehmen kann, bei der Lösung seiner Fälle wissenschaftlich vorgegangen zu sein. Nicht das Glück oder der Zufall haben hier wie bei den vorherigen literarischen Kriminalgeschichten regiert, sondern die Logik und die wissenschaftliche Deduktion. Ihm, Conan Doyle, sei es als erstem gelungen, wissenschaftliche Methoden auf die Arbeit der kriminalistischen Detektion anzuwenden. Darauf ist er mächtig stolz. Als Vorbild habe ihm dabei sein ehemaliger Dozent Joseph Bell gedient, der in der Lage gewesen sei, bereits bei der Anamnese durch die reine Beobachtung eines Patienten wichtige Informationen über dessen Herkunft und Geschichte zu erhalten: Der Mensch ist ein Zeichenträger und ein Gewohnheitstier.[10] Er verrät unwillentlich vieles über sich, weil er dieses immer wieder tut. Das Leben ist in der Vorstellung Conan Doyles vor allem eines: Wiederholung. Die Methode wanderte nun von der Krankheit zum Verbrechen, der Krankheit des modernen Sozialkörpers, ohne ihre Gestalt wesentlich zu verändern.
Auf der anderen Seite steht der Spiritismus, der sich, so Conan Doyle, ebenfalls keineswegs dem Glauben, dem Glück oder dem Zufall verdanke, sondern dem Wissen. Beide – Sherlock Holmes und der Spiritismus – sind konstitutive Teile des Indizienparadigmas, das der italienische Historiker Carlo Ginzburg mit Sherlock Holmes als wichtiger Referenz vor über 30 Jahren ausgerufen hat.[11] Beide beruhen gemäß der Logik dieser Überlegungen auf Fakten und Wissenschaft. Anders als bei Sherlock Holmes sei er jedoch weder Erfinder der Bewegung noch ihr wichtigster Vertreter, sondern einzig ihr »Grammophon«. Er zeichne auf, was er mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen habe. Er ist, mit anderen Worten, ein Watson der spiritistischen Bewegung. Dieser verfügt nicht über die besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten des Meisterdetektivs und ist daher zur Rolle des beteiligten Beobachters und Chronisten verdammt. So auch Conan Doyle, der nach eigener Aussage über keine eigenen übersinnlichen Kräfte verfügt, wohl aber über die Fähigkeit, den Erscheinungen eine sprachliche Gestalt zu geben. Wenn die Leser schon Watson Glauben schenken und Sherlock Holmes für real halten, dann sollten sie das nach ihrem Autor in spiritistischen Dingen schon lange tun. Das ist die Botschaft des langen filmischen Monologs.
Die Tatsache, daß Conan Doyle die Figur des Sherlock Holmes erfunden hatte, sollte häufig von ihm und auch den Berichterstattern eingesetzt werden, um mittels eines Transfers von der fiktiven Gestalt auf ihren Autor Glaubwürdigkeit zu erlangen oder auch um der Verwunderung angesichts seines Falls in den Obskurantismus der Elfen, Gnome und Phantome rhetorisch Ausdruck zu verleihen. »Doyle hätte Sherlock Holmes nicht erfinden können«, so heißt es etwa in dem dann keineswegs kritischen Artikel mit dem suggestiven Titel »Ist Conan Doyle verrückt?«, »wenn er nicht sehr intensiv mit den Gesetzen der Beweisführung vertraut gewesen wäre.«[12] Und auch die Selbstcharakterisierung »Grammophon« kommt nicht von ungefähr. Conan Doyle mußte bei den Séancen, denen er beiwohnte, vor allem seinen Ohren vertrauen, spielte sich doch notorisch vieles im Dunkeln ab.[13] Der Spiritismus beginnt nicht zuletzt mit Klopfzeichen im Hause der Fox-Schwestern in Hydesville. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Die Augen tendieren hingegen zum skeptischen Zweifel. Der gänzlich unspiritistische Sherlock Holmes vertraut daher vor allem seiner visuellen Wahrnehmung und hat diese perfektioniert. Wer Augen hat zu sehen, der sehe – und Sherlock Holmes sieht nicht nur, er beobachtet und zieht daraus seine Schlüsse.
Die besondere Pointe von Conan Doyles Antwort auf bekannte Fragen ist in ihrer bemerkenswerten rhetorischen Evidenz die folgende: Conan Doyle tritt so vor die Kamera, wie er auch von seinen Kritikern beschrieben wird: als ehrlicher, aufrichtiger und glaubwürdiger Mann. Und er wundert sich darüber, daß man Sherlock Holmes für eine reale Figur gehalten habe. Dies konstatiert er im Film wie auch in einem späteren Radio-Interview aus seinem letzten Lebensjahr. »Vielen schien er eine reale Gestalt zu sein, und ich habe viele Briefe gelesen, die von Zeit zu Zeit aus allen Erdteilen an ihn gerichtet waren.«[14] Sherlock Holmes ist eine irdische Berühmtheit, mehr noch: eine globale Gestalt. Der Welt ist er nicht fremd, und sie ist ihm nicht fremd. Er habe – ein wenig indiskreterweise – die Briefe an Sherlock Holmes und auch an Watson gelesen. Darunter seien auch Angebote, als Haushälterin tätig zu werden, und sogar ein Heiratsantrag gewesen. Sherlock Holmes ist jedoch, so betont er süffisant, eine fiktive Gestalt, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Umgekehrt sei jedoch der Spiritismus, den viele für fiktiv, für eine Ausgeburt der Imagination, der Einbildungskraft phantasiebegabter Leute oder sogar für eine bewußte Irreführung halten, höchst real. Er gründe auf Wissen und auf Fakten. Auch als Verfechter dieser Sache habe er viele Briefe erhalten, gar so viele, daß er ein ganzes Zimmer seines Hauses damit füllen könne, und sie zeugen vom Trost, den die Botschaft des Spiritismus gebracht habe.[15] Hüben wie drüben Briefe, hüben wie drüben vermeintlich wissenschaftliche Methoden und Wissen, nicht Glauben, Zufall oder Glück. Das ist die Pointe der inversen Logik von Conan Doyles Intervention, der dabei aber auch eine Logik der Überbietung entwickelt: Das Fiktive wird für wahr gehalten, das vermeintlich Fiktive ist jedoch wahr. Einige Briefe an Sherlock Holmes werden zu einem Zimmer voller Briefe über den Trost der neuen frohen Botschaft. Aus Fiktion wird Realität und aus der Brücke zwischen Fiktion und Realität schließlich eine zwischen Diesseits und Jenseits.
Diese eigentümliche Strategie, fortwährend zwischen zwei eigentlich strikt geschiedenen Bereichen, Welten oder Ordnungen übersetzen zu können, ist charakteristisch für Conan Doyles Œuvre. Es ist eine Art Pendelfähre auf dem Acheron, bei der die Einbildungskraft zwischen Faktizität und Fiktion, den Lebenden und den Toten, der Gegenwart und der Vergangenheit die Überfahrt bewerkstelligt. Ich möchte sie als strategischen Realismus bezeichnen. Darunter verstehe ich eine alles in allem manichäische Ordnung der Welt in Oppositionen, die einerseits eine klare Trennung von Wertungen und Bedeutungen (gut und böse, wahr und falsch, Diesseits und Jenseits etc.) ermöglicht, auf der anderen aber eben strategisch durchlässig ist und das Wandern zwischen den Welten gestattet. Fiktion kann und soll sich aus Fakten speisen, umgekehrt aber auch das Reich der Fakten sich der Mittel der Fiktion bedienen. Romane werden zu regelrechten Pamphleten, und vermeintlich wissenschaftlich grundierte Schriften folgen nicht nur Narrativen, sondern sind durchsetzt mit Schichten der Fiktion. »Ich möchte, daß diese Leute glauben, daß es Kommunikation gibt.«[16] Das ist die spiritistische Botschaft, die Conan Doyle den Tausenden und Abertausenden von Zuhörerinnen und Zuhörern während seinen diversen Vortragsreisen überbringt. Aber das ist auch die Botschaft der anderen Texte: Es gibt kommunizierende Räume. Sein strategischer Realismus ermöglicht ihm die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Welten seines Œuvres. Aus der multiplen (schriftstellerischen) Persönlichkeit wird ein Wanderer zwischen den Welten. Mit Siebenmeilenstiefeln durchmißt Conan Doyle seine Welt und springt dabei von Kontinent zu Kontinent. Mit Sherlock Holmes verbringt er den Morgen, mit seinem spiritistischen Führer Pheneas den Nachmittag, und mit Professor Challenger reist er abends in die »Verlorene Welt« der Dinosaurier. Überall ist er zu Hause.
Conan Doyle konstruiert fortwährend solche Räume, die genau dies leisten: Sie ermöglichen Übergänge zwischen den Welten und lassen dabei dennoch die Evidenz der wertenden Setzungen unangetastet. Er operiert mit vermeintlich strikten Unterscheidungen, die die Welt ordnen, um diese zugleich dann wieder durchlässig zu machen, ohne daß die Ordnung tangiert würde. Diese Ordnungen sind zugleich – und das ist entscheidend – narrative Räume eines Wirklichkeitsversprechens. Sherlock Holmes ist fraglos keine realexistierende Person, soll aber einen »effet de réel«, einen Wirklichkeitseffekt, bei der Leserschaft haben. Und der Spiritismus ist zwar in den Augen Conan Doyles nicht nur eine neue Wissenschaft, sondern eben auch eine »Neue Offenbarung«, die in Erzählungen zu bringen und in dieser Gestalt zu kommunizieren ist. Und Ähnliches gilt auch für die anderen Bereiche.
Die Photographie, die im Mittelpunkt dieses Buchs stehen wird, spielt dabei, auch wenn sie im Filmporträt Conan Doyles, der sich jedoch fraglos der filmisch-photographischen Performanz seiner Präsentation bewußt gewesen sein dürfte, nicht erwähnt wird, eine entscheidende Rolle.[17] Der Behauptung, daß, »obwohl es gelegentliche Verweise auf die Photographie in Doyles Arbeit gibt, diese keine besondere Bedeutung« hat,[18] ist zu widersprechen. Es gibt weltweit kein Œuvre eines Schriftstellers dieser Zeit, das in ähnlich breitgefächerter wie komplexer Weise auf die Photographie zurückgreifen würde.[19] Die Photographie ist vielmehr ein Schlüssel, der uns sein Werk und mit ihm seine Epoche aufschließt wie eine Wunderkammer der Zeit um 1900. Sie ist ein Medium, das diese Bezeichnung im doppelten Wortsinn wirklich verdient. Bei spiritistischen Séancen kann sie mitunter an die Stelle des ansonsten unersetzlichen menschlichen Mediums treten und die Erscheinungen aus dem Jenseits in Bilder bringen. In Romanen wird sie ebenso eingesetzt wie bei politischen Interventionen. Sie ist ein zentrales Mittel der visuellen Kommunikation. Sie ist das Medium des Transfers zwischen den Welten. Wenn Conan Doyle vor Augen führen will, daß es »Kommunikation« gibt, dann ist die Photographie hierfür das privilegierte Medium. Daher hat sie in seinem Werk eine nicht zu überschätzende strategische Funktion, setzt in anderer Weise diese eigentümliche inverse Logik fort und folgt auch der Matrix des strategischen Realismus.
0.3 Vorbereitung für das Fox Newsreal 1927
Eine geraffte Übersicht, eine panoramatische Aussicht auf die Welten Conan Doyles vorab: In den Sherlock-Holmes-Texten (Kap. 2) taucht die Photographie durchaus überraschenderweise nicht oder nur am Rande auf. Sie wird durch den Protagonisten verdrängt, der – vom Kokainkonsum über dramatische Wissenslücken bis zu eigentümlichen Charakterzügen – zwar allerlei Schwächen hat, sich aber vor allem anderen durch seine besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten auszeichnet. »Er war«, so heißt es programmatisch in der Erzählung »Skandal in Böhmen«, der ersten Sherlock-Holmes-Kurzgeschichte im Strand Magazine überhaupt, »die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat.«[20] Da braucht es keine Photographien mehr: Sherlock Holmes ist bereits ein Photoapparat und ein Photolabor noch dazu. Dieser schlichte Befund ist jedoch erläuterungsbedürftig und erweist sich als komplexer, als er auf den ersten Blick zu sein scheint.
Auch im heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Werk Conan Doyles jenseits des Kanons findet sich ein bemerkenswerter Einsatz der Photographie als Kommunikationsmedium. Während in diesem Zusammenhang die historischen Romane von nachgeordneter Bedeutung sind, da sie durchweg in fernen und somit dunklen präphotographischen Jahrhunderten spielen, gilt das für andere Werkgruppen nicht. Anzuführen sind erstens historisch-politische Berichte – etwa über den Burenkrieg oder den Ersten Weltkrieg – und Interventionen, wie etwa eine scharfe Kritik der belgischen Kolonialpolitik im Kongo. In seinem Buch Das Kongo-Verbrechen greift Conan Doyle dabei auf regelrechte Schockphotos zurück, die, photographiehistorisch betrachtet, zu den frühesten überhaupt gehören (Kap. 3). Die Lichtbilder sollten hier eine photographische Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten.
Weiterhin hat er eine Serie von literarischen Texten einem Protagonisten gewidmet, der den – peinlich-grandiosen – sprechenden Namen Professor Challenger trägt. In ihnen wird die Photographie gezielt eingesetzt, so etwa als Illustration eines Abenteuer- oder Science-Fiction-Romans mit dem Titel The Lost World, der uns die Existenz von Dinosauriern zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen führen will. (Kap. 4) Der gleiche Professor Challenger wird einige Jahre später dann im Roman The Land of Mist für die Entdeckung eines weiteren Reiches eintreten: dem des Spiritismus – mitsamt einigen photographischen Belegen. Conan Doyle erlaubte ihm, was Sherlock Holmes versagt bleiben mußte: eine Konversion zum Spiritismus.[21]
Damit sind wir bei dem Bereich, von dem im Film-Interview bereits die Rede war: Conan Doyle hat ein außerordentlich umfangreiches Œuvre mit Büchern, Pamphleten, Erzählungen und zahlreichen Kleinpublikationen vom Leserbrief bis hin zur Artikelserie zum großen weiten Feld des Spiritismus hinterlassen (Kap. 5).[22] Conan Doyle unternahm zudem seit Ende der 1910er Jahre bis hin zu seinem Tod einen regelrechten spiritistischen Feldzug mit Vortragsreisen in Europa, den Vereinigten Staaten und selbst Australien und Neuseeland, um die Welt von der Wahrheit des seiner Auffassung nach wichtigsten Ereignisses seit dem Tod Jesu vor fast zweitausend Jahren zu überzeugen.[23] Conan Doyle gründete einen okkultistischen Buchladen in der Nähe der Westminster Abbey, den er, da dieser extrem defizitär war, mit den Erlösen seiner Bücher und nicht zuletzt den Sherlock-Holmes-Texten finanzierte.
Weiterhin schrieb er ein Buch über Elfenphotographien. Elfen sind nach Conan Doyles Überzeugung Wesen ganz von dieser Welt, deren Existenz die Photographien nun bezeugt hätten (Kap. 6).
Und schließlich war Conan Doyle nicht nur Augenarzt – und wollte sich als solcher sogar selbständig machen –, sondern auch ein begeisterter Amateurphotograph, der in dem anerkannten British Journal of Photography in den 1880er Jahren gleich eine ganze Serie von Texten veröffentlichte (Kap. 1). Mit diesen heute vergessenen Essays begann seine literarische Karriere. Sie setzt mit der Photographie ein und wird auch mit ihr enden.
Wir haben es also mit einer Fülle von unterschiedlichen Texten und Bildern, Diskursen und Seh- und Wahrnehmungsordnungen zu tun, die sich um die Photographie als Gegenstand herumgruppieren. Bereisen wir also Conan Doyles Welt. Mitunter schlüpft er selber in die Rolle des Cicerone und weist uns auf die Sehenswürdigkeiten und ihre Geschichte hin. So etwa bei seinen frühen Texten, die Reiseempfehlungen für den Amateurphotographen geben, aber auch in seinen Lichtbildvorträgen zur spiritistischen Photographie. Ansonsten müssen wir die Lichtbilder erst suchen, um diese dann als Indizes einer zu entziffernden Ordnung der Dinge zu nutzen. Photographien sind jedenfalls in Conan Doyles Welt keine kontingenten Bilder, die zufällig aufgenommene Dinge zeigen, sondern Zeichen einer geordneten Welt. Mitunter ist es dabei allerdings ihre Aufgabe, eine solche Ordnung zu suggerieren oder überhaupt erst herzustellen. Das ist die Funktion der Photographie im Sinne eines strategischen Realismus.
0.4 und 0.5 Arthur Conan Doyle sitzt Modell
Die sechs Kapitel folgen weitgehend einer Chronologie, auch wenn sich einige Bereiche zeitlich überschneiden. Daher ist aus der Chronologie auch keine Entwicklungslogik oder gar Teleologie abzuleiten. Conan Doyles Werk zeichnet sich nicht durch eine logische oder biographische Abfolge, sondern durch ein denkwürdiges wie fröhliches Nebeneinander aus. Gleichwohl ist es eben auch kein unübersichtliches, wucherndes Rhizom, sondern ein buntes Photoalbum mit vorgegebenen Mustern und vorgestanzten Schlitzen, in die dann paßgenau die Photographien gesteckt werden können. Die Bilder stellen eine geordnete Welt dar und mitunter überhaupt erst her. Die bemerkenswerten Geschichten, die diese Bilder wie auch die Ordnungen der Texte erzählen, sollen im folgenden nach- und aufgezeichnet werden. Diese Geschichten erweisen sich dabei zugleich als Entzifferungsversuche der Geschichte. Ein halbes Jahrhundert ist in diesem Album versammelt.
»Ich habe die angenehme Vorstellung eines Raumes voller zeternder Photographen, die meine Negative & mein wundervolles Einbeinstativ sehen wollen, das schon so oft beschrieben wurde, obwohl kein sterbliches Auge es jemals gesehen hat.«
Arthur Conan Doyle (vermutlich 1883) über ein Treffen mit Henry Greenwood, dem Herausgeber der Photographic News[24]
Conan Doyle begann seine literarische Karriere als Amateurphotograph. Er hatte in Edinburgh Medizin studiert und sich dann 1882 in Southsea niedergelassen und dort bis 1890 als Arzt praktiziert.[25] In diese Zeit fällt seine Entdeckung der Photographie. Conan Doyles Fachgebiet war die Ophtalmologie: Einige Jahre waren die Linsen des menschlichen Auges und jene des Kameraobjektivs seine Passion. Ihre »Lichtschrift« wurde dann aber rasch durch einen geschriebenen und gedruckten Schriftfluß ersetzt, der Zeit seines Lebens nicht mehr versiegen wird. Conan Doyle hat später am Tag etwa zehn Seiten zu Papier gebracht und Hunderte von Publikationen fertiggestellt. Doch am Anfang standen photographische Bilder mitsamt ihren Beschreibungen. Bilder und Texte gingen hier Hand und Hand und werden es in anderer Form auch später tun. Photographien, die er später dann längst nicht mehr selber anfertigte, sind dabei ebenso von Bedeutung wie die Illustrationen seiner Erzählungen und Romane.
Zwar hatte Conan Doyle bereits Ende der 1870er Jahre erste kleinere Erzählungen geschrieben und 1879 mit »The Mystery of Sasassa Valley« eine von ihnen im Chamber’s Edinburgh Journal publiziert, aber die erste zusammenhängende Folge von Texten war ein Dutzend Essays im renommierten British Journal of Photography, die zwischen 1881 und 1885 erschien.[26]1880 begann dieses seinerzeit wichtigste Organ der englischen Photographie eine Kolumne mit dem Titel »Where to go with the Camera« (»Wohin man mit der Kamera gehen kann«), die aufgrund des großen Erfolges im darauffolgenden Jahr fortgesetzt wurde.[27] Gegenstand waren mögliche Exkursionen für Amateurphotographen, die in dieser Zeit allmählich neben den Berufsphotographen zur wichtigen Klientel der Zeitschrift wurden. Sie publizierte diverse Artikel technischen Inhalts, die über die zahlreichen Neuerungen in der Welt der Photographie von Kamera-Typen über Objektive bis hin zu Verfahren der Entwicklung der Negative und der Abzüge detailliert berichteten, aber auch Essays zu ästhetischen Fragen und Handreichungen zur Frage der Komposition der Bilder und zu möglichen Motiven. Photozeitschriften setzten technische und ästhetische Normen durch und bündelten die Debatten im recht heterogenen Feld der Photographie. Sie sind heute ein eher trockener, gleichwohl aber aufschlußreicher Lektürestoff, da uns das Reich der Photographie mit seinen Innovationen und Phantasmen, Metaphern und ästhetischen Dominanten, Regeln und Verhaltensweisen kompakt präsentiert wird.[28] Was auch immer in der Welt der Photographie geschah, es fand sich in dieser Zeitschrift wieder: Sie war die photographische Welt. Seinerzeit mußte man die Verfahren wie ein Handwerker regelrecht erlernen und dann ausprobieren, um mit ihnen vertraut zu werden. Daher waren Photozeitschriften damals vor allem technische Handreichungen und kein ästhetisches Vergnügen.
Ähnliches gilt auch für Conan Doyles Essays: Sie gehören, bei allem Wohlwollen, nicht gerade zu den aufregendsten seiner Texte und können mit ihren zahlreichen überkommenen technischen Details und den eher umständlichen Reiseberichten mit gelegentlich altbackenem Humor den Leser kaum für sich einnehmen. Gleichwohl sind sie aber gerade in ihrem ostentativen Versuch, den common sense der Zeit zu treffen und dennoch originell zu sein, überaus aufschlußreich. Sie sind Modelle, die im Reich der technischen Reproduzierbarkeit dazu aufrufen, kopiert zu werden. Die Leser sollen es ihnen nachtun. Sie sollen auf den Spuren des photographierenden Autors wandern. Das ist die Aufgabe dieser Essays. Diese behandeln daher nicht nur technische Fragen, sondern auch solche der »Technologien des Betrachters«. Die technische Einstellung des Objektivs ist das eine, die mentale Einstellung des Betrachters das andere. Letztlich geht es daher nicht allein um technische Fragen, sondern um die Frage, welche Welt der Photograph wie nach Hause tragen soll. Es geht um Modelle der Wirklichkeit. »Was immer auch auf den Abzügen abgebildet sein wird«, schrieb Timm Starl über die Bewegung der Knipser, »es ist der Blick des Fotografen, der aus ihnen dringt und den dieser als eigenen erkennt. […] Er hat sich ein eigenes Bild gemacht.«[29] Die Photographie ist aber nicht nur Suche nach Anerkennung des photographierenden Subjekts, sondern auch modellierte Mimesis der Welt. Photographie-Zeitschriften sind Kopieranweisungen der Wirklichkeit und Handlungsanweisungen für die Photographen: »So habt ihr die Welt aufzunehmen«, ist ihre Botschaft.
Die Photographie war um 1880 unter Amateuren noch kaum verbreitet und erforderte einen erheblichen Aufwand an Geräten, Chemikalien und technischen Kenntnissen. Die Photographen mußten von der Aufnahme bis hin zu den Abzügen sämtliche Schritte selber durchführen und benötigten hierfür neben den Kameras, Glasplatten und Chemikalien auch eine Dunkelkammer und nicht zuletzt viel Zeit. In englischen Photozeitschriften dieser Zeit fand sich daher zumeist in jeder Nummer ein Verzeichnis der verfügbaren Dunkelkammern. Daß ein Photograph die Entwicklung der Platten (bzw. später des Films) und die gewünschten Abzüge an ein Labor delegieren konnte, war erst Ende des 19. Jahrhunderts möglich. Die Kodak-Kamera wurde zum Emblem dieser neuen Entwicklung (Abb. 1.1 und 1.2). Wir werden ihr verschiedentlich wiederbegegnen. In den 1880er Jahren lag von der Aufnahme bis zum Abzug alles noch in der Hand des Photographen. Zudem waren Photographien relativ teuer. Die Motive wollten daher wohl ausgewählt sein, und verdorbene Platten waren ein echtes Unglück. Conan Doyles Essayserie hatte eine klar definierte Aufgabe: Sie sollte ergiebige Photo-Jagdgründe erkunden und vorstellen. Jede geschossene Photographie ein kapitales Bild. Das war das Ziel. Doch wie er es in seinen Essays darstellt, war Conan Doyles Amateurphotographie vor allem anderen eines: ein Kampf mit der Technik in möglichst wilder Natur.
1.1 und 1.2 Vorstellung der Kodak-Kamera in The Amateur Photographer and Photography1888
Conan Doyle erlernte die Photographie zusammen mit William, genannt Willie, Kinnimond Burton, mit dem zusammen er auch Photo-Expeditionen unternahm.[30] Später widmete er ihm seinen Roman The Firm of Girdlestone, der 1890 erschien. William hatte eine eigene Dunkelkammer auf dem Familienanwesen »Morton House«, in der auch Conan Doyle arbeitete, und stammte ohnehin aus einer photographiebegeisterten Familie. William war ein Freund von W.B. Bolton, dem damaligen Herausgeber des British Journal of Photography, über den vermutlich auch der Kontakt zustande kam, der zu den Publikationen der Photo-Essays von Conan Doyle führte. Burton publizierte dort seinerseits zahlreiche Texte und gehörte 1885 anders als Conan Doyle, der vermutlich bei keinem Photo-Club Mitglied war, zu den Gründern des »Camera Club«, mit dem wenige Jahre später die Amateurphotographenbewegung ihren besonderen Aufschwung nehmen sollte. In Europa dominierte diese dann um die Jahrhundertwende die einschlägigen Zeitschriften. Photographie wurde nun zum Richtungsstreit. Die zumeist bürgerlichen Amateurphotographen wollten sich als Künstler etablieren und die Photographie aus der beschränkten Existenz als Handwerk professioneller Photographen herausführen. Dementsprechend änderte sich auch das Erscheinungsbild der Zeitschriften: Sie zelebrierten nun die Schönheit der photographischen Welt. Bei Conan Doyle ist jedoch die Welt, die die Photographie zeigt und zeigen soll, noch wild. Sie gilt es zu zähmen und ihr doch noch einen Rest von Wildheit zu lassen, da sie ohne diesen auch ihren Zauber verlieren würde. Die Frage nach der Photographie als Kunst ist hier nachgeordnet und wird in den Essays nicht ein einziges Mal aufgeworfen. Hier geht es vielmehr um den Kampf der (photographischen) Technik mit der Natur. Als dann zwanzig Jahre später die Photographie als Kunst ausgerufen wurde, war Conan Doyle nur noch das, was man heute als »Knipser« bezeichnen würde. Er machte die piktorialistische Wende der Amateurphotographenbewegung nicht mehr mit und fertigte während seiner ausgedehnten Reisen einzig Schnappschüsse und daheim banale Familienphotos an. Auch für die »wilde« Natur interessierte er sich photographisch nicht mehr. Die Kunstphotographie blieb ihm, soweit wir das beurteilen können, fremd und spielte – anders als etwa bei Robert Louis Stevenson oder Henry James – auch für die Illustration seiner Bücher keine Rolle.[31] Aus dieser Zeit finden sich einige Photoalben von Conan Doyle in Archiven, die sich in nichts von anderen Knipserbildern seiner Epoche unterscheiden.[32] Sie sind gewöhnlich – doch das ist Conan Doyle in gewisser Weise auch. Aus der Frühzeit seiner Tätigkeit als Photograph ist hingegen vermutlich kein einziges Bild überliefert. Wir sind auf seine Texte in ihrer eigentümlichen Redseligkeit angewiesen, die Photographien allein als literarische Bilder überliefern, dadurch aber die Vorstellungen und Einstellungen, die hinter den Bildern stehen, ausstellen. So soll die photographische Welt aussehen. Auch hier geht es um ästhetische und gesellschaftliche Normen, die sich in den Photographien zeigen: So soll die Welt aussehen. Das ist die Botschaft der Wildnis.
1.3 Eine Privataufnahme Conan Doyles seiner Kinder, 1920
Conan Doyle besaß wahrscheinlich zu Beginn keine eigene Photoausrüstung, sondern lieh sie sich bei den Burtons aus.[33] Bei seiner ersten Photo-Expedition, die ihn auf die Isle of May führen sollte, hatte er jedoch bereits seine Meagher-Faltbalgenkamera im Halbplatten-Format dabei, die er auch später verwenden sollte.[34] Diese Kamera war relativ handlich, benötigte jedoch ein Stativ und war für das nasse Kollodiumverfahren ebenso geeignet wie dann später für Trockenplatten, die seit Ende der 1870er Jahre maschinell gefertigt wurden und das Photographieren erheblich vereinfachten. Conan Doyle praktizierte das Trockenverfahren und inszenierte sich in den ersten Texten als »Plattenkocher«, der nicht ohne Stolz zu Protokoll gibt: »Die Photoplatten waren aus meiner eigenen Fertigung.«[35] Einer seiner phototechnischen Texte ist der Präparierung solcher Platten gewidmet. Das von ihm empfohlene – und dann auch erläuterte – Verfahren stammt von seinem Freund Willie: »Meiner Ansicht nach gibt es keine bessere Methode zur Herstellung einer Emulsion als die von Mr. W.K. Burton empfohlene, die jedoch meines Wissens nicht von ihm selbst entwickelt wurde.«[36] Technische Handreichungen sind photographische Freundesdienste.
Die Anfänge seiner Photobegeisterung sind recht gut zu rekonstruieren. 1881 traf Conan Doyle bei der Beerdigung von John Hill Burton dessen bereits erwähnten Sohn Willie, der schon ein begeisterter Amateurphotograph war und zudem aus einer Photographenfamilie der ersten Stunde stammte: Sein Großvater, der Historiker und Rechtsanwalt Cosmo Innes, gehörte zu den Pionieren der Photographie in England.[37] Er war u.a. neben Sir David Brewster und William Henry Fox Talbot Mitglied des »Calotype Club« in Edinburgh, einem der ersten Photoclubs weltweit, und auch der renommierten »Edinburgh Photographic Society«. Cosmo Innes publizierte schon in der Zeit um 1860 einige Artikel über photographische Exkursionen nach Spanien, Frankreich und Italien in Photo-Zeitschriften, die mit anderen das Genre vorgaben, dem sein Enkel und Conan Doyle dann zwei Jahrzehnte später folgen sollten. Willie setzte mit großer Begeisterung die Photographen-Tradition seiner Familie fort, schrieb regelmäßig Artikel für das British Journal of Photography, gründete nach seiner Übersiedelung nach Japan dort den ersten japanischen Photo-Club, die »Japan Photographic Society«, und dokumentierte die Folgen des großen Erdbebens 1891, aber auch das japanische Alltagsleben. Mit ihm unternahm Conan Doyle eine viertägige Tour zur Isle of May im Firth of Forth, von der er dann in seinem Essay »Mit der Kamera auf Kormorane« berichtete.[38] Es sollte der erste Text seiner kleinen Serie werden, die dann in der seinerzeit führenden britischen Photozeitschrift erschien. Anders als bei Winnies Großvater waren die Ziele nun aber keine einer grand tour, bei der kunsthistorische Sehenswürdigkeiten Europas auf dem Programm standen. Vielmehr sollten die photographischen Exkursionen »Into the Wild« führen, aber gleichwohl in der Nähe bleiben. Nicht Kultur, sondern Natur stand auf dem Plan. Conan Doyle trug eine Reihe von Texten bei, die neben ausschließlich technischen Fragen[39] solche photographischen Expeditionen in die Nähe und Ferne zum Gegenstand hatten. Neben einer Kormoran-Jagd auf der Isle of May berichtete er über photographische Erkundungen in Southsea, wo er seinerzeit lebte, über ein Manöver in der Nachbarstadt Portsmouth, über Ausflüge an der Waterford-Küste, auf die Isle of Wight, die gegenüber von Portsmouth liegt, und in ein Feuchtmoor, auf die Insel Arran und schließlich über Reisen in Afrika, das er 1881 erkundet hatte. Conan Doyle hatte sich im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung als Schiffsarzt bei der »African Steamship Company« beworben und erhielt im Herbst 1881 eine Zusage für die »Mayumba«, die Liverpool am 22. Oktober gen Westafrika verlassen sollte. Er heuerte mitsamt seiner Kamera an und verfaßte mit »Mit der Kamera einen afrikanischen Fluß hinauf« einen weiteren Beitrag für die Kolumne, auch wenn es sich um recht exotische Orte handelte, die andere Amateurphotographen wohl kaum aufsuchen konnten.[40] Die Nähe und die Ferne, Großbritannien und Afrika, gehören in den Essays zusammen. Sie sind jeweils unterschiedliche Formen einer nicht nur photographisch zu domestizierenden Natur. Die Photo-Aufsätze, die Conan Doyle später nicht mehr erwähnte und die erst ein Jahrhundert später wiederentdeckt und ediert wurden, kombinieren Reiseberichte mit Hinweisen zur Entwicklung, Belichtung und Motivwahl und nehmen dabei gelegentlich Leitmetaphern der Photographiegeschichte auf.[41] Auch eigene Experimente werden erwähnt: Conan Doyle führte als Mediziner bereits Selbstversuche mit der Substanz Gelsemium durch und wollte Ähnliches nun auch für »pyrogallic acid«, Pyrogallussäure oder Pyrogallol, im Feld der Photographie ausprobieren.[42] Die Serie der Texte ist daher in vieler Hinsicht das Protokoll photographischer Selbstversuche.
Interessanterweise sind sie auch im British Journal of Photography ohne Illustrationen erschienen, wie man ohnehin davon ausgehen muß, daß viele der in den Berichten erwähnten Photographien nie entstanden sind und einzig in ihrer literarisch-pseudoekphrastischen Gestalt existieren. Sie haben eben auch mit Phantasmen – und nicht nur solchen der Photographie – zu tun. Der erste Text ist dabei ein bemerkenswerter Auftakt der Reihe, vermischen sich doch in ihm Metaphern-, Reise- und Literaturgeschichte mit phototechnischen Fragen.[43] Im Mittelpunkt steht das doppelte Erschießen von Kormoranen, auf das der Text zuläuft: Eine Aufnahme soll, so die photographische Versuchsanordnung, just in dem Moment geschossen werden, in dem der Kormoran durch die Kugel getroffen wird. Die Erkundung »neuer Jagdgründe für mich und meine Kamera« findet so am Ende in der Kamera und ihren technischen Möglichkeiten ihren eigentlichen Gegenstand. Zwar gelingt es, einen Kormoran so »gestochen scharf« aufzunehmen, daß man selbst einzelne Federn erkennen konnte, die durch die Luft flogen, entscheidender ist aber die Leistung der Photographie, die dadurch zum Ausdruck kommt. Die Jagd ist hier die Beute. Im Zeitalter der Momentphotographie, das nun anbricht und auch regelrechte »photographische Flinten« hervorbringt, kann man fortan Photographie und Jagd assoziieren. Die Photographie ist das visuelle Pendant der Jagd, was in diesem Text nicht zuletzt dadurch deutlich wird, daß erschossene Vögel und belichtete Platten miteinander als Beute verrechnet werden. Zu Beginn geht der eine photographieren und nimmt »harmonische Bilder« auf, während die anderen ein Blutbad unter den Seevögeln mit zeitweise zwei toten Tieren pro Minute anrichten. Bereits nach einem halben Tag stehen 43 Kormorane, neun Felsentauben, zwei Stockenten, ein Brachvogel sowie eine Raubmöwe einem halben Dutzend Photoplatten gegenüber. Am Ende schießen alle zeitgleich: Schuß der Kamera und Gegenschuß der Flinte zugleich erbringen eine doppelte Beute, und die Rechnung ist ausgeglichen.[44] Photographien sind Jagdtrophäen, visuelle Realitätskopien, technische Aneignungen der wilden Natur. Von der »ursprünglichen«, »wilden« Natur bleiben bezeichnenderweise am Ende diese Bilder: harmonische Landschaften und tote Vögel.
Conan Doyle visiert Kormorane an, der französische Physiologe Etienne Jules Marey zur gleichen Zeit mit seiner photographischen Flinte zahlreiche weitere Vögel. »Ich habe ein Gewehr, das nichts Mörderisches an sich hat«, schrieb er 1882 an seine Mutter,[45] und nahm Vögel mit 12 Bildern pro Sekunde im Flug auf, um das Gesetz ihrer Bewegung studieren zu können.[46] Es ist die Hochzeit der Momentphotographie, die das Reich der schnellen Bewegungen für sich entdeckt. Sie erkundet nun auch Bereiche des Sichtbaren, die für das unbewaffnete menschliche Auge nicht wahrnehmbar waren, und verschiebt so auch das Feld der Sichtbarkeit insgesamt. Die Photographie wird allmählich zum absoluten Beweis, dessen Evidenz so schlagend ist, daß Widerspruch zwecklos erscheint.
1.4 Modell von Mareys photographischer Flinte
1.5 Marey schießt eine Photoserie
1.6 Vögel im Flug, aufgenommen mit Mareys photographischer Flinte
Ein lustiges, aber auch beredtes Beispiel hierfür findet sich ebenfalls in Conan Doyles Photo-Essay »Mit der Kamera auf Kormorane«. Ein Mitglied der Expedition trinkt heimlich Whiskey aus der mitgebrachten Flasche und ersetzt ihn durch Wasser, wird dabei aber photographiert. »›Das ist ein ziemlich überzeugendes Beweismittel‹«, sagte der Doktor, während wir uns still in die Richtung zurückzogen, aus der wir gekommen waren. »›Wir werden es als kleine Überraschung für ihn aufbewahren.‹« Als der Aufgenommene aber beteuert, nichts aus dem Proviantkorb genommen zu haben, wird die Evidenz der Augenzeugenschaft – sie hatten es ja persönlich gesehen – zur Photographie hin verschoben und zugleich die Anklage so lange aufgeschoben, bis die Platte entwickelt ist: »›Bei Gott‹, rief der Doktor, ›ich glaube, wir haben ihm fürchterlich Unrecht getan. Sindbad zeigt Tiefen, die wir bisher noch nicht ergründet haben. Ich erkläre hiermit, dass ich nicht sicher sein kann, ob er es wirklich getan hat, solange das Photo nicht entwickelt worden ist.‹«[47] Am Ende wird »Sindbad«, der auch hier eine Art Seefahrer ist, der »stille Ankläger« übergeben, den der Angeklagte stumm anstarrt. Es ist zwecklos, gegen eine photographische Evidenz Einspruch zu erheben. Die Photographie ist Zeuge, Ankläger und Richter zugleich.
Conan Doyles knapper Essay ist, obwohl wie auch die anderen nicht von besonderer literarischer Qualität, gleichwohl aufschlußreich. Er nimmt auf, was in der photographischen Welt diskutiert wurde, und überführt es in eine einfache Geschichte. Diese führt ihn und seine Begleiter in eine Welt, die sich von jener Halbwelt zwischen Natur und Kultur, in der sie normalerweise leben, unterscheidet: Die »Isle of May« ist wilde Natur. Hier leben noch »prä-adamitische Kormorane«,[48] und einzig der Leuchtturmwächter ist von der menschlichen Zivilisation übriggeblieben. Die Photographie ist hier wie auch in den anderen Essays eine soziale Praxis. Sie wird gemeinschaftlich durchgeführt und schweißt zugleich die Gemeinschaft der Tagesreisenden zusammen. Photographieren hat auch in dieser Hinsicht eine integrative Funktion. Sie bringt nicht nur das Wilde in gezähmte Bilder, sondern macht aus einzelnen Personen ein Kollektiv.
Auch die weiteren Texte werden Formen eines solchen »Ausflugs in die Wildnis« vorstellen.[49] Ob es nun aber ins Feuchtmoor oder auf die Insel Arran geht, die später durch Robert J. Flahertys Men of Arran berühmt werden sollte und noch bei ihm für den elementaren Kampf des Menschen mit den Elementen steht, oder ins Herz der Finsternis nach Afrika, ist dabei nicht entscheidend. »Herrliche Bilderreihen« lassen sich vor allem dann nach Hause tragen, wenn die Aufnahmen im Kontrast mit dem Alltag stehen, wenn die Photographien zwischen Aneignung und Fremdheit oszillieren. Michael Taussig hat das auf die schöne Formel einer Mimesis gebracht, die »ständig damit trickst, zwischen dem Selben und dem ganz Anderen zu tänzeln«.[50]