Reiterpension Heidehof - Lise Gast - E-Book

Reiterpension Heidehof E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Zehn Jahre nach ihrer Trennung taucht Henner bei Brigge auf. Unterdessen hat Brigge eine Reiterpension gegründet, die sie mit ihren beiden Töchtern führt. Brigge hat Henner nie erzählt, dass sie nach der Trennung Zwillinge geboren hat und Henner zwei Söhne hat. Je länger sich Brigge und die Kinder einen Spass daraus machen Henner nichts davon zu erzählen und ihm die Wahrheit zu verschweigen, desto grösser wird das Durcheinander... – eine humorvolle und witzige Geschichte über die Lieblichkeit des Lebens.Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-

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Lise Gast

Reiterpension Heidehof

Saga

Reiterpension Heidehof

© 1979 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509968

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

»Wir sollen doch nicht Anhalter fahren, Gisela! Du weißt doch, Brigge hat es ganz streng verboten«, jammerte Schimmel halblaut und versuchte, die Schwester zu bremsen. Die aber riß sie mit sich fort.

»Das ist doch nicht Anhalter! Der hält von selbst, der steht da schon, ich hab’s doch gesehen. Und doch bloß bis Bergen! Dort erwischen wir den Bus! Wie willst du denn sonst nach Hause kommen?«

Die beiden Schwestern hatten ihren Schulbus mal wieder verpaßt, durch Trödelei, durch Schwätzen mit Freundinnen, durch Schaufenstergucken. Jetzt konnten sie sehen, wie sie von Celle nach Hermannsburg kamen, möglichst auch noch rechtzeitig, um Mutter nicht zu vergewittern. Gisela zerrte die Jüngere an der Hand mit sich.

Am Straßenrand, Kühlerhaube Richtung Norden, hielt ein Wagen mit einem einzelnen Herrn drin. Es war ein Herr, Gisela hatte es sofort erkannt, sie verstand mit ihren siebzehn Jahren schon sehr gut zwischen Herr, Mann und Kerl zu unterscheiden. Er schnippte sich eben die Spitze einer Zigarre ab, um sie dann genußvoll anzurauchen. Gisela bremste in Höhe des Wagens ihren Sturmschritt ab und beugte sich zum rechten Wagenfenster herunter.

»Entschuldigen Sie – könnten Sie uns mitnehmen? Wir haben leider unsern Bus verpaßt –«

Der Herr sah nett aus, nicht sehr groß, ein klein bißchen rund, aber behaglich, und erinnerte sie an jemanden. Als er den Kopf zu ihr wandte, ging es wie ein Schlag durch sie hin. Vati! Nein, so ein Zufall!

Sie wollte rufen und schloß dann den Mund. Ganz sicher war sie ihrer Sache eben doch nicht. Ihr Griff um Schimmels Handgelenk wurde eng wie ein Schraubstock. »Halt den Mund!« Schimmel hatte noch gar nicht begriffen, geschweige denn etwas gesagt.

»Bis wohin? Bis Hamburg?« fragte der Herr ein wenig spöttisch und lachte. Gisela sah ihn nachsichtig an.

»Natürlich nicht. Bis Bergen. Dort kriegen wir den Bus.«

»Wohin wollt ihr denn?«

»Nach Hermannsburg.«

»Aha. Da fahre ich nämlich sowieso hin. Das heißt, ich weiß noch nicht –«

Wenn jemand sowieso dorthin fährt, wohin man will, so ist das immer verdächtig. Gisela kannte sich im Anhalterfahren aus. Immerhin, wenn es Vati war ...

Wenn. Sie hatte ihn schon so lange nicht gesehen, und Fotos sind eine unzuverlässige Sache. Immerhin, der Kopf im Profil mit dem vollen Kinn – bei jemand anderem hätte sie es als Kehlbraten bezeichnet –, die feste Nase und die ein wenig gelichtete Stirn – ganz ähnlich sah er auf Brigges gerahmtem Foto aus. Gisela überlegte das Tausendstel einer Sekunde lang, dann schoß ein Blitz durch ihr Gehirn: der Finger! Vati hatte an der rechten Hand das letzte Glied des kleinen Fingers verloren, sie wußte das noch, und Brigge hatte manchmal davon gesprochen. Wenn das stimmte –

Es stimmte. Sie sah es mit einem ganz kurzen Blick, und da hatte sie auch schon die Tür geöffnet. Es war Vati, sie konnte einsteigen. Und daß er nichts dagegen hatte, darüber war sie sich längst klar. Mit dem schmelzendsten Lächeln, das ihr zu Gebote stand, nahm sie neben ihm Platz, Schimmel mit einer Schulterbewegung auf den hinteren Sitz verweisend.

»Haaaalt! Kinder sollen hinten sitzen –«

»Ich bin siebzehn, nächstes Jahr volljährig«, sagte Gisela hoheitsvoll und angelte schon nach dem Sicherheitsgurt, »als Kind gilt man nur bis zehn.«

»Ach! Kiekindiewelt! Da muß ich wohl Sie sagen?«

»Sie können ruhig. In der Schule werden wir auch gesiezt, das heißt, Schi – äh, meine Schwester noch nicht –«, er brauchte ja nicht gleich zu merken, wen er da aufgeladen hatte. Der Name ›Schimmel‹, ihres weißblonden Haares wegen, war ja nicht direkt häufig. Um ein Haar hätte sie sich verplappert. Er sagte nichts, sondern fuhr an.

»Na schön, also Sie. Und Sie sind in Hermannsburg zu Hause?«

»Ja. Sie nicht?« Das war natürlich eine Frechheit. Damals hatten sie woanders gewohnt, das Haus in Hermannsburg gehörte Großmutter.

»Ich wünschte doch – ach was«, unterbrach er sich und sah geradeaus. Gisela schwieg, sie hatte den Ton gut gehört. Jetzt nichts sagen, abwarten, bis er wieder anfing. Schweigend saß sie neben ihm, hatte vorsichtshalber den linken Arm über die Rücklehne gehängt. Auf diese Weise konnte sie notfalls Schimmel ein Signal geben, wenn diese ihr etwa das Programm stören sollte. Meist ließ sie ihr ja Vortritt, schon, weil Gisela nicht nur älter, sondern auch gescheiter und wendiger war, anderseits, weil es sich als bequem erwies, nicht entscheiden zu müssen. Ob Schimmel Vati erkannt hatte, war Gisela nicht klar.

»Wir gehen in Celle ins Gymnasium. Es ist weit zu fahren, aber eine sehr gute Schule«, begann Gisela nach einer Weile harmlos zu plaudern. Schule war immer noch ein gutes Thema, es zeigte dem Fahrer, daß sie erstens noch jung, zweitens sozusagen aus guter Familie waren. »Beide humanistisch, mit Latein angefangen – –«, hoffentlich sprach er sie jetzt nicht lateinisch an. Vati war ein ausgezeichneter Lateiner, Brigge hatte das oft geseufzt, wenn eine von ihnen eine Fünf brachte. ›Vati könnte euch helfen –‹ Gottlob, er tat es nicht.

»Ich habe – – Bekannte in Hermannsburg«, sagte er jetzt langsam, seinem eigenen Gedankengang folgend, »eine Familie mit zwei Töchtern, das heißt, eine Mutter. Und eine Großmutter – –. Sie wohnen im Haus der Großmutter, etwas außerhalb – « Gisela biß sich auf die Lippen. »Die Töchter sind ungefähr in eurem – Verzeihung, in Ihrem Alter.«

»Und die Mutter?«

»Na, entsprechend. Sie hat eine Fremdenpension im Haus der Großmutter eingerichtet, nimmt Feriengäste und betreut sie, lebt davon, einen Beruf hat sie nicht gelernt – « er schwieg wieder. Gisela schwieg auch, aufs höchste gespannt. »Und Pferde hat sie auch. Das Haus nennt sich Reiterpension Heidehof, kennen Sie es?« fragte er jetzt geradezu. »Hermannsburg ist ja nicht groß.«

Wie gut, daß ihr Arm über der Rücklehne hing. Gisela krallte ihre Hand in Schimmels Arm, daß diese stöhnte.

»Ja, kennen wir. Wie man sich halt kennt, jedenfalls flüchtig. Die Töchter gehen in unsere Schule«, sagte Gisela obenhin. Der Fahrer drehte ihr sein Gesicht zu.

»Gisela!« sagte er, und es war wie ein Schuß. »Und Schimmel! Ich hab es sofort gewußt.«

»Vati!« Zweistimmig, aber genau im selben Augenblick.

Er fuhr rechts an den Rand der Straße, hielt, wandte sich ihnen voll zu. »Ihr freches Gelichter, Anhalter zu fahren! Das dürft ihr doch bestimmt nicht! Und dann das Blaue vom Himmel herunter zu schwindeln –«

»Ich hab’ nicht geschwindelt! Kein Wort! Ich hab’ nur –«, sie lachten alle drei, lachten und lachten. Der Vater sah seine Töchter an, die eine und die andere, und schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein, seid ihr groß geworden! So was! Gable ich euch hier auf! Ich war übrigens noch nicht entschlossen, zu euch zu fahren, knobelte und knobelte, ob ich es tun sollte.«

»Du kommst doch aber? O Vati, wird Brigge sich freuen!«

»Das weiß ich eben nicht.« Er betrachtete seine Zigarre. »Das weiß ich wirklich nicht. Sie hat mich damals – – nun, also, sagen wir so: Ganz im guten sind wir nicht auseinandergegangen. Das wißt ihr sicher. Und ich will nicht wieder hinausgeschmissen werden, kurz gesagt.«

»Brigge schmeißt dich doch nicht hinaus!« riefen beide wie aus einem Mund. »Und sie sagt, du wärst ein hervorragender Reiter. Wir haben doch Pferde – o Vati, du mußt kommen! Eins heißt Mausi, hellgrau, eine Stute, noch jung – – und eins Prinz. Die Mausi geht ein bißchen schwer an den Zügel, weißt du, sie ist noch steif in den Ganaschen, aber ...«, und nun schütteten sie ihre ganze Reitbegeisterung über ihn aus. Der Vater, zurückgelehnt in seinen Sitz, sah von einem der jungen Gesichter ins andere.

Er hatte sie fast zehn Jahre nicht gesehen. Unvorstellbar, Töchter zu besitzen und sie nicht um sich zu haben, in diesem entzückenden Alter – – –. O Brigge, du Dickkopf, du Rechthaber, du – Es gelang ihm im Augenblick recht gut, sich schlecht behandelt und bedauernswert zu fühlen, so etwas konnte er hervorragend. Daß in Wirklichkeit damals er es gewesen war, der von seiner Frau weggegangen war, daran zu denken vermied er geflissentlich. Sie hatte ihn hinausgeworfen, sie hatte ihm vorenthalten, was ihm zustand: eine Familie, zwei entzückende Töchter – – – »Was hast du denn, Vati?« fragte Schimmel jetzt leise. »Ist dir nicht gut?« Sie sah ihn mit einem ängstlichen und sehr liebevollen Blick an. So konnte auch Brigge schauen, selten, aber manchmal ... der Vater bemühte sich um ein Lächeln.

»Doch. Ich bin nur traurig. – – Ich lebe so allein, wißt ihr – –«

»Jetzt nicht mehr! Jetzt bist du nicht mehr allein! Du kommst mit zu uns«, sagte Schimmel schnell und drängend in tröstlichem Ton, »Brigge wird sich wahnsinnig freuen, und die –«

»Die Großmutter auch!« fiel Gisela ein und schoß einen Löwenbändigerblick auf die Schwester ab, »ja, die auch. Das meinst du doch auch, Schimmel, nicht wahr?«

»Ja, die Großmutter auch.« Schimmel hatte verstanden. Brigge hatte es ihnen oft und oft gesagt. Nie sollte der Vater es wissen, nie – – und dann war ihre ganze, stämmige kleine Person eine einzige Drohung gewesen: Warte nur, du wirst dich wundern! Nein, das mußte man ihr nun überlassen, dieser Mutter, die ihnen nun mal gegeben worden war. Manchmal hatten sie über sie geseufzt, wie es Heranwachsende immer und überall über die Altvorderen tun, obwohl sie sie im Grunde schon mochten, jedenfalls gegen andere Mütter nicht hätten tauschen mögen. Gegen Mütter mit »Es gehört sich« und »Das hätte ich nie zu meiner Mutter gesagt« und solchem Zeug. Brigge war im Grunde schon recht, jetzt aber hatten sie auch einen Vater, wie wunderbar. Jetzt wurde alles anders.

»Also du kommst mit, und wir sagen Brigge nichts, und – nein, wir sagen es doch! Wir sagen, wir bringen jemanden mit, und ob sie ihn erkennen würde – oder wir gehen einfach ins Haus, und du schleichst dich hintenherum rein – nein, das geht nicht, aber vielleicht – – « Sie sprachen durcheinander, prusteten vor Lachen, hatten immer neue Ideen, während der Vater seine inzwischen ausgegangene Zigarre anstarrte und immerzu dachte: ›Fast zehn Jahre. Fast ein Jahrzehnt deines Lebens. War das nötig gewesen? War das richtig? Konnte man da überhaupt noch kommen, ohne zu gewärtigen, daß man hinausflog, diesmal aber im wahrsten Sinn des Wortes?‹

»Reiterpension Heidehof ...«

Das Wort »Reiter« brachte ihn in die Gegenwart zurück. ›Du müßtest die Mausi mal reiten, ganz zuverlässig ist sie nämlich nicht‹, hatte Schimmel vor ein paar Augenblicken gesagt.

Brigge war soweit eine ganz gute Reiterin, keine hervorragende, aber immerhin. Und die Mädchen, nun, die waren bestimmt nach ihm, dem Vater, geraten, aber sie waren noch jung. Wenn also eins der Pferde jemanden brauchte, der es – nun, sagen wir mal: korrigierte ...

Er richtete sich auf.

»Ihr meint also, die Mausi ist nicht zuverlässig? Nun, da muß ich, glaub’ ich, schon mal nach dem Rechten sehen kommen«, sagte er und fühlte sich verantwortlich und pflichtbewußt, uneingedenk dessen, daß er sich zehn Jahre lang nicht gekümmert hatte, »also ich komme mit, wenigstens für kurz. Es geht ja nicht, daß ihr ein Pferd reitet, das – –«

»Wenn der wüßte, daß die Jungen sie schon reiten«, flüsterte Schimmel Gisela zu, die kichernd in sich zusammensackte. Der Vater war soeben ausgestiegen und um den Wagen herumgegangen, weshalb, ahnten sie nicht. »Sag bloß nichts von den Jungen – – –«

»Mensch, wo werd ich denn! Weiß ich doch längst ...«

Brigge radelte heim. Sie war im Nachbardorf gewesen und hatte frische Eier gekauft, Eier von »Herumlauf-Hennen«. Andere konnte man den Gästen ja nicht vorsetzen. Das Eierkörbchen hing an der Lenkstange. Brigge war friedlicher Laune.

Sie besaß einen kleinen Wagen, einen winzigen, alt gekauft, an dem häufig etwas zu reparieren war, manchmal aber fuhr er auch. Aber sie radelte. Erstens machte es schlank und erhielt fit, zweitens sparte man Benzin, und drittens sollten die Kinder zur Bescheidenheit erzogen werden. Die taten überhaupt, als hätte sie, Brigge, ein Dukatenmännchen in ihrem Sekretär, das Tag- und Nachtschicht machte. Jetzt wünschte sich Gisela einen Kassettenrecorder! So was! Sie, Brigge, hätte das nie gewagt mit siebzehn Jahren!

Daß es damals noch gar keine gab, überlegte sie nicht. Und ihre Empörung war auch nicht allzu groß, dazu war der Tag zu schön. Sie pfiff vor sich hin, selbstvergessen und vergnügt.

Der Weg, schwarz mit weißen Sandstreifen durchsetzt, führte hier am Wald entlang, bald würde sie die Oerze queren. Brigge sprang ab, als sie soeben erblühte Heide entdeckte, pflückte ein paar Stengel davon. Jetzt kamen bald die hohen, kühlen, blitzenden Morgen des Herbstes, der die Krone aller Jahreszeiten ist, unumstritten, vor allem hier in dieser Gegend. ›Es stehn drei Birken auf der Heide, vallerie und vallera ...‹

Sie befestigte die kleinen holzigen Stengel vorn an ihrem Kleid. Dann stieg sie wieder auf, dabei summte sie dieses alte Lönslied vor sich hin, nach der Jödeschen Melodie, die den leichten Sinn der Worte so gut traf. Währenddessen überholte sie einen ziemlich zerlumpt gekleideten Mann, der am Wald entlangging und nach der anderen Seite sah, als sie an ihm vorbeifuhr, so, als wollte er sein Gesicht nicht sehen lassen. Merkwürdig, warum wollte er das nicht? Sein Rücken war ein wenig gebeugt, die Schultern zusammengezogen, seine ganze Haltung machte einen gedrückten und geduckten Eindruck. Brigge hatte aufgehört zu summen und fuhr schneller weiter. Nach einer Weile merkte sie, daß sie nicht mehr vergnügt und zufrieden war.

Als sie die Oerze überquert hatte, unterhalb der Badestelle, die sie gern mit den Kindern benützte, weil sie so versteckt lag, daß man auch ohne alles ins Wasser gehen konnte, wußte sie plötzlich den Grund ihrer Verstimmung. Sie hatte neulich in Celle, als sie nach dem Einkaufen einen Kaffee trank, in Illustrierten geblättert und dabei einen Artikel gelesen über einen Mann, der sich in der Heide herumtreiben sollte und Kinder, insbesondere kleine Jungen, an sich lockte, um sie umzubringen. Schauerlich, zum Grausen.

Es war natürlich dumm, sich nun sofort die eigenen Kinder vorzustellen. Gefahr ist überall, wo man einsam wohnt, und wo nicht, ist auch welche. In der Großstadt gibt es den Moloch Verkehr, war der nicht noch größer? Übrigens mochte es auch da solche schrecklichen Menschen geben, vielleicht sogar noch häufiger. Es war gar zu schauerlich, was sie da gelesen hatte, und sie mußte noch heute ganz eindringlich mit den Jungen reden. Mit den beiden Mädchen übrigens auch, denn wer wußte! Ach ja, selbst Mütter von ihrem Schlag, die manches durchgemacht hatten und optimistisch und zuversichtlich dachten: »Es wird nicht gerade uns treffen«, hatten mitunter dunkle Stunden, wenn sie an die Fährnisse der Welt dachten. Der Welt, in die die Kinder hineinwuchsen, jung, dumm, ahnungslos und lebensgierig.

Die Kinder trieben sich viel zuviel herum, stundenlang oft. Aber sie waren ja immer zu zweit, die Töchter wie die Söhne. Das war bestimmt ein gewisser Schutz. Trotzdem würde sie ihnen die Hölle heiß machen, wenn sie heimkam, und zwar gründlich.

Brigge fuhr schneller, als könnten die wenigen Minuten, die sie dadurch gewann, etwas ausmachen. Sie folgte einem mit Birken gesäumten Weg, der außen an der Ortschaft entlangführte, dann sah sie ihrer Mutter Haus, ihr Zuhause. Und wie immer ging ein warmer Strom durch ihr Herz: welche Kinder hatten wohl so eine Heimat wie die ihren!

Der Hof lag außerhalb des Städtchens, zwischen Stadt und Heide, und war so richtig echt. Das riesenhohe, reetgedeckte Dach, der Garten an der Giebelseite, den ein winziger Zaun umschloß und der jetzt in allen Farben strahlte. Es war ja die Zeit der ersten Dahlien.

Brigge führte ihr Rad den schmalen Mittelweg entlang, der zwischen den Beeten auf die Haustür zulief, da stürzten ihr auch Peter und Anselm schon entgegen. Sie hatten immer allerlei erlebt, was sie sofort erzählen mußten, wobei einer dem andern das Wort vom Munde nahm. Brigge hatte für jeden einen dicken, gelblichen Apfel mit, die auf den Eiern gelegen hatten, ohne daß ein einziges Ei Schaden genommen hatte.

»Da, der Bauer läßt euch grüßen. Und zur Pflaumenzeit sollt ihr kommen, hat er gesagt. Lauft mir aber jetzt nicht fort, ich mach’ gleich Feuer in der Waschküche. Ihr badet schon nachmittags, sonst ist wieder ewig kein Fertigwerden. Verstanden? Daß ihr mir da seid!«

Sie konnte ihnen dann einiges von dem sagen, was sie sich vorgenommen hatte mit ihnen zu besprechen. Beim Baden und Kopfwaschen konnten sie nicht mit »Jaja, wir wissen schon« entfleuchen.

Die Großmutter, ihre Mutter, »Omme« genannt, schien nicht dazusein. In ihrer weitherzigen und gar nicht gluckenhaften Art hatte sie für Brigge kein Mittagessen, sondern nur ein Schälchen Kompott hingestellt, Brigge war dessen froh. Man mußte für die Linie sorgen. Sie aß ein paar Löffel, trank einen Schluck Kaffee und freute sich ihres Alleinseins.

Man war so selten allein. Immer Gäste – gewiß, auch das hatte seine netten Seiten, ganz abgesehen davon, daß man von ihnen lebte. Aber manchmal wurde es lästig. Heute waren alle fort. Brigge beschloß, das auszunützen, und rief durch das geöffnete Fenster nach den Jungen.

»Ihr könnt mir die Mausi fertig machen. Oder war sie heute schon draußen?«

»Nachmittags nicht. Vielleicht am Vormittag, als wir in der Schule waren«, sagte Anselm. Peter aber zog den Bruder wortlos und eilig mit sich. Er war ein echter Pferdenarr, jeder Handgriff an der geliebten Kreatur war für ihn ein Vergnügen.

Brigge ging in ihr Zimmer hinauf und zog sich um. Die Sonne schien herein und ließ die gescheuerten Dielen fast weiß erscheinen. Brigge nahm, ehe sie es weghängte, von ihrem Kleid die Heidekrautstengel und steckte sie hinter das Bild der Kinder, das über ihrem Bett hing. Es war eine vergrößerte Liebhaberaufnahme, die Mädchen etwa zwölf, dreizehn Jahre alt, die Jungen entsprechend jünger. Brigge liebte dieses Bild, erinnerte es sie doch auch an den Vater ihrer Kinder.

Sie quälte sich, behaglich knurrend, in die Reitstiefel, trat dann vor den Spiegel. Weiße Bluse, schwarze Hose – es stand ihr gut. Breit war sie, aber mehr in den Schultern als in den Hüften. Die Mädchen hatten kritische Augen, aber an Mutters Reitanzug konnten sie nichts meckern.

Welch wunderschönes Gefühl, so durch den Garten zu schlendern, das goldene Nachmittagslicht zu atmen, das ringsum leuchtete, die Samstagsstille zu genießen! Richtig, jetzt fiel ihr auch ein, warum es so still war. Heute begann ja das Treffen der Evangelischen Akademie, da waren vermutlich alle zu dem einleitenden Vortrag gegangen, auch Omme und die Gäste. Nun, um so besser.

Peter hatte tadellos gesattelt, dabei reichte er der Mausi kaum bis auf den Rücken. Er war mindestens einen halben Kopf kleiner als sein Bruder, aber sehr blond, während Anselm schon stark nachdunkelte. Schade, früher waren beide solche Flachsköpfe gewesen. Wie Schimmel – Schimmel würde wohl ihr ganzes Leben lang so weißblond bleiben, wenn sie ein klein wenig achtgab und ihr Haar pflegte. Wenn man mit fünfzehn noch nicht nachgedunkelt war, blieb man blond. Aber Blondheit erfordert viel Mühe, Brigge wußte das.

»Danke, ihr könnt abbrausen«, sagte sie, als sie aufgesessen war. Sie hatte es nicht gern, wenn die Jungen ihr neidisch-kritisch nachstarrten, besonders auf der Mausi nicht. Aber Brigge ritt sie nun mal lieber als den Prinz, sie hatte solch einen schönen, weiten Schritt und war im Galopp kaum zu halten vor Übermut und Lebenslust.

Es war doch schön, daß sie wieder zwei Pferde besaßen. Omme hatte natürlich Bedenken gehabt.

»Sie werden uns die Haare vom Kopf fressen, und draufsitzen werdet ihr, Schimmel und du und die Jungen«, hatte sie prophezeit, während Brigge mit den rosigsten Aussichten wirtschaftlicher Art lockte. Nach der ersten Anzeige in einer nicht mal vielgelesenen Frauenzeitschrift kamen die Anfragen nur so geflattert, und die Mund-zu-Mund-Reklame tat später das übrige. Gäste hatten sie immer.

Brigge hatte die Bahn erreicht und ließ die Mausi antraben. Es war alles einfach hier, aber so freundlich, die Natur war gleichsam liebenswürdig und entgegenkommend. Eine Reithalle besaß man natürlich nicht, aber die Heide lieferte gratis den schönsten, weichsten Sand für die Bahn, den man sonst teuer hätte bezahlen müssen. Und wieviel schöne Spazierritte gab es! Peter konnte man schon gut einem etwas zaghaften Reitgast auf dem andern Pferd mitgeben, wenn Schimmel oder sie selbst einmal keine Zeit hatten. Vielleicht schaffte man eines Tages noch ein Pferd oder zwei an. Der Stall war groß genug.

»Brigge, hallo!« rief es vom Haus her. Es war Anselms Stimme. Was war denn schon wieder los? Konnte man nicht einmal eine Viertelstunde in Ruhe reiten? Brigge, ärgerlich, verhielt die Mausi und lauschte. Vom Pferd zurückrufen mochte sie nicht, Anselm sollte nur kommen, wenn es etwas Wichtiges war. »Da ist ein Mann, Mutter«, verkündete er, zwischen den Sträuchern auftauchend und gleich wieder verschwindend. Brigge ärgerte sich. ›Da ist ein Mann –‹, das war doch keine Art. Dieser trat jetzt, sich etwas bückend, auf den Reitplatz heraus. Er kam von Westen, hatte also die Sonne im Rücken und wurde überstrahlt, so daß man nur seine Silhouette sah. Trotzdem gab es Brigge einen Stoß am Herzen. Der Mann war Henner.

Henner! Und sie hier allein! Sie hatte oft gedacht, wie es sein würde, wenn ihr Mann eines Tages hier erschien, jetzt aber war sie doch im Augenblick hilflos. So ritt sie einfach weiter, bis sie an die Stelle kam, wo er im Hufschlag stand, und streckte ihm dann die Hand entgegen. Ihr Ring funkelte in der Sonne.

»Henner!«

»Brigge!« sagte er leise. Er war auch befangen, und das gab ihr wieder Oberwasser. Trotzdem saß sie sogleich ab.

»Wie lange bist du denn schon da? Mein Gott, Henner, ist das aber nett!«

Sie standen, sahen sich an und senkten dann beide gleichzeitig den Blick. So also war dieser Moment, auf den Brigge jahrelang gewartet hatte. Sie hob den Kopf, um sich zu überzeugen, daß es Wahrheit war – und dabei vergaß sie alles andere über dem Gesicht des Mannes, der einmal ihr Mann gewesen war. Er war gealtert, kein Zweifel, grau, ein wenig gedunsen. Aber die Augen waren noch die gleichen, hell, fast farblos, wie Schimmels Augen. Henner!