Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil I - Religionsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin
Hinführung
I.1 Gegenstandsbereich der Religionsdidaktik
1. Religion und Didaktik
2. Theorie und Praxis
3. Religiöse Lernprozesse reflektieren, planen und verantworten
4. Religiöses Lernen entlang des Lebenslaufs
I.2 Religionsdidaktik als Wissenschaft
1. Von der Katechetik zur Religionsdidaktik
2. Gegenwärtige Begründungen einer Religionsdidaktik als Wissenschaft
3. Religionsdidaktik in Kooperation mit den theologischen Disziplinen
4. Religionsdidaktik und Humanwissenschaften
5. Binnendifferenzierung der Religionsdidaktik
Copyright
Vorwort
Der vorliegende Band, der nun in sechster, stark überarbeiteter Auflage erscheint, entfaltet »Religionsdidaktik« als eine interdisziplinäre Verbundwissenschaft, die religiöse Lehr- und Lernprozesse entlang der Biografie behandelt. Das besondere Augenmerk ist dem schulischen Religionsunterricht gewidmet. Die Verfasser sind davon überzeugt, dass religiöses Lernen in der weltanschaulich pluralen Gesellschaft auch zu Beginn des dritten Jahrtausends befreiend, bereichernd und für das Leben sinnstiftend sein kann.
Das Handbuch verfolgt eine doppelte Absicht: Zum einen bietet es einen Leitfaden für die religionsdidaktische Ausbildung an Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und Seminaren, zum anderen möchte es zur Theoriebildung beitragen, indem es die einschlägigen Faktoren, Schwerpunkte und Prinzipien des komplexen Unterrichtsgeschehens systematisch und zugleich praxisbezogen diskutiert. Darüber hinaus hat das Buch die bereits unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer im Blick. Es dient ihrer Professionalisierung und bietet ihnen Anregungen, die eigene Praxis des religiösen Lehrens und Lernens vor dem Hintergrund der aktuellen religionsdidaktischen Diskussion zu reflektieren. Der Inhalt des Buches gliedert sich in bewährter Weise in vier Teile:
• Der erste wissenschaftstheoretische und historische Teil gibt Rechenschaft über das Selbstverständnis der vergleichsweise jungen Disziplin angesichts der gesellschaftlichen und besonders jugendsoziologischen Herausforderungen. Die grundlegenden religionsdidaktischen Ansätze in der Bildungs- und Lerntheorie, in der Kommunikationstheorie und in einem gemäßigten Konstruktivismus werden aufgezeigt.
• Der zweite Teil behandelt - anhand von W-Fragen - die internen und externen Bedingungsfaktoren, Strukturen und Vernetzungen des schulischen Religionsunterrichts.
• Der dritte Teil präsentiert zwölf leitende religionsdidaktische Prinzipien des Religionsunterrichts. Die Rezeption der bisherigen fünf Auflagen der Religionsdidaktik hat die Autoren bestärkt, die ausgewählten Prinzipien zum Kernbestand religionsdidaktischer Reflexion zu zählen. Allerdings haben wir gegenüber den bisherigen Ausgaben die Prinzipien von fünfzehn auf zwölf reduziert (eine nähere Begründung und einen Überblick über die diesbezüglichen konzeptionellen Änderungen siehe in der Hinführung zu Teil III, S. 331-333).
• Der vierte, nun deutlich erweiterte Teil nimmt die Unterrichtsplanung und -gestaltung genauer in den Blick. Den jüngsten Veränderungen ist Rechnung getragen, indem neuere Diskussionen aufgenommen wurden. Dieser vierte Teil zeigt auf, was guten Unterricht im Kontext der Schulkultur auszeichnet und wie religiöse Lernprozesse verantwortungsbewusst und professionell geplant und evaluiert werden können.
Als wissenschaftliche Disziplin muss die Religionsdidaktik neue Erkenntnisse aufgreifen, auf neue Entwicklungen eingehen und sich fragen, wie in einer sich verändernden Welt religiöse Bildung konzipiert und legitimiert werden kann. Die Wahrnehmung von Religion in der Öffentlichkeit seit dem 11. September 2001, die bewusstere Suche nach spirituellen Grundlagen des Lebens, die Aufgabe, junge Menschen unterschiedlichster Herkunft in die Gesellschaft zu integrieren, ökonomische Probleme als Auswirkung der Weltwirtschaftskrise mit den Unsicherheiten der Arbeitsplatzsuche und -sicherung und der ins Stocken geratene ökumenische und interreligiöse Dialog - um nur einige Stichworte zu nennen - sind Herausforderungen für die religiöse Bildung und Erziehung.
Die Verfasser der Religionsdidaktik sind sich des sozialen und gesellschaftlichen Wandels wie auch der wissenschaftlichen Veränderungen bewusst. Mit einem nüchternen Blick auf die jugendspezifischen und soziokulturellen Voraussetzungen zielt dieses Buch darauf, die Chancen religiöser Lernprozesse herauszuarbeiten. Die Neuausgabe strebt hier wie auch bisher gedankliche Offenheit, einen kritischen Blick und eine ökumenische Orientierung an.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die Erstellung und Neubearbeitung der Textbeiträge, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Sekretärinnen und studentischen Hilfskräften für die lebendige Kooperation. Nicht zuletzt danken wir Winfried Nonhoff und Margarete Stenger vom Kösel-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit und die Aufnahme des Bandes in das religionsdidaktische Verlagsprogramm.
Wir wünschen den Leserinnen und Lesern, dass sie Anregung und Inspiration erhalten, den Studierenden, dass sie Interesse am Beruf und Ideen für ihren professionellen Habitus finden und schließlich den Religionslehrerinnen und -lehrern, dass sie ihre schwierige, aber lohnende Arbeit mit Freude und Erfüllung bewältigen.
Georg Hilger, Stephan Leimgruber, Hans-Georg Ziebertz
Teil I
Religionsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin
Hinführung
In den ersten fünf Kapiteln dieses Bandes geht es um Grundfragen der Religionsdidaktik. In den Kapiteln werden Fragen geklärt, die zum Verständnis einer zeitgemäßen Religionsdidaktik wichtig sind: Wie versteht sich die Religionsdidaktik selbst? Worauf richtet sie ihren Blick, was ist der Gegenstand, mit dem sich das Fach beschäftigt? Wie nähert sich die Religionsdidaktik ihrem Gegenstand? Inwieweit ist sie Wissenschaft, und welche Beziehung hat sie zur Praxis religiösen Lehrens und Lernens, insbesondere zum Religionsunterricht? Welche Orientierungen kennzeichnen die Disziplin heute und wie haben sich diese im Laufe der Zeit gewandelt und entwickelt? In welchem Verbund steht die Religionsdidaktik zu anderen Disziplinen?
Diese Fragen stellen und beantworten zu können, verstehen wir als Teil einer religionsdidaktischen Reflexionsfähigkeit, die von Studierenden erworben und von Lehrenden gepflegt werden muss. Sie ist eine Voraussetzung, um an religionsdidaktischen Diskursen teilnehmen und religionsdidaktisches Denken beurteilen zu können. Nicht selten wird die Religionsdidaktik zwischen Wissenschaft und Praxis angesiedelt, und man erwartet von ihr einen methodisch geschickten Transfer wissenschaftlicher Theorien in die Praxis. Die ersten Überlegungen in diesem Band machen deutlich, dass damit jedoch nur ein Teilbereich der Religionsdidaktik angesprochen wird. Die Disziplin, wie sie sich heute versteht, geht darüber hinaus. Sie zeigt nicht nur, wie religiöses Lernen funktioniert, sondern problematisiert in umfassender Weise eine Vielzahl von Fragen, die mit religiösen Lernprozessen zusammenhängen.
Das erste Kapitel klärt, was unter religiösen Lernprozessen verstanden wird und welche Dimensionen dieser Prozesse von der Religionsdidaktik bearbeitet werden. Die Spannung zwischen dem theoretischen Anspruch, den die Religionsdidaktik erhebt, und der Praxiswirksamkeit, die von ihr erwartet wird, zwingt zu einer Klarstellung, wie Theorie und Praxis zusammenhängen. Damit wird ein Grundverständnis geschaffen, wie die Religionsdidaktik arbeitet und auf welche Felder sich ihre Aufmerksamkeit erstreckt. In diesem Band verstehen wir religiöses Lernen als einen lebenslangen Lernprozess, an dem die Schule einen Anteil hat. Der Religionsunterricht in der Schule braucht dazu eine alters- und entwicklungsgemäße Perspektive.
Das zweite Kapitel vertieft diese Fragen. Es stellt dar, wie sich die Religionsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin selbst versteht und wie sie Forschung betreibt. Wissenschaftstheoretische Überlegungen dienen dazu, sich zu vergewissern, wie man zu Theorien kommt. Theorien der Religionsdidaktik nehmen die Praxis auf und reflektieren sie - nicht zuletzt, um innovative Rückwirkungen auf religiöses Lehren und Lernen zu erzeugen. Es geht also nicht nur um Ratschläge für die Praxis, sondern um begründete Aussagen, die auf dem systematischen Einbezug von Erfahrungswissen beruhen. Dazu ist die Religionsdidaktik auf weitere theologische und nicht theologische Disziplinen angewiesen, mit denen sie kooperiert, vor allem die Humanwissenschaften.
Drittens wird aufgearbeitet, in welchem historischen Zusammenhang die Religionsdidaktik steht. Die Reflexion der Geschichte religionsdidaktischer Theoriebildung ist eine wichtige Plattform, heutige Fragestellungen und Probleme in ihrer Entwicklung zu verstehen. Die historische Betrachtung zeigt, welche Wege bereits beschritten und welche Lösungen gesucht wurden, wo man erfolgreich war und wo man in Sackgassen gesteuert ist. Die Kenntnis von der Vielfalt und Einsicht in die Chancen und Grenzen konzeptueller Entwürfe ist für eine angemessene eigene Verortung unerlässlich. In einem Exkurs werfen wir einen Blick über den Tellerrand nach Europa und auf weitere Formen des Fachs Religion.
Im vierten Kapitel wird die Gegenwart als Bezugsgröße der Religionsdidaktik angesprochen. Die moderne Gesellschaft, die von weltanschaulicher Pluralität gekennzeichnet ist, stellt eine große Herausforderung für die Konzeption religiöser Lernprozesse dar. Religionsdidaktische Theorien und Konzepte müssen die Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen berücksichtigen, um angemessen an ihre Lebenswelt anknüpfen zu können. Zu den Voraussetzungen gehört, sich über empirische Befunde zur Religiosität Jugendlicher zu vergewissern.
Religiöses Lernen ereignet sich schließlich im Zusammenhang einer bestimmten Bildungskultur. Im deutschsprachigen Bereich ist der Religionsunterricht an der Schule ein ordentliches Fach im allgemeinen Fächerkanon. Eine zeitgemäße Religionsdidaktik kann sich daher nicht allein mit theologischen Überlegungen begnügen, sondern muss ihren pädagogischen Anspruch darlegen. Im Religionsunterricht realisiert sich, wie in jedem anderen Schulfach auch, anteilig der schulische Bildungsanspruch. Die Religionsdidaktik muss sich daher die grundlegende Frage stellen, wie sie religiöses Lernen im Gesamt der Bildung verortet. In diesem Band wird dazu vor allem auf eine bildungstheoretisch, kommunikationstheoretisch und konstruktivistisch verantwortete Pädagogik zurückgegriffen.
In diesem ersten Teil werden noch keine speziellen Probleme behandelt. Vielmehr geht es um eine allgemeine Orientierung, die den Rahmen für die nachfolgenden Kapitel bereitstellt.
I.1 Gegenstandsbereich der Religionsdidaktik
Hans-Georg Ziebertz
Die Religionsdidaktik beschäftigt sich als akademische Disziplin mit der Reflexion von Faktoren, die für das Lehren religiösen Lernens und für religiöses Lernen selbst von Bedeutung sind. Das Kapitel erläutert einige Aspekte, wie sich die Religionsdidaktik ihrem Feld nähert und was dieses Feld kennzeichnet. Das besondere Augenmerk liegt auf der konzeptuell weitreichenden Prämisse, dass religiöses Lernen angemessen im Horizont des Lebenslaufs zur Sprache kommt. Die Schule ist zwar nur in einem bestimmten Zeitabschnitt im Lebenslauf aktuell, in diesem Abschnitt »Kindheit« und »Jugend« ereignen sich allerdings entscheidende Entwicklungen.
Comenius bezeichnete sein großes Lehrbuch aus dem Jahre 1657 als »Didactica magna«. Didaktik galt als eine ars docendi (»Lehrkunst«). Der etymologische Ursprung geht auf das griechische didaktiké techné bzw. didaskein (= lehren) zurück. Im heutigen Verständnis von Didaktik ist die Beschreibung als »Kunstlehre« nicht mehr zufriedenstellend. Didaktik, wie sie an den Universitäten gelehrt wird, ist eine wissenschaftlich-reflexive Disziplin, die rational die Gesamtfaktoren erfassen und beschreiben will, die in Lehr- und Lernprozessen wirksam sind - einschließlich der Verantwortung der Lernprozesse selbst. Es geht sowohl darum, die Dynamik des Lehrens und Lernens zum Zwecke der Theoriebildung zu verstehen und zu erklären, als auch darum, die Kompetenz zu vermitteln, gezielte Lehr- und Lernprozesse person-, sach- und situationsadäquat planen und durchführen zu können. Im Folgenden wird eine Reihe von Aspekten zu einer ersten »Landkarte« zusammengesetzt. Zentrale Begriffe und Konzepte werden an späterer Stelle in eigenen Kapiteln vertieft.
1. Religion und Didaktik
Eine erste Klärung ist im Blick auf das zusammengesetzte Substantiv Religions-Didaktik notwendig. Der Gegenstandsbereich der Religionsdidaktik wird ganz entscheidend durch den Begriff Religion bestimmt, hingegen kennzeichnet Didaktik die Weise, wie der Gegenstand aufgegriffen wird.
Religion in religiösen Lernprozessen
Die schulbezogene Religionsdidaktik in Deutschland, Österreich und Teilen der Schweiz thematisiert Religion im Kontext des konfessionell konzipierten Religionsunterrichts. Daher liegt es auf der Hand, dass der zentrale Bedeutungsinhalt von Religion mit der christlichen Tradition bestimmt werden kann, wie sie durch die entsprechende Kirche (katholisch/evangelisch) repräsentiert und durch die Bezugsdisziplin Theologie reflektiert wird. Allerdings erschöpft sich darin nicht der ganze Bedeutungsreichtum von Religion (→ II.1). Wenn wir auf die Phänomene schauen, die als »Religion« bezeichnet werden können, sehen wir erstens die vielen nicht christlichen Religionen in Deutschland und Europa. Die zweitgrößte Religion nach dem Christentum ist der Islam. Das Judentum ist zahlenmäßig erheblich kleiner, es hat jedoch mit dem Christentum einen gemeinsamen Ursprung und ist aus diesem Grund besonders bedeutsam. Die öffentliche Präsenz der östlichen Religionen ist insgesamt gering, doch scheint sie zu wachsen. Neben den großen Religionen (»Weltreligionen«) darf die Rede von »dem« Christentum nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Christentum selbst eine plurale Erscheinung ist. Unschwer ist eine Vielfalt innerhalb der christlichen Tradition zu erkennen, ja selbst innerhalb einer christlichen Konfession. Nicht zuletzt sehen wir uns konfrontiert mit individuellen Religiositäten, die zum Teil mehr, zum Teil weniger mit den kirchlich repräsentierten Traditionen identisch sind.
Der Religionsunterricht in der Schule kommt nicht umhin, sich mit der Vielgestaltigkeit von Religion zu beschäftigen. Die Kinder, die den Religionsunterricht besuchen, sind (wie andere auch) Bürger ein und derselben (Welt-)Gesellschaft, daher muss es Aufgabe des Religionsunterrichts sein, Schülerinnen und Schüler in der religiösen Pluralität dialog- und kommunikationsfähig zu machen. Dies geschieht nicht in einem traditions-und kontextfreien Raum (Ziebertz 2001a). Der Ausgangspunkt für einen solchen Religionsunterricht ist die Religion der Konfession, in deren Namen der Religionsunterricht stattfindet, aber der Blick ist offen für die religiöse Vielgestaltigkeit innerhalb und außerhalb der eigenen Konfession. Bis in die 1970er Jahre war der Unterricht dominiert durch eine Fokussierung auf die theologischen Lehrinhalte, entsprechend wurde »konfessionell« so verstanden, dass die Inhalte des Unterrichts umfassend durch die eigene Konfession vorgegeben waren. Heute bezeichnet dieses Adjektiv den Referenzrahmen für religiöse Bildung, die die faktische religiöse Pluralität nicht ausblendet. Als Bürger einer Zivilgesellschaft müssen Schülerinnen und Schüler verstehen lernen, wie Religion und Kirche in politische, ökonomische, kulturelle und soziale Kontexte verwoben sind. So hat die Religionsdidaktik unter den derzeitigen Bedingungen des Religionsunterrichts die Aufgabe, zukünftige Lehrerinnen und Lehrer zu befähigen, die komplexe Erscheinung von Religion zu erschließen: nicht nur informativ, sondern anthropologisch bedeutsam und dialogisch. Dies geht nicht »allgemein«, sondern bedarf der Konkretion durch Religion, die historisch gewachsen und soziokulturell präsent ist. So wie ein christlicher Religionsunterricht »Religion« im Rückgriff auf die christliche Überlieferung in Tradition, Lehre und Leben konkretisiert, entfaltet ein islamischer Unterricht »Religion« mit Bezug auf den Koran und die islamische Tradition. Wo auch immer ein spezieller Unterricht seinen Standort hat: Die politische und kulturelle Erwartung an den Religionsunterricht ist, dass dieser Standort nicht zur Verkrustung führt, sondern dass in ökumenischem Geist Religion mit dialogisch-interreligiösem Anspruch unterrichtet werden kann. Ziel muss es sein, zu einem »nachbarschaftlichen« Verhältnis der Religionen zu kommen, zwischen denen zahlreiche Unterschiede bestehen und in Zukunft bestehen werden. Die Religionen können aber in der Gemeinsamkeit wachsen, sich für eine Zukunft des Menschen und eine bewohnbare Erde einzusetzen.
Von den gegenwärtigen Spannungsfeldern zwischen Religion und Kirche, zwischen Kirche und Gesellschaft sowie zwischen Kindern, Jugendlichen und Kirche bleibt der Religionsunterricht nicht unberührt. Im Blick auf das Spannungsfeld Religion und Kirche zeigt sich, dass weder eine der christlichen Kirchen noch das Christentum insgesamt hinreichend definieren kann, was Religion ist. Religion ist immer »mehr« und auch »etwas anderes«. Die Spannung zwischen Kirche und Gesellschaft zeigt sich unter anderem darin, dass die Gesellschaft und die sie tragenden Gruppen die christliche Religion nicht mehr selbstverständlich als maßgebende Religion akzeptieren (zumindest nicht in dem gekannten Umfang), von der sie ihre übergreifenden Werte und Normen beziehen. Die Spannung zwischen Jugend und Kirche wird schließlich dort bedeutsam, wo christlichkirchliche Inhalte und Lebensformen sowie die Autorität, mit der die Kirche diese vorträgt, nicht mehr fraglos akzeptiert werden. Diese Gegenwartsskizze wird an späterer Stelle noch weiter entfaltet (→ I.4). Die wenigen Anmerkungen lassen aber schon erkennen, dass der heutige Religionsunterricht im Kern dialogisch angelegt sein muss. Es reicht nicht mehr hin, Religionsdidaktik als die Weitergabe von religiösen Inhalten zu konzipieren.
Didaktik religiöser Lernprozesse
Der Gegenstandsbereich der Religionsdidaktik wird mit dem Begriff »Religion« zwar notwendig, aber nicht hinreichend erfasst. Die Wortzusammenstellung Religionsdidaktik verweist darauf, dass es neben dem Inhalt »Religion« um die »besondere Zuwendung« zu eben diesem Inhalt geht. Diese besondere Zuwendung kann wie folgt definiert werden:
Religionsdidaktik ist die wissenschaftliche Reflexion religiösen Lernens (Schülerperspektive) und die Reflexion des Lehrens religiösen Lernens (Lehrerperspektive).
Die Religionsdidaktik denkt darüber nach, wie Religion »gelehrt« und »gelernt« werden kann. Diese allgemeine Definition darf nicht simplistisch verstanden werden. Lernprozesse sind komplexe Vorgänge, d.h. die Reflexion richtet sich auf alle Aspekte, die Lernen und Lehren kennzeichnen. Dazu zählen etwa
• die Reflexion der Bedingungen und Kontexte des Lernens (anthropologische und soziokulturelle Voraussetzungen),
• die Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen religiösen Lernens an der Schule (Wissenschaftsorientierung vs. Spiritualität und Glaubenseinführung),
• die Reflexion der Begründung und Verantwortung religiöser Lernprozesse (Normativität),
• die Reflexion der Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern (sowie untereinander),
• die Reflexion der Methoden und Medien,
ohne dass die Liste der Aspekte, die Lernprozesse kennzeichnen, damit erschöpft wäre. Was den Gegenstandsbereich der auf schulisches Lernen bezogenen Religionsdidaktik betrifft, sind diese Aspekte potenziell das Material, womit sich die Disziplin beschäftigt. Es ist aber nicht immer nötig und möglich, alle Aspekte gleichermaßen in den Blick zu nehmen.
In der Definition wird des Weiteren gesagt, dass die Reflexion über religiöse Lernprozesse wissenschaftlich begründet sein soll. Damit ist gemeint, dass heute nicht mehr einfach an der Arbeit gestandener Lehrerinnen und Lehrer abzulesen ist, wie der Beruf ausgeübt werden kann und soll. Individuelle »Virtuosität« ist sicher immer noch ein wichtiges persönliches Merkmal, das dem Religionsunterricht eine spezielle »Note« verleiht. Sie kann aber die Planung, Durchführung und Evaluation religiöser Lernprozesse auf der Basis systematischer Erfahrungen nicht ersetzen, wie sie sich in Theorien niederschlagen.
Die Religionsdidaktik hat als wissenschaftliche Disziplin zunächst die Aufgabe, Kenntnisse über ihren Gegenstandsbereich zu vermehren und Einsicht zu vertiefen. Das geschieht mithilfe grundlegender und angewandter Forschung (→ I.2). Sie hat aber eine weitere, auf die Praxis bezogene Aufgabe. Religiöses Lernen geschieht an vielen Orten: Familie, Kindergarten, Gemeinde, Schule, Akademien, Erwachsenenbildung usw. Die Religionsdidaktik zählt diese Praxen zu ihrem Gegenstandsbereich, insofern darin Lernen und Lehren stattfindet. Jede Praxis hat spezifische Bedingungen, die didaktisch berücksichtigt werden müssen. Aufgrund der Ausbildungsgegebenheiten an den Universitäten hat der Lernort Schule eine hervorgehobene Bedeutung. Das rechtfertigt die Konzentration dieses Bandes auf das schulische Lernen. Studierende der Religionsdidaktik partizipieren an dem wissenschaftlichen Diskurs, auf den wir gerade hingewiesen haben. Mithilfe von Theorien und Konzepten erarbeiten sie sich ein reflexives Wissen, das ihnen hilft, mit den vielgestaltigen Aspekten von Lernprozessen vertraut zu werden und Einsicht in Komplexität von Lernprozessen zu gewinnen. Im Blick auf ihre (Aus-)Bildung konkretisiert die folgende Definition den Aufgabenbereich:
Religionsdidaktik verhilft zu einer wissenschaftlich begründeten reflexiven Kompetenz hinsichtlich der Planung, Durchführung und Evaluation religiöser Lernprozesse sowie deren edukativer Verantwortung.
In dem Begriff »reflexive Kompetenz« sind mindestens zwei Momente enthalten (vgl. Ziebertz/Heil/Mendl/Simon 2005). Zunächst die Fähigkeit, Lern- und Lehrprozesse übersehen und deren Komponenten analysieren zu können. Diese Kompetenz ist ein wichtiges Kennzeichen der Lehrerprofessionalität, denn erst auf dieser Basis sind gerichtete Interventionen möglich. Eine zweite Komponente der reflexiven Kompetenz ist die Selbstreflexion. Damit ist das Vermögen angesprochen, sein eigenes Verhalten als Lehrende/r kritisch im Auge zu behalten. Professionell Handelnde müssen ihr Agieren rekonstruieren und evaluieren können, denn durch die Distanz bei der »Rückspiegelung« entsteht der notwendige Raum, der Veränderungen ins Blickfeld kommen lässt.
2. Theorie und Praxis
Die Religionsdidaktik steht, wie andere praktische Disziplinen auch, in einem Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis. Lehren und Lernen ereignen sich in einer bestimmten Praxis. Sowohl der Praxis-Begriff als auch der Theorie-Begriff bedürfen der Klärung.
Hochschulpraxis und Unterrichtspraxis
Die religionsdidaktische Reflexion des Lehrens und Lernens verfolgt zwei Ziele, die miteinander zu tun haben. Es geht um Theoriebildung und um Praxisrelevanz:
• Theoriebildung ist nötig, um allgemeingültige Aussagen über Zusammenhänge zu bekommen, die in der Praxis des Lehrens und Lernens von Bedeutung sind (Theorie der Praxis). Nicht jede Generation von Lehrern muss alles neu erfinden, sondern kann sich auf systematisch gewonnenes Wissen und »abstrahierte Erfahrungen« beziehen.
• Praxisrelevanz ist unumgänglich, weil die Didaktik besonders eng mit der Lernwirklichkeit verbunden ist, die sie gestalten und verbessern helfen will. Sie betreibt nicht (ausschließlich) »Wissenschaft um der Wissenschaft willen«, sondern steht im Dienst dieser Lehr- und Lernpraxis.
Die Forderung nach Praxisrelevanz wird nicht selten so verstanden, als ob die religionsdidaktische Arbeit an der Universität direkt auf den Unterricht vorbereite, ja gewissermaßen vorwegnehmen könne, wie ein Unterricht abläuft. Dieser Wunsch wird nicht nur selten erfüllt, er muss sogar enttäuscht werden. Die universitäre Praxis und die Praxis an der Schule sind zu unterscheiden. Wir können sagen, dass die Religionsdidaktik nicht selber eine Praxis religiösen Lehrens und Lernens repräsentiert, sondern eine entsprechende Praxis (etwa die des Religionsunterrichts) reflektiert. Die Praxis der Universität ist eine Praxis theorie- und erfahrungsgeleiteter Reflexion; aber die Universität »simuliert« keinen Unterricht. Gleichwohl ereignet sich an der Hochschule religiöses Lehren und Lernen, d.h. es gibt eine Praxis, in die Dozenten und Studierende eingebunden sind. Aber diese Praxis ist zu unterscheiden von der Praxis des Unterrichts, zu deren Zweck Hochschulausbildung geschieht. Die Hochschule ist ein eigener Praxisort, an dem gelehrt und gelernt wird und an der mit hochschultypischen Mitteln Praxisreflexion erfolgt. Diese Praxis hat zum einen ihren Zweck in sich selbst, weil sie einen Beitrag zur umfassenden Bildung der Studierenden leistet. Darin liegt ihr direktes Ziel. Die reflexive Tätigkeit wird aber zum anderen von einem eindeutigen Berufsfeldbezug gekennzeichnet, mit dem die Hochschulpraxis über sich selbst hinausweist (vgl. Terhart 2000). Ihr indirektes Ziel liegt in der Transformation religiösen Lernens in der Schule. Indirekt bedeutet hier, dass diese Transformation des Unterrichts an der Hochschule nicht unmittelbar in Angriff genommen wird, sondern dass die Universität zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern die dazu notwendigen Grundlagen vermittelt.
Lehramtsstudierende erwerben eine reflexive Kompetenz, die ihnen helfen soll, (später) eine gute Praxis zu leisten. Der Anspruch, mit dem an der Hochschule Religionsdidaktik betrieben wird, zielt also darauf, durch die Reflexion (Wider-Spiegelung) und Abstrahierung dessen, was in der Praxis des Schulalltags geschieht, theoretisch verantwortete Einflussnahme mit dem Ziel der Veränderung möglich zu machen. Studierende sollen die Kompetenz erwerben, Unterrichtspraxis wissenschaftlich reflektieren zu lernen. Selbst das Schulpraktikum während des Studiums ist nicht schon Berufsalltag, sondern steht im Kontext der Berufsfeldreflexion. In dieser ersten (vornehmlich) theoretischen Phase der Ausbildung leistet die Religionsdidaktik ihren spezifischen Beitrag in der Reflexion der Faktoren, die für gelingendes Lehren und Lernen entscheidend sind.
Differenz zwischen Theorie und Praxis
Es bleibt noch die Frage, wie das Verhältnis von Theorie und Praxis genauer verstanden werden kann. Dazu lassen sich drei Positionen unterscheiden.
Die erste Position geht davon aus, dass die Theorie der Praxis vorausgeht und Praxis die Anwendung von Theorie ist. Diese Vorstellung ist deduktiv konzipiert. Sie basiert darauf, dass theoretische Begriffe mehr oder weniger direkt auf die Praxis übertragen werden können. In der Theorie ist definiert, »wie die Praxis sein soll«. Die Kritik an diesem Modell entzündet sich erstens an der Frage, ob die Praxis keinen Eigenwert habe und ob sie »nur« ein Anwendungsfeld der Theorie sei. So kann man mit Recht fragen, ob es möglich und sinnvoll ist, theoretisch universale Lösungen für partikulare Probleme zu entwickeln, denn was für den Religionsunterricht im Brennpunkt einer Großstadt gilt, muss nicht vice versa für den Unterricht in einer ländlichen Region gelten; was ihn in einer konfessionell geprägten Region kennzeichnet, gilt nicht vice versa für Diasporagebiete usw. Die zweite Kritik betrifft die Wertschätzung der in der Praxis Handelnden. Sind die Lehrerinnen und Lehrer »Empfänger« und »Anwender« vorgedachter Theorie? Was ist mit ihren eigenen Einsichten und subjektiven Theorien? Es ist deutlich, dass die Praxis von »Professionals« auf diese Weise kaum adäquat beschrieben wird (vgl. Heil/Faust-Siehl 2000). Drittens wird die angenommene Identität von Theorie und Praxis abgewiesen. Stattdessen wird geltend gemacht, dass es eine grundsätzliche Trennung von Theorie und Praxis gibt. Zwar beruht die (theoretische) Reflexion der Praxis auf einem Praxisbezug, und praktisches Handeln impliziert immer auch eine theoretische Reflexion - jedoch gehen beide nicht ineinander auf. Erst unter der Prämisse der Differenz kann positiv von der praxiskorrigierenden Funktion der Theorie gesprochen werden. Wenn beide identisch sind, fällt diese Möglichkeit aus.
Die zweite Position kehrt die Denkrichtung des ersten Modells um und erklärt die Praxis als vorrangig. Die Theorie soll induktiv die Regeln und Überzeugungen in sich aufnehmen, die handelnde Menschen ausbilden. Der Praxis wird, z.B. in der Befreiungstheologie, in kritisch-emanzipatorischer Absicht eine kritische Funktion »gegenüber« der Theorie zugemessen: Die gelebte religiöse Praxis, ihre Werte, Normen und Überzeugungen sollen zur Theorie (Theologie) führen, anstatt diese Praxis »von oben« zu steuern. In pädagogischen Zusammenhängen ist eine Wertschätzung der Praxis nicht unbekannt. Pädagogisches Handeln misst der Praxis in unterschiedlichen Bereichen eine hohe Bedeutung bei. Zum Beispiel ist geläufig, dass Lernprozesse bei dem Ist-Stand der Lernenden ansetzen sollen. Die vorfindbare Praxis hat in dieser Perspektive einen unverrückbaren Wert. Die Frage ist aber, ob Theorie direkt aus Praxis entstehen soll und kann. Kritische Fragen sind etwa: Ist jede Praxis »gleich gut«? Wie soll »schlechte« Praxis aufgedeckt werden? Hat nicht die Theorie auch die Aufgabe, Praxis kritisch zu konfrontieren?
Die dritte Position geht von einer grundsätzlichen Trennung von Theorie und Praxis aus und stellt beide in ein dialektisches Verhältnis. Weder geht die Theorie »ganz« in Praxis auf, noch fällt die Praxis »ganz« mit Theorie zusammen. Beide Bereiche funktionieren nach einer Eigengesetzlichkeit und führen ein »Eigenleben«. Die Vermittlung kann nur »dialektisch« gelingen. Neues entsteht gerade dann, wenn Theorie und Praxis wechselseitig kritisch aufeinander bezogen werden, ohne dass die eine Größe die andere absorbiert. In dieser Vorstellung sind Lehrerinnen und Lehrer »Praktiker«, die ihre Praxis erstens aufgrund ihrer subjektiven Theorie reflektieren, planen und gestalten, die zweitens als »Professionals« ebenso in der Lage sind, Forschungsergebnisse zu lesen und am theoretischen Diskurs teilzunehmen, und die drittens im Rahmen ihrer Praxiserfahrung selbstständig den Anwendungsbezug theoretischer Einsichten und Konzepte herstellen. Lehrerinnen und Lehrer sind als »Praktiker« nicht nur »praktisch« tätig. Vielmehr wird herausgestellt, dass ihr Handeln immer theoriegeleitet ist. Was die Wissenschaftler betrifft, sind sie als »Theoretiker« nicht nur im Sinne eines »Elfenbeinturmgeschäfts« theoretisch tätig. Gerade die Formulierung »berufsfeldbezogene Theorie« macht deutlich, dass das Theorietreiben die Praxis zum Gegenstand hat.
Im Licht der dritten Position lässt sich über die wissenschaftliche Praxis der Religionsdidaktik sagen: Die Religionsdidaktik studiert die Praxis religiösen Lehrens und Lernens von einem theoretischen Blickwinkel aus, d.h. sie beobachtet diese Praxis, versucht sie zu verstehen und entwirft Handlungsmodelle und -szenarien. Die Religionsdidaktik »bricht« die Praxis auf, um neue und bessere Theorien der Praxis schreiben zu können. Studierende erwerben auf diese Weise eine »kognitive Landkarte«, mit der sie das »Gelände« der Schule und des Religionsunterrichts vermessen können. Diese Landkarte verhilft zu mehr Klarheit, beleuchtet die Bedingungen und Folgen eines bestimmten Handelns, und sie kann Routine und Gewohnheitspraxis kritisch konfrontieren. Das reflexive Vermögen ist eine Voraussetzung für den späteren Beruf, es ist aber nicht schon selbst mit der zukünftigen Lehrpraxis an der Schule identisch.
3. Religiöse Lernprozesse reflektieren, planen und verantworten
Religiöse Lernprozesse im Kontext der Schule zu planen ist heute nicht mehr eine Sache der Intuition, sondern der Profession. Reflexionsvermögen, planerische Kompetenz sowie die Entwicklung von Prinzipien zur pädagogischen und theologisch-hermeneutischen Verantwortung des Lehrens und Lernens zählen zu den selbstverständlichen Bausteinen, die die Religionsdidaktik vermittelt.
Lernen und Lehren
Lehren und Lernen sind aufeinander verwiesen. Beim Lehren geht es um die Gesamtheit der Faktoren einer Lehrerin/eines Lehrers oder einer Lehrergruppe, durch die bei Schülerinnen und Schülern Lernen bewirkt werden soll, d.h. die Didaktik beschäftigt sich mit der Weise, wie Lehrerinnen und Lehrer Unterricht planen, durchführen und evaluieren. Hingegen bezeichnet Lernen jene Veränderungen im Bereich des Wissens, der Einsicht, der Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen aufseiten der Schülerinnen und Schüler. Lernvorgänge werden davon gekennzeichnet, dass sie nicht allein auf Reifungsprozesse bzw. natürliche Entwicklung zurückgeführt werden können, sondern das Ergebnis einer Interaktion von »äußerer Einwirkung« (z.B. seitens der Lehrenden) und »aktiver Weltaneignung« (seitens der Lernenden) sind. An späterer Stelle (→ I.4; I.5.) wird ausgeführt, dass Lernen in unserem Verständnis nichts mit Modellen des Konditionierens (Maslow) oder des operanten Lernens (Skinner) zu tun hat, sondern seine Verortung in einem weiteren bildungstheoretischen Kontext findet. So hat man Lernen beispielsweise lange Zeit im Sinne eines Trichtermodells aufgefasst. Bei diesem Bild kommt vor allem die Seite der Vermittlung in den Blick. Heute interessiert sich die Didaktik ebenso intensiv für die Seite der Aneignung. Damit sind jene Vorgänge gemeint, die vonstattengehen, wenn das Kind Informationen annimmt, verarbeitet und sich zu eigen macht. Wir wissen heute, dass Lebensorientierungen und Weltbilder nicht hinreichend durch Übernahmeprozesse erklärt werden können, sondern dass sie erheblich durch die Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler zustande kommen. Nicht zu vergessen ist, dass Lehrende auch von ihren Schülerinnen und Schülern lernen können. Die Weise, wie Schülerinnen und Schüler Rückmeldungen auf die Lehrperson und den Inhalt geben, sollte als Feedback für die eigene Rollenklärung genutzt werden.
Reflexion intentionaler Lernprozesse
Die Religionsdidaktik beschäftigt sich mit einer besonderen Form des Lernens. Man unterscheidet inzidentelles (zufälliges, nicht geplantes) und intentionales (bewusst geplantes) Lernen. Inzidentelles Lernen geschieht ständig und es erstreckt sich von der Geburt bis ins hohe Alter. Vermutlich geht der höchste Anteil familialen Lernens auf inzidentelle Lernprozesse zurück. Intentionales Lernen wird bewusst angestrebt, geplant und begleitet. In Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien für die Schule wird das intentionale Lernen thematisiert. Lehrerinnen und Lehrer sind gehalten, auf diese Form des Lernens ihr Augenmerk zu legen (es ist Gegenstand von Prüfungen). Gleichwohl finden in der Schule beide Formen des Lernens statt. Die Religionsdidaktik reflektiert primär das intentionale Lernen, also jenes Lernen, das bewusst und gezielt angestoßen und begleitet wird, aber sie ist sich dessen bewusst, dass inzidentelles Lernen stattfindet, das Lernziele durchkreuzen oder auch unterstützen kann. Wenn zum Beispiel in dem Zeitraum, in dem ein ekklesiologisches Thema behandelt wird, die Kirche wegen eines Skandals häufig in den Medien ist, muss mit Fragen nach der Spannung zwischen Heiligkeit und Sündhaftigkeit der Kirche gerechnet werden. In diesem Fall kommt der Unterricht nicht umhin, sich mit den Wirkungen inzidentellen Lernens zu beschäftigen.
Lernprozesse konzipieren und verantworten
Verantwortet durch die Mittel der Wissenschaft reflektiert die Religionsdidaktik, wie religiöses Lernen konzipiert werden kann - und: wie es konzipiert werden soll. Sie beschäftigt sich mit dem Können, indem sie etwa Lernmodelle theoretisch und praktisch entwirft und diese empirisch hinsichtlich der Wirkungen überprüft; indem sie die alters-und entwicklungsgemäßen Voraussetzungen aufseiten der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt; indem sie den institutionellen und sozialen Kontext einbezieht; Lern-und Lehrmittel bewusst auswählt u.v.m. Aber sie beschäftigt sich auch mit dem Sollen, also der Verantwortung pädagogisch-didaktischer Beeinflussung. Sie muss sich sogar explizit mit dem Sollen befassen, denn jede »erzieherische Einwirkung«, die Lernen zu intendieren beabsichtigt, ist eine äußere Einflussnahme, deren normativer Kern der besonderen Verantwortung bedarf. Indoktrination ist in der Schule verboten - und sie sollte auch anderswo kein Mittel pädagogischer Arbeit sein. Daher sind die Fragen, was, wann, warum und wozu gelehrt und gelernt wird, besonders zu begründen. Die Religionsdidaktik muss sich mit normativen Fragen befassen, wobei der Autonomie der Lernenden als eine Norm besondere Bedeutung zukommt. Diese Norm findet ihre Begründung in der Würde des Menschen ebenso wie in einem Bildungsverständnis, in dessen Zentrum das Konzept der »Selbstbildung« steht.
4. Religiöses Lernen entlang des Lebenslaufs
Religiöses Lernen ist lebenslanges Lernen. Die Chancen der Schule, den Grundstein für eine religiöse Haltung zu legen, sind aber nicht als gering zu veranschlagen.
Wer schreibt die Geschichte des Lebenslaufs?
Es liegt noch nicht so lange zurück, dass Lernen als eine Aufgabe galt, die der Kinder-und Jugendzeit vorbehalten ist: »Die Schule rüstet aus für das Leben.« Damit korrespondierte die Auffassung, dass Kinder als »weiße Blätter« in die erste Klasse kommen und dass sie die Schule »voll beschrieben« verlassen. In der Schule sollten sie alles erhalten, was sie zur erfolgreichen Lebensbewältigung bräuchten. Inzwischen ist die Einsicht gewachsen, dass, gerade auch in religiöser Hinsicht, Kinder in der ersten Klasse keineswegs »leere Blätter« sind, auch wenn sie immer weniger vom kirchlich repräsentierten Christentum wissen. Ebenso ist evident, dass ihr »Blatt« bei Weitem nicht vollgeschrieben ist, wenn sie die Schule verlassen. Ihr Blatt wird weiter beschrieben, denn Lernen ist ein lebenslanger Prozess. Ein weiteres Detail ist an dem Bild des zu beschreibenden Blattes problematisch. Das Bild erweckt den Eindruck, als ob jemand von außen schreibt und sich die Lernenden passiv verhalten oder dass jemand diktiert, was Lernende notieren. Wir wissen heute, dass Lernen auf diese Weise nicht hinreichend erfasst wird. Letztendlich ist jeder Mensch selbst der Autor seiner Lebensgeschichte. Wer jemand ist und was sie/er ist, was sie/er gelernt hat und was nicht, schreibt jede/r selbst in das Buch ihres/ seines Lebens. Die Integration der Erfahrungen des Lebens auf eine Weise, dass man »Ich« sagen kann, kann durch Lernprozesse motiviert und begleitet, aber nicht selbst hergestellt werden (→ III.4).
Religiöses Lernen, also der Erwerb der Kompetenz, sein Leben in der Dimension letzter Fragen bzw. eines spezifischen Glaubens zu reflektieren und zu deuten, kommt nicht an ein Ende (Schweitzer 2004). Im Verlauf des Lebens verändern sich die Erfahrungen und Kontexte, die zu immer neuen Reflexionen und Deutungen herausfordern. Über die gesamte Biografie hinweg sind Anpassungen des früher Gelernten nötig. Das gilt für alle Bereiche des Lebens - die religiöse Dimension der Wirklichkeit ist davon nicht ausgenommen. Beispielsweise hat ab einem gewissen Zeitpunkt die Vorstellung einer magischen Gottesbeziehung ihre Relevanz und Plausibilität verloren. Es sind neue Interaktionsmodelle mit dem Ultimaten gefragt, soll die Gottesbeziehung nicht prinzipiell in Zweifel gezogen werden. Neue Modelle sind aber nicht »natürlich« angeboren, sondern sie werden - im besten Fall - gelernt. Dazu brauchen Schülerinnen und Schüler Anreize, die sie nicht nur bestätigen, sondern herausfordern. Sie müssen lernen können, dass, wenn Gott infolge eines Bittgebets, eines Opfers oder einer Versprechung nicht so in die Welt eingreift, wie es erbeten worden ist, damit nicht die Existenz Gottes insgesamt infrage gestellt, sondern das eigene Gottesbild das Problem ist (→ II.4).
Wenn man jungen Leuten zugesteht, dass sie letztlich selbst die »Eintragungen« in ihr »Lebensbuch« vornehmen, stellt sich die Frage nach einer angemessenen Begleitung. Drei Aspekte sollen im Folgenden kurz angedeutet werden:
Kontextuelle Stimmigkeit
Wir beschränken die religionsdidaktische Aufmerksamkeit in diesem Band auf den Bereich der Schule. In der Schule treffen wir auf spezifische institutionelle Voraussetzungen, die eine eigene intensive Beschäftigung nötig machen. Die Verankerung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach im Fächerkanon der Schule bringt viele Vorteile mit sich. Wie in anderen Fächern auch wird der Unterricht von der 1. bis zur 10. bzw. 13. Klasse durch einen Lehrplan strukturiert. Im Lehrplan lässt sich für die gesamte Schulzeit ein aufeinander abgestimmtes Lernen konzipieren. Es gibt übergreifende Themenabschnitte, in deren Horizont einzelne Stunden ihren »Sitz im Leben« erhalten. Religionsunterricht ist nach Form und Inhalt ein mit anderen Fächern vergleichbares Fach. Er beruht auf bestimmten Standards, die heute den Schulalltag prägen. Lehrkräfte unterrichten in der Regel mehrere Fächer, sodass der Religionsunterricht auch vonseiten der Unterrichtenden her in den Fächerkanon insgesamt integriert ist. Freilich hat das schulische Lernen Grenzen. Der Religionsunterricht muss sich, wie andere Fächer auch, in einen 45-Minuten-Takt einfügen, er muss sich mit den primär kognitiv orientierten Lernprozessen in der Schule arrangieren und er muss konzeptuell stets häufiger berücksichtigen, dass die Schülergruppe sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt. Neben Unterrichtsmodellen, die ihr Augenmerk auf Wissenstransfer legen, wird verstärkt über erfahrungsbetontes Lernen nachgedacht, also ein Lernen mit Kopf, Herz und Hand, das Kognition, Emotion und Pragmatik integriert. Auch wenn in der schulischen Praxis die Wissensorientierung dominiert, enthalten die Neuansätze viele Chancen. Es gilt, mit einer realistischen Sicht auf die institutionellen Voraussetzungen der Schule die Möglichkeiten auszuschöpfen, die die Schule bietet, aber auch die Grenzen zu erkennen, die mit der Institution zwangsläufig verbunden sind. Die Leistungen des Religionsunterrichts sind nach wie vor im Zusammenhang zu sehen mit den außerschulischen Lernorten, insbesondere der Familie, der Gemeinde und anderen Institutionen wie der gemeindeübergreifenden Jugendarbeit (etwa in kirchlichen Jugendverbänden).
Altersspezifische Orientierung
Mit der Konzentration auf das Lehren und Lernen in der Schule geht eine altersspezifische Eingrenzung auf Lernprozesse mit Kindern, Jugendlichen und (zum Teil schon) jungen Erwachsenen von ca. 6 bis ca. 20 Jahren einher. Fragen der familialen und vorschulischen religiösen Bildung, der Gemeindekatechese, Jugendarbeit oder Erwachsenenbildung zählen zwar zum Gegenstandsbereich der Religionspädagogik und -didaktik, bleiben aber in diesem Band ausgeklammert. Das Altersspektrum von 6 bis 20 Jahren umfasst mehrere Etappen: die Phase der Kindheit, der Übergang zur Jugend und schließlich das junge Erwachsenenalter (→ II.2).
• In den ersten vier bis sechs Schuljahren haben wir es mit Kindern zu tun. Auch wenn Kinder ihre Welt sinnenreich und am liebsten spielerisch erschließen, ist die rationale Verantwortung und Begründung religiösen Lernens nicht dagegen auszuspielen. Bereits in der Grundschule diskutieren Kinder die Frage, ob es einen Gott gibt oder nicht. Man kann diese und ähnliche Fragen nicht hinreichend mit Beziehungsspielen beantworten. Eine gute Integration unterschiedlicher Zugänge ist von Beginn der Schulzeit an wichtig.
• Innerhalb der Jugendphase kommt der Adoleszenz eine besondere Bedeutung zu. Für Adoleszenten stellt sich das eigene Leben in Bezug zur Umwelt (Familie, Schule) besonders problematisch dar. Alte Sicherheiten brechen weg und neue werden (unter Umständen nur mühsam) über einen längeren Zeitraum hinweg gefunden. Die religiöse Entwicklung ist in diesem Stadium äußerst fragil: »hergebrachte Wahrheiten« werden hinterfragt, zum Teil bleibt »kein Stein auf dem anderen«, der Verweis auf Autorität und Tradition geht ins Leere. Die Dekonstruktion religiöser Überzeugungen kann bisweilen in den Augen der Lehrerinnen und Lehrer »brutale« Ausmaße annehmen. Aber auch hier gilt es, radikale Anfragen und Bestreitungen als Herausforderung an den Unterricht zu sehen, befriedigende Denkmodelle und Erfahrungen anzubieten.
• In der Oberstufe geht es schließlich darum, zukunftsorientierten jungen Leuten die religiöse Dimension der Wirklichkeit auf eine Weise zu erschließen, die Schritt hält mit der prosperierenden Erfahrung der eigenen Möglichkeiten. Vielleicht besteht die religionsdidaktische Herausforderung vor allem darin, zu zeigen, wie der eigene Wunsch, in und mit dieser Welt modern und zeitgemäß zu sein, verschränkt werden kann mit der Möglichkeit, ebenso Christ zu sein. Diese Integration kann paradigmatischen Charakter für das kommende Erwachsenenalter haben.
Für alle diese Altersphasen gilt, dass sie in religionspädagogischer und -didaktischer Perspektive nicht als defizitär angesehen werden. Kinder und Jugendliche sind nicht die unfertigen »Noch-nicht-Erwachsenen«. Jedes Alter wirft seine eigenen Fragen und Herausforderungen auf, die nicht erst aus der Perspektive eines fortgeschrittenen Erwachsenenalters ihre Seriosität erhalten.
Entwicklungsgemäße Orientierung
Religiöses Lernen muss während der Schulzeit auch entwicklungsgemäß reflektiert werden. Alter und Entwicklung korrelieren miteinander, sind aber nicht identisch. Der Begriff »Entwicklung« bezieht sich auf eine Reihe von Aspekten, z.B. auf kognitive Operationen (Piaget), moralisches Urteilen (Kohlberg, Gilligan), Stufen der Identität (Erikson, Marcia, Mead, Ricœur) und des Selbst (Kegan), religiöses Urteilen (Oser) und Glauben (Fowler). Jede dieser Theorien kennt einige Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Entwicklung vollzieht (→ II.4; II.9). Sie beschreiben Entwicklungsverläufe, die sich von weniger komplexen zu höher komplexen Einsichten und Denkoperationen erstrecken. In empirischer Hinsicht bleibt zwar manche Frage offen, jedoch ist ihr heuristischer Nutzen unbestritten. Entwicklung und Alter hängen insofern zusammen, als bestimmte Entwicklungsstufen gehäuft in bestimmten Altersgruppen zu finden sind. Allerdings sind Streuungen möglich, die sogar mehrere Schuljahre umfassen können. Die Altersangabe »10 Jahre« sagt also nicht unmittelbar etwas darüber aus, wie der Entwicklungsstand der Kinder in der vierten Grundschulklasse beschaffen ist. Beispielsweise ist bekannt, dass Mädchen früher pubertieren als Jungen. Diese psychobiologische Differenz hängt also stärker mit dem Geschlecht als mit dem Alter zusammen. Mit Blick auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler ist eine weitere Besonderheit von Bedeutung, dass nämlich nicht alle Entwicklungsdimensionen immer gleich weit entwickelt sein müssen. Piaget nannte diese Ungleichzeitigkeit décalage. Beispiele wären das Kind, das formal-operativ denken kann, aber in einer magischen Gottesbeziehung (»Do ut des«) verharrt; oder ein Erwachsener, der in einem anspruchsvollen Beruf arbeitet, aber in religiöser Hinsicht seinen Kinderglauben beibehalten hat. Es zeigt sich also die Notwendigkeit, neben der Altersgemäßheit religiösen Lernens auch auf die Entwicklungsgemäßheit zu achten. Die Perspektive der Entwicklung ermöglicht diagnostisch eine adäquate Einschätzung der Ausgangssituation und sie zeigt auf, wohin eine Weiterentwicklung führen kann.
Zusammenfassung
Zur Erläuterung des Gegenstandes der Religionsdidaktik wird zunächst auf den Begriff »Religion« verwiesen. Zum einen kommt die Vielgestaltigkeit des Phänomens Religion in den Blick, zum anderen wird diese Pluriformität von der christlichen Perspektive aus thematisiert. Auf den Gegenstand der Religionsdidaktik verweist aber auch der Begriff »Didaktik«. Ganz gleich, ob man Didaktik »weit« als »Lehre über alle Formen und Stufen des Lernens und Lehrens« definiert, oder ob man der »engen« Definition »Didaktik als Lehre über den Unterricht« den Vorzug gibt, in beiden Fällen steht das Lehren und Lernen im Mittelpunkt - in diesem Band fokussiert auf die Schule. Religion kommt also nicht exklusiv aus historischem, biblischem oder systematischem Interesse zur Sprache, sondern in der Perspektive des Lehrens und Lernens. Die Religionsdidaktik vermittelt keine fertige Unterrichtskompetenz, sondern ein wissenschaftlich begründetes reflexives Vermögen, das in die Lage versetzt, Praxis deskriptiv-analytisch zu beschreiben und Ansatzpunkte für gezielte Interventionen zu entwickeln. Die Differenz zwischen Theorie und Praxis ist nicht aufhebbar. Gerade die Nichtreduzierbarkeit von Theorie auf Praxis und umgekehrt eröffnet die Möglichkeit zu Kritik und Innovation.
Die universitäre Religionsdidaktik hat ihr direktes Ziel in der Ausbildung einer reflexiven Kompetenz bei den Studierenden. Ihr indirektes Ziel ist die Verbesserung der Praxis religiösen Lernens. Ziel des religiösen Lernens in der Schule ist wiederum die Herausbildung einer Haltung bei den Schülerinnen und Schülern, die Welt im Licht religiöser Traditionen sehen zu lernen und die Möglichkeit des Vertrauens in den Glauben an Gott zu prüfen.
Lesehinweise
Schweitzer, Friedrich (52004): Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh.
Terhart, Ewald (Hg.) (2000): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission, Weinheim/Basel.
I.2 Religionsdidaktik als Wissenschaft
Stephan Leimgruber/Hans-Georg Ziebertz
Religiöses Lernen war lange Zeit der Gegenstand der Katechetik. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzt sich die Bezeichnung Religionspädagogik mit der Religionsdidaktik als Teilbereich durch. Während die Religionspädagogik alle Bildungsbemühungen an den verschiedenen Lernorten thematisiert, erforscht die Religionsdidaktik die religiösen Lehr- und Lernprozesse, vor allem in Schule und Religionsunterricht. Die Religionsdidaktik will die Praxis religiösen Lernens beschreiben, verstehen und erneuernd auf sie einwirken. Sie versteht sich als theologische Disziplin auf interdisziplinärer Grundlage, insofern das Wissen mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler unter sozialen, (entwicklungs-)psychologischen und didaktischen Gesichtspunkten eingespeist wird und die inhaltliche Seite vor allem in Kooperation mit den theologischen Disziplinen reflektiert wird. Die Methodologie der Religionsdidaktik bezieht geschichtlich-hermeneutische, ideologiekritische und empirisch-analytische Aspekte ein, die untereinander verbunden sind.
Die Überlegungen dieses Kapitels setzen geschichtlich an und zeichnen einige Entwicklungsetappen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Religionsdidaktik nach (1). Ihr Ursprung liegt in der Katechetik des 16. Jahrhunderts, die sich im Laufe der Zeit zunehmend selbst reflektiert und im Kontakt mit den Humanwissenschaften zur heutigen Gestalt gefunden hat. Wie sich die Religionsdidaktik gegenwärtig als Wissenschaft artikuliert, wie sie forscht, ihr Wissen gewinnt und kritisch überprüft, soll an den drei Schwerpunkten aufgezeigt werden: hermeneutisch, empirisch-analytisch und ideologiekritisch (2). Die universitäre Religionsdidaktik ist mehrfach auf Kooperation ausgerichtet. Sie arbeitet zum einen mit den theologischen Disziplinen zusammen (Bibelexegese, Systematische Theologie und Kirchengeschichte). Neben der Pastoraltheologie und der Liturgiewissenschaft wird sie zu den Fächern der Praktischen Theologie gerechnet und interessiert sich für die religiöse Praxis in Gesellschaft und Kirche, freilich wiederum mit dem Fokus auf religiösen Lehr- und Lernprozessen (3). Zum anderen steht sie im Verbund mit den Humanwissenschaften, besonders mit den verschiedenen Domänen der Psychologie, Sozial- und Erziehungswissenschaft (4). Schließlich kommt in diesem Kapitel die Binnendifferenzierung der Religionsdidaktik zur Sprache, d.h. ihr Verhältnis zur allgemeinen Didaktik, zur Fachdidaktik und zur Methodik (5).
1. Von der Katechetik zur Religionsdidaktik
Erste Spuren der Katechetik reichen bis zu den Kirchenvätern zurück, die erwachsene Taufbewerberinnen und -bewerber in den christlichen Glauben eingeführt haben. Im Mittelalter geschah die religiöse Bildung unter anderem durch biblische Darstellungen (biblia pauperum) und durch Gewissensforschung (Bußhandbücher) (Kunstmann 2004, 15-21). Im 16. Jahrhundert überlegten sich Reformatoren und Vertreter der katholischen Reform vermehrt Gründe, Ziele, Inhalte, Methoden und Organisationsformen der religiösen Erziehung. So entstanden im Zuge der Reformation und des Konzils von Trient Konzepte zur systematischen und kontinuierlichen Belehrung der Gläubigen, und zwar der Erwachsenen wie der Kinder. Katechismen für Schule und Gemeinde wurden ausgearbeitet, Predigt, Kirchenlieder, Christenlehre und Religionsunterricht neu überlegt oder gar erst eingeführt. Auf diese Weise entstand die Katechetik als eigenständige Disziplin um 1570 (Mette 1994, 77-78).
Rund 200 Jahre später, unter Kaiserin Maria Theresia, wurde die Katechetik zum verpflichtenden Ausbildungsfach für Kleriker und innerhalb der Fächergruppe der Praktischen Theologie angesiedelt. Damals gehörten zur Praktischen Theologie die Theorie der Seelsorge (Poimenik), die Liturgiewissenschaft und die Predigtlehre (Homiletik). Abt Stephan Rautenstrauch hatte dazu 1744 ein Konzept entwickelt, welches vorsah, die Pastoraltheologie zur Universitätsdisziplin zu erheben. Die Katechetik erscheint somit an ihrem Ursprung als ein Teilgebiet der Pastoraltheologie (Exeler 1966, 4). In der Zeit der Aufklärung bildete sich allmählich eine Theorie des kirchlich-pastoralen Handelns heraus, wobei für die katechetische Unterweisung methodische Fragen im Mittelpunkt standen. Gleichzeitig konstituierten sich Pädagogik und Psychologie als wissenschaftliche Disziplinen.
Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entwarf der zunächst in Tübingen, später in Freiburg lehrende Johann Baptist Hirscher (1788-1865) die erste »Katechetik«. Unter »Katechetik« verstand er eine Anleitung für die Seelsorger, junge Menschen zu einem in den Seelenkräften verwurzelten und in der Liebe wirksamen Glauben zu führen, in seinen Worten »zur christlichen Volljährigkeit« (Hirscher 1831, 6): »Die Anleitung, die hier folgt, soll mithin den Seelsorger unterrichten, wie er, unter Grundlegung der Kräfte der menschlichen Seele und ihrer Gesetze, mittelst des Wortes und dessen Uebung, die durch die Taufe bereits der Gemeinde zugeschriebenen Christenkinder zu volljährigen Gliedern derselben heranbilden, d.i. zu einem Glauben, der in Liebe thätig ist, führen möge. Ich nenne diese Anleitung kurzweg Katechetik« (Hirscher 1831, 6). Also nicht das Behalten dogmatischen Satzwissens, sondern die Förderung der seelischen Grundkräfte im Menschen war die zentrale Aufgabe religiöser Bildung. Hirscher kritisierte die neuscholastischen Katechismen und das damit verbundene Auswendiglernen: »Fragen ohne Zahl, bald vom höchsten Belange, dann gleich wieder die unerheblichsten Dinge laufen bunt durcheinander« (Hirscher 1831, 53). Stattdessen setzte er im Anschluss an Bernhard Overberg (1754-1826), den bekannten Lehrer- und Priesterbildner in Münster, bei den zentralen Fragen des Lebens und Glaubens an, konzentrierte sich auf das Wesentliche des Glaubens, das er jungen Menschen anschaulich und existenziell vermitteln wollte. Katechetik wird also von Hirscher als umfassende Anleitung zur Weckung und Vertiefung eines reifen Glaubens verstanden. Seine Konzeption ist einer kirchlichen Perspektive verpflichtet, doch vermittels des »Reich-Gottes-Begriffs« enthält sie zugleich eine Öffnung auf grundsätzliche religiöse Bildung und Erziehung hin (Fürst 1989).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts können bei den Vertretern der Münchener Methode erste Grundüberlegungen der Religionsdidaktik festgemacht werden: Heinrich Stieglitz, Anton Weber, Joseph Göttler (in Wien Michael Gatterer) gingen bei den großen Didaktikern des 19. Jahrhunderts in die Schule und wandten die Herbart-Ziller’sche Formalstufenlehre (→ I.3) auf das religiöse Lernen an. Gegenüber der uniformen texterklärenden Methode, wie sie Katechismen nahelegten, wollten sie die psychologischen Erkenntnisse für die Optimierung des Verstehens und des religiösen Lernens insgesamt nutzen. Nach Jahren des Nebeneinanders geschah eine erste Kooperation der Religionsdidaktik mit den Nachbardisziplinen Psychologie und Pädagogik!
Ganz anders das Wissenschaftsverständnis der Kerygmatik zwischen 1930 und 1965 mit ihren Vertretern Josef Andreas Jungmann, Romano Guardini und Franz Xaver Arnold. Sie wollten der Katechetik ihr Spezifikum zurückgeben, weshalb sie sich von der Kooperation mit den Humanwissenschaften abwandten und sich auf die Theologie konzentrierten. Die Kerygmatik als übergeordneter Begriff für Homiletik und Katechetik wird primär als theologische Disziplin verstanden, welche zunächst ihre Grundbegriffe »Reich Gottes«, »Frohbotschaft«, »Verkündigung« klären muss. Mittelpunkt der religiösen Erziehung ist Christus. Zu ihm hinzuführen ist Aufgabe der theologischen Wissenschaften. Eine psychologische Methodik dürfte keineswegs über die Inhalte verfügen. Also reflektierte die kerygmatische Katechetik die Glaubensunterweisung als pfingstliches Ereignis im Raum der Kirche (Läpple 1981, 183).
Die moderne Religionspädagogik als interdisziplinäre Wissenschaft und als Teilgebiet der Praktischen Theologie mit eigenem Profil spiegelt sich erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im »Handbuch der Religionspädagogik« (1973-75) unter der Schriftleitung von Erich Feifel wieder. Dieses begründet die Religionspädagogik in einem allgemeinen operationalen Religionsbegriff und versteht die Disziplin als »mehrdimensionales Arbeitsfeld« (HRP 1973, I, 46) mit stetem Praxisbezug im Kontext einer anthropologisch gewendeten Theologie. Ihr Forschungsinteresse bezieht sich auf religiöse Lernprozesse entlang der Biografie, und die ins Auge gefassten Lernorte gehen über den Religionsunterricht hinaus. Die Religionsdidaktik behandelt zwar auch Fragen des religiösen Lernens in einem größeren Zusammenhang, z.B. in der Erwachsenenbildung, aber ihr hauptsächlicher Fokus ist auf den schulischen Religionsunterricht gerichtet (vgl. u.a. Bizer 1988; Bitter/Englert 1990; Feifel 1995; Schweitzer/Schlag 2004). Dieses neue interdisziplinäre Selbstverständnis löst die frühere Katechetik an der Universität ab. Zur jüngsten Entwicklung zählt der Aufschwung der »empirischen Religionspädagogik«, wozu Klaus Wegenast 1968 den Startschuss gab (sog. »empirische Wende«). Die empirische Religionspädagogik will über die Praxis religiöser Bildung aufklären. In diesem Zusammenhang gewinnen auch die Topoi des Konzils »Glaubenssinn der Gläubigen« und »Zeichen der Zeit« (Wiederkehr 1994) neue Bedeutung.
2. Gegenwärtige Begründungen einer Religionsdidaktik als Wissenschaft
Fragen wir nun ausdrücklich nach dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Religionsdidaktik in der Gegenwart. Die Kennzeichen wissenschaftlichen Arbeitens gelten uneingeschränkt auch für sie. Wissenschaft ist eine Tätigkeit, die Wissen und Erkenntnis über einen bestimmten Gegenstand vermehrt, indem sie diesen Gegenstand zu verstehen versucht, Gesetzmäßigkeiten entdeckt, Theorien entwirft und vor allem Aussagen produziert, deren Wahrheitsanspruch intersubjektiv nachprüfbar ist (vgl. Ziebertz 1992, 151). Der Gegenstand religionsdidaktischer Forschung ist das erzieherische und bildende Handeln in Bezug auf Religion bzw. das religiöse Lernen. Drei Wege bieten sich an, um zu einer Vergewisserung dieses Handelns zu gelangen, neue Erkenntnisse hervorzubringen und diese intersubjektiv zu überprüfen. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion werden hermeneutische, empirische und ideologiekritische Zugänge unterschieden (Habermas 1968).
Hermeneutik als deutendes Verstehen
In der hermeneutischen Forschung geht es um Auslegung und Sinnerfassung. Das Ergebnis dieser wissenschaftlichen Tätigkeit könnte als »reine Theorie« erscheinen, es gründet aber in Wirklichkeit auf einem Beziehungsgeflecht zwischen dem die Ausgangssituation bestimmenden Vorverständnis eines Interpreten und dem hermeneutisch produzierten Wissen, das im Rahmen des Vorverständnisses auf Situationen bezogen wird.
Die praktische Relevanz der Hermeneutik zeigt sich darin, dass erzieherisches und bildendes Handeln in der Religionsdidaktik im Lichte der jüdisch-christlichen Tradition ausgelegt wird. Maßstäbe für dieses Handeln können jedoch nicht einfach aus der Bibel oder der kirchlichen Lehre entnommen werden, sondern es ist immer neu zu fragen, wie aktuelles und künftiges Handeln auf die Geschichte des befreienden Handelns Gottes bezogen werden kann. Es geht darum, die Erinnerungen an die Geschichte Gottes mit den Menschen in der Fokussierung auf das Christusereignis wachzuhalten und in einem Dialogprozess von einer Generation zur nächsten weiterzuerzählen. Aus diesen Erinnerungen sind die Impulse für die Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Auch wenn die lähmende Kraft der Gewohnheit im religionspädagogischen Alltag bisweilen den Sinn dafür verstellt: Gottes Handeln darf weder statisch festgeschrieben noch kulturinvariant definiert werden, sondern es ist in jeweils anderen geschichtlichen Kontexten neu auszulegen. Eine nicht nur distanziert-philologische Hermeneutik ist daran interessiert, dass die »alten Verheißungen« die etablierten Selbstverständlichkeiten der erzieherischen Praxis sprengen und die Frage nach dem »wahren Leben« aufrufen (Mette 1994, 137).
Empirie als Wirklichkeitsvergewisserung
Empirische Forschung ist an der Produktion von erfahrungswissenschaftlich begründeten Aussagen interessiert. Sie will Regeln für den Aufbau von Theorien erkennen und beschreiben sowie deren Überprüfung leisten. Die Erkenntnisse können auf unterschiedliche Weise gewonnen werden. Man kann grob zwischen deduktiv-hypothetischen, induktiv-explorativen und intervenierend-handlungsorientierten Wegen (Designs) unterscheiden (vgl. Ziebertz 2000a). Empirische Befunde sind keine objektiven Tatsachen, denn ihnen geht immer ein leitendes Interesse voraus. In der religionsdidaktischen Forschung stehen Lehr- und Lernprozesse im Mittelpunkt, die verstanden und erklärt werden sollen. Das direkte Forschungsziel liegt in der Vermehrung theoretischen Wissens, das indirekte Ziel in der Orientierung besseren Handelns. Die empirisch gestützte Religionsdidaktik folgt gegenwärtig kaum mehr einem naiven Erkenntnisoptimismus, der an die Möglichkeit der spiegelbildlichen Abbildung der Wirklichkeit glaubte. Stattdessen ist die Erkenntnis gewachsen, dass Erhebungen vorstrukturiert sein müssen, um relevant zu sein, dass jede Beobachtung standortgebunden ist und dass letztlich jede Antwort eine bestimmte, ausgewählte Frage voraussetzt. Unterschiedliche Methoden begünstigen unterschiedliche Ergebnisse. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Vielfalt empirischer Methoden. Trotz dieser Relativierung sind empirisch gewonnene Daten nicht willkürlich oder bloße Erfindungen. Vielmehr lassen sich Hypothesen in einem theoretischen Rahmen bestätigen oder widerlegen (verifizieren oder falsifizieren). Eine Annäherung an die Wirklichkeit ist durch empirisches Arbeiten möglich (vgl. Ziebertz 2001c). Kenntnisse über die Wirklichkeit sind insbesondere im Rahmen einer realistischen Einschätzung der Ausgangssituation von Bildungs- und Lernprozessen nötig. Allerdings gibt es nicht nur instrumentelle Gründe für empirisches Arbeiten. Ein theologisches Argument für empirisches Arbeiten ist das Theologoumenon vom Glaubenssinn der Gläubigen. Über diesen Glaubenssinn sollte die Theologie insgesamt nicht nur spekulieren, sondern sich um dessen systematisch-empirische Erhebung bemühen (Beachtung der »Zeichen der Zeit«). Der Glaubenssinn verdient Beachtung, wenn die Rede vom »allgemeinen Priestertum« ernst genommen wird.
Ideologiekritik als hinterfragende Selbstreflexion
Ideologiekritische Wissenschaft will (mit den Mitteln der Ideologiekritik) einen Prozess der Selbstreflexion in Gang bringen, um unreflektiertes Bewusstsein in kritisches Bewusstsein zu überführen und Subjekte aus Abhängigkeiten zu befreien. Das leitende Interesse ist Emanzipation. Die ideologiekritische Perspektive bringt also die Aufgabe ins Spiel, erzieherisches Handeln auf Fehlformen, Entfremdung und Unterdrückung hin zu befragen. Diese Dimension religionsdidaktischer Forschung geht von der Überlegung aus, dass religionspädagogisches Handeln stets gesellschaftlich verortet ist und unter bestimmten ökonomischen Voraussetzungen und institutionellen Vorgaben stattfindet. Vor dem Hintergrund solcher Abhängigkeiten und der naturgemäßen Neigung, eher das Bestehende zu konsolidieren als es infrage zu stellen, will ideologiekritisches Denken erzieherische Programme kritisch-deutend hinterfragen und auf mögliche Entfremdungen und Unterdrückungsmechanismen hin abtasten. Die ideologiekritische Reflexion bezieht sich damit auf die grundsätzliche Ambivalenz der Religion. Im Namen der Religion können Menschen in neue Abhängigkeiten geraten oder für egoistische Zwecke instrumentalisiert werden. Was wurde beispielsweise mit der Kategorie »Gehorsam« nicht alles gemacht, die biblisch mit dem »gehorsamen Jesus« (Lk 2,51) begründet wurde? Wie hat man die Vorschrift missbraucht, gegenüber öffentlichen Autoritäten gehorsam zu sein, weil sie Stellvertreter Gottes seien (Röm 13,1f)? Die ideologiekritische Dimension religionsdidaktischer Forschung versucht das prophetisch-kritische Potenzial zu nutzen und die optionale Parteilichkeit Gottes für »die Armen« zu antizipieren.
Interdependenzen zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen
Die Differenzierung zwischen Hermeneutik, Empirie und Ideologiekritik macht deutlich, dass mit dem Forschungsprozess drei erkenntnisleitende Interessen verbunden sind: einen Beitrag zum Sinnverstehen zu leisten, Erfahrungswissen zu produzieren und Emanzipation zu fördern. Die drei Forschungsperspektiven stehen miteinander in Zusammenhang und überschneiden sich partiell (vgl. Ziebertz 1996a).
Im Kontext einer sich praktisch verstehenden Disziplin ist die systematische Erhebung von Erfahrungswissen notwendig (Empirie). Ohnedies steht sie in der Gefahr, ihre Programme auf dem Boden der Spekulation zu errichten. Adäquatheit, beispielsweise bei der Entwicklung von Lernzielen oder der Einschätzung der Beginnsituation von Lernprozessen, würde zu einem Produkt des Zufalls. Empirische Methoden können dazu dienen, sich Klarheit über das »materiale Objekt« der Praktischen Theologie zu verschaffen: die vorfindbare religiöse Praxis!
Hermeneutik ist in dreifacher Hinsicht notwendig: Für den Religionsunterricht werden Curricula verwendet, in denen die Aufgaben des Unterrichts festgelegt sind. Es ist Sinnverständigung darüber notwendig, wie allgemeine Perspektiven, konkrete Ziele, gezielte Interventionen etc. beschaffen sein sollen. Eine hermeneutische Sinnverständigung ist weiter in Bezug auf die Erhebung von Erfahrungswissen notwendig, denn solche Erhebungen geschehen weder theorielos noch beinhalten Erfahrungsdaten bereits in sich ein Programm, was mit ihnen getan werden kann oder soll. Schließlich bezieht sich die hermeneutische Reflexion auf die Dialektik zwischen Normativität und Faktizität und zwischen Theorie und Praxis. Mithilfe der theologisch-hermeneutischen Reflexion geschieht Sinnverständigung über das »formale Objekt« der praktisch-theologischen Forschung: die Reflexion über die Spannung zwischen einer Praxis, wie sie ist und wie sie sein soll.
Eine kritische Perspektive ist notwendig, die sich auf metakommunikativer Ebene sowohl auf die hermeneutische Reflexion als auch auf den Prozess der Erhebung von Erfahrungsdaten bezieht. Sie hinterfragt Ideenkonzepte nach deren impliziten Voraussetzungen, die der Befreiung des/der Menschen zu Selbstständigkeit und Freiheit entgegenstehen. Sie reflektiert den Gebrauch von Methoden (vgl. Ziebertz 1994) und prüft, inwieweit sie als Mittel mit dem Ziel der Befreiung korrespondieren oder nicht.
Diese drei Perspektiven schließen sich nicht aus, sondern können als eine gegenseitige Ergänzung verstanden werden: Hermeneutik ohne Ideologiekritik läuft Gefahr, Ideologie zu produzieren; Hermeneutik ohne Empirie läuft Gefahr, die Wirklichkeit aus dem Blick zu verlieren; Empirie ohne Hermeneutik läuft Gefahr, positivistisch verstanden zu werden; Empirie ohne Ideologiekritik kann dazu führen, Faktenwissen unkritisch zu übernehmen oder als Herrschaftswissen einzusetzen; Ideologiekritik ohne Hermeneutik führt zu Positionalismus, und Ideologiekritik ohne Empirie droht selbst zur Ideologie zu werden.
3. Religionsdidaktik in Kooperation mit den theologischen Disziplinen
Religionsdidaktik als praktisch-theologische Disziplin
Ältere Entwürfe der Religionsdidaktik haben die Disziplin oftmals als Weiterführung und Konkretisierung der Dogmatik bzw. der systematischen Theologie verstanden (Ratzinger 1983, 16). Aufgabe der Didaktik sollte es sein, die Lehre der Kirche methodisch in religiösen Lernprozessen »umzusetzen«. Dahinter verbirgt sich das Konzept einer Didaktik als Anwendungsdisziplin. Eine Vergewisserung der Verortung der Religionsdidaktik in der Praktischen Theologie kann helfen, eine solche folgenreiche Verengung zu vermeiden. Die Religionsdidaktik liefert als praktisch-theologische Subdisziplin eine »Theorie religiös begründeter Praxis in Kirche und Gesellschaft« (Lämmermann 21998, 77). Sie erbringt aufgrund ihrer eigenen Fragerichtung eine eigenständige theologische Leistung (Ziebertz 1998).
Der Begriff »Praktische Theologie« ist ein Oberbegriff für praktisch-theologische Subdisziplinen wie Religionspädagogik und -didaktik bzw. Katechetik, Liturgiewissenschaft, Pastoraltheologie, Homiletik, Poimenik und Caritaswissenschaften. Das Adjektiv »praktisch« ist nicht etwa ein Pendant zu »theoretisch«. »Praktisch« verweist vielmehr auf das materiale Objekt, den Gegenstand der Praktischen Theologie, nämlich die religiöse Praxis. Die Praktische Theologie ist auf das Handeln in der Praxis gerichtet. Die oben genannten praktisch-theologischen Subdisziplinen reflektieren die religiöse Praxis in unterschiedlichen Handlungsfeldern. Als »Theologie« will die Praktische Theologie diese Praxis verstehen, erklären und Orientierungsmöglichkeiten für zukünftiges Handeln bereit stellen. Der Anspruch auf Handlungsorientierung schließt eine theologischnormative Reflexion ein. Der Blickwinkel (das formale Objekt) der Praktischen Theologie kann beschrieben werden als die Reflexion über die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte bzw. sollte. Damit ist nicht gemeint, dass die Theologie über normative Aspekte reflektiert und diese der Praxis gegenüberstellt, vielmehr geht es um eine »Theorie der Praxis«. Die religiöse Praxis hat selbst viele Facetten. Sie ist nicht mehr ausschließlich deckungsgleich mit kirchlich-christlicher Praxis. Zunehmend wird deutlich, dass die Differenzierungsprozesse in der modernen Gesellschaft das religiöse Feld nicht unbeeinflusst lassen. Kirche und Kultur, Theologie und Religion sowie Theorie und Praxis sind auseinandergetreten.
Diese Veränderungen wurden bereits im 18. Jahrhundert wahrgenommen und als tiefgreifende Krise interpretiert (vgl. Drehsen 1988). Mit der Etablierung der Praktischen Theologie im theologischen Fächerkanon wollte man die Krise überwinden. Die Geschichte der Praktischen Theologie zeigt, dass die Untersuchung der Bedingungen der Praxis immer auch in instrumenteller Absicht geschehen ist: Man muss die Praxis kennen, um adäquater auf sie einwirken zu können. Allerdings: Die religiöse Praxis zu kennen, um im Kern unveränderte Programme besser zur Anwendung zu bringen, kann auf Dauer nicht erfolgreich sein. Diese Perspektive berücksichtigt zu wenig die Subjekte, denen bestimmte Traditionen fremd sind, ohne dass sie deshalb zwangsläufig religiös »unmusikalisch« (Max Weber) sein müssen. Neben dem instrumentellen Interesse auf Einwirkung zeigt sich vermehrt die Notwendigkeit, die veränderte Situation und die handelnden Subjekte in ihrem biografischen Kontext (→ 11.4) überhaupt zu verstehen (vgl. Ziebertz 1999b).
Religionsdidaktik in Relation zur biblischen, historischen und systematischen Theologie
Die Religionspädagogik und -didaktik greift Erkenntnisse der biblischen Wissenschaften des Alten (Ersten) und Neuen Testamentes auf. Sie nimmt Kenntnis von deren Bemühungen, biblische Texte von ihrer sprachlichen Gestalt und ihrem historisch-soziokulturellen Kontext her zu verstehen und in ihrer Wirkung für Juden, Christen und Nichtchristen einzuschätzen. Sie weiß um die Vielfalt exegetischer Zugangsweisen und versucht, Texte je neu zu aktualisieren und zu erschließen. Letztlich will sie durch die Beschäftigung mit der Bibel begründen, dass sinnvolles Leben und verantwortliches Handeln aus dem Glauben an Gott möglich sind (Hossfeld/Zenger 1974, 49). Das Neue Testament ist von Christen sowohl vom Alten Testament her als auch in seinem eigenen Anspruch zu verstehen. Heute sind die biblischen Texte auch in interreligiöser Perspektive zu behandeln und mit den heiligen Büchern der großen Religionen (Koran, Upanishaden) in Bezug zu setzen.
Die Religionsdidaktik greift auf die Kirchengeschichte zurück, die Erscheinungen und Entwicklungen im frühen, mittelalterlichen und modernen Christentum in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext entziffert und in ihrer Relevanz für heute kritisch betrachtet. Dabei drängt sich eine interkonfessionelle und interreligiöse Öffnung des Faches insofern auf, als gerade religiöse Phänomene in ihrer Singularität und im Vergleich zu anderen, vielleicht ähnlichen Erscheinungen, erfasst werden können. Insgesamt ist die Spannung auszuhalten zwischen einem exemplarischen Vorgehen und der Erarbeitung eines geschichtlichen Bewusstseins als Baustein für die eigene Biografie und Identität (Ruppert 1998, 320; Lindner 2007).
Die systematische Theologie liefert der Religionsdidaktik Einsichten und Grundlagen der theologischen Anthropologie sowie Kriterien und Begründungen christlichen Handelns. Die Fundamentaltheologie beschäftigt sich mit dem Verhältnis des Christentums zu den großen Religionen und Weltanschauungen. Sie reflektiert über christliche und nicht christliche Glaubenssysteme, über die christliche Offenbarung und Kirche, und sie lotet die Möglichkeiten des Sprechens von Gott in der modernen Gesellschaft aus. Die Dogmatik erschließt den Glauben der Kirche anhand des Großen Glaubensbekenntnisses und der kirchlichen Lehrverkündigung. In der christlichen Ethik werden prinzipielle und materiale Fragen des individuellen und kollektiven Handelns reflektiert und ethische Argumentationen vorgestellt. Die systematisch-theologischen Fächer beschäftigen sich mit Themen, die im Religionsunterricht virulent sind und in didaktischer Perspektive aufbereitet werden müssen.
4. Religionsdidaktik und Humanwissenschaften
In dem Maße, wie die Religionsdidaktik Fragen des Lernens, der Bildung und der Sozialisation erörtert, ist sie auf die Humanwissenschaften angewiesen.
Religionsdidaktik in Kooperation mit Psychologie und Soziologie
Die Theologie soll sich nicht selbst genügen. Will sie mit dem modernen Menschen im Gespräch bleiben, muss sie die soziokulturellen und psychologischen Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen. Die Psychologie ist mit ihren vielen Verästelungen inzwischen zur festen Bezugsdisziplin der Religionspädagogik geworden. Die Allgemeine Psychologie untersucht das Verhalten, Erleben und Erfahren der Menschen, die Religionspsychologie thematisiert ethische und religiöse Aspekte dieses Verhaltens, Erlebens und Erfahrens, aber auch Fehlformen der Religiosität (Bucher 1995c, 120). Die differentielle Psychologie bzw. die Persönlichkeitspsychologie studiert Strukturen, Merkmale und Unterschiede zwischen den Individuen; die Sozial- und Gruppenpsychologie befasst sich mit den Bedingungen der Interaktion von Individuen und Gruppen. Die Tiefenpsychologie sucht im Menschen verborgene Bedürfnisse und Neigungen. Besondere Bedeutung kommt der empirischen Entwicklungspsychologie mit ihren verschiedenen Stufentheorien (Piaget, Kohlberg) zu. Die religionspädagogische Psychologie erforscht die psychische Seite ethischer und religiöser Lern- und Erziehungsvorgänge (Grom 2000, 11). Sie unterstützt die Reflexion von Bedingungen und Folgen erzieherischen Handelns aus psychologischer Warte und macht psychologische Erkenntnisse für die Erklärung schulischen Lernens fruchtbar.
Die heutige Religionsdidaktik muss sich, wie alle pädagogisch-didaktischen Disziplinen, notwendig mit der psychosozialen Situation der Lernenden beschäftigen, um religiöse Sozialisation und religiöse Bildung sach-, personengerecht und kritisch zu begleiten (Fraas 1998, 128). Ebenso relevant ist die Soziologie, die sich mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen menschlichen Handelns beschäftigt. Sie blickt auf das Handeln in institutioneller und sozialer Hinsicht. Insbesondere die Kinder-, Jugend-, Familien- und Schulsoziologie liefert der Religionsdidaktik wichtige Einsichten. Die Soziologie zeigt die gesellschaftlichen Bedingungen der Sozialisation auf, einschließlich möglicher Beschränkungen und Fehlformen menschlicher Existenz. Im Bereich der Jugendforschung hat die Soziologie einen erheblichen Anteil an der Entwicklung und Durchführung empirischer Studien, die der Religionsdidaktik komplementär zu ihren eigenen empirischen Forschungen wichtige Erkenntnisse liefert.
Beziehungsmodelle zur Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft