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Das bewährte Handbuch für Religionslehrerinnen und Religionslehrer an der Grundschule - für Studium, Prüfungsvorbereitung, Ausbildung und Beruf - in einer gründlich überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe. Mit seinen grundsätzlichen Klärungen und vielen didaktischen und methodischen Anregungen legt es das Fundament für einen guten Religionsunterricht.
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Seitenzahl: 897
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»Religiöses Lernen und religiöse Bildung gehören zum Auftrag der Schule von Anfang an« – so hieß es im Vorwort der ersten Auflage (2006), die mittlerweile eine zweite (2008) und eine dritte (2010) Auflage erfahren durfte. Daran hat sich nach unserer Auffassung bis heute nichts geändert, da »die Grundschule im Rahmen ihres Erziehungs- und Bildungsauftrags einen Beitrag dazu zu leisten hat, dass sich Kinder in weltanschaulich pluralen Zeiten und komplexen Kontexten ihre Welt erschließen und sich dabei auch religiös orientieren können, indem sie vor allem – aber nicht nur – der Religion unseres Kultur- und Sprachraumes begegnen, sie kennen und verstehen lernen, sie probieren und gestalten können«. Dies soll Grundschülerinnen und -schüler bei der Bildung ihres Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses sowie ihrer religiösen und moralischen Lebensgestaltung unterstützen.
Da über sieben Jahre seit dem Ersterscheinen unseres Buches vergangen sind, schien es notwendig, das Ganze einer gründlichen Neubearbeitung zu unterziehen, wenn es weiterhin Religionslehrkräften das nötige Rüstzeug an die Hand geben soll, um Kinder in Sachen Religion professionell anzuleiten, anzuregen und herauszufordern. Mit Konstantin Lindner, Henrik Simojoki und Eva Stögbauer ist die jüngere religionspädagogische Generation ins Autorenkollektiv eingestiegen.
Der klassische Aufbau mit den drei Hauptkapiteln von 2006 ist geblieben; geändert hat sich teilweise die Abfolge der Unterkapitel. Etliches wurde gestrichen, weil es uns nicht mehr so relevant erschien wie 2006; nicht Weniges aus der jüngeren und jüngsten religionspädagogischen Diskussion ist neu dazugekommen. Wichtig war uns u. a. ein neuer Artikel zu »Evangelisch – Katholisch«. Ebenso hat die Diskussion um die Kompetenzorientierung und die Digitalisierung der Medienkommunikation neuen Denkbedarf geschaffen.
Die Besonderheit vorliegender Grundschulreligionsdidaktik in ihrer neu bearbeiteten Gestalt ist weiterhin – wie in der ersten bis dritten Auflage –, dass sie in großem Einvernehmen von zwei evangelischen und drei katholischen Religionspädagogen gemeinsam konzipiert, erarbeitet und entsprechend ausgerichtet ist. Die einzelnen Artikel des Buches sind in produktivem interkonfessionellen Austausch entstanden: Alle Autoren haben zusammengearbeitet, indem jeweils einer den Artikel verfasst, andere ihn gegengelesen, kritisiert, erweitert und modifiziert haben, sodass der jetzige Text wieder gemeinsam verantwortet werden kann. Dies soll neuerlich anzeigen, was und wie viel heute evangelisch und katholisch in einer Grundschulreligionsdidaktik möglich ist, also gemeinsam gedacht, entfaltet und gestaltet werden kann, ohne dass konfessionelle Profile und Besonderheiten aufgegeben werden müssen.
So ist auf der Basis des Christentums in seiner katholischen wie evangelischen Religionsgestalt ein gemeinsames Werk entstanden, das ebenso Studierende der evangelischen und katholischen Religionslehre wie Religionslehrkräfte in den ersten, aber auch in den besten Berufsjahren anregen und beflügeln soll.
Die religionsdidaktische Positionierung und Ausrichtung des Studienbuches zeigt sich in seinem dreigliedrigen Aufbau. Im ersten Teil »Religion in der Grundschule – Herausforderungen und Aufgaben« wird das Verständnis von Religionsunterricht mit seinen Zielperspektiven, Begründungen, Kontexten und mit den in ihm handelnden Personen in den Blick genommen. Der zweite Teil »Themen des Religionsunterrichts mit Kindern erschließen« reflektiert vor dem Hintergrund elementarer religionsdidaktischer Kriterien und Fragerichtungen einige zentrale Inhaltsbereiche religiösen Lernens. Der dritte Teil will die didaktische Fantasie und Gestaltungsfähigkeit der (zukünftigen) Lehrkräfte inspirieren, stellt also »Wege und Anregungen für ein lebendiges Lernen im Religionsunterricht« vor.
Hinsichtlich der Anlage und der Durchführung der vorliegenden Religionsdidaktik für die Grundschule halten wir es neuerlich mit der weisen Einsicht des Psychologen Kurt Lewin (1890–1947): »Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.« Wir teilen diese Auffassung uneingeschränkt und legen deswegen mit diesem Studienbuch eine Theorie für die Praxis vor, ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung von theoria als Schau und Sicht bzw. Vorstellung von etwas. Eine solche Theorie für die Praxis und von reflektierter Praxis her kann die Augen für wichtige Aspekte, Zusammenhänge, Perspektiven und Lernwege des schulischen religiösen Lernens und der religiösen Bildung öffnen und zum Entdecken, Schauen, Wahrnehmen, Kennenlernen, Prüfen, zur Auseinandersetzung und immer wieder auch zum Mit- und Nachvollzug einladen. Ebendies intendieren wir mit diesem neu bearbeiteten Band, denn es gibt in der Tat nichts Praktischeres als eine gute Theorie im Dienste eines lebendigen und reflektierten Religionsunterrichts, der die Kinder als Lernende ernst nimmt.
Wir danken allen, die zum Erscheinen dieser Grundschulreligionsdidaktik beigetragen haben: Zu nennen sind hier die beiden Verlage Kösel und Calwer, insbesondere Frau Margarete Stenger für die exzellente Betreuung des Projekts. Danken möchten wir auch den am Entstehen des Buches Beteiligten an den beiden Lehrstühlen in Bamberg: der Assistentin Adriane Dörnhöfer, den Sekretärinnen Gudrun Lilge und Margarete Will-Frank, sowie den studentischen Hilfskräften Andreas Fleischer, Elisabeth Stelzle und Pia Zimmermann für ihre Aufmerksamkeit und Geduld bei der Erstellung des Manuskripts.
Georg Hilger, Werner H. Ritter, Konstantin Lindner, Henrik Simojoki und Eva Stögbauer
Religionsunterricht erscheint heute einerseits als ein Grundschulfach wie jedes andere auch. Andererseits ist es umstrittener, als dies vor 50 Jahren der Fall war und steht vor zahlreichen Herausforderungen, die von ganz unterschiedlicher Seite an ihn gerichtet werden. Gefragt wird: Was will und soll heute in einer säkular gewordenen Welt religiöse Bildung in der Schule generell? Und was soll der Reiligionsunterricht speziell in der Grundschule bei einer so heterogen gewordenen Schülerschaft, in der nicht wenige Kinder ohne Beziehung zu einer tradierten und gelebten Religion aufwachsen?
Angesichts dieser Situation erscheint uns eines sicher: Im Unterschied zu früher bedürfen Religionsunterricht und religiöse Bildung heute vermehrt der Reflexion, der Begründung und gut gestalteter Praxis. Dies zu entfalten, ist Sache des I. Hauptkapitels.
Werner H. Ritter/Henrik Simojoki
Der Religionsunterricht bewegt die Gemüter und gelegentlich wird über ihn auch gestritten. Besonders öffentlichkeitswirksam geschah dies vor einigen Jahren in Berlin. Dort wurde am 26. April 2009 über einen Gesetzesentwurf abgestimmt, der eine Fächergruppe Religion / Ethik aus zwei gleichberechtigten Wahlpflichtfächern vorsah. Das hätte eine deutliche Aufwertung des Religionsunterrichts bedeutet, gab es diesen doch nach der Einführung eines verpflichtenden Ethikunterrichts im Jahr 2006 nur noch als freiwilliges Wahlfach. Im Vorfeld dieser Abstimmung kam es zu einer zum Teil erbittert geführten Debatte um diese Frage, in der beide Lager – »Pro Reli« und »Pro Ethik« – die Öffentlichkeit von der Richtigkeit ihrer Position zu überzeugen versuchten. Im vorliegenden Kontext interessiert weniger das Ergebnis dieser Auseinandersetzung – bekanntlich scheiterte das Volksbegehren »Pro Reli« – als vielmehr die Art und Weise, wie sie geführt wurde. Angesichts des erhitzten Diskussionsklimas und der Notwendigkeit, in kurzer Zeit Wählerstimmen für die eigene Position zu mobilisieren, wurde der Streit um den Religionsunterricht schon bald auf der Ebene von Plakaten und Parolen geführt (vgl. WILLEMS 2012a, 56 ff.). Während die Befürworter des Religionsunterrichts mit dem Motto »Werte brauchen Gott« für ihre Sache warben, rieten die Gegner, nur scheinbar gelassen: »Nu’ lasst doch ma’ die Kirche im Dorf!«
An diesem, rückblickend gesehen, unbefriedigenden Prozess öffentlicher Meinungsbildung wird deutlich, dass die Frage nach der Berechtigung religiöser Schulbildung tiefer ansetzen muss. Bevor man sich ins argumentative Für und Wider stürzt, müssen grundlegende Klärungen erbracht werden. Man muss sich darüber verständigen, was es mit dem zentralen Gegenstand dieses Faches, der Religion, eigentlich auf sich hat und wie die schulische Thematisierung von Religion zum allgemeinen Bildungsauftrag der Schule beitragen kann. Daraus ergibt sich der Aufbau dieses Eröffnungskapitels, weshalb die Ausgangsfrage, ob und warum der Religionsunterricht einen legitimen Platz in der öffentlichen Schule hat, erst in einem dritten Schritt erörtert wird (zum ebenfalls konstitutiven Leitbegriff religiösen Lernens s. III.1).
Wer Religion unterrichten will, sollte wissen, was Religion ist. Das ist aber alles andere als leicht, weil mit diesem Begriff ganz Unterschiedliches ausgesagt werden kann. Während sich Deutsch-, Mathematik- oder Musiklehrerinnen und -lehrer relativ problemlos über den Gegenstand ihres Faches verständigen können, kann im fachlichen Kontext des Religionsunterrichts von einem vergleichbaren Konsens nicht die Rede sein. Während der Religionsunterricht für die eine Religionslehrkraft in erster Linie mit den Überzeugungsgrundlagen ihrer eigenen christlichen Religion zu tun hat, findet die andere Lehrkraft Spuren des Religiösen in der Natur, in der populären Kultur oder auch im kollektiven Jubel auf den Tribünen des Fußballstadions. Wie ein Blick in die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte um den Religionsbegriff zeigt, ist die fehlende Übereinkunft in der Sache begründet.
In gewisser Weise kreist die gesamte Religionssoziologie um diese eine, scheinbar simple Frage: Was ist Religion? Eine konsensfähige Antwort steht bis heute aus. Das aber liegt weniger an irgendwelchen Defiziten der Religionssoziologie als vielmehr an der Vielschichtigkeit ihres Gegenstandes. Religion als Phänomen erscheint heute komplex, schillernd und uneindeutig. Jedoch lassen sich in Anlehnung an Gert Pickel (vgl. PICKEL 2011, 18 ff.) immerhin bestimmte konstitutive Elemente unterscheiden, die für Religion charakteristisch sind. Dazu gehören
individuelle Überzeugungen, die sich auf eine höhere Macht, das »Heilige« oder – wie im Christentum – auf einen persönlichen Gott beziehen,soziale Praktiken, insbesondere in Gestalt von Ritualen und Zeremonien, eine Gemeinschaft, die über geteilte Überzeugungen, Praxisformen, Verpflichtungen und Normen zusammengehalten wird, und dereninstitutionelle Ausprägung im Kontext der Gesellschaft, im Fall des Christentums durch die spezifische Organisationsform einer Kirche.Bereits hier wird deutlich, dass ein Religionsverständnis, das sich ausschließlich auf den Überzeugungsbereich konzentriert, der sozialen Seite des religiösen Phänomenbestandes nicht gerecht wird. Gleiches gilt für die im christlichen Kontext lange Zeit wirksame Tendenz, Religion mit ihren kirchlichen Ausprägungen zu identifizieren.
Bei dem Versuch, diese grundlegenden Aspekte in einem Religionsbegriff einzufangen, lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden: Substanzielle Definitionen machen Religion an distinkten, als spezifisch religiös geltenden Glaubensinhalten, sozialen Praktiken und institutionellen Manifestationen fest. Das generelle Kriterium für die Religionsbestimmung ist hier der Bezug auf das Heilige oder Transzendente – wo er fehlt, kann von Religion keine Rede sein. Dieser klassische Deutungsansatz ist seit den 1960er-Jahren in die Kritik geraten, hat aber gleichwohl mehrere Vorteile: Er ermöglicht eine klare Abgrenzung gegenüber Nicht-Religion und ist anschlussfähig im Blick auf die Selbstbeschreibungen der Religionsgemeinschaften und das Selbstverständnis der Religionsangehörigen. Problematisch an dieser Definition ist, dass sie viele Phänomene subjektiver, im christlichen Fall: entkirchlichter Religiosität nicht einfängt und nur begrenzt auf nicht-theistische Religionen beziehbar ist.
Demgegenüber definiert der funktionale Religionsbegriff Religion über die Leistungen, die sie für die Gesellschaft, aber auch für das einzelne Individuum erbringt. Nachgerade seit den 1960er-Jahren sprechen Sozialwissenschaftler von verschiedenen Funktionen der Religion wie Identitätsstiftung, Reduktion von Komplexität, Kontingenzbewältigung, ihrer integrierenden Sinngebungs- und Welterrichtungsfunktion etc. Eine inhaltliche oder phänomenologische Festlegung wird bewusst vermieden. Konkrete Überzeugungen, Praktiken oder Gemeinschaftsformen spielen kriteriologisch keine Rolle. Der funktionale Religionsbegriff hat im religionsdidaktischen Kontext den Vorteil, dass er das weite Feld oft latenter Sinnorientierungen einfängt, das unter Kindern und Jugendlichen heutzutage vorzufinden ist. Sein Problem liegt darin, dass die Grenze zwischen religiösen und nicht-religiösen Phänomenen zu verwischen droht. Wenn eine lateinische Messe in gleicher Weise als religiös gedeutet wird wie die kollektive Hysterie auf einem Justin Bieber-Konzert, dann droht der Religionsbegriff seine Unterscheidungskraft einzubüßen. Zudem führt die Vernachlässigung substanzieller Begründungsanteile dazu, dass die geschichtlich bestimmten (Welt-)Religionen in einem bedenklichen Maße zurücktreten.
Wie im nächsten Kapitel deutlich wird, ist mit der Entscheidung zwischen einem substanziellen und einem funktionalen Religionsbegriff häufig eine bestimmte Gesamtsicht auf den religiösen Wandel verbunden. So bevorzugen Anhänger der Säkularisierungstheorie eher einen substanziellen Religionsbegriff, während Vertreter von religiösen Individualisierungskonzepten meist auf einen funktionalen Religionsbegriff zurückgreifen (s. I.2).
Das Fehlen einer einvernehmlichen Religionsbestimmung wirkt sich natürlich erschwerend auf die religionspädagogische Fachdebatte aus. Lange Zeit behalf man sich damit, dass man gänzlich auf eine allgemeine Religionsdefinition verzichtete. Religion galt dann – einer Begriffsprägung von Joachim Matthes folgend – als ein »diskursiver Tatbestand« (MATTHES 1992), der ganz unterschiedliche Zugriffsweisen erfordert und über den man sich daher immer erst verständigen muss. Freilich handelt es sich bei diesem Ausweg nur um einen Notbehelf, weil er das strittige Sachproblem ja nicht löst.
Neuerdings gibt es jedoch beachtenswerte Versuche, funktionale und substanzielle Zugänge zur Religion begrifflich auszubalancieren. Das gilt im besonderen Maße für den Definitionsvorschlag des Soziologen Detlef Pollack, der Impulse aus der Systemtheorie Niklas Luhmanns aufnimmt und in eine etwas eingängigere Form bringt (vgl. POLLACK 2003, 28 ff.; LUHMANN 2000). Pollack geht davon aus, dass Religion ein spezifisches »Bezugsproblem« hat: Sie dient der Bewältigung von Kontingenz. Religion hilft Menschen, das zu verarbeiten, was ihnen im Leben zufällig, unkontrollierbar und rational nicht auflösbar erscheint. So weit bewegt sich sein Verständnismodell noch ganz im Rahmen des klassischen funktionalen Begründungsansatzes. Allerdings besteht Pollack darauf, dass nicht jede Antwort auf die Kontingenzfrage religiös ist. Die Religion bietet nur eine mögliche Bewältigungsmöglichkeit von Kontingenz dar, die durch zwei zusammenhängende Momente gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite überschreiten religiöse Sinnformen die gegebene Lebenswelt des Menschen. Das Kontingenzproblem wird gelöst, indem es menschlicher Verfügbarkeit entzogen, eben transzendiert wird. Auf der anderen Seite ist Religion dadurch charakterisiert, dass sie diesen Letztbereich des Transzendenten der individuellen Erfahrung zugänglich macht. Das geschieht, wenn Christen Abendmahl feiern oder Muslime den Koran als Gottes offenbartes Wort rezitieren. »Die Verbindung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Zugänglichem und Unzugänglichem, von Immanenz und Transzendenz ist eine Grundstruktur aller Religionen. Durch sie gewinnen sie Alltagsrelevanz, Verständlichkeit, Anschaulichkeit und Kommunikabilität« (POLLACK 2003, 49).
Die Vorzüge dieses Religionsbegriff werden im Kontext des Religionsunterrichts besonders deutlich: Aufgrund seines funktionalen Ausgangspunktes bei der Kontingenz- und Sinnfrage kann er auf ein breites Spektrum religionshaltiger Phänomene und Orientierungen bezogen werden. Indem aber die religiöse Problemlösung auf die dialektische Verbindung von Transzendenz und Immanenz bezogen wird, leistet er, was funktionalen Bestimmungen in der Regel schwer fällt: Er bewahrt die Geschichtlichkeit von Religion, knüpft an die Selbstbeschreibungen konkreter Religionen an und ermöglicht eine präzise Unterscheidung von Religion und Nicht-Religion. Hinzu kommt, dass die von Pollack akzentuierte Grunddynamik – Transzendierung der vorfindlichen Lebenswelt und lebensweltliche Konkretisierung des Transzendenten – genau jene Dialektik von Religion einfängt, mit der Religionslehrerinnen und -lehrer täglich zu tun haben und auch ringen.
Bildung – Subjektwerdung und Weltaneignung
Wer religiöse Lernprozesse (s. III.1) im Unterricht plant und verantwortet, braucht, bildlich gesprochen, einen Kompass, an dem er sich ausrichten kann. In diesem Lehrbuch kommt dem Begriff der Bildung eine derartige orientierende Funktion zu. Was aber ist mit dem Begriff gemeint? Eine konsensfähige Antwort auf diese Frage steht in weiter Ferne. Vielmehr begegnet der Bildungsbegriff in der gegenwärtigen Debatte in ganz unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen.
Im Jahr 2002 veröffentlichte der Hamburger Anglist und Romanautor Dietrich Schwanitz ein Buch, das bereits bei seinem Erscheinen für viel Aufsehen sorgte und in kürzester Zeit 18 Auflagen erlebte (vgl. SCHWANITZ 2002). Der reißende Absatz des Buches erklärt sich aus seinem Titel. Der lautet: »Bildung – Alles, was man wissen muss«. Hier wird der Begriff der Bildung auf einen Wissenskanon bezogen, der einen gebildeten Menschen auszeichnet. Diese Bedeutung scheint auf, wenn wir in unserer Alltagssprache von Allgemeinbildung sprechen. Der Begriff der Bildung wird in diesem Fall material bestimmt.
Hochkonjunktur hat der Bildungsbegriff derzeit vor allem auf dem Gebiet der Bildungspolitik. Die Rede vom Bildungsnotstand, einer Bildungsoffensive und einer Bildungsreform durchzieht die öffentliche Diskussion seit dem sogenannten PISA-Schock im Jahr 2000. Hier wird der Begriff der Bildung funktional auf das deutsche Bildungssystem bezogen, auf die zu verbessernde schulische, berufliche und akademische Ausbildung in Deutschland.
Jedoch kennen Erziehungswissenschaft, Theologie und Religionspädagogik noch einen dritten Verwendungszusammenhang von Bildung, um den es im Folgenden vor allem geht. Demnach bezeichnet »Bildung den lebenslangen Prozess der Subjektwerdung im Kontext menschlicher Lebensverhältnisse« (BIEHL 2003, 128). Bildung, das zeigt diese Definition von Peter Biehl, umfasst viel mehr als Wissen und ist in einer Weise dem individuellen Subjekt und seiner Selbstentfaltung verpflichtet, die in einer deutlichen Spannung zur funktionalisierten Bildungsdebatte der Gegenwart steht. Gleichzeitig darf Bildung, wie Biehl fortfährt, nicht subjektivistisch missverstanden werden: Denn das Subjekt »gewinnt die Freiheit des Denkens und Handelns nur in Auseinandersetzung mit einer Inhaltlichkeit, die nicht von ihm selbst stammt« (ebd.). So verstanden, kennzeichnet Bildung einen dynamischen Prozess, in dem beide sich verändern: das Subjekt und die Wirklichkeit, an der sich das Subjekt bildet. Um besser zu verstehen, was es mit Bildung in diesem doppelpoligen Spannungsfeld auf sich hat, lohnt es sich, einige wichtige Etappen der neuzeitlichen Bildungstheorie kurz zu vergegenwärtigen (als Überblick vgl. DRESSLER 2006, 20 ff.).
Bildung zum Ebenbild Gottes – Meister Eckhart
Das deutsche Wort »Bildung« ist eine Ableitung des althochdeutschen Wortes »bildunga«, welches Bildnis, Gestalt, Schöpfung meint. Ursprünglich ist Bildung ein durch christlichen Glauben und Theologie imprägnierter Begriff. Bei Meister Eckhart etwa bezeichnet er den Vorgang der Ein-Bildung, mittels dessen das Bild Christi (als Ebenbild Gottes) in die menschliche Seele ein-gebildet und eingeprägt werden soll. Bildung meint dann näherhin die Bildung des Menschen nach dem Bilde Christi bzw. Gottes (vgl. Gen 1,27), also so wie Gott ihn will. Bildung ist hier also kein pädagogischer, sondern ein theologischer Begriff. Man könnte auch sagen: Die Subjektorientierung wird ganz von Gott bestimmt.
Freiheitliche Bildung aller Kräfte – Wilhelm von Humboldt
Das ändert sich grundlegend nach der Aufklärung, in der erstmals ein dezidiert pädagogischer Bildungsbegriff ausgearbeitet wird (vgl. KUNSTMANN 2002, 146 ff.). Das Neue gegenüber der pädagogischen und theologischen Tradition kommt in folgenden Programmsätzen Wilhelm von Humboldts in klassischer Dichte zum Ausdruck: »Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig veränderliche Natur ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist die Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, [nämlich eine] Mannigfaltigkeit der Situationen« (HUMBOLDT 1980, 64).
Mehrere spezifisch moderne, für das Bildungsdenken bis heute leitende Momente drängen hier in den Vordergrund. Zum einen wird die individuelle Freiheit und Selbstentfaltung des Menschen zum Maßstab und Ziel von Bildung. Gleichzeitig bringt Humboldt aber zur Geltung, dass diese Freiheit nur in der Begegnung mit der Lebenswelt zu erlangen ist. Als Selbstbildung verstanden, entsteht Bildung durch die Auseinandersetzung des Selbst mit dem Anderen, auch mit dem Fremden, also der andringenden Weltwirklichkeit, der Kultur und ihren Objektivationen. In der Begegnung und Abarbeitung am Anderen wird der Mensch mündiges Subjekt. Gebildet ist nach Humboldt derjenige, der »so viel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden« sucht. Insofern meint Bildung nicht Lehrbuchwissen oder einen Kanon, den man (auswendig) lernt, sondern im Wesentlichen ein Können und darin eine Lebensform (vgl. MITTELSTRASS 1982). Im Kern geht es nicht um egoistische Selbstverwirklichung oder -vervollkommnung, sondern um die Welt, in der und von der wir leben. Dabei richtet von Humboldt Bildung konsequent an der existierenden Pluralität von Lebensformen und Weltbildern aus: Sie gedeiht umso besser, je mannigfaltiger der Einzelne mit seiner Umwelt interagiert. Anders als bei Eckhart zielt Bildung hier nicht in der Rückgewinnung von Einheit, sondern auf kompetenten Umgang mit Vielfalt.
Kritische Mündigkeit als Ziel von Bildung – Immanuel Kant
Sodann wohnt dem Bildungsgedanken seit der Aufklärung (18. Jahrhundert) ein zweifacher kritisch-emanzipatorischer Zug inne: Zum einen steht Bildung für Befreiung von und aus Abhängigkeiten und Unmündigkeit. So heißt es in Immanuel Kants Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von 1784: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (KANT 1999, 20). Damit konnte man sich von traditionellen, ungeprüften Bindungen und Abhängigkeiten unterschiedlicher Art befreien. Zum anderen wehrt der Bildungsgedanke seit dem 18. Jahrhundert einer Verengung von Bildung auf berufliche Abrichtung, Spezialisierung und Funktionalisierung der modernen Berufswelt. Bildung meint mehr als »Wissen«, Funktionieren und Berufskenntnisse haben. Sie will zur Selbst- und Eigenständigkeit in Wissens- und Lebenszusammenhängen hinführen. Bildung meint nicht nur eine abgeschlossene Phase im menschlichen Leben, sondern einen lebenslangen Prozess, in dessen Verlauf Menschen sich befähigen, am gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Leben teilzunehmen.
Bildung und Religion gehen Hand in Hand – Friedrich Schleiermacher
Freilich zeigt sich der Umbruch, den die Aufklärung bildungstheoretisch markiert, noch in einer anderen Hinsicht: Während etwa die Bildungstheorie Meister Eckharts wie selbstverständlich noch im Deutungsraum des christlichen Glaubens eingebettet war, weist von Humboldts Bildungsdenken eine explizit religionskritische Stoßrichtung auf. Seit der Aufklärung ist der Zusammenhang von Religion und Bildung zunehmend brüchig und begründungsbedürftig geworden. Die Religionspädagogik muss sich daher einer neuen Frage stellen: Gehört Religion überhaupt zur Bildung des Menschen dazu?
Die vielleicht nachdrücklichste Antwort auf diese Frage stammt von Friedrich Schleiermacher, dem bedeutendsten evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts. In seinen »Reden über die Religion« aus dem Jahr 1799 versucht dieser Recht und Eigenrecht der Religion im Kontext von Bildung zu sichern. Schleiermacher pocht auf die Eigenständigkeit der Religion gegenüber anderen Wirklichkeitszugängen: »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl« (SCHLEIERMACHER 1991, 49). Religion ist also ein eigener Bereich des Humanen – Schleiermacher sagt wörtlich »eine eigne Provinz im Gemüte« (ebd., 40). Wer diese Provinz vernachlässigt, verpasst etwas, ist ein ärmerer Mensch. Als konstitutive Dimension von Menschsein gehört Religion daher unauflöslich zur Bildung des Menschen dazu. Das ist für Schleiermacher jedoch nur die eine Seite der Medaille: Wie Bildung ohne Religion einseitig und unvollständig bleibt, so entartet der christliche Glaube zur Barbarei, wenn er aus dem Bildungszusammenhang der ihn umgebenden Kultur herausgelöst wird. Bildung ist für (christliche) Religion nichts Fremdes oder Sekundäres, sondern etwas Grundlegendes. Mittels ihrer kann Religion individuell angeeignet, begangen und gestaltet sowie kritisch reflektiert werden.
Während der Begriff der Bildung in der Religionspädagogik nach Schleiermacher lange Zeit ein Schattendasein führte oder – wie etwa in der Evangelischen Unterweisung bzw., auf katholischer Seite, in der Materialkerygmatik – ausdrücklich abgelehnt wurde, hat er sich in den letzten drei Jahrzehnten konfessionsübergreifend als religionspädagogischer Leitbegriff etabliert. Als Pioniere dieser Entwicklung dürfen Karl Ernst Nipkow und Peter Biehl gelten, in jüngster Zeit ist der Bildungsgedanke vor allem durch Bernhard Dressler, Joachim Kunstmann und Rudolf Englert profiliert worden.
Dabei leistet dieser Begriff im christlichen Kontext ein Zweifaches: Er schärft den Blick für die Zielperspektive religionspädagogischen Handelns und bietet gleichzeitig Kriterien, an der sich die Angemessenheit dieser Praxis überprüfen lässt.
Religiöse Bildung im christlichen Kontext – Allgemeine Perspektiven
Wenn Religion nicht allgemein, sondern immer geschichtlich konkret in bestimmten Traditionen und Gestalten vorkommt, kann sich auch religiöse Bildung nur unter faktischer Berücksichtigung religionskultureller Gegebenheiten vollziehen. Letztere sind im abendländisch-europäischen Raum nicht nur, aber doch vorrangig vom Christentum geprägt und imprägniert. Wenn es keine allgemein verbindliche Antwort auf die Frage nach dem Lebenssinn gibt, kann es im Normalfall auch keine allgemeine religiöse Bildung geben, sondern nur solche, die an eine Religions- oder Glaubensgemeinschaft angebunden ist. Wie eine allgemeine Religion ein künstliches Abstraktum wäre, das keine Entsprechung in der Lebenswelt hat, so wäre es auch mit einer allgemeinen religiösen Bildung in der Schule – sie wäre eine Art Schul-Religion oder Papier-Religion-Bildung, was meint, dass sie in dieser Form nur in der Schule und gewissermaßen auf dem Papier (Lehrpläne, Bücher etc.) vorkommt. Eine allgemeine religiöse Bildung geht an der schulpädagogischen Grundeinsicht, dass Schule lebensnah und wirklichkeitsbezogen arbeiten soll, vorbei. Was religiöse Bildung in unserem Raum und im Grundschulbereich sein und heißen soll, ergibt sich aus folgender Überlegung:
Unter christlicher Religion kann – in freier Anverwandlung von Friedrich D. E. Schleiermacher – die »Welt-Anschauung« aus der Perspektive des christlichen Glaubens (Karl Ernst Nipkow) verstanden werden. Dies meint nicht ein punktuelles Fürwahrhalten von einzelnen christlichen Aussagen, sondern die Konzeptualisierung einer universalen Sinnwelt mit den Augen des Glaubens. Sie umfasst unser Selbst-, Welt- und Gottesverständnis bzw. -verhältnis, auch unser Verhalten und Handeln in ethischen und moralischen Zusammenhängen, betrifft also unsere gesamte Lebensorientierung. Entsprechend geht es bei religiöser Bildung darum: Sie kann Kindern (und Heranwachsenden) bei deren Suche nach Lebenssinn helfen, indem sie sie auf das Menschen-, Welt- und Gottesverständnis sowie die Wirklichkeitssicht(en) der christlichen Religion aufmerksam macht, sie diese erproben und kritisch bedenken lässt. Das Evangelium und der christliche Glaube sind deswegen wichtig für unsere Bildung, weil sie Bilder liefern, die uns sowie unsere Sicht der Dinge und der Wirklichkeit »bilden«. Sie halten Vorstellungen, Perspektiven, Sichtweisen bereit, die uns zur Wirklichkeit verhelfen, also einen Wirklichkeits- und Bildungshorizont schaffen; darin sind sie für (Wirklichkeits-)Bildung unersetzbar und unverzichtbar. Christliche Religion – in ihrer reflektierten Gestalt die christliche Theologie – leistet nämlich Wirklichkeitshermeneutik, d. h. sie legt mit und für Menschen deren persönliche Wirklichkeit aus dem christlich-religiösen Überlieferungszusammenhang heraus aus. So gesehen sind überlieferte christliche Inhalte und Themen eine Chance und ein Potenzial, ein Erfahrungs- und Bildungsschatz für uns Spätere, die Bildungskraft entwickeln können. Daran können sich bereits Kinder orientieren und bilden.
Maße des Menschlichen – Zur regulativen Funktion des Bildungsbegriffs
Der Bildungsbegriff hat, wie Karl Ernst Nipkow feststellt, vor allem regulative Funktion: Er bietet uns Kriterien, an denen wir die Sach- und Zielgemäßheit unseres religionspädagogischen Tuns überprüfen können.
Einige solcher »Maße des Menschlichen« (EKD 2003b) haben sich in der Auseinandersetzung mit den klassischen Bildungstheorien bereits herausgeschält (als Überblick vgl. SCHRÖDER 2012a, 224 ff.), können aber hier noch stärker theologisch profiliert werden:
Wie alle Bildung dient auch religiöse Bildung im christlichen Kontext der freien Entfaltung der einzelnen Person als dem Subjekt seiner Bildung. Diese pädagogische Maxime hat ihre theologische Entsprechung in der christlichen Grundüberzeugung, dass der Glaube letztlich unvertretbar ist: Der Mensch steht Gott unmittelbar gegenüber und soll auch in der Lage sein, über seinen eigenen Glauben Rechenschaft abzulegen. Unter gegenwärtigen Bedingungen ist dieser Prozess der Subjektwerdung jedoch in vieler Hinsicht riskant und notwendigerweise brüchig. Umso wichtiger ist die Einsicht, dass das Gelingen und Scheitern auf diesem Weg nicht an die Personwürde des Einzelnen heranreicht. Theologisch grundgelegt ist diese Würde in der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit (Gen 1,26 f.), die dem Menschen ohne eigenes Zutun von Gott zugeeignet ist und allem seinem Handeln vorausliegt. Bildung dient der individuellen Subjektwerdung, schließt aber gleichzeitig die Sozialität des Menschen mit ein. Bilden kann sich der Mensch nur in der Relation zu Anderen. Neuerdings ist Bernhard Grümme besonders grundsätzlich dafür eingetreten, religiöse Bildung an der uneinholbaren Andersheit des Anderen auszurichten (vgl. GRÜMME 2007). Dieser soll nicht dem Eigenen gleichgemacht werden. Vielmehr gilt es, ihn durch achtsame Wahrnehmung besser kennenzulernen, das Gespräch mit ihm zu suchen und ihn bei alldem in seiner Fremdheit zu respektieren. Aus der grundlegenden Relationalität des Menschen erwächst ferner seine Verantwortung für seine Mitmenschen und die ihn umgebende Welt. In der Erziehungswissenschaft hat vor allem Wolfgang Klafki darauf gedrungen, dass der Begriff der Bildung ethisch dimensioniert ist: Bildung zielt auf die Befähigung des Menschen zu Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität. Auch in der Bibel wird menschliche Existenz von Anfang sozial gedeutet, als Mitgeschöpflichkeit, welche Sorge und Einsatz für das Wohl der von Gott geschaffenen, dem Menschen zur Kultivierung zugeeigneten Welt impliziert.Sämtliche bislang genannten Maßstäbe von Bildung stehen in einem doppelten Begründungszusammenhang: Sie nehmen zentrale Einsichten des neuzeitlichen Bildungsdenkens auf und zeigen, dass diese sich auch im spezifischen Horizont des christlichen Glaubens verankern und konkretisieren lassen. Zum Schluss sei noch auf die kritische Funktion einer theologisch fundierten Bildungstheorie hingewiesen, die darin besteht, dass sie den Sinn für die Grenzen pädagogischer Ambitionen wachhält.
Der Zürcher Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers hat an zahlreichen geschichtlichen Beispielen gezeigt, wie Bildung dazu neigt, ihre Zielhorizonte ins Utopische zu überzeichnen: Durch eine »neue Bildung« in einer »neuen Schule« soll eine »neue Jugend« heranwachsen und dadurch letztlich eine »neue Gesellschaft« (vgl. OELKERS 2005). Folgt man dem Tübinger Systematischen Theologen Christoph Schwöbel, so enthält der christliche Glaube eine radikale Kritik an so weitreichenden Prägungsansprüchen. Schwöbel erläutert das an den drei Grundaussagen des christlichen Glaubensbekenntnisses:
Der Glaube an Gott den Schöpfer richtet sich gegen alle Bildungsprogramme, die den Prozess der Bildung als Verwirklichung des »neuen Menschen« konzipieren. Denn Neues schaffen kann Gott allein; menschliches Bildungshandeln geschieht immer unter Bedingungen der Geschöpflichkeit und ist daher vorläufig und begrenzt. Der Glaube an Gott den Versöhner enthält eine kritische Spitze gegen alle Bildungsvorstellungen, die die Fehlbarkeit und tiefen Verstrickungen menschlicher Existenz ignorieren. Anders als die tendenziell inhumanen Ideale des Übermenschen oder, heute verbreiteter, des Erfolgsmenschen zielt die christliche Botschaft auf den von Gott entfremdeten Menschen und setzt die Anerkennung dieser Entfremdung voraus. Fehlbarkeit und Schuld gehören also, wie der Schatten, zum Menschsein dazu und bilden daher einen integralen Bestandteil aller Bildung. Der Glaube an Gott den Vollender enthält schließlich eine grundsätzliche Absage an pädagogische Utopien, die Bildung als Beitrag oder Mittel zur Vervollkommnung des Menschen begreifen. Schwöbel bringt diesen Moment sehr klar zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Gott ist der Vollender der Welt und des Menschen, nicht der Mensch. Bildung ist darum nicht der Weg zu menschlicher Vollkommenheit, sondern der Umgang mit menschlicher Unvollkommenheit. Wird Bildung als Vervollkommnungsstrategie verstanden, wird sie unmenschlich, indem sie sich das Werk Gottes anmaßt. Wird Bildung aus der Perspektive des christlichen Glaubens als Umgang mit menschlicher Unvollkommenheit verstanden, kann sie menschlich bleiben« (SCHWÖBEL 2003, 294).Die Grundschule leistet im Rahmen ihres Erziehungs- und Bildungsauftrages einen wesentlichen Beitrag zur kindgemäßen Wirklichkeitserschließung und Weltorientierung, indem sie das Selbst- und Weltverständnis von Kindern fördert und fordert. Aber schließt diese allgemeine Grundbildung auch Religion und religiöse Bildung ein? Während der Religionsunterricht Jahrhunderte lang als Grundpfeiler der Schulbildung angesehen wurde, ist er mittlerweile – im Zuge der gegenüber früher rasant beschleunigten Pluralisierung (s. I.2) – in besonderer Weise begründungsbedürftig geworden. Dabei zeigt die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, dass sich diese Frage nicht mehr mit dem bloßen Hinweis auf die rechtliche Verankerung des Religionsunterrichts im Grundgesetz (s. I.8) erledigen lässt. Zudem dient diese Frage natürlich auch der professionellen Selbstvergewisserung: Eine Religionslehrkraft sollte in der Lage sein, eine eigene, säkularem Denken zugängliche Antwort auf die Frage zu geben, warum der Religionsunterricht in der staatlichen Schule einen legitimen Platz hat. In der gegenwärtigen Debatte wird eine ganze Reihe von Begründungen dafür vorgebracht (vgl. ADAM / LACHMANN 2012; vgl. KROPAČ 2013b).
Ein erster Grund ist, dass Religion und religiöse Bildung zu unserer abendländisch-europäischen Kultur gehören. Aufgabe der (Grund-)Schule ist es auch, Kinder mit dem kulturellen Erbe und der kulturellen Herkunft vertraut oder zumindest damit bekannt zu machen. Angesichts des Traditionsabbruchs gewinnt diese Aufgabe zusätzlich an Bedeutung, wird sie doch durch außerschulische Sozialisationsinstanzen kaum mehr geleistet. Gleichzeitig ist die Überzeugungskraft des kulturgeschichtlichen Arguments mehrfach begrenzt. Zum einen könnte die dem Religionsunterricht hier zugewiesene Aufklärungsfunktion bei entsprechender Profilierung auch dem Heimat- und Sachunterricht bzw. später dem Geschichtsunterricht zugewiesen werden. Zum anderen wird seine Plausibilität durch den gesellschaftlichen und religiösen Wandel unterhöhlt: In der multireligiösen Situation der Gegenwart kann das komplexe Zusammenspiel zwischen Religion und Kultur nicht mehr in dieser Weise einlinig auf den prägenden Einfluss des Christentums eingegrenzt werden. Daher setzt das sogenannte religionskulturelle Argument einen stärker gegenwartsorientierten Akzent: Religion ist im Lebensalltag heutiger Kinder in vielfältiger Weise präsent. Sie begegnet ihnen in Sakralräumen und religiösen Gemeinschaften vor Ort, in der populären Kultur, in den Nachrichten etc. Der Religionsunterricht unterstützt die Kinder, sich in dieser Vielfalt zurechtzufinden und mündig an der gegenwärtigen Religionskultur zu partizipieren. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung und Pluralisierung von Religion in der Gegenwart steht zu vermuten, dass dieses Argument künftig weiter an Gewicht zunehmen wird. Allerdings lässt sich auf dieser Basis zwar die Notwendigkeit religiöser Schulbildung, nicht aber gleichermaßen das Daseinsrecht eines christlichen, gar eines konfessionellen Religionsunterrichts plausibilisieren. Hinzu kommt ein weiteres Argument, das in der öffentlich-politischen Bildungsdebatten häufig frequentiert wird und auch bei den Lehrkräften großen Rückhalt hat: Es verweist auf den gestiegenen Orientierungsbedarf pluralistischer Gesellschaften und begründet die Notwendigkeit eines schulischen Religionsunterrichts mit der wertebildenden Funktion dieses Faches (vgl. LINDNER 2012). So warb die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im Vorfeld des Berliner Volksentscheides mit dem Motto »Werte brauchen Gott« für den Beibehalt eines konfessionellen Religionsunterrichts. Der letztlich negative Ausgang dieser Kampagne verweist auf die Grenzen des – an sich wichtigen – ethischen Arguments. Wie etwa Studien unter Konfessionslosen zeigen, sind solidarische Haltungen und prosoziale Orientierungen nicht zwingend an Religion gebunden. Zudem kann eine zu starke Betonung dieses Aspekts zu einer einseitigen Ethisierung des Faches führen. Der Religionsunterricht leistet zwar einen Beitrag zur Wertebildung, aber er geht nicht in dieser Aufgabe auf. Die bisherigen Begründungen orientieren sich an der geschichtlich geronnenen Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Dagegen setzt das anthropologische Argument grundsätzlicher an: Im Unterschied zum Tier kommt der Mensch instinktreduziert zur Welt, verfügt also über kein von Anfang an fertiges Verhaltens- oder Deutungsrepertoire hinsichtlich seiner Wirklichkeit. Weil er keine entsprechende »Sinnformel« für sich und seine Welt hat, muss er danach suchen, wozu er eine Lebens-Deutung, eine Welt-Anschauung oder ein Welt-Bild und – je nachdem – Religion braucht. Wenn wir nicht einfach in den Tag hinein leben, sondern uns unserer Existenz bewusst sein bzw. werden wollen, dann sei es sei es, so der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim, auch »die wichtigste und schwierigste Aufgabe der Erziehung«, »dem Kind dabei zu helfen, einen Sinn im Leben zu finden« (BETTELHEIM 1977, 9). Allerdings darf auch dieser Begründungsansatz nicht überstrapaziert werden: Denn es ist seit geraumer Zeit unübersehbar deutlich, dass Menschen auch ohne Religion leben und leben können, ihr Leben also ohne wesentliche Defizite, wie sie sagen, organisieren und zubringen können (vgl. TIEFENSEE 2000). Dies zeigt sich in Westdeutschland und noch verstärkt in Ostdeutschland. Da wie dort stößt die Ansicht, Religion sei eine anthropologische Konstante, mehr oder weniger auf Unverständnis. »Die Möglichkeit religionsfreier Lebensführung ist als empirisches Faktum nicht zu bestreiten«, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann und fügt hinzu, dass alle »anthropologischen Begründungen der Funktion der Religion« an diesem Tatbestand zusammenbrächen (LUHMANN 1989, 349). Religion ist eine wesentliche Möglichkeit des Menschen, aber kein »naturnotwendiger« anthropologischer Grundsachverhalt. Menschen können religiös sein – und die Mehrzahl ist es –, aber sie müssen es nicht. Dass Religion anthropologisch unverzichtbar und definitiv zum Menschen gehört, lässt sich also – summa summarum – weder sozialwissenschaftlich noch sonst wie allgemein gültig beantworten, da es Gründe dafür und dagegen gibt. Dies macht die Legitimation und Institutionalisierung religiöser Bildung in der Schule nicht unbedingt leichter, aber dafür realitätsnäher und ehrlicher. Während die anthropologische Begründung auf die allgemeine »Fraglichkeit« des Menschen rekurriert, orientiert sich Friedrich Schweitzer in seinem Plädoyer für ein Recht des Kindes auf Religion und religiöse Begleitung an den »großen Fragen«, die im Aufwachsen der Kinder aufbrechen. Seiner Ansicht nach verlangen insbesondere fünf Fragen, die sich bereits Kindern stellen, nach einer potenziell religiösen Antwort: Wer bin ich und wer darf ich sein? Die Frage nach mir selbst.Warum musst du sterben? Die Frage nach dem Sinn des Ganzen.Wo finde ich Schutz und Geborgenheit? Die Frage nach Gott.Was ist gerecht? Die Frage nach dem Grund richtigen Handelns.Warum glauben manche Kinder an Allah? Die Frage nach der Religion des anderen.Die Tabuisierung solcher Fragen ist – so der Philosoph Vittorio Hösle – »ein Verbrechen an der kindlichen Seele« (NORA K./HÖSLE 1996, 247). Folglich ist, so das subjektorientierte Argument, eine gemeinsame Thematisierung solcher Fragen im Religionsunterricht um der Kinder und ihrer Selbstentfaltung willen notwendig.Spätestens hier wird deutlich, dass sich die Frage nach der Berechtigung des Religionsunterrichts letzten Endes an seiner Bildungsbedeutung entscheidet, die in sämtlichen hier vorgetragenen Argumenten mitschwingt. Je mehr sich am Religionsunterricht zeigt, dass er heutigen Kindern bei der komplexen Aufgabe der Subjektwerdung wirklich hilft, dass er sie reicher an Wirklichkeit macht und ihre Sicht auf Andere und Anderes schärft, desto leiser werden die Diskussionen um seine Legitimität ausfallen.
Zusammenfassung:
Wer Religion in der Schule unterrichten will, sollte Auskunft darüber geben können, was unter Religion zu verstehen ist und inwiefern der Religionsunterricht zum Bildungsauftrag der Schule beiträgt. Das ist aber allein schon deshalb nicht einfach, weil beide Begriffe, Religion und Bildung, schillernd, mehrdeutig und umstritten sind. In der Debatte um den Religionsbegriff standen sich substanzielle und funktionale Religionsbestimmung lange Zeit unversöhnlich gegenüber. Neuerdings gibt es jedoch religionsdidaktisch anschlussfähige Versuche, beide Aspekte miteinander zu verbinden. Während der Religionsbegriff den Gegenstandbereich des Religionsunterrichts absteckt, verweist der Bildungsbegriff auf seinen Zielhorizont: den Prozess menschlicher Subjektwerdung im Kontext von Lebensgeschichte, Lebenswelt und Kultur. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Bildung ist eine der zentralen Streitfragen der neuzeitlichen Bildungsdiskussion und steht im Zentrum der gegenwärtigen Debatte um den Religionsunterricht. Unter den Bedingungen der Pluralität kann der Religionsunterricht seinen Platz in der öffentlichen Schule nur behaupten, wenn einsichtig gemacht werden kann, dass er Kindern bei der komplexen Aufgabe der Subjektorientierung hilft. Die gängigen Begründungen des Religionsunterrichts akzentuieren verschiedene Dimensionen und Aspekte religiöser Bildung. Nicht für sich, aber zusammengenommen zeigen sie, dass Religion in ihrer subjektdienlichen, wirklichkeitserschließenden und weltorientierten Funktion unverzichtbar zur Bildung des Menschen dazugehört und daher aus dem Grundschulunterricht nicht wegzudenken ist.
Lesehinweise:
DRESSLER, BERNHARD (2002): Religiöse Bildung: Warum und Wozu? In: WERMKE, MICHAEL (Hg.): Aus gutem Grund: Religionsunterricht. Göttingen, 22–34.
KROPAČ, ULRICH (2013): Warum Religionsunterricht in der öffentlichen Schule? In: HELBLING, DOMINIK u. a. (Hg.): Konfessioneller und bekenntnisunabhängiger Religionsunterricht. Eine Verhältnisbestimmung am Beispiel Schweiz. Zürich, 142–159.
SCHRÖDER, BERND (2012): Religionspädagogik. Tübingen; hier: 196–231.
Werner H. Ritter/Henrik Simojoki
Wer heute in der Grundschule mit der Aufgabe religiöser Bildung betraut ist, steht, verglichen mit den entsprechenden Voraussetzungen und Gegebenheiten vor vier bis fünf Jahrzehnten, vor einer stark veränderten Situation. Begegnete ein katholischer Dorfbewohner, der im 19. Jahrhundert aus einem konfessionell geschlossenen Milieu in die Stadt zog, dort Protestanten, Juden und vielleicht ein paar Atheisten, so trifft der heutige Nachfahre jenes Dorfbewohners im 20. / 21. Jahrhundert potenziell auf eine viel kompliziertere Gemengelage: »Im Nebenhaus wohnt eine muslimische Familie, eine Verwandte ist Buddhistin geworden, Bekannte üben tägliche Meditation, der Lehrer der Kinder ist dezidierter Atheist und im Fernsehen und im Internet gibt es kaum irgendeine religiöse Tradition der Menschheitsgeschichte, die dort nicht vertreten ist« (BERGER 2000, 812). In diesem Kapitel versuchen wir, den empirisch angezeigten Wandel von Religion besser zu verstehen. Traditionellerweise hat die Religionspädagogik diesen Aspekt vor allem in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie thematisiert: Es ging dann um den Wandel von Religion im Zuge der biografischen Entwicklung – ein Aspekt, der im nächsten Kapitel eingehend thematisiert wird (s. I.3). Allerdings greift dieser Zugang, sofern man sich auf ihn beschränkt, in einer Hinsicht zu kurz. Er übersieht, dass die Veränderungen in der Religiosität heutiger Kinder in den viel umfassenderen Gestaltwandel von Religion in der heutigen Gesellschaft eingelagert sind.
In der aktuellen religionssoziologischen Debatte spielen vor allem drei Ansätze zur Deutung dieses Wandels eine Rolle (vgl. PICKEL 2011, 135 ff.). An erster Stelle ist die Säkularisierungsthese zu nennen, die von einem langfristigen Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne ausgeht. Daneben trat in den letzten Jahrzehnten das Gegenmodell der Individualisierung von Religion: Statt von einem Religionsverlust geht dieser Deutungsansatz von einem modernitätsspezifischen Wandel der Religion aus, die sich von institutionellen Vorgaben löst und immer mehr individualisierte und privatisierte Formen annimmt. Hand in Hand mit der Individualisierungsthese geht die Auffassung einer fortschreitenden Pluralisierung von Religion. Neuerdings wird erkannt, dass Religion in der heutigen Gesellschaft immer mehr in globalisierter Gestaltbegegnet. Diese komplexe Gemengelage soll im Folgenden schrittweise erschlossen und auf ihre religionsdidaktischen Folgewirkungen befragt werden. Abschließend wenden wir uns einem weiteren, für den Religionsunterricht der Grundschule erheblichen Aspekt des gesellschaftlichen Wandels zu: dem Wandel von Kindheit, ohne den die Religiosität heutiger Kinder nicht hinreichend verstanden werden kann.
Religiöse Individualität, Pluralität, Globalität sowie veränderte Kindheit sind Kennzeichen unserer Zeit. Sie werden in ihrer gesellschaftlichen wie individuellen Wirksamkeit nicht nur vielfach beschrieben und debattiert, sondern von vielen einfach gelebt. »Hineingeboren in eine plurale Welt. Aufwachsen zwischen multikulturellem Reichtum und religiöser Heimatlosigkeit« (SCHWEITZER 2003b, 36–58), so hat Friedrich Schweitzer die religiöse Befindlichkeit von Kindern heute kurz umrissen. Vor allem – aber nicht nur – ältere Beobachter der religiösen Landschaft – Kirchenleute, Laien, Eltern und auch Religionslehrkräfte – empfinden diese Situation sehr oft als bedrohliche Entwicklung, ja als Verfall und Abbruch des christlichen Glaubens. Diese Tendenz in der modernen Gesellschaft problematisierend, argumentiert man dabei nicht selten mit Vergleichen von »früher« und »heute«: Früher seien die Gesellschaft, die Schulen und die Kinder dem christlichen Glauben und den Kirchen wesentlich aufgeschlossener begegnet, heute dagegen herrsche religiöse Indifferenz vor. Junge Menschen, die heute Theologie oder Religionspädagogik studieren, kennen solche »besseren« Zeiten nur vom Hörensagen; dies gilt noch mehr für heutige Schülerinnen und Schüler, die allesamt unter den Bedingungen religiöser Individualisierung und Pluralisierung im Kontext veränderter Kindheit aufwachsen. Für sie sind diese Kennzeichen in hohem Maße Normalität. Wie und wann ist es zu solchen gravierenden Veränderungen gekommen? Religiöse Individualisierung und Pluralisierung sind Folgen einer veränderten Religionspräsenz in unserer heutigen Kultur, was wiederum mit umfangreichen und komplexen Transformationsprozessen zu tun hat. Letztere lassen sich auf drei unterschiedlichen Ebenen sehr deutlich aufzeigen.
Religion als Teilsystem der Gesellschaft
Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene wird Religion im Verlauf der Moderne zu einem Teilsystem neben anderen; sie verliert zunehmend ihre Funktion als »heiliger Baldachin« (Peter L. Berger), der ein übergreifendes Sinnangebot für alle darstellt bzw. dargestellt hat. In vormoderner Zeit, also etwa in der mittelalterlichen Gesellschaft, vollzog sich religiöse Bildung in einer traditionsgeleiteten, geschlossenen Gesellschaft, die erheblich stärker, als dies heute der Fall ist, eine einheitliche Größe (mit Kaiser und Papst an der Spitze) mit klaren Ordnungsvorstellungen war, mit geltenden, kaum hinterfragten Traditionen und Einrichtungen, die eine hohe weltanschauliche Einheit zur Folge hatten. Glaube und Leben, ja alles war verbindlich geregelt. Dem hatten sich die Menschen zu fügen und zu unterstellen, wenn sie nicht als Außenseiter gebrandmarkt werden wollten. Eine geschlossene Gesellschaft gewährt dem Einzelnen hohe Sicherheit, aber wenig Freiheit. Mit der beginnenden Neuzeit hebt hier ein weitreichender gesellschaftlicher Wandel an. Für moderne Gesellschaften gilt im Unterschied zu vormodernen, traditionalen, dass Religion und Gesellschaft in ein Spannungsverhältnis zueinander treten. Die Gesellschaft gleicht nun nicht mehr einer Pyramide mit einer einheitlichen Spitze aus Kaiser und Papst, die über allem thront und wacht; vielmehr differenziert sie sich aus in verschiedene Teilsysteme wie Politik, Medizin, Recht, Bildung, Religion usw. (vgl. LUHMANN 2000, 595 ff.). Das Christentum ist von diesen Veränderungen massiv betroffen. Lautete der Selbstanspruch der christlichen Religion lange Zeit, die entscheidenden Maßgaben für ein Weltbild bereitzustellen, so wird ihr gesellschaftlich diese Funktion in der Moderne nicht mehr zugewiesen. Dem Christentum geht dadurch viel an normierender Kraft für das öffentliche wie private Leben verloren; als gesellschaftlicher Teilbereich muss es mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen als Weltbild-Produzent konkurrieren.
Im religionspädagogischen Bereich zeigt sich diese Entkopplung besonders im Verhältnis des Religionssystems zum Bildungssystem. Im Mittelalter war das Bildungssystem wie selbstverständlich kirchlich eingebettet. Noch im 19. Jahrhundert war die kirchliche Aufsicht über die Schulen ungebrochen. In Bayern war die Volksschule bis in die 1960er-Jahre hinein konfessionell gegliedert. Dagegen hat sich die Trennung von Schule und Kirche mittlerweile fast komplett durchgesetzt. Und selbst in den Bundesländern, wo die Stellung des Religionsunterrichts noch relativ sicher ist, gilt die Einsicht: Das Existenzrecht des Religionsunterrichts in der Schule muss pädagogisch begründet werden (s. I.1), also mit Argumenten, die der Logik des Bildungssystems entsprechen – ein klares Zeichen funktionaler Differenzierung.
Diese gesellschaftliche Differenzierung wiederum beflügelt nun die Prozesse von Individualisierung und Pluralisierung. Individualisierung meint: Wenn sich die moderne Gesellschaft in spezialisierte Teilsysteme aufgeteilt darstellt, dann kann sich der einzelne Mensch immer weniger an einer umfassend verbindlichen Sozialinstanz orientieren. Vielmehr wird die Einzelperson selbst zur Instanz, die die unterschiedlichen Teilsysteme miteinander vermitteln muss. Das Individuum ist also in der Gestaltung seines privaten wie seines gesellschaftlichen Lebens weitestgehend auf sich allein gestellt. Primärer Bezugspunkt des Menschen und seiner Erfahrungen wird seine eigene Person, seine eigene Subjektivität, womit Chancen und Lasten verbunden sind: Chancen des Freiheitsgewinns und Lasten durch eine Fülle von Wahlmöglichkeiten (vgl. BECK 1986). Individualisierung hat wiederum engstens mit Pluralisierung zu tun bzw. diese zur Folge. Letzteres meint eine Gesellschaft, in der eine Vielfalt von Überzeugungen, Meinungen und Weltanschauungen existieren. Die Individualisierungstendenzen nehmen in dem Maße zu, wie die vielen Einzelnen sich einer – oft unübersehbaren – Mehr- oder Vielzahl (Pluralität) verschiedener, oft sich widerstreitender Positionen, Weltanschauungen und Religionen gegenübersehen, die die eigene Position ständig relativieren und infrage stellen.
Bedeutungsverlust institutionalisierter Religion und Wiederkehr des Religiösen
Auf der Ebene der Kultur gibt es nicht mehr nur eine verbindlich geltende Weltanschauung bzw. Religion, vielmehr treffen in modernen Gesellschaften eine Mehrzahl von Deutungssystemen aufeinander; sie treten mit übergreifenden Ansprüchen auf Wahrheit, Orientierung und Legitimität auf, konkurrieren miteinander und berauben sich wechselseitig ihrer selbstverständlichen Geltung. Der Bedeutungsverlust großer religiöser und ideologischer Systeme hat erhebliche Folgen für deren Institutionen und Organisationen. Auch sie verlieren an Einfluss wie an Mitgliedern. Nachgefragt und wichtig sind sie weiter, allerdings weniger wegen ihres substanziellen als wegen ihres funktionalen Beitrags zur Gestaltung des Gemeinwesens und zum Wohl des Einzelnen. Für christliche Religion und Kirchen heißt das ganz unmittelbar: Sie haben nicht mehr dieselbe (Deutungs-)Macht wie früher, als sie alle Lebens- und Gesellschaftslagen umfasst haben.
Bis vor wenigen Jahrzehnten war es üblich, diesen eben beschriebenen Wandel von Religion auf der gesamtgesellschaftlichen, kulturellen (aber auch individuellen) Ebene als Säkularisierung zu bezeichnen. Darunter verstand man – und versteht teilweise noch immer –, dass mit fortschreitender Modernisierung von Gesellschaften zwangsläufig ein Bedeutungsverfall, ja vielleicht sogar das Ende von Religion einhergehe. Seit geraumer Zeit wird dieses Säkularisierungsverständnis sozialwissenschaftlich, religionswissenschaftlich und theologisch kritisiert: Es gilt, da es einen direkten Zusammenhang zwischen Modernisierung und Religion unterstellt, als zu wenig differenziert und der Vielschichtigkeit der tatsächlichen Zusammenhänge nicht gerecht werdend (vgl. ZIEBERTZ 2002b). Eher sieht es danach aus, dass Religion gesellschaftlich vielfältig präsent ist – unsichtbare Religion, privatisierte Religion, transformierte Religion usw. – und auch zur modernen Wirklichkeit und zum Leben vieler Menschen gehört (vgl. GABRIEL 2002, 142 f.), gerade in ihrer individualisierten und pluralisierten Gestalt.
Doch auch wenn der mancherseits erwartete konsequente Niedergang der Religion in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt nicht eingetreten ist, also das Ende der Religion keineswegs nahe ist, haben sich dennoch die Dinge stark verändert. Zu reden ist zum einen von Verlusten des christlichen Glaubens: Die Säkularisierungsthese lässt sich in Europa zu einem gewissen Teil empirisch bestätigen (vgl. POLLACK 2003; LEHMANN 2004). So haben die traditionellen Kirchen vor allem im westlichen Europa seit den 1970er-Jahren einen erheblichen Mitgliederverlust hinnehmen müssen. Deutlich ist auch, dass die Zahl sogenannter Konfessionsloser, die sich weder einer Konfession noch Religionsgemeinschaft zugehörig wissen, erheblich gewachsen ist, besonders in Ostdeutschland, wo sich nach dem Zweiten Weltkrieg graduell eine Mehrheitskultur der Konfessionslosigkeit etabliert hat.
Jedoch hat sich im Verlauf der Neuzeit nicht nur das Verhältnis von christlicher Religion und Kultur verändert. Gewandelt hat sich auch das Christentum selbst: Es ist längst keine einheitliche Größe mehr, sondern eine plurale Erscheinung, die sich in viele Konfessionen und Denominationen ausdifferenziert; auch die einzelnen christlichen Konfessionen sind keine monolithischen Einheiten, sondern facettenreiche Größen. Vor allem durch die Aufklärungsepoche mitbedingt, treten kirchenoffizielle Religion und private Religiosität des bzw. der Einzelnen in der Moderne auseinander. Phänomenologisch können drei Erscheinungsformen des Christentums benannt werden: Neben einer kirchen- und kerngemeindlichen Christlichkeit kennen wir seit geraumer Zeit ein individuell-privates und ein kulturell-öffentliches Christentum (vgl. RÖSSLER 1994). Eine weitere auffällige Folge neuzeitlich bedingter Veränderungen von Christentum und Religion ist, dass Religion aus dem angestammten Ort Kirche aus- und in andere Orte des Lebens einwandert. Wir sprechen von Ortsverschiebungen von Religion. In diesem Zusammenhang ist man auf die verborgenen Gestalten von Religion und Religiosität mitten in unserer weltlichen Wirklichkeit aufmerksam geworden: in Kunst, Literatur, Musik, Sport, Werbung, Medien, Tourismus, im öffentlichen und politischen Leben etc. Auch hierin zeigt sich, wie Menschen das Religionsmonopol, das die Kirche lange Zeit hatte, sich selbst aneignen und damit ihre religiöse Autonomie und Unabhängigkeit reklamieren.
Gerade die modernen veränderten Gestalten des Christentums, welche die kirchlich institutionalisierte Religion und den individuellen Glauben auseinandertreten lassen, zeigen, dass das Christentum sich nicht einfach in einem Eliminierungsprozess befindet. Freilich werden diese Veränderungsprozesse oft allzu einseitig negativ beurteilt, nämlich ausschließlich am Maß der kirchlichen Gestalt des Christentums. Die Identifikation von Religion und Religiosität mit bestimmten überlieferten und bekannten Formen kirchlichen Christentums lässt weder die Dynamik des religiösen Feldes noch die breite Präsenz religiöser Phänomene in den Blick kommen. Sie führt zudem zu vermeintlich empirischen Ergebnissen, die – infolge ihrer Grundannahme – einen kontinuierlichen Rückgang kirchlicher Bindung und kirchlicher Gläubigkeit meinen feststellen zu müssen. Nicht zuletzt werden mit solchen Defizit-Beobachtungen, die nur das Verschwinden des christlichen Glaubens konstatieren, keine religionsdidaktischen Perspektiven eröffnet, die eine Kommunikation zwischen alltagsweltlicher Religion und Religiosität von Menschen sinnvoll erscheinen lassen. Gerade auf Letzteres käme es aber an.
Religion als individuelle Entscheidung und als subjektive Leistung
Religiöse Individualisierung und Pluralisierung begegnen uns schließlich auf der Ebene des bzw. der einzelnen Menschen und sind wesentliche Merkmale von Religion und Religiosität heute in der sogenannten Postmoderne. Religiöse Individualisierung ist dabei gleichsam die Folge bzw. die Kehrseite religiöser Pluralisierung. Konkret heißt dies: Die noch bis in die 1950er/ 60er-Jahre hinein begegnenden sogenannten geschlossenen religiösen Milieus katholischer wie evangelischer Provenienz schwinden erheblich, und stattdessen wird oft das Allgemein-Christliche und / oder die individuelle Freiheit betont. Zudem treffen Menschen schon von Kindesbeinen an mit anderen Kulturen zusammen und wachsen damit auf. Religiöse Pluralisierung meint den Prozess, in dem den Einzelnen religiöse Orientierungen und Einstellungen in vielfältigen Gestalten begegnen. Dies betrifft sowohl den inneren Pluralismus des Christentums mit seinen verschiedenen Gruppierungen und Konfessionen wie auch die äußere religiöse Pluralität einer multireligiösen Gesellschaft. Menschen sind – wie auch immer – von pluralen Religions- und Sinnsystemen umgeben, angesichts derer sich ihr Aufwachsen und Leben vollzieht. So ist die religiöse Gegenwartskultur in europäischen und auch in vielen anderen Gesellschaften – wie sie der Einzelne wahrnimmt – im Unterschied zu der Zeit vor etwa 50 Jahren durch eine wachsende Vielfalt religiöser Orientierungen in ein und derselben Gesellschaft ausgezeichnet, Säkularisierungs-Schübe eingeschlossen. Für Heranwachsende und Erwachsene in unserer Gesellschaft hat dies zur Folge, dass sie christliche Religion und Kirche nicht mehr im gleichen Maße wie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein als die einzige und die maßgebende Religion akzeptieren, von der sie sich ohne Weiteres exklusiv orientieren ließen und deren Autorität sie umstandslos akzeptierten (s. II.11).
Das andere markante Merkmal religiöser Gegenwartskultur in Europa und darüber hinaus besteht darin, dass sich der und die Einzelne angesichts innerer wie äußerer religiöser Pluralisierung in gesteigertem Maße selbst einen Reim auf ihre Religiosität machen und diese bis zu einem bestimmten Grade eigenständig »konstruieren« (müssen), wodurch die vorher stärker homogene (christliche) Religionslandschaft sich zusehends individueller und pluraler ausformt. Der bzw. die Einzelne lässt sich heute die persönliche religiöse Orientierung nicht allein durch Kirchen bzw. religiöse Institutionen und deren Traditionen vorgeben. Stattdessen wird Religion bzw. die Religiosität des Einzelnen zunehmend zu einer Sache der individuellen »Wahl« – eine Konsequenz aus der pluralen Situation. Der (Religions-)Soziologe Peter L. Berger spricht in diesem Sinne vom »häretischen Imperativ«, womit er die Situation einer angesichts religiöser Pluralität notwendig gewordenen religiösen Wahl für jeden Einzelnen in der Gesellschaft kennzeichnen will (vgl. BERGER 1980). Von individualisierter Religiosität zu reden – im Grunde eine Tautologie, weil Religiosität ohnehin die individuelle Seite von Religion bezeichnet –, ist dennoch sinnvoll, da die aktive Eigenbeteiligung des Einzelnen an seiner Religiosität, die es in irgendeiner (geringeren) Form schon immer gab, in unserer Zeit eminent an Bedeutung zugenommen hat. Moderne Religiosität hat demzufolge nicht mehr den Charakter einer schicksalhaft zugeborenen Sache, sondern wird vielmehr stärker vom Einzelnen entschieden. Zwar kann man sich auch weiterhin mit einer bestimmten ererbten religiösen Überlieferung total identifizieren, aber auch diese Identifikation muss »gewählt werden, bedarf deshalb irgendeiner Form der Begründung (d. h. sie wird reflektiert)« (BERGER 2000, 811). Mit der Entdeckung der eigenen Autonomie erheben die Individuen genauso Anspruch auf Wahrheit und Wirklichkeit, wie es die religiös kulturellen Überlieferungen tun. Menschen lehnen heute tendenziell jede (religiöse) Definitionsmacht über ihr Leben, egal woher sie kommt, ab und fühlen sich für ihre Religion und Weltanschauung sowie ihr Leben selbst zuständig. Sie nehmen sich also das Recht, ihre religiöse Anschauung selbst zu bilden. Was heute einer glaubt, glaubt er nicht bloß traditionell-konventionell, sondern »aus Überzeugung«. Deswegen zeichnet sich religiöse Individualisierung durch auswählendes Verhalten und persönliche Identifikationen mit bestimmten Glaubensinhalten aus.
Doch nach welchen Mustern vollzieht der Einzelne seine religiösen Wahlentscheidungen? Thomas Luckmann, einer der wichtigsten Bahnbrecher der Individualisierungsthese, betont den synkretistischen Charakter der individualisierten Religion (vgl. LUCKMANN 1991). Er prägt dafür den Begriff der »Bricolage« – die je eigene Religion wird aus Versatzstücken aus verschiedenen Religionen und Weltanschauungen nach persönlicher Präferenz »zusammengebastelt«. Schließlich kann religiöse Individualisierung dazu führen, dass die subjektive Religion sich immer mehr ins Private verlagert: Selbstverwirklichung, das persönliche Glück und Wohlbefinden rücken ins Zentrum religiöser Bemühungen. Profiteur dieser Entwicklung ist das esoterische Frömmigkeitssegment sowie sämtliche Deutungsangebote, die auf Selbstthematisierung, Selbsterfahrung oder Selbstverwirklichung zielen. Luckmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Tendenz zur »Sakralisierung des Selbst« (LUCKMANN 1991, 153).
Auch wenn solcherart individuelle Religiosität immer wieder als billige religiöse Auswahlmentalität und Beliebigkeitsreligiosität dargestellt wird – was nicht von vornherein definitiv auszuschließen ist – ist doch positiv die damit verbundene subjektive religiöse Leistung zu würdigen: Der Einzelne muss heute angesichts pluraler religiöser Traditionen selbstständig seine religiöse Position finden, ihm ist im Unterschied zu früher seine religiöse Biografie wesentlich stärker als selbst zu gestaltendes und zu verantwortendes Projekt aufgegeben. Ob abwertende Begriffe wie »Patchwork-Religion« den Schwierigkeiten gerecht werden, denen sich Menschen, die sich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bewegen, ausgesetzt sehen, ist fraglich. Um religiös deute- und handlungsfähig zu werden, müssen sie dieses Unterschiedliche ja koordinieren und integrieren.
Religion im Zeitalter der Globalisierung