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Die religiöse Sprache ist weitgehend verflacht. In dieser Situation, in der es fast überall an der Kompetenz mangelt, die christliche Tradition in den Fluss der Zeit zu bringen, ist vor allem eine religiöse Sprachlehre notwendig. Hubertus Halbfas deckt einmal mehr ein drängendes Desiderat auf. Als praktischer Theologe hat er sich ein Leben lang damit befasst, wie alte religiöse Traditionen heute zur Sprache kommen können. Hier legt er die Summe seiner Erkenntnisse in einer systematisch gebündelten Sprachlehre vor. Er konzentriert sich dabei auf erzählende Gattungen, biblische Formen und dogmatische Traditionen, die er in exemplarischen Beispielen vorstellt und so zum Sprechen bringt, dass sie auch heute verstanden werden. Seine Bemühungen belegen: Einerlei, wie weit sich Menschen aus dem kirchlichen Milieu entfernt haben und dem christlichen Glauben fremd gegenüberstehen, der Weg der Sprache ist der breiteste Weg, auf dem religiöse Traditionen, auch solche, die dem modernen Lebensgefühl fremd sind, dem heutigen Bewusstsein neu erschlossen werden können.
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Seitenzahl: 714
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Anmerkungen
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Hubertus Halbfas
Religiöse Sprachlehre
Theorie und Praxis
Patmos Verlag
Vorwort
I. Grundlegung: Der Weg der Sprache
1. Bewusstwerdung und Sprache
Spracherwerb
Der archaische Ursprung
Das magische Bewusstsein
Das mythische Bewusstsein
Das rationale Bewusstsein
2. Träumen und Denken
Die Sprache der Seele: Der Traum
Die Symbolsprache des Traums
Das Wesen des Traums
Die Traumsprache nach Sigmund Freud
Die Traumsprache nach Carl Gustav Jung
Traum und Traumdeutung in der Religionsgeschichte
Der Traum in archaischen Kulturen. Die indianische Welt
Der Traum im griechischen Denken
Die Traumauffassung der Römer
Der Traum in der Bibel
Der Traum im christlichen Mittelalter
Der psychologische Zugriff und seine Grenzen
Tiefenpsychologie und Exegese
Tiefenpsychologie und Erzählforschung
3. Das Wort als Mythos
Der Mythos als erzählendes, bildhaftes, Riten stiftendes Wort
Die Wahrheit des Mythos
Die Gegenwärtigkeit des Mythos
4. Das Wort als Logos
Das logische Denken
Die Grenzen des Logos
Die Engführung des Logos
5. Das Symbol
Der Begriff Symbol
Das Symbolverständnis in der Geschichte
Das religionsgeschichtliche Symbolverständnis bei Mircea Eliade
Der psychoanalytische Symbolbegriff
Der theologische Symbolbegriff Paul Tillichs
Verschränkungen
Symbol und Erfahrung
Symbol und Sprache
Symbol und Zeit
Symbolverständnis im Kindesalter
6. Die Metapher
Was ist eine Metapher?
Über die Notwendigkeit der Metapher
Die religionsdidaktische Bedeutung der Metapher
Metaphernverständnis im Kindesalter
II. Die Wahrheit der Formen
1. Die Mythe
Was ist eine Mythe?
Die Mythe als Wahrnehmung einer sich gewährenden Wirklichkeit
Mythen als Geschichten eines »mitlaufenden Anfangs«
Mythen als Darstellung der conditio humana
Mythos und Zeit. Wie die heilige Gabe des Festes zu den Menschen kam
Mythos und Raum
2. Das Märchen
Die symbolische Sprache der Märchen
Das Märchen kennt kein Jenseits. Es ist eindimensional
Die Märchenfiguren sind ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt und ohne Umwelt
Das Märchen erzählt von den Wegen und Irrwegen des Menschen. Es ist ein Spiegel der Welt.
»Gott« im Märchen
Symbolbestand und Symboldeutung der Märchen
Die drei Federn
3. Die Sage
Was ist eine Sage?
Das christlich Numinose im Weltbild der Sage
Der Kobold oder Das bucklicht Männlein
4. Die Legende
Lügende oder Wahrheit?
Geschichtsschreibung und Legende
Legenden sind Nachfolgegeschichten
Säkularisierte Formen: Polit- und Konsumlegenden
Die Christophorus-Legende
Die Eustachius-Hubertus-Legende
5. Gleichnisse
Fabel und Parabel
Gleichnis und Parabel
Die Beispielerzählung
Die Allegorie
6. Das Paradoxon
Paradoxa im Märchen
Paradoxa in der Legende
Paradoxa in der Glaubenssprache
Paradoxa des Zen-Buddhismus. Das Koan
Das Sein und das Nichts. Westliches und östliches Denken
III. Biblische Sprachlehre
Biblische Hermeneutik
Bibel und Weltbild
Zur Entstehungsgeschichte der Bibel
Die Bibel als »Wort Gottes«
Historisch-kritische oder/und kanonische Bibelauslegung?
Die Bibel als Kritik des Dogmas
Sprachformen im Alten Testament
1. Mythen
Die Urgeschichte
Die Schöpfungserzählungen
Die jahwistische Schöpfungserzählung: 2,4b–25
Die Erschaffung des Menschen: 2,4b–7; 18–24
Der Garten Eden: 2,8–17
2. Sagen
Zur Sagentradition Israels
Abrahams Opfer oder Die Bindung Isaaks: 22,1–14
Der biblische Gott und die Götter Homers
3. Legende
Die Prophetenlegende: Elija und Elischa
Elija am Bach Kerit: 1 Kön 17,1–7
Elija in Sarepta: 1 Kön 17,8–16
Elija erweckt den Sohn der Witwe zum Leben: 1 Kön 17,17–24
Apokalyptische Widerstandstheologie
Die drei jungen Männer im Feuerofen: Dan 3,1–23
4. Geschichtsschreibung
Geschichte als reales weltliches Geschehen
Geschichtsschreibung als unablässige Überarbeitung und Redaktion
5. Prophetenspruch
Israels Prophetentum
Die Aufzeichnung prophetischer Rede
Der Prophet Amos
Das Gericht über Samaria: Am 3,9–15
Gegen die Heiligtümer: Am 5,1–6
Die Beugung des Rechts: Am 5,7–15
Der wahre Gottesdienst: Am 5,21–24.27
Der Prophet Jesaja
Jesajas Kultkritik: Der falsche und der wahre Gottesdienst: 1,10–17
Der Prophet Jeremia
Die Berufung Jeremias zum Propheten: Jer 1,4–10
Die Baruch-Rolle (Jer 36–45)
Sprachformen im Neuen Testament
6. Briefe
Herkunft und Bildungsweg des Paulus
Kehrtwende in Damaskus
Paulus als Briefschreiber
Die Berufung zum Apostel: Gal 1,10–24
Der Apostelkonvent in Jerusalem: Gal 2,1–10
7. Spruchgut
Das Spruchevangelium Q und die frühe Jesus-Bewegung
Das Thomasevangelium
Der matthäische »Jesus« und die Bergpredigt
Die Rede von der wahren Gerechtigkeit: Mt 5,1–7,29
Vom Salz der Erde und vom Licht der Welt: Mt 5,13–16
In Jesus sind »Tora und Propheten« erfüllt: Mt 5,17–20
8. Evangelien
Das Markusevangelium
Das Gleichnis vom Sämann: Mk 4,1–9
Das Matthäusevangelium
Die Tora in der Deutung des »matthäischen Jesus«
Vom Töten und von der Versöhnung: Mt 5,21–26
Das Lukasevangelium
Jesus und die Prostituierte: Lk 7,36–50
Das Johannesevangelium
Das Gespräch am Jakobsbrunnen: Joh 4,1–26
Die Kanonbildung als Bekenntnis zur Pluralität
9. Gleichnis und Parabel
Gleichnisse sind keine »Bildrede«
Stationen der Gleichnisauslegung
Das Gleichnis als Erzählung
Das Gleichnis als Metapher
Das Gleichnis als Spiel
Die Erzählweise der Gleichnisse Jesu
Das Gleichnis vom Festmahl: Lk 14,15–24
Das Beispiel vom barmherzigen Samariter: Lk 10,25–37
10. Wundererzählungen
Das antike Weltbild
Das Wunderverständnis der Bibel
Was ist ein Wunder?
Die griechische Welt. Der göttliche Arzt Asklepios
Krankheit und Heilung bei Naturvölkern
Die Wunderheilungen Jesu
Wundertaten im Markusevangelium
Der Sturm auf dem See: 4,35–41/ Mt 8,23–27
Wundertaten im Matthäusevangelium
Über Wasser gehen: Mt 14,22–33
Wundertaten im Johannesevangelium
Die Hochzeit zu Kanaa: Joh 2,1–12
11. Passionsgeschichten
Erinnerte Geschichte oder historisierte Prophezeiung?
Der Prozess Jesu
Das Verhör vor dem Hohen Rat: Mk 14,53–65
12. Osterlegenden
Die Entstehung des Osterglaubens
Wie viele Jahre dauerte der »Ostersonntag«?
Die Osterlegenden
Die Botschaft des Engels am leeren Grab: Mk 16,1–8
Der Auferstandene erscheint zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus: Lk 24,13–35
Selig, die nicht sehen und doch glauben: Der Zweifler Thomas:
Joh 20,24–29
IV. Dogmatische Sprachlehre
1. Dogma als Binnensystem
Das nicht definierbare Wort Gott
Vision und Offenbarung
2. Dogma und Sprache
Entmythisierung von Bibel und Dogma
Theologische Sprachlehre – uneingelöst
3. Dogma und Geschichte
Die Fortdauer magischen Denkens
Die Fortdauer mythischen Denkens
4. Geschichte und Metaphorik des Apostolischen Glaubensbekenntnisses
Ich glaube an den einen Gott
… den Vater, den allmächtigen
… den Schöpfer des Himmels und der Erde
… und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn
… empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria
… gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben
… hinabgestiegen in das Reich des Todes
… am dritten Tage auferstanden von den Toten
Auferstehung im jüdischen Denken
Der Osiris-Kult und der auferweckte Christus
… aufgefahren in den Himmel
… er sitzt zur Rechten Gottes
… von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten
Ich glaube an den Heiligen Geist
… die heilige katholische Kirche
… Gemeinschaft der Heiligen
… Vergebung der Sünden
… Auferstehung der Toten und das ewige Leben
… Amen
V. Ausblick
Abbildungsverzeichnis
Anmerkungen
Können Analphabeten Auto fahren? Auf bekannten Straßen gewiss, aber bereits nach dem ersten Autobahnkreuz wissen sie nicht, ob sie nach München oder nach Berlin unterwegs sind. Nicht anders ergeht es vielen, die sich mit Religion befassen. Sie haben auf diesem Felde mit metaphorischen und symbolischen Sprachformen, mit Mythen, Sagen und Legenden zu tun – oder auch nur mit Elementen dieserart, doch sie nehmen eins wie das andere und missdeuten es mal »bildlich«, mal »wörtlich«, in der Regel aber »historisch«.
Weil die meisten Menschen heute die Rätselhaftigkeit solcher Sprachformen empfinden, sie für sich aber nicht klären können und ihnen das, was sie darüber in Schule und Kirche gehört haben, nicht weiterhilft, lassen sie die Sache beiseite. Man sagt dann, der Glaube dieser Menschen verdunste. Doch selbst jene, die von Amts wegen den überlieferten Glauben in Katechismen vorlegen, sind mit religiösem Analphabetismus behaftet, da auch sie ein gegenständlich-reales Verständnis kaum durchbrechen. Die Katechismen, die sie schreiben oder die Dogmatik, die sie vertreten, ignorieren Sprachgattungen und deren je spezifische Wahrheit. So bleibt es bei einer Lehre, welche die meisten Zeitgenossen verfehlt und ratlos macht.
In dieser Situation, da es fast überall an der Kompetenz mangelt, die christliche Glaubenstradition noch einmal in den Fluss der Zeit zu bringen, ist vor jeder sonstigen Aufrüstung eine religiöse Sprachlehre notwendig. Eine solche Sprachlehre unterscheidet metaphorische und symbolische Rede, benennt literarische Formen und kann auch die je spezifische »Wahrheit« der Mythe, der Sage oder der Legende zur Sprache bringen. Solange man diese Formen an der Historie ausrichtet und damit als »unwahr« abqualifiziert, missrät jede Verständigung. Dann werden sie zwar noch Kindern zugedacht, wie dies schon die Brüder Grimm taten, aber der mündigen Lebensorientierung gehen sie verloren. Ihre Gültigkeit durch Rekurs auf »Gottes Wort« zu retten erscheint dann nur noch als verzweifeltes Winken hinter einem schon abgefahrenen Zug her.
In dieser Situation verwundert, dass kaum jemand eine religiöse Sprachlehre vermisst. Kein Pfarrer ruft danach, die Lehrerschaft auch nicht, ebenfalls nicht die Theologen. Am allerwenigsten schaut die kirchliche Hierarchie danach aus. Ich habe zwischen 1983 und 1997 Religionsbücher für das 1. bis 10. Schuljahr verfasst, zu jedem Jahrgang ein umfangreiches Lehrerhandbuch geschrieben, darin für Schülerinnen und Schüler wie für die Lehrerschaft einen Lernstrang »Sprachverständnis« entwickelt unter dem Anspruch, dass dieses Sprachverständnis kein Thema neben anderen Themen sei, sondern das Thema für alle anderen, dabei beständig darauf gedrängt, diese religiöse Sprachlehre in den Lehrplänen zu verankern. Aber selbst die jüngsten Pläne und Religionsbücher, derzeit unter dem Anspruch von »Kompetenzorientierung«, minimieren und ignorieren die Aufgabe. Da es jedoch trotz allen Kompetenzanspruchs weiterhin an den Grundlagen elementarer religiöser Sprachbildung mangelt, karikiert sich die Situation selbst.
Mit der hier vorgelegten »Religiösen Sprachlehre« konnte ich auf Vorarbeiten in meinem Unterrichtswerk zurückgreifen. Die behandelten Gattungen werden in exemplarischen Beispielen vorgestellt. Über die gewählten wie übergangenen Inhalte lässt sich wie immer wohlfeil streiten. Ich habe erzählende Gattungen bevorzugt und poetische Formen wie die Psalmen oder die Gebetssprache übergangen, um vor allem der schulischen Praxis zu genügen. Natürlich lag auch ein Zwang vor, das Buch zu begrenzen. Dass eine Religiöse Sprachlehre über den hier gewählten Ausschnitt hinausgreift und vielfältig – auch für nichtchristliche Religionen – fortgesetzt werden kann, liegt auf der Hand.
Dennoch wird mit diesem Buch kein Neuland betreten. Einerseits gehen Jahrzehnte volkstümlicher Erzählforschung voraus. Ihren Ertrag haben in der vorletzten Generation Max Lüthi (Märchen), Leander Petzoldt (Sage) und Felix Karlinger (Legende) zusammengefasst. Fortgesetzt wurde deren Arbeit zuletzt von Lutz Röhrich, Franz Vonessen, Heinz Röllike, Wilhelm Solms u. a., wobei die Europäische Märchengesellschaft bis zum Tage ein breites Feld weiterer Autoren anregt und betreut. Auf biblischem Gebiet begann die sprachliche Ausrichtung mit der erneuerten Gleichnisinterpretation von Adolf Jülicher. Daneben hat Hermann Gunkel die exegetische Formgeschichte begründet, die Klaus Koch 1964 gattungsgeschichtlich weiterführte. Sicherlich gibt es in der Fülle exegetischer Literatur ebenfalls Beiträge, die eine religiöse Sprachlehre voranbringen, doch hat unter dieser Perspektive bisher niemand eine Auswahl getroffen. Auch erschienen über die Jahrzehnte hin immer wieder Publikationen zum »Problem der religiösen Sprache«; sie zeigten sich allerdings kaum an didaktischen Aspekten interessiert. Während der siebziger Jahre, als der Religionsunterricht eine Zeitlang hermeneutische Aufmerksamkeit gewann, legte Annemarie Ohler 1973 ein zweibändiges Werk über »Gattungen im AT« vor, während Gerhard Lohfink im gleichen Jahr mit einem Buch zur biblischen Formkritik breite Leserkreise gewann. Danach ist mir nichts Neues mehr bekannt geworden mit Ausnahme einiger Arbeiten von Dieter Baltzer, der sich als Alttestamentler bemüht hat, für eine biblische Vermittlungsarbeit die sprachlichen Grundlagen zu erweitern. Stets waren es Exegeten, die sich hier kümmerten, nicht Religionspädagogen, nicht Vertreter der Praktischen Theologie. Sollte ich heute aktuelle Bücher nennen, die sich im weiteren Sinn als Beiträge zu einer religiösen Sprachlehre verstehen lassen, so wüsste ich keinen lieferbaren Titel anzugeben.
Die katholische Religionspädagogik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im Blick auf eine Unterrichtstheorie wieder und wieder mit vereinheitlichenden didaktischen »Konzeptionen« befasst. Die letzte, seit den 1970er Jahren unaufhörlich diskutierte Konzeption bestimmt der Korrelationsbegriff: die Erfahrung von heute soll mit den Vorerfahrungen des christlichen Glaubens in Beziehung gesetzt werden. Ich bin der Ansicht, dass diese Korrelationstheorien entbehrlich sind. Sehr viel überzeugender leistet eine religiöse Sprachlehre diese Vermittlung. Einerlei, wie weit sich Menschen aus dem kirchlichen Milieu entfernt haben und dem christlichen Glauben fremd gegenüberstehen, der Weg der Sprache ist der breiteste und von niemandem beargwöhnte Ansatz, der religiöse Traditionen, auch solche, die dem modernen Lebensgefühl fern sind, dem heutigen Bewusstsein erschließen kann. Welcher andere Weg sollte geeigneter sein als ein differenzierendes und kritisches Sprachverständnis, das die Religionsgeschichte einbezieht und auf diesem Weg transparent macht, was als geschlossene Formel längst stumm geworden ist?
Für den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen muss der Weg der Sprache selbstverständlich sein. Die hier versammelte Schülerschaft ist als nachchristlich anzusehen. Je klarer alle Beteiligten dies anerkennen, nicht zuletzt die Kirchen selbst, desto überzeugender lässt sich religiöser Analphabetismus durch Sprach- und Urteilskompetenz überwinden. Ob Schülerinnen und Schüler sich christlich verstehen, nicht mehr christlich denken, einer anderen Religion angehören, agnostisch oder atheistisch sind …, für die Gesellschaft insgesamt ist es wichtig, dass alle Gruppierungen ein Bildungsniveau gewinnen, das eine Verständigung untereinander erlaubt und die eigene Kultur wie das religiöse Erbe als eine gemeinsam zu gestaltende Aufgabe begreifen.
Hubertus Halbfas
Der biblische Mythos verbindet die »Erschaffung« des Menschen mit dem sechsten Schöpfungstag und einem Dasein im Paradies. Die Evolutionsgeschichte des Menschen zählt andere Zeiträume. Den Australopithecinen, den vermutlich frühesten Vorfahren, die vor vier bis eine Million Jahren (oder noch länger) in Südostafrika lebten, folgten der Homo habilis und der Homo erectus vor etwa eineinhalb Millionen Jahren. Möglicherweise lebten diese Menschengattungen nicht nur nacheinander, sondern zeitweise auch nebeneinander. Etwa vor einer Million Jahren begann der Homo erectus mit der Großwildjagd; vor rund 750 000 Jahren lernte er, das Feuer zu zähmen und immer bessere Werkzeuge herzustellen. Auf diesem Weg entwickelte sich fortwährend das menschliche Gehirnvolumen. Mit 450 Kubikzentimetern war das Gehirn der Australopithecinen nur um 50 Kubikzentimeter größer als das Gehirn des Schimpansen. Auf dem Weg vom Homo habilis über den Homo erectus bis zum Auftreten des heutigen Menschen, dem Homo sapiens, wuchs das Gehirn von 680 auf 1300 Kubikzentimeter, alle zweitausend Jahre ein Kubikzentimeter mehr. Das Gehirn des heutigen Menschen zählt 1400 Kubikzentimeter.
Nun liegt die Vermutung nahe, dass sich mit dem stets zunehmenden Hirnwachstum und allen anderen Intelligenzleistungen auch die Sprachentwicklung entfaltete. Der eigentlichen Lautsprache ging aber zweifellos körpersprachliches Verhalten voraus, wie es bis heute das Sprechen begleitet: mit Mienenspiel und Gestikulation, Lachen und Weinen, auch spontanen Lauten. Nichtverbale Kommunikation stellt die stammesgeschichtlich älteste Verständigungsform dar. Für den darüber hinausgehenden Spracherwerb waren neben dem Hirnwachstum viele weitere Anreize förderlich: Primär dürften sie in den sozialen Beziehungen, zumal im Mutter-Kind-Verhältnis gelegen haben; auch die Jagd war bei sprachlicher Verständigung leichter und erfolgreicher; der stets subtilere Werkzeuggebrauch, die Herrschaft über das Feuer und die damit verbundenen Kommunikationsformen können ebenfalls eine weitere Entfaltung des Sprachvermögens vermuten lassen.
In dieser Sicht sind sich die Erforscher der sprachlichen Anfänge weitgehend einig. Ihre Theorien gehen aber auseinander, sobald der Zeitpunkt diskutiert wird, zu dem die Herausbildung von Sprache stattfand. Während einige schon beim Homo erectus Ansätze zur Sprachbildung vermuten und dem oft unterschätzten Neandertaler »ein bereits recht entwickeltes Sprachvermögen« unterstellen1, verweisen Evolutionsbiologen auf den anatomischen Befund der Hominiden bis zum Aufkommen des Homo sapiens. Demnach war der Stimmapparat des Menschen in all diesen Jahrhunderttausenden zu einer differenzierten Lautung nicht in der Lage. »Auch wenn sie gewollt hätten, etwas in Worten auszudrücken, sie hätten es nicht vermocht, weil das Sprechorgan dazu fehlte.«2 Erst nachdem sich beim Homo sapiens der Kehlkopf vor 250 000 Jahren gesenkt hatte, begann sich jene Beschaffenheit zu entwickeln, die im heutigen Sinne sprachfähig machte. »Demnach hat sich die eigentlich menschliche Lautsprache erst in einem Zeitraum zwischen 250 000 und 35 000 Jahren entwickelt.«3
Der Weg übers Meer nach Australien vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren lässt sich allerdings nur als eine kooperative Hochleistung verstehen, die mit Sicherheit Sprachvermögen voraussetzte.
Wissenschaftler vergangener Generationen haben zweifellos ein Zerrbild des frühen Menschen entworfen: Seine intellektuellen Fähigkeiten seien nur gering gewesen. Er habe durchweg falsche Schlüsse über Ursache und Wirkung gezogen. Seine rituellen Praktiken – zauberische Mittel – würden das geringe geistige Niveau offenbaren, das an gegenwärtigen Primitiven immer noch studiert werden könne.
Diesem Bild widersprechen heutige Anthropologen. Sie sehen die Unterschiede zwischen unseren und den Fähigkeiten des frühen Homo sapiens lediglich durch die veränderte kulturhistorische Situation bedingt. Darum kann auch ein Kind, das in einer steinzeitlichen Kultur geboren wird, beim Wechsel in die moderne Welt Jahrtausende menschheitlicher Entwicklung überspringen.
Wenn es dennoch in den archaischen Anfängen kaum Veränderungen gab, sollte gleichwohl nicht das Begabungspotential des Homo sapiens in Zweifel gezogen werden. Die geistigen Fähigkeiten, die das Überleben erforderte, werden leicht unterschätzt: Um mit Erfolg Großwild zu jagen, ist Koordination untereinander, also auch Sprachvermögen wichtig, und Feuer zu erzeugen und zu unterhalten erfordert eine Abfolge ziemlich komplizierter Handlungen. Viele der heutigen Vorstellungen über die frühe Menschheit beruhen noch auf Annahmen der ersten Religionswissenschaftler, die selbst nie Kontakt mit indigenen Völkern hatten und vom Schreibtisch aus realitätsferne Theorien über das Leben der »Primitiven« entwickelten. Weder konnten sie sich vorstellen, wie viel Kenntnisse, Geschick und überlegtes Handeln dazu gehörten, um in der Dürre, der Kälte oder in der Steppe zu überleben. Noch vermochten sie aus den Totenkulten, Ritualen oder Mythen eine angemessene Vorstellung vom geistigen Format der zugehörigen Glaubensvorstellungen zu entwickeln.
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