Religiöse und spirituelle Sinnsuche in der Psychotherapie - Georg Milzner - E-Book

Religiöse und spirituelle Sinnsuche in der Psychotherapie E-Book

Georg Milzner

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Beschreibung

Ganz egal, ob Therapeuten und Therapeutinnen gläubig sind oder selbst ein spirituelles Bedürfnis spüren, sie müssen sich mit entsprechenden Anteilen ihrer Klientinnen und Klienten auseinandersetzen können. Denn hält ein Mensch etwas für real, dann sind auch die Folgen daraus für ihn oder sie real. Im Gespräch plädieren der Religionspsychologe Michael Utsch und der erlebnisorientierte Bewusstseinsforscher Georg Milzner – Psychologen und Therapeuten sind beide – dafür, dass Therapeutinnen und Therapeuten offen sind gegenüber spirituellen Weltkonstruktionen. Sie dringen aber auch darauf zu klären, was aus spirituellen Konstruktionen folgt, denn sie können bei der Bewältigung von Krisen und Störungen sowohl nachteilig als auch unterstützend wirken. Vielen Klientinnen und Klienten hilft die Annahme, dass ihre Lebensgeschichte oder auch ihr Leiden sowie Erleiden einen übergeordneten Sinn haben könnten, beim Verkraften persönlicher Krisen und Schicksalsschläge. Andere scheuen möglicherweise die eigene Alltagsverantwortung mit Verweis auf einen Gott, der schon alles fügt, so kann eine spirituelle Weltsicht einer Problemlösung im Wege stehen. Für einen guten Weg der Patientinnen und Patienten sollten das Positive wie das Negative religiöser Weltkonstruktionen in der Therapie angesprochen werden.

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Herausgegeben von Uwe Britten

Georg Milzner/Michael Utsch

Religiöse undspirituelle Sinnsuchein der Psychotherapie

Georg Milzner und Michael Utschim Gespräch mit Uwe Britten

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: dalinas/shutterstock.com

Texterfassung: Regina Fischer, Dönges

Korrektorat: Edda Hattebier, Münster; Peter Manstein, Bonn

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-753X

ISBN 978-3-647-90141-1

Inhalt

Vom menschlichen Wissen und Nicht-Wissen

Vorstellungen von Wissen und Glauben

Suggestionen

Religion, Spiritualität, Transzendenz, Sinnsuche – Begrifflichkeiten

Auftragsklärung: Worüber reden wir?

Wahrheiten

Akzeptanz gegenüber spirituellen Weltbildern

Religiöse versus therapeutische Deutungen

Was hilfreich ist

Von zweifelnden Gläubigen und nicht zweifelnden Atheisten

Achtsamkeit

Sinnsuche und Sinngebung

Neurowissenschaften: Grundlegung oder Banalisierung? …

Zwischen Evidenzbasierung und kreativer Intuition

Spirituelle Interventionen?

Zur Reintegration spiritueller Vorstellungen in die Psychotherapie

Ausgewählte Literatur

Münster, Dezember 2017: In der Kirchstraße treffen sich Prof. Dr. Michael Utsch und Georg Milzner, um ein Gespräch über Religiosität, Spiritualität und menschliche Sinnsuche in therapeutischen Settings zu führen. Auch wenn Menschen- und Weltbilder während einer Psychotherapie häufig nicht offen ausgesprochen oder sogar bewusst zurückgehalten werden, so spielen Grundannahmen über die Welt und das Leben für alle Menschen eine wichtige Rolle. Weltkonstruktionen können dabei säkular oder religiös-spirituell geprägt sein, jeder Mensch aber, der sich gerade in einer Lebenskrise als tragfähig bewähren muss, benötigt Werte und sucht nach Sinn.

Mit dem Zeitalter der Aufklärung wurden die religiösen Vorstellungen von einem menschlichen Weiterleben im Jenseits und erst recht die eines personifizierten Gottes in diesem Jenseits schwer erschüttert. Sigmund Freud sprach Anfang des 20. Jahrhunderts von der Religion als einer kollektiven Neurose. Die meisten psychotherapeutischen Schulen lehnten auch in den Folgejahrzehnten spirituelle Jenseitskonstruktionen ab.

Gleichzeitig machen Therapeutinnen und Therapeuten nach wie vor die Beobachtung, dass spirituelle Sinnkonstruktionen des menschlichen Lebens viele ihrer Klientinnen und Klienten prägen, stabilisieren und leiten. Konstatiert wird, dass es ein tiefes menschliches Bedürfnis gebe, an »etwas« zu glauben. Was drückt sich in diesem Bedürfnis aus, und wie ist es psychotherapeutisch sinnvoll aufzugreifen?

© Rita Honrado

Georg Milzner, geboren 1962 in Münster, aufgewachsen im Weserbergland und heute wieder in Münster ansässig, studierte Psychologie und Verhaltensbiologie. Er arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut und Bewusstseinsforscher mit den Schwerpunkten Hypnotherapie und Hypnoanalyse. Mehrere Jahre gehörte er zum Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Hypnose. In dem 2010 erschienenen Buch »Jenseits des Wahnsinns« zog Milzner Verbindungslinien unter anderem zwischen religiösen Ausnahmezuständen und schweren mentalen Störungsbildern. Dabei kritisierte er, dass unsere therapeutische Kultur kaum mehr die Möglichkeit spiritueller Krisen überhaupt erwägen oder deren Dynamik ermessen könne.

In »Religion und Gehirn«, das 2013 erschien, sieht er das Glaubensbedürfnis wie auch die spirituelle Erlebnisfähigkeit des Menschen als eine anthropologische Konstante, die sich evolutionär über neuronale »Schaltkreise« etabliert haben könnte. Mit diesem Modell werden naturwissenschaftliche Erklärungsansätze an den Glauben herangetragen, ohne dem religiösen Erleben seine individuelle Wahrhaftigkeit zu nehmen.

Georg Milzner plädiert entschieden dafür, religiöse und spirituelle Vorstellungen von Klientinnen und Klienten ernst zu nehmen und sie im Sinne der Resilienz zu nutzen. Ohnehin ist er der Meinung: »Wenn einer meiner Patienten sagt, er sei Jesus, dann weiß ich es nicht besser – auch wenn ich es für eher unwahrscheinlich halte.«

Michael Utsch, 1960 in Gießen geboren, studierte Theologie (B.A.) und Psychologie (Diplom, Promotion). In Teilzeit arbeitet er als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, wo er auch lebt. In der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) leitet er das Referat »Religiosität und Spiritualität«. Darüber hinaus arbeitet er als tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapeut in einer niedergelassenen Praxisgemeinschaft und als Honorarprofessor für Religionspsychologie.

Er ist Herausgeber des Buches »Pathologische Religiosität« (2012) und Mitautor des Lehrbuchs »Psychotherapie und Spiritualität« (2018). Im von ihm mitherausgegebenen »Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie« werden zwanzig Patientengeschichten erzählt und kommentiert, bei denen der Glaube entweder zur Störung beitrug oder eine wichtige Bewältigungshilfe darstellte (Frick et al., 2018).

Michael Utsch ist davon überzeugt, dass es hinter dem Kosmos eine Art Plan gibt und menschliches Leben einen übergeordneten Sinn hat. Wenn den Menschen in ihrer Begrenztheit dieser Plan auch verborgen sein mag, so bleibt es doch die Aufgabe, menschliches Leben mit Respekt und Verantwortlichkeit vor dem Sein und dem Leben aller zu gestalten. »Das ist die Aufgabe jedes Einzelnen, ganz egal, welcher religiösen oder spirituellen Weltanschauung er anhängt. Daraus leitet sich auch ab, dass es dem Wohlbefinden der Weltgemeinschaft dient, wenn alle Weltanschauungen kommunikativ und kooperativ aufeinander zugehen.«

VOM MENSCHLICHEN WISSEN UND NICHT-WISSEN

»Wir müssen davon ausgehen, dass wir bei vielen Dingen keine Möglichkeit haben, zu überprüfen, ob es sie gibt oder nicht. Ich kann nicht überprüfen, ob unsere Seelen wandern, ob es Geister gibt, ob Engel in unser Leben eingreifen.«

Georg Milzner

Vorstellungen von Wissen und Glauben

Herr Professor Utsch, Herr Milzner, denken Sie, dass die Menschen irgendwann einmal im Weltall auf Wesen stoßen werden, die ihnen ähnlich sind?

UTSCH Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten, weil wir darüber wenig Kenntnisse haben. Ich bin nicht vertraut mit den Details der Astrophysik, aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß. Man hat allerdings, glaube ich, in diesem Jahr Wasser auf dem Mars entdeckt, und da schossen die Spekulationen sofort ins Kraut: Was wäre, wenn wir dort Leben finden würden, vielleicht eine andere Zivilisation, die mit anderen Wertvorstellungen und mit anderen Gesellschaftsformen lebt? Es wurden ja auch Kapseln ins All geschossen zum Beispiel mit einer Beatles-CD und anderen kulturellen Errungenschaften. Ich persönlich glaube, dass ich das nicht mehr erleben werde, aber ich halte es für denkbar.

MILZNER Für denkbar halte ich es auch, aber doch für sehr unwahrscheinlich. Ich würde eher vermuten, dass wir auf ganz andere Formen von Leben stoßen, die mit unserem erst mal nicht viel zu tun haben und für die man möglicherweise auch eine ganz andere Definition von Leben bräuchte, also nicht unsere Lebensdefinition, die anhand von Stoffwechsel funktioniert, sondern Ideen von Leben, die vielleicht eben in besonderer Weise angepasst sind an ganz andere Lebensräume.

Insofern würde ich sagen, unsere Art zu leben, die hat mit der Art unseres Planeten und mit der speziellen Art unserer Evolution zu tun. Man findet ja bestimmte Muster in unserer Naturgeschichte immer wieder, und was Herr Utsch gerade sagte, dass man da versucht, mit anderen Zivilisationen vielleicht über Beatles-CDs Kontakt aufzunehmen, das scheint mir eher ein bisschen absurd und an der Grenze zur Lächerlichkeit. Davon auszugehen, dass irgendwelche fremden Zivilisationen mit unseren Schriften oder unserer Musik irgendetwas anzufangen wissen, wenn wir bei archaischen Funden unserer eigenen Spezies noch nicht mal wissen, was wir damit anfangen sollen, ist kaum zu erwarten.

Wir gehen davon aus, dass Wasser die Grundkomponente für Leben in unserer Form ist. Diesen Stoff gibt es natürlich im Weltall, und es kann ja durchaus irgendwo eine ähnliche chemische und sonst wie Kombination geben, sodass sich ein ähnliches Wesen entwickelt hat. Ich finde das jetzt theoretisch erst mal nicht so weit hergeholt.

MILZNER Ja, aber Sie haben gefragt, ob ich persönlich glaube, dass es so ist, da habe ich auch ganz persönlich geantwortet. Nein, ich glaube nicht, dass es sehr wahrscheinlich ist. Es ist natürlich theoretisch möglich, aber ich denke nicht, dass besonders viel dafürspricht.

UTSCH Man muss sich einfach klarmachen, dass die Erde und sogar unser ganzes Sonnensystem einen nur geringen Anteil am Kosmos ausmachen. Wir wissen ja viel zu wenig über den Gesamtkosmos. Insofern ist es aus unserer menschlichen Sicht eher unwahrscheinlich. Aber was Jahrmillionen von Lichtjahren entfernt von uns existiert, das wissen wir ganz einfach nicht. Es ist ein Bereich, der unserer Kenntnis verschlossen ist. Es mag eine gewisse Wahrscheinlichkeit geben.

Trotzdem wäre es natürlich hoch spannend, wenn Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten entstünden. Jedenfalls denke ich durchaus, dass die Beatles-Musik auch ethnologische Informationen enthält und dass andere Wesen, sofern sie über einen Teil unserer Sinnlichkeit verfügen, daraus schon auch spannende Ableitungen über die menschliche Kultur der vergangenen Jahrzehnte entnehmen könnten. Das könnte man sicher entziffern.

MILZNER Wenn das so wäre, wäre das natürlich schön. Aber angesichts der Tatsache, dass man beispielsweise afghanische Dschihadisten mit Heavy-Metal-Musik foltert, angesichts der Tatsache, dass Friedrich II. beim Hören Haydn’scher Musik sagte, man möge ihn bitte mit diesem Lärm verschonen, scheint mir doch unwahrscheinlich zu sein, dass das anderenorts als so ein hübsches, anregendes kulturelles Erbe gewürdigt würde.

Aber lassen Sie uns genau da noch mal weitermachen: Wir würden ja auf jeden Fall auf völlig andere Erfahrungen stoßen, auf völlig andere Formen von Lebensweisen. Alle unsere bisherigen Fantasyvorstellungen dazu sind immer noch viel zu naiv.

MILZNER Ja, völlig anthropozentrisch. Auch die aktuelle Science-Fiction, soweit ich sie überschaue, ist ziemlich anthropozentrisch und erwägt eher den technisierten Menschen oder den Menschen, der seine Hirninhalte »runterladen« kann, als dass mit den Vorstellungen vollkommen anderer Lebensformen experimentiert würde.

Ja, da erzählen Menschen anderen Menschen etwas über uns als Menschen.

MILZNER Eben. Und während Science-Fiction den technisierten Übermenschen entwirft, wird in der Fantasy mythisches, eher archaisches Material verwendet. Viele Sagenstoffe, die heute so nicht mehr erinnert werden, bekommen eine neue Gestalt. Das sind ja immer noch sehr an menschlichen Erfahrungsräumen orientierte Phänomene und Narrationen, aber die Möglichkeit, dass etwas tatsächlich ganz anders wäre, als wir uns das vor unserem anthropologischen Hintergrund auch nur vorzustellen vermögen, dass es also den menschlichen Vorstellungsraum tatsächlich vollständig überschreitet, diese Möglichkeit kommt darin erst mal gar nicht vor.

UTSCH Ich finde diese Vorstellung auch im Grunde nicht relevant, weil ich sage, die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ich mich in meiner Lebenszeit mit dem Thema auseinandersetzen muss, ist sehr gering, geht gegen null. Deswegen finde ich es im Grunde viel spannender, zu gucken, wie andere Menschen in anderen Kulturen und sozialen Umfeldern leben. Da existieren ja ganz große Unterschiede. Und wenn ich dann auch noch in die Vergangenheit zurückschaue und mich frage, wie wohl der Alltag im alten Ägypten ausgesehen hat, wie dort die Lebensbedingungen waren, und mir die kulturellen und ethischen Bedingungen in der Antike oder im Frühmittelalter vor Augen halte, dann tun sich unglaubliche und sehr unterschiedliche Lebenswelten auf.

In einer pluralistischen Gesellschaft führt kein Weg daran vorbei, dass eine Vielfalt von Weltbildern und Kulturen und unterschiedlichen Lebensentwürfen miteinander ins Gespräch kommt und versucht, als Gemeinschaft miteinander zurechtzukommen. Was können gemeinsame Werte und Regeln des Zusammenlebens bei so unterschiedlichen Traditionen, Prägungen und Gewohnheiten sein? In einer Stadt wie Berlin zu leben ist manchmal anstrengend, weil einfach unglaublich viele Lebenswelten auf der Straße oder in verschiedenen Kiezen aufeinanderstoßen. Es ist zwar ein und dieselbe Stadt, aber es handelt sich um eine spannungsreiche, vielschichtige, individualisierte, widersprüchliche Gemeinschaft. Was hält eine solche Stadt zusammen, was sind die geteilten Grundwerte, gibt es Verständigungsmöglichkeiten?

Was hält eine Gesellschaft zusammen, die von unterschiedlichen Werten, Weltbildern und Sinnmodellen geprägt ist? Dabei sind Fremdheitserfahrungen auszuhalten, auf die wir uns einlassen müssen und sollten. Und von einer Weltgemeinschaft sind wir ja noch sehr weit entfernt. Da liegen also auch ohne Außerirdische noch hinreichend Aufgaben vor uns.

Ich gehe trotzdem noch mal einen Schritt zurück: Sie gehen beide davon aus, dass dieser Kosmos nicht »für uns« gemacht ist?

MILZNER Ja, davon gehe ich aus, dass dieser Kosmos nicht für uns gemacht ist. Dieser Kosmos ist, und wir sind Teil dieses Kosmos.

UTSCH Aus einer religiösen Sicht kommt man zu einem anderen Ergebnis: Da kommt man darüber ins Staunen, dass die Erde Schöpfung eines planvollen, genialen Konstrukteurs ist. Der Mensch ist die Krone dieser Schöpfung, beauftragt, die Erde nutzbar zu machen, zu gestalten, zu bebauen und auch zu bewahren. Der Mensch wiederum ist mit ähnlich kreativen Fähigkeiten und Potenzen ausgestattet wie sein Schöpfer, um ebenso Erstaunliches aus Holz, Stein, also aus den Rohstoffen der Natur zu machen.

Wir Menschen haben uns sehr an all dieses gewöhnt und nehmen es als sehr selbstverständlich, aber im Grunde ist es ein Wunder, wozu Menschen heute in der Lage sind, was der technische Fortschritt heute alles für Annehmlichkeiten bereithält! Viele Geheimnisse der Natur haben wir entschlüsselt, die Medizintechnik, die Informationstechnologien und vieles mehr entwickelt.

Der wissenschaftliche Fortschritt kann sehr beeindrucken, und als Christ bin ich dankbar dafür, dass ich als Mensch dadurch ein recht angenehmes Leben führen kann und Möglichkeiten habe, diesen Dank auszudrücken und auch Verantwortung für die Schöpfung zu übernehmen, und zwar indem ich sage, dass es mir nicht egal ist, wie wir mit den Ressourcen der Erde umgehen, denn sie sind begrenzt. Ich kann nicht einfach maßlos damit wildern nach dem Motto »Nach mir die Sintflut!«, sondern ich muss verantwortlich handeln, denn ich habe einen ökologischen Fußabdruck, den ich hinterlasse. Mit Rücksicht auf die Zukunft unserer Kinder möchte ich mit diesen Ressourcen aufmerksam und verantwortlich umgehen.

Wenn ich also davon ausgehe, dass hinter alldem ein Plan steckt, eine Zielvorstellung, dann bin ich beauftragt, den Acker zu bebauen und zu pflegen und zu kultivieren. Aber nicht nur die Natur zu kultivieren, sondern es gilt auch, meine Seele zu kultivieren im Sinne der Verantwortlichkeit. Auch meine Seele ist ein Geschenk. Gott hat jedem Menschen Lebensatem eingehaucht und ihn oder sie mit Talenten ausgestattet. Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes und kann jetzt auch mit seinen Fähigkeiten und den Anlagen, die in ihm stecken, versuchen, etwas Sinnvolles, Planvolles zu machen, seine Talente zu entfalten, um daraus das Beste für die Umwelt, für die Natur und auch für die Gemeinschaft zu machen.

Insofern kann ich aus meiner religiösen Sicht sagen, dass ich dankbar für das Leben bin und es als ein Geschenk erlebe. Mir wird eine gewisse Zeitspanne an Lebenszeit zugestanden, und diesen Zeitraum will ich nutzen, um etwas Sinnvolles und Kreatives zum Allgemeinwohl beizutragen. Das ist etwas anderes, als zu sagen: Jetzt bin ich nun mal hier auf dem Planeten Erde gelandet, da schaue ich mal, wie ich bestmöglich davon profitieren kann.

MILZNER Ich möchte meine Aussage nicht als Aufforderung zur Beliebigkeit missverstanden wissen. Es gibt relativ viel von dem, was Sie gerade sagten, das ich teilen würde, sowohl das Gefühl der Verantwortlichkeit für den Lebensraum als auch das Gefühl dafür, dass mein Hiersein keine Selbstverständlichkeit ist und dass dahinter möglicherweise noch etwas anderes steht, irgendeine Art von »Absicht«, wobei ich nicht so weit gehen würde, es einen »Plan« zu nennen. Ich empfinde Evolution und Schöpfung auch nicht als Gegensatz, beides sind Modelle unseres Herkommens, die ihre Berechtigung haben.

Wo ich nicht ganz mitgehe, das ist die Anschauung vom Menschen als der »Krone der Schöpfung«. Ich glaube nicht, dass mit den Menschen ein Abschluss der Evolution oder des Schöpferischen erreicht ist. Da spricht zu viel dagegen. Zwar ist seit der Steinzeit unsere Grundbauform des Gehirns gleich geblieben, aber das, was sich dann neuroplastisch ausgebildet hat, ist eben das, was uns heute befähigt, Bomben zu bauen oder Sinfonien zu schreiben, was der Steinzeitmensch eben noch nicht konnte. Nun müsste man sich ja fragen, wenn sich das Gehirn auf Dauer verändert und weiter ausformt, wenn der Neokortex eben nicht diese uns vertraute Form mehr haben wird, sondern sich vielleicht weiter auswölbt oder in den Hemisphären verschiebt, was dann mit der Evolution weiter vorangeht. Wird es zu neuen Anpassungsprozessen kommen? Was würde dort entstehen, wo wir beispielsweise verstrahlte Zonen hätten oder sonst in den Umweltbedingungen stark veränderte Einflüsse herrschten, welche Lebensformen bilden sich da heraus, wenn etwa Mutationen etwas ungeordneter stattfinden?

Also, die Krone der Schöpfung würde im Grunde bedeuten, mit uns ist Schluss, und dann wäre man nicht weit weg davon, zu fragen, wie denn das Ganze eigentlich aufhört. Insofern würde ich vorschlagen, dass wir uns als Teile eines dynamischen Prinzips betrachten, als Leben in Bewegung. Ausgehend davon könnten wir fragen, was nach uns kommen wird, zumal unser Planet ja eine begrenzte Existenzdauer hat. Kommt vielleicht so etwas, wie der Transhumanismus es andenkt? Oder kommt eine neue Form von Beseelung? Oder, wenn wir so weitermachen wie gegenwärtig mit unserer Existenz vor einer Vielzahl von Bildschirmen, passen wir uns dann immer mehr an diese technische Welt an und sehen dann einmal so aus, wie wir uns gegenwärtig Aliens vorstellen, nämlich mit übermäßig vergrößerten Augen, riesigen Fingern und gewaltigen Gehirnen? Werden wir selbst dann jene, die wir uns heute ins Weltall hineinfantasieren?

UTSCH Menschen zeichnet ihre Reflexivität und ihr Selbstbewusstsein aus – sie können über sich nachdenken, sich korrigieren und hoffentlich auch manchmal lächeln. Ein Computer besitzt keinen Leib, keine Körperempfindungen. Er besitzt keine Reflexivität und kann nicht »ich« sagen.

Allerdings wird diese Besonderheit des Menschen, seine anthropologische Sonderstellung, durch den technischen Fortschritt eingeholt. Die künstliche Intelligenz wird sich weiter ausbreiten, und es ist nicht absehbar, wo wir in zehn oder in zwanzig Jahren stehen, wenn die Digitalisierung so weiter voranschreitet – und davon ist ja auszugehen. Was macht das mit unserem Gehirn, mit unserem Selbstbewusstsein und mit unserer so hoch geschätzten Autonomie? Das sind schwierige Fragen, da möchte ich keine Prognose abgeben. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass der Mensch selbst dafür die Verantwortung trägt. Ich sehe niemanden, der uns diese Verantwortung abnehmen könnte. Dazu müssen aber auch die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung genauer in den Blick genommen werden – manche diagnostizieren bereits eine »digitale Demenz«, wie Gerald Hüther es 2016 genannt hat.

MILZNER Ist denn für Sie der Mensch die Krone der Schöpfung und danach kommt keine weitere Entwicklung mehr? Über Kronen ist ja nichts, außer dem Himmel.

UTSCH Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin kein Kreationist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, in welcher Richtung die Evolution weitergehen wird.

MILZNER Das gehört zur Evolution, sie ist offen, kein Wesen in ihr kann Vorhersagen machen.

Setzen Sie voraus, dass der Mensch einen freien Willen hat?

UTSCH Wenn der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, dann ist die Wahlfreiheit ein entscheidendes Merkmal des Menschen. Ein gläubiger Mensch ist von der unsichtbaren Gegenwart Gottes überzeugt. Aber diese »Anwesenheit« ist nicht objektivierbar und wissenschaftlich zu überprüfen, sondern nur gläubig zu erfassen. Gott ist und bleibt ein Geheimnis. Damit wird dem Menschen eine Wahlmöglichkeit gegeben, sich auch gegen eine Partnerschaft mit ihm zu entscheiden. Wäre Gott zu fotografieren oder objektiv nachzuweisen, hätten wir Menschen keine Wahl, auf den Schöpfer zu achten, und die Gottesbeziehung würde nicht auf Vertrauen, sondern auf Berechnung fußen.

MILZNER Der freie Wille ist ein Konstrukt, das für einen Psychologen des Unbewussten reichlich dünn ist. Was die Hirnforschung unternahm, um die Möglichkeit des freien Willens zu widerlegen, war allerdings auch wenig eindrucksvoll. Tatsächlich werden wir von vielfältigen Einflüssen bestimmt, und da spielen unbewusste Faktoren der Psyche ebenso eine Rolle wie situative Gegebenheiten. Manches ist so einfach, dass es kaum bedacht wird. So zeigen Studien, dass Richter gnädiger urteilen, wenn sie eben gut gefrühstückt haben, als wenn sie hungrig auf die Mittagspause warten. Ich setze daher keinen freien Willen voraus, das wäre zu oberflächlich, wohl aber eine Verantwortlichkeit für das Handeln, die sich aus der Möglichkeit ergibt, unsere Motive zu prüfen und uns mit uns selbst auseinanderzusetzen.

Suggestionen

Sie müssen ja beide damit leben, dass das alles nichts als Annahmen sind. Wie gehen Sie damit um, dass die jederzeit auch falsch sein können? Wie machen Sie das als Mensch, als Fachmann, als Therapeut: Meine Annahmen über dieses Thema können jederzeit falsch sein, immer kann sich auch das genaue Gegenteil als richtig erweisen.

UTSCH Mir fällt das Buch »Wie Menschen sind« von Gerd Rudolf ein, der als Psychoanalytiker eine beeindruckende Gesamtschau der Vorstellungen vom Menschen vorgelegt hat. Er untersucht, was den Menschen ausmacht, und betrachtet ihn aus verschiedenen Perspektiven und wie wir ihn verstehen können. Dabei wird ganz deutlich: Mehr als Annahmen über den Menschen haben wir alle nicht, auch wenn es natürlich ganz unterschiedliche Annahmen gibt. Und der Münchener Persönlichkeitsforscher Jochen Fahrenberg hat eine psychologische Anthropologie vorgelegt, die er »Annahmen über den Menschen« genannt hat. Er als Psychologe weiß, dass wir natürlich nichts anderes haben als Wahrscheinlichkeitsaussagen und dass wir mit einem bestimmten Idealbild, mit bestimmten Voraussetzungen an das Menschsein herangehen. Es ist heutzutage in pluralistischen und heterogenen Gesellschaften ganz wichtig, sich klarzumachen, dass wir immer eine Perspektive einnehmen, die auf bestimmten Voraussetzungen fußt, und dass wir uns auf jeden Fall davon verabschieden müssen, etwas absolut oder autoritär beantworten zu können. Wir müssen anerkennen, dass wir alle unterschiedliche Zugänge, Verstehenshorizonte und kulturell geprägte Blicke auf den Menschen haben. Deshalb finde ich es ganz wichtig und bereichernd, wenn ich mich auch mit anderen Zugängen zur Wirklichkeit beschäftige. Damit wird mir klar, was mein bevorzugtes Denkmodell ist, was die Grundlagen meiner eigenen Weltwahrnehmung sind und dass das immer nur eine mögliche Perspektive ist.