Religiösen Machtmissbrauch verhindern -  - E-Book

Religiösen Machtmissbrauch verhindern E-Book

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Beschreibung

Wer leitet, hat Macht – und wer etwas bewegen möchte, braucht Macht. Wenn Menschen jedoch zu etwas gedrängt werden, was sie von sich aus nicht tun würden, wenn die drängende Person davon einen Vorteil hat und persönliche Grenzen dabei übertreten werden, wird Macht missbraucht. Besonders schlimm wird es, wenn dieser Missbrauch im Namen Gottes geschieht und religiös begründet wird – und wenn er kontinuierlich passiert, also in der Struktur von Gruppen, Gemeinden oder Organisationen verankert ist. Die Autorinnen und Autoren dieses Buchs stehen in leitender Verantwortung in christlichen Gemeinden und Werken, die zum Netzwerk der Evangelischen Allianz gehören, und sind daher selbst auf verschiedene Art "Betroffene". Mit diesem Buch möchten sie helfen, Machtmissbrauch zu entlarven, aber noch mehr, ihm vorzubeugen. Transparente Leitung, offene Kommunikation, Kritikfähigkeit, fachliche und geistliche Begleitung und vieles mehr sind Dinge, die in christlichen Organisationen eingeübt werden sollten, damit das Kind erst gar nicht in den Brunnen fällt. Mit einem Vorwort von Eckhard Vetter, einem Geleitwort von Thomas Schirrmacher und Beiträgen von Tobias Faix, Rolf Gersdorf, Ansgar Hörsting, Martina und Volker Kessler, Andreas Klotz, Florian Köppke, Angelika Marsch, Heinrich Christian Rust und Hans-Günter Schmidts.

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Martina Kessler (Hrsg.)

Religiösen

MACHT

MISSBRAUCH

verhindern

Bibelzitate sind folgenden Übersetzungen entnommen:

ELB: Revidierte Elberfelder Bibel

© 1985/1991/2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

LUT: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

NGÜ: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen.

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft; Sprüche © 2015 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart; Genesis u. Exodus © 2020 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, Brunnen Verlag Gießen.

SLT: Schlachter 2000. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.

NLB: Neues Leben. Die Bibel

© 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

EIN: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

Menge 2020. © Christliche Literaturverbreitung 2020.

© der deutschen Ausgabe:

2021 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Uwe Bertelmann

Umschlagfoto: ©Gajus/stock.adobe.com

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch: 978-3-7655-2117-1

ISBN E-Book: 978-3-7655-7592-1

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Zum Geleit (Ekkehart Vetter)

Vorwort (Thomas Schirrmacher)

Einleitung: Macht und Machtmissbrauch (Martina Kessler)

Teil I – Zwei Seiten einer Medaille

1 Schutzfaktoren des Glaubens entwickeln – mit Mündigkeit und Resilienz Machtmissbrauch vorbeugen (Tobias Faix)

2 Gehorsam – eine Tugend?! (Volker Kessler)

Teil II – Dienende Leitung beugt Machtmissbrauch vor

3 Dienende Leitung ist transparent (Angelika Marsch)

4 „Es wird offen kommuniziert“ (Andreas Klotz)

5 Leitung darf kritisiert werden (Martina Kessler)

Teil III – Leitung entwickelt sich und Mitarbeitende weiter

6 Leitung bleibt lernbereit (Florian Köpke)

7 Leitung braucht fachliche und geistliche Begleitung (Rolf Gersdorf)

8 Leitung zwischen verantwortlichem Handeln und gefährlicher Einmischung – eine Gratwanderung (Hans-Günter Schmidts)

Teil IV – Die Gemeinde und ihre Leitung

9 Leitung achten (Ansgar Hörsting)

10 „Die da oben“ lieben uns – wir lieben sie (Heinrich Christian Rust)

Danke

Über die Autoren

Zum Geleit

Ekkehart Vetter

Ein Buch, das religiösen Machtmissbrauch zum Thema hat, ist keine leichte und schon gar keine erbauliche Lektüre. Das mag so sein, aber die Autorinnen und Autoren wären missverstanden, würden sie hier nur über ein zugegeben heftiges Problem einiger weniger selbstherrlicher und selbstverliebter Leiter oder Leiterinnen schreiben, die ein System von Unantastbarkeit um sich herum aufgebaut haben. Die Stärke der hier gesammelten Aufsätze liegt gerade darin, dass sie auch nach den Grauzonen fragen. Welche Untiefen der Persönlichkeit und unaufgearbeitete Ereignisse der Lebensgeschichte von Leiterinnen und Leitern begünstigen übergriffigen Einsatz von Macht? Bin ich lernbereit als Leiter/-in? Suche ich konstruktiv-kritisches Feedback? Bin ich Teil eines Teams, das sich auf Augenhöhe begegnet?

Ich schreibe dieses Vorwort als „Betroffener“. Ich leite als Pastor seit fast vier Jahrzehnten Gemeinden, war ca. 20 Jahre (frei-)kirchenleitend aktiv und habe seit ca. 10 Jahren Leitungsaufgaben in der Evangelischen Allianz in Deutschland, davon vier Jahre als ihr Vorsitzender. Als Evangelische Allianz sind wir selbst keine Kirche, sondern ein Netzwerk von Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Kirchen. Das Spektrum von Gemeinden, in denen die Personen zu Hause sind, die sich zur Evangelischen Allianz zählen, ist groß. In welchem Kontext und welcher Konfession und Gemeindestruktur auch immer geistliche Leitung geschieht – uns sind ein paar grundsätzliche Überlegungen wichtig:

Kirchliche und freikirchliche Gemeinden sollen Freiräume für die Entwicklung mündigen Christseins sein. Menschen sind in unterschiedlichen Gemeinden, weil ihnen Unterschiedliches am Wort Gottes wichtig geworden ist. Es gibt Unterschiede, auch innerhalb einer Gemeinde. Sie dürfen gern kontrovers, aber respektvoll diskutiert werden. Die Leitenden sollten kritische Stimmen willkommen heißen, helfen sie doch, andere Auffassungen zu verstehen und die eigene Position zu überdenken. Als Leiter bin ich nie „fertig“ und „allwissend“, sondern hoffentlich ein lebenslang Lernender, der niemals die vermeintliche göttliche Zustimmung ausschließlich für eigene Entscheidungen in Anspruch nimmt. Eine regelmäßige Reflexion von Leitungsarbeit durch entsprechende fachliche Kompetenz hilft Einseitigkeiten und eine Fixierung auf ausschließlich „meine Sicht der Dinge“ zu vermeiden. Entscheidungen werden transparent und nachvollziehbar kommuniziert, kritische Rückfragen brauchen Freiraum, in einer Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung geäußert zu werden. Leiter und Leiterinnen lernen von Jesus das Prinzip des Dienens – in Bezug auf Gott und Menschen. Hier liegt ihre zentrale Kompetenz, die Hingabe an den Herrn der Gemeinde und das Wissen, ohne IHN nichts tun zu können.

Vorwort

Thomas Schirrmacher

Ich begrüße es sehr, dass sich christliche Leiter – Frauen wie Männer – in diesem Buch mit den verschiedensten Fragen rund um den Machtmissbrauch beschäftigen. Als Papst Franziskus direkt bei Amtsantritt begann, Korruption, Mafia und Machtmissbrauch zu bekämpfen, einschließlich einer der übelsten Formen des Machtmissbrauchs, des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Geistliche und von Nonnen durch Bischöfe, wähnte sich mancher Protestant noch in Sicherheit. Viele Untersuchungen von Freund und Feind weiter wissen wir, dass auch konservative evangelische Kirchen hier nicht ausgenommen sind, wie etwa die 380 vom Houston Chronicle belegten Fälle der letzten 20 Jahre in der großen Kirche der Southern Baptist Convention in den USA.1

Als christliche Leiter gehen uns alle diese Themen genauso an und wir sollten sie immer und ständig diskutieren, nicht weil uns die Medien die Themen aufdrängen oder die Faktenlage erdrückend sein kann, sondern weil Machtmissbrauch ein integraler Bestandteil dessen ist, was die Bibel als Sünde beschreibt, und weil Jesus am Kreuz gestorben ist, um uns von dieser Form des Egoismus zu befreien. Gerade wer echte Autorität in der Kirche hat, wird dies dadurch beweisen, dass er von sich aus, bevor irgendetwas anbrennt, diese Themen selbstkritisch in Predigten und Gemeindebriefen, Sitzungen und Jugendkreisen anspricht.

Die Erbsünde heißt auf Lateinisch „corruptio“, sie ist immer auch Machtmissbrauch des Menschen, im Kleinen wie im Großen. In uns allen, auch uns Christen und Christinnen, steckt die Versuchung, vernünftige und berechtigte Autorität nicht zum Guten und Nutzen anderer, sondern zu unserem Vorteil und zum Schaden anderer einzusetzen. Deswegen muss es immer Machtbeschränkungen, gegenseitige Kontrolle und Berufungsmöglichkeiten geben.

Christen haben die Demokratie mit erfunden, weil sie überzeugt davon sind, dass mit der Macht immer die Korruptionsanfälligkeit kommt, nicht nur manchmal und erstaunlicherweise. Deswegen muss man eine korrupte Regierung unblutig abwählen können und die Staatsstrukturen müssen die Macht aufteilen und eine automatische Kontrolle jeder Machtausübung vorsehen. Schon Paulus war mit den Spendergeldern, die er nach Jerusalem brachte, nie allein unterwegs, Vertreter der Gemeinden reisten mit ihm.

Seit vielen Jahren beschäftigt mich der Machtmissbrauch in christlicher und auch evangelikaler Variante, da er besonders abstoßend ist, wenn er mit dem angeblichen Willen Gottes bemäntelt wird. Warum tun etwa zu viele christliche Kirchen weltweit so, als seien sie immun gegen Korruption, das heißt gegen den Missbrauch und das egoistische Ausnutzen legaler Autorität? Fragt man nämlich genauer nach, können alle von spektakulären Fällen berichten.

Ein schönes Beispiel ist das Dokument „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“, das 2010 vom Vatikan, dem Ökumenischen Rat der Kirchen und der Weltweiten Evangelischen Allianz und damit der großen Mehrheit der Weltchristenheit verabschiedet wurde. Ich durfte die Allianz in den fünf Jahren der Entwicklung vertreten. Das Dokument kritisiert jede Art von christlicher Mission, die mit Zwang, Bestechung, Diffamierung und Ausnutzen von Notlagen arbeitet. Hier wird die Autorität der Kirche, die Jesus Christus ihr im Missionsauftrag gegeben hat (Mt 28,18-20), nicht grenzenlos gesehen, sondern von den sich aus der Menschenwürde ergebenden Menschenrechten eingehegt. Oft genug musste ich mich seitdem in meinem eigenen Lager rechtfertigen, hier würde der Missionsbefehl eingeschränkt. Richtig, aber nicht von uns, sondern von Jesus selbst.

Jesus sagt gerade in Matthäus 28,20, dass wir Alles weitergeben sollen, was er uns gelehrt hat – und dazu gehört doch gerade auch die Würde und Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Wer die Autorität der Mission missbraucht, betreibt keine schlechte Mission, sondern gar keine Mission, ja eigentlich Anti-Mission.

Gott hat uns als Christen nie die Autorität gegeben, andere zu zwingen, so zu leben und zu denken wie wir. Vielmehr sollen wir andere Menschen durch Verkündigung, Gespräch, Diskussion und durch unser Vorbild überzeugen. Nur wenn sie selbst glauben, glauben sie, erzwungener Glaube dagegen ist das Gegenteil von Glauben.

Jesus selbst ist der Gegenentwurf zum Machtmissbrauch. Er hat seine Macht nicht zu seinem Vorteil genutzt, sondern damit wir völlig frei werden. Er verband nämlich Autorität mit Dienen und Demut.

Das deutsche Wort „Demut“ ist „ein Wort, um welches die deutsche Sprache von allen Sprachen der Welt beneidet werden kann“2. Demut war als Begriff und als Sache bei den Germanen unbekannt3 und wurde erst von den Missionaren und in der oberhochdeutschen Kirchensprache („thiomouti“, „dio-mouti“) eingeführt.4 „De-mut“ entstand dabei als „Diene-Mut“, aus der Gesinnung zum Dienen, also dem „Mut zum Dienen“. Demütig bedeutet „dienstwillig“. „‚Demut‘ meint also den Diene-Sinn, die Bereitschaft des Menschen zu dienen.“5

„Demut“ gibt das griechische Wort „tapeinophrosyne“ [andere Bedeutungen: Bescheidenheit, Selbstbescheidung] wieder. Das diesem Wort zugrunde liegende Wort „tapeinos“ bedeutete bei den Griechen „meist im sittlich verwerflichen Sinne: kriechend, niedrig, gemein“.6 Im Neuen Testament haben beide Worte jedoch eine völlig andere Bedeutung, die das deutsche Wort „Diene-Mut“, das die Missionare in Anlehnung an die Bibel geschaffen haben, gut wiedergibt.

Demut ist also keine passive Haltung, kein kriecherisches Über-sich-ergehen-Lassen, sondern ein aktives, gewolltes Dienen, das Mut und Stärke erfordert. Ein ausgezeichnetes Beispiel für echte Demut ist die Fußwaschung (Joh 13,1-17), denn Jesus diente hier im vollen Bewusstsein seiner Autorität: „Da Jesus wusste, dass der Vater ihm alles in die Hände gegeben hatte […], stand er vom Mahl auf […] nahm eine Schürze […] und fing an, den Jüngern die Füße zu waschen […]“ (Joh 13,3-57).

Jesus fordert seine Jünger auf, sein Vorbild der Fußwaschung nachzuahmen. Die Apostel sollen sich angesichts der Autorität, die ihnen Jesus ja selbst gab, nicht die Füße waschen lassen, sondern anderen die Füße waschen. Dies gilt auch für uns. Gerade wer Autorität hat, soll für andere da sein.

Besonders an der Demut Jesu wird deutlich, dass nicht der demütig ist, der sowieso dienen muss, ob er will oder nicht, sondern der ist demütig, der trotz seiner Stellung anderen dient.

Literatur

Luthardt, Chr. Ernst 1921. Kompendium der theologischen Ethik. Leipzig: Dörffling & Franke, 169.

Melzer, Friso 1952. Unsere Sprache im Lichte der Christus-Offenbarung. Tübingen: J. C. B. Mohr: Tübingen.

Melzer, Friso 1965. Das Wort in den Wörtern. Die deutsche Sprache im Lichte der Christus-Nachfolge. Ein theophilologisches Wörterbuch. Tübingen: J. C. B. Mohr.

Anmerkungen

1https://www.houstonchronicle.com/news/investigations/article/Southern-Baptist-sexual-abuse-spreads-as-leaders-13588038.php (25.08.2020).

2zitiert nach Luthardt 1921:169.

3Ebd.: „Das Altertum kennt weder das Wort […] noch die Sache.“

4Melzer 1952:241+266. Vgl. auch Melzer 1965:65-66.

5Vgl. Melzer 1952:266-267 und Melzer 1965:65-73.

6Luthardt, 169.

7Zitiert nach SLT.

Einleitung: Macht und Machtmissbrauch

Martina Kessler

Jeder Leiter, jede Leiterin hat Macht und damit regelmäßig die Wahl: Setze ich die mir anvertraute Macht zum Guten oder Bösen ein? Es ist fast so, als würde Leitungspersonen zugerufen: „Heute dürft ihr wählen, ob ihr den Segen oder den Fluch wollt!“ (5Mo 11,281). Mit diesem Satz stellte Gott Israel vor die Wahl, ebenso können Leiter und Leiterinnen wählen.

Die Grenze zwischen dem guten Gebrauch von Macht und Machtmissbrauch beschäftigt mich seit fast 25 Jahren. Eine hilfreiche Beschreibung von Macht lernte ich bei Romano Guardini kennen: „Macht ist die Fähigkeit, Realität zu bewegen.“2 Man kann mit ihr Gutes bewirken oder Böses anstoßen. Aber erst durch ihren Gebrauch wird sie gut oder böse – gut angewandte Macht oder Machtmissbrauch.

Leider sind die Grenzen im Alltag nicht immer so klar und als eindeutige Grenze zu erkennen. Im vorliegenden Buch haben sich die Autoren und Autorinnen darum auf die Reise begeben und die Grenze zwischen Macht und Machtmissbrauch speziell für christliche Organisationen und Gemeinschaften erarbeitet. Denn schon ein einzelnes Wort oder eine Handlung kann aus Macht Missbrauch werden lassen. Macht und Machtmissbrauch werden thematisch untersucht, abgewägt und durch Fragestellungen herausgearbeitet. Die Kapitel vertiefen und erweitern den von der Evangelischen Allianz herausgegebenen Flyer „‚… seid ein Vorbild für die Herde.‘ Prävention von religiösem Machtmissbrauch, Anregungen für den Umgang innerhalb christlicher Kirchen“3

Was ist Machtmissbrauch?

Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass auch gelegentlicher religiöser Machtmissbrauch nicht akzeptabel ist. Weil aber der kontinuierliche religiöse Machtmissbrauch deutlich schädlicher ist, wenden wir uns in den einzelnen Kapiteln besonders diesem Thema zu.

Religiöser Machtmissbrauch liegt dann vor, wenn Menschen zu etwas gedrängt werden, was sie von sich aus nicht tun würden, und die drängende Person davon einen Vorteil hat. Dabei wird die persönliche Grenze des missbrauchten Menschen übertreten und verletzt. Das hat zumeist sowohl emotionale als auch körperliche Folgen. Im christlichen Umfeld kommt dann oft noch der Missbrauch von geistlichen Themen hinzu. Menschen werden mit geistlichen/religiösen Inhalten gedrängt, etwas zu tun oder zu lassen, weil es den Bedrängenden nützt.

Religiöser Machtmissbrauch geschieht in verschiedenen zwischenmenschlichen Bezügen und in verschiedenen Dimensionen. Er kann sowohl gelegentlich als auch kontinuierlich von Führungspersonen, Kolleginnen und Kollegen oder von der Basis einer Gruppe oder Gemeinde ausgehen. Natürlich ist die gleiche Dynamik zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen zu finden. Anders ist es bei religiösem Machtmissbrauch, wenn er in der Struktur verankert ist. Dieser Missbrauch ist immer kontinuierlich! Menschen, die sich in einem solchen System wiederfinden, trifft es daher besonders hart. Diese Form des Missbrauchs kann sowohl in der Struktur als auch in der Theologie einer Gemeinde oder Organisation verankert sein und geschieht außerdem meistens subtil. Zu beachten sind hier besonders die Gruppen und Gemeinschaften, in denen Leitungspersonen den „Mitgliedern“ beim Einstieg in die Gemeinschaft zwar einen Katalog an Erwartungen vorlegen (der oft auch unterschrieben werden muss), aber diesen Menschen keine Mitspracherechte zugestanden werden und in denen es keine demokratischen Strukturen gibt. Viele dieser Gemeinschaften sind nicht in Verbände oder andere übergeordnete Organisationsformen eingebunden.

Eine Gemeindeleitung überlegt sich z. B. ein neues Konzept für die Gestaltung von Hauskreisen. Man will jetzt Stadtteilhauskreise statt der Hauskreise, die durch Beziehungen gewachsen sind. Grundsätzlich ist gegen eine solche strukturelle Veränderung einer Gemeinde nichts einzuwenden. Leitung soll leiten! Allerdings teilt man der Gemeinde mit, man habe Gott gefragt und Gott habe dieses Konzept favorisiert. Wer gegen diese Veränderung ist, stellt sich also gegen Gottes Willen! Wer die Leitung kritisiert, kritisiert Gott; wer sich gegen die Erwartung der Leitung auflehnt, lehnt sich gegen Gott auf. So einfach ist das – so missbräuchlich ist das! Leider bemerken Menschen diesen religiösen (Macht-)Missbrauch nicht, wenn sie sich systemkonform verhalten. Und sie können jene nicht verstehen, die aussteigen oder leiden.4

Bei theologisch-strukturellem Missbrauch suggeriert die Leitung, sie sei direkter Vertreter Gottes. Eine junge Frau ist unsicher bezüglich ihrer Rocklänge. Sie fragt ihren Pastor: „Ist die Rocklänge so okay?“ Er antwortet: „Ja, das ist okay.“ Hier wird die Unsicherheit einer jungen Frau nicht genutzt, um sie im Glauben wachsen zu lassen (dazu hätte man sich mit ihr auseinandersetzen müssen), sondern sie bleibt durch das Urteil des Pastors auf ihn angewiesen. Er ist und bleibt ihr Maßstab. In der Gemeindelehre ist allen „Insidern“ klar: Wer wissen will, was Gott denkt, muss die Leitung fragen. Aussagen wie „Da müsst ihr Gott fragen“ haben eine sanfte Umdeutung erlebt und in Wahrheit ist gemeint: „Da müsst ihr uns fragen!“ Oft wird gerade diese Form des religiösen Missbrauchs von außen nicht bemerkt, weil die gleichen Worte benutzt werden wie anderswo. Die veränderte Bedeutung erkennen nur „Eingeweihte“.

Eine weitere Form des religiösen Missbrauchs ist spiritueller Missbrauch. Menschen wird dann mit „geistlichen“ Argumenten Verzicht aufgezwungen und sie können z. B. so als Arbeitskräfte ausgebeutet werden („Es ist ja für den Herrn“). Wegen des Reiches Gottes wird die eigene Familie vernachlässigt, weil mit Idealen, Gebeten oder gar Abhängigkeiten manipuliert wurde.5

Zum Aufbau des Buchs

In diesem Buch finden Sie zehn Artikel, in denen die Grenze zwischen dem guten Gebrauch von Macht und religiösem Missbrauch von Macht geschärft wird. Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen und daher ist es möglich, es einzeln zu lesen.

Im ersten Teil des Buchs werden die zwei Seiten einer Medaille beschrieben: Mündigkeit und Gehorsam als Tugend.

Tobias Faix ist überzeugt: Mündiger Glaube beugt religiösem Machtmissbrauch vor. Aber was macht einen mündigen Glauben aus? Er geht dieser Frage nach und arbeitet dabei verschiedene Faktoren eines mündigen Glaubens heraus. Mündiger Glaube integriert viele unterschiedliche und sogar gegensätzliche Haltungen, um ungesunde Machtstrukturen zu identifizieren. Dabei entwickelt mündiger Glaube Widerstandsfähigkeiten, die helfen, religiösem Machtmissbrauch zu widerstehen.

Volker Kessler zeigt die andere Seite der Medaille: Die Bibel fordert dazu auf, geistlichen und weltlichen Autoritäten zu folgen, sofern deren Anordnung nicht gegen Gottes Gebot ist. Allerdings wird gerade mit dieser Gehorsamspflicht in christlichen Kreisen Missbrauch getrieben, um den eigenen Willen gegen Widerstand durchzudrücken. In diesem Kapitel geht es darum, eine biblisch-theologisch begründete Haltung zu Gehorsam zu finden. Was ist guter Gehorsam, was ist schlechter Gehorsam?

Im zweiten Teil richten sich die Beiträge an dienende Leitungsgremien, um Machtmissbrauch vorzubeugen.

Angelika Marsch definiert dienende Leitung und interpretiert Transparenz als Wert, der biblisch begründbar ist. Wird dieser Wert in einer Organisation oder Gemeinde festgelegt und gelebt, trägt er dazu bei, Machtmissbrauch zu verhindern. Führungskräfte sind deshalb gefragt, im eigenen Verantwortungsbereich für Transparenz zu sorgen. Dies kann durch entsprechende Strukturen und Maßnahmen geschehen, aber auch durch das Etablieren von geeigneten Plattformen. Um in einer komplexen Welt leiten zu können, ist systemisches Denken gefragt. Führungskräfte sollten hierbei mögliche Vorgehensweisen und vorläufige Ergebnisse transparent darstellen und auf diese Weise mit den Mitarbeitenden offen unterwegs sein.

Andreas Klotz beschreibt religiösen Machtmissbrauch auf der kommunikativen Ebene. Eine offene Kommunikation kann bewusste oder unbeabsichtigte Bevormundung verhindern. Dieses Kapitel geht analytisch und anhand von Beispielen auf den engen Zusammenhang zwischen religiösem Machtmissbrauch und einer vereinnahmenden und manipulativen Kommunikationskultur in der Gemeinde ein. Als Alternative dazu wird eine kleine Charakteristik der offenen Kommunikation entfaltet, die dafür erforderlichen strukturellen Voraussetzungen in einer Gemeinde beschrieben und einige wesentliche Kriterien der offenen Kommunikation als Orientierungshilfe für die praktische Umsetzung angeboten.

Martina Kessler ist sicher: Leitung darf kritisiert werden, um ein besseres Leitungsgremium zu werden. Im Alten Testament wird Kritikfähigkeit gefordert und im Neuen Testament erhalten Leiter berechtigte Kritik. Leitende sollen sich mit ihrer Kritikfähigkeit auseinandersetzen. Dazu ist es hilfreich, verschiedene Kritikarten zu verstehen, die eigene Kritikerwartung zu kennen und eine persönliche Feedbackkultur und/oder eine Feedbackkultur in der Gruppe bzw. Gemeinde zu implementieren. Gut ist, wenn all das in guten Zeiten eingeübt wird, damit es in Krisenzeiten bereits bekannt und dann hilfreich ist.

Die Kapitel des dritten Teils zeigen Wirkungen und Möglichkeiten von Weiterentwicklung bei Leitung und Mitarbeitenden auf.

Florian Köpke geht den Fragen nach, wie Führungskräfte durch ihr Lernen sowohl zur Resilienz gegen religiösen Missbrauch als auch zur Zukunftsfähigkeit einer Organisation beitragen können. Drei maßgebliche Lernbereiche sind von Leitenden zu beachten: geistliche und persönliche Reife, allgemeine Leitungsfähigkeiten und kontextbezogene Fähigkeiten. Dabei kommt der geistlichen und persönlichen Reife und der ihr zugrunde liegenden Selbstreflexion eine maßgebliche Rolle zu, denn Selbstführung ist die Grundlage jeder anderen Art von Führung. Darüber hinaus werden unterschiedliche Ansätze zur Kultivierung des Lernens und organisationalen Lernens vorgestellt. Diese reflektieren die unterschiedlichen Ausprägungen von Lernbereitschaft. Durch ihr eigenes Lernen prägen Leiter und Leiterinnen auch eine Kultur der Lernbereitschaft – ein wichtiger Schritt hin zu einer lernenden Organisation.

Rolf Gersdorf beschreibt vier Aspekte fachlicher und geistlicher Begleitung von Leitung. Im ersten Aspekt geht es um die Frage des Schutzes von Leitung und den ihr anvertrauten Systemen (Menschen) sowie der Notwendigkeit professioneller „Rückspiegelarbeit“. Im zweiten Aspekt werden ausgewählte Formen fachlicher und geistlicher Begleitung unterschieden. Drittens wird aufgezeigt, was gute Begleitung auszeichnet und wann und unter welchen Rahmenbedingungen sie stattfindet. Im vierten Aspekt geht es um Zusammenhänge reifer und mündiger Arbeitsbeziehungen innerhalb christlicher Kontexte sowie deren Gefährdungen. Den Abschluss bilden exemplarische Fragen an Leitung und das jeweilige System.

Hans-Günter Schmidts untersucht das spezielle Spannungsfeld von Missionsleitungen zwischen verantwortlichem Handeln und gefährlicher Einmischung. Wann wird es notwendig, in das Leben von Mitarbeitenden einzugreifen, damit sich diese weiterentwickeln? Wann ist es verantwortliches Handeln? Wo ist die Grenze? Wie reagiert man, wenn das Verhalten von Mitarbeitenden negative Muster zeigt und keine Bereitschaft zu Veränderungen zu erkennen ist? Was ist arbeitsrechtlich möglich und richtig, was ist geistlich notwendig und wo werden Grenzen überschritten? In diesem Kapitel wird gefragt, wie biblische Prinzipen innerhalb des Arbeitsrechts fruchtbar gemacht werden können. Die daraus resultierende praktische Erfahrung ist manchmal eine Gratwanderung.

Der vierte Teil des Buchs richtet sich an die Gemeindebasis, denn von dieser Seite kann es zu einer Umdrehung von Machtverhältnissen und damit auch zu Machtmissbrauch kommen.

Ansgar Hörsting beschreibt aus seiner Perspektive als Leiter eines Gemeindeverbandes selbstständiger Gemeinden die Gefahren und typischen Einfallstore von religiösem Machtmissbrauch für eine Gemeinde, in der es der Gemeindeleitung sehr schwer gemacht wird, überhaupt zu leiten. Welche Einflüsse und Mechanismen wirken – besonders auch in Strukturen, die eine flache Hierarchie pflegen? Er beschreibt, was Leitung behindert, und unterscheidet dabei faktischen Einfluss und strukturell festgeschriebene Macht. Er plädiert dafür, dass auch der Einfluss von Menschen ohne Amt wahrgenommen wird und sich einflussreiche Menschen ihrer Verantwortung bewusst sind.

Heinrich Christian Rust beleuchtet den Umstand, dass religiöser Missbrauch von Macht nicht nur von Einzelpersonen oder Leitungsverantwortlichen ausgehen kann, sondern auch die Gemeinde als Ganzes eine gewisse Macht hat. Das gilt besonders bei „kongregationalen“ Gemeindeformen, wie wir sie häufig in Freikirchen vorfinden. „Die da oben“ sind in solchen Fällen „Die da unten“ bzw. das „Gemeindevolk“. Das biblische Zeugnis gibt zahlreiche Anregungen und Aufforderungen für eine Gemeinde, was jedes Gemeindemitglied und eine ganze Gemeinde lernen kann, damit Leitung im Sinn Jesu ausgeübt und erlebt wird. Vier Lernfelder werden in diesem Kapitel beschrieben, die sowohl von der Leitungsebene als auch von der Gesamtgemeinde bedacht werden sollen. Es geht um das Verständnis des Wesens christlicher Leitung, um das Gebet füreinander, um gegenseitige Unterstützung und um eine Versöhnung stiftende Kommunikation.

Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen dieses Buch zum Segen wird, den Sie dann mit in Ihre Gemeinde oder christliche Organisation nehmen.

Ihre Martina Kessler

Literatur

Guardini, Romano 1955. Die Macht. Versuch einer Wegweisung. 3. Auflage. Würzburg: Weckbund.

Kessler, Martina & Kessler, Volker 2017. Die Machtfalle. Machtmenschen – wie man ihnen begegnet. 5. völlig überarbeitete Auflage. Gießen: Brunnen.

Wagner, Doris 2019. Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Freiburg: Herder.

Anmerkungen

1Zitiert nach NLB.

2Guardini 1955:16.

3https://www.ead.de/kontakt/clearing-stelle/publikationen (18.11.2020)

4Kessler & Kessler 2017: 58-97.

5Ich verweise auf die differenzierte Darlegung spirituellen Missbrauchs in Wagner 2019, der leicht auf alle anderen Glaubensgemeinschaften übertragen werden kann.

Teil I

Zwei Seiten einer Medaille

1

Schutzfaktoren des Glaubens entwickeln – mit Mündigkeit und Resilienz Machtmissbrauch vorbeugen

Tobias Faix

Ines ist 22, wohnt in Mainz und studiert Biologie. Sie stammt aus einer traditionellen katholischen Familie, christlich geprägt wurde sie aber eher in freikirchlich-charismatischen Kreisen.1 Für das Freiwillige Soziale Jahr meldete sie sich in Australien bei einer christlichen Organisation an. Dies bedeutete in der Hauptsache, Missionsarbeit unter Jugendlichen in der Schule zu leisten. Schon bald nach dem Start gab es erste Probleme. Die Freiwilligen mussten sechs Tage die Woche acht bis zwölf Stunden arbeiten und sonntags in den Gottesdienst gehen. Es ging bei ihrer Arbeit vor allem um Zahlen: Wie viele Leute kamen zu den Veranstaltungen? Wie viele hatten sich bekehrt und wie viele davon gingen jetzt in den Gottesdienst? Dazu gab es ein System mit klaren Vorgaben: Jede Person im Team sollte vier Jugendliche bekehren und diese dann wieder vier, wie bei einem Schneeballsystem. „Wir mussten immer wieder unsere Erfolge messen, sobald jemand in den Jugendkreis gekommen ist oder wie viele sich haben taufen lassen; es wurde immer wieder in Zahlen gemessen.“ Dazu gab es eine klare Leitungshierarchie, die es einzuhalten galt. Egal, ob es um die Schuljugendarbeit oder um kleine private Angelegenheiten ging. „Mein Teamleiter wollte immer Dinge, die keinen Sinn machten und gar nicht machbar waren. Das war schwer zu ertragen und die Frage war dann: Was war denn jetzt Gottes Wille?“ Wenn Ines widersprach oder sich über die Situation beschwerte, wurde ihr von ihren Leitern zur Antwort gegeben: „Gott lehrt dich Demut.“ So spürte Ines konstant geistlichen und psychischen Druck und es ging ihr immer schlechter. Dies wurde auch nicht besser, als sie wieder nach Hause in ihre alte Gemeinde kam. Auch bei ihren Mitchristen fand Ines keine richtige Hilfe: „Ganz viele haben gesagt, ich soll mehr beten, mehr Zeit vor dem Thron Gottes verbringen, dann wird es wieder besser werden.“ Aber das half Ines nicht. „Wir haben dann oft miteinander gebetet, dass wir die Gefäße Gottes sind und er durch uns fließt und ich weniger eigensüchtig sein und ganz auf den Willen Gottes hören soll.“ Sie wurde immer verzweifelter und merkte, wie es ihr immer schwerer fiel zu glauben. Aber an ihrem Glauben hing auch ihr Leben: „Dann weiß ich nicht mehr, wie ich leben soll.“ Dazu kamen Depressionen und ihre Fragen und Zweifel wurden eher mehr, als dass sie abklangen. Ihr Gebet war noch lange Zeit, dass „Gott aus dem Zerbruch was Großes machen soll“ und dass „diese Zeit eine Art geistliches Training“ für sie sein möge. Durch eine Seelsorgerin und eine Therapie fand Ines ins Leben zurück, ihren Glauben an Gott hat sie durch das Erlebte aber verloren.

1. Die Zerbrechlichkeit des eigenen Glaubens erkennen

Das Beispiel von Ines zeigt gleich mehrere Facetten von Machtmissbrauch auf. Angefangen bei einem hierarchischen Gemeindesystem mit klaren Strukturen und Regeln über die Vergeistlichung von Situationen und Rollen sowie das Ablehnen von Widerspruch bis zu falschen Gottesbildern und einem verschobenen Bibelverständnis. Warum lassen wir solche destruktiven Systeme und Gottesbilder in unseren Gemeinden zu? Wie können wir Schutzfaktoren (Resilienz) entwickeln, sodass Machtmissbrauch identifiziert wird, Betroffene sich gegen ihn auflehnen und ihn im besten Fall sogar durchbrechen? Wünschen wir uns nicht alle ein reifes, mündiges und tief in Christus verwurzeltes Christsein? – Ein Glaube, der durch die Tiefen und Krisen des Lebens trägt und dabei gleichzeitig ansteckend auf andere wirkt. Viele hoffen vielleicht, dass das mit zunehmendem Alter automatisch passiert, doch die Realität ist meist eine andere. Geistliches Wachstum und mündiger Glaube sind keine Nebenprodukte, die automatisch entstehen, sondern der reife und mündige Glaube wird in den Niederungen des Alltags sichtbar, im konkreten Miteinander in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Gemeinde. Aber was ist Glaube überhaupt? Und wie kann er reif und mündig werden? Dem gehe ich im Folgenden nach.

2. Was ist mündiger Glaube?

Wenn wir fragen, was Glaube überhaupt ist, stoßen wir zunächst darauf, dass Glaube mit Vertrauen zu tun hat und ein Beziehungsbegriff ist, der sich im Neuen Testament ganz praktisch in der Nachfolge zeigt. Glaube ist kein Konstrukt oder ein Gegenstand, der von Generation zu Generation einfach den Besitzenden wechseln kann, sondern ein Beziehungsgeschehen.

Glaube ist ein Beziehungsgeschehen

Glaube ist Vertrauen in eine Person und mit der Entscheidung verbunden, sich dieser Person nähern zu wollen. Vertrauen kann allerdings nicht erzwungen werden, denn Beziehungen setzen Freiheit voraus. Deshalb bleibt Glaube ein Risiko und bei all dem bleibt Gott souverän und lässt sich nicht instrumentalisieren. Und die Erfahrung, gerade in diesem Glauben unter Druck gesetzt zu werden oder die Freiheit des eigenen Glaubens zu verlieren, ist für viele sehr schmerzhaft. Denn so tief der eigene Glaube in der eigenen Identität verwurzelt ist, so tief geht auch der Schmerz, wenn dieser Glaube in Not gerät. Glaube ist also kein statischer, sondern ein relationaler Begriff und somit einer, der lebt und auch ein gewisses Risiko mit sich bringt, wie zum Beispiel die Geschichte in Matthäus 14 zeigt. Dort fordert Jesus Petrus auf dem See Genezareth heraus, aus dem Boot zu steigen – und Petrus vertraut, glaubt und steigt mutig aus dem Boot. Der Glaube an Gott ist nicht selbstverständlich, ja, er ist ein Wagnis. Schon der dänische Philosoph Sören Kierkegaard schrieb in seiner Abhandlung über den Glauben („Furcht und Zittern“, 1843), dass der Glaube ein mutiger Sprung ins Ungewisse sei, der aus der Hoffnung lebt, dass Gott einen auffängt. Genau dies unterscheidet Glauben und Wissen: Es gibt keine absolute oder objektive Sicherheit. Glaube ist und bleibt ein Vertrauen auf einen Gott, der hält. Deshalb beschreibt der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel Glaube auch als „Ent-Sicherung“2. Wir müssen unsere eigenen Sicherheiten loslassen und dem vertrauen, der uns ruft. Das war bei Petrus und ist bei uns heute noch so und genau deshalb gehören Zweifel und Glauben auch zusammen, sind nicht trennbar, quasi Zwillinge, die aneinandergebunden sind und sich gegenseitig bedingen. Glaube ohne Zweifel wäre Wissen und Wissen braucht kein Vertrauen und letztendlich keinen Gott. Und natürlich ist es ein Geschenk der Gnade bzw. des Heiligen Geistes (Röm 8,9), dass wir überhaupt glauben können. Trotzdem kann dieser Glaube sich entwickeln, kann wachsen oder sogar wieder verloren gehen.

Glaube kann mündig werden

Paulus schreibt seinen Geschwistern in Korinth. Sie waren eine ausgesprochen geistliche Gemeinde, reich an Geistesgaben und Wundern – und doch wirft Paulus ihnen Unmündigkeit vor und sagt, dass sie nur Milch statt fester Nahrung zu sich nehmen.

Allerdings konnte ich mit euch, liebe Geschwister, nicht wie mit geistlich reifen Menschen reden. Ihr habt euch von den Vorstellungen und Wünschen eurer eigenen Natur bestimmen lassen, sodass ihr euch, was euren Glauben an Christus betrifft, wie unmündige Kinder verhalten habt. Milch habe ich euch gegeben, keine feste Nahrung, weil ihr die noch nicht vertragen konntet. Selbst heute könnt ihr sie noch nicht vertragen, denn ihr lasst euch immer noch von eurer eigenen Natur bestimmen. Oder wird euer Leben etwa vom Geist Gottes regiert, solange noch Rivalität und Streit unter euch herrschen? Beweist ein solches Verhalten nicht vielmehr, dass ihr euch nach dem richtet, was unter den Menschen üblich ist? (1Kor 3,1-43)

Paulus nennt die Korinther Heilige, Vorbilder, und doch kritisiert er ihr Verhalten. Geistliche Gaben setzen weder einen mündigen Glauben voraus noch sind sie ein Garant dafür. Das Wirken des Heiligen Geistes zeigt sich in unserem Leben ganz praktisch daran, wie wir uns verhalten gegenüber unseren Mitmenschen verhalten, wie wir mit Rivalität oder Streit umgehen oder wie Paulus das auch in Galater 5,22-23 beschreibt: „