Religiöser Glaube und Spiritualität - Norbert Mönter - E-Book

Religiöser Glaube und Spiritualität E-Book

Norbert Mönter

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Beschreibung

People=s faith determines both their personal understanding of the world and of themselves, as well as their place in society. In addition to traditional religions and individual spirituality, non-religious ideological belief structures and also liberal worldviews exist. Faith & understood as an elementary imaginative, affective and cognitive mixed function of the human psyche & therefore deserves greater attention in everyday psychiatric and psychotherapeutic practice. This volume discusses spirituality and the diversity of religious belief in today=s world both from the therapeutic point of view and in relation to its development in the history of humanity. It emphasizes the basic hypothesis that there is a ?reciprocal entanglement= of the poles of faith and knowledge relative to mental health and illness. In his plea for a tolerance of ambiguity in dealing with patients= religious worlds, the author reflects on cultural studies, medical and psychotherapeutic sources, and, last but not least, Karl Jaspers=s positions and analyses.

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Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek

Herausgegeben von Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

 https://shop.kohlhammer.de/horizonte

Der Autor

Dr. med. Norbert Mönter ist Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Er ist Initiator des Berliner Psychiatrisch-religionswissenschaftlichen Colloquiums im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit (www.psychiatrie-in-berlin.de). Er war von 1982 bis 2012 niedergelassen in Berlin Charlottenburg und langjährig engagiert in der Qualitätssicherung sowie in der Realisierung multimodaler, ressourcenorientierter, individualisierter Versorgungsmodelle für psychisch schwer Erkrankte in deren Lebensumfeld. Aktuell ist er Leiter des Gesundheitszentrums für Flüchtlinge in Berlin (www.gzf-berlin.org).

Norbert Mönter

Religiöser Glaube und Spiritualität

Wandel und Vielfalt aus psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039182-6

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-039183-3

epub:        ISBN 978-3-17-039184-0

In Erinnerung an den Internisten und Freund Wolfgang, für den der philosophische Glaube ein Lebensgerüst wurde und der im Jahre 2022 hundert Jahre alt geworden wäre

Vorwort zur Reihe

 

 

Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen. Bereits vor hundert Jahren wies der Arzt und Philosoph Karl Jaspers darauf hin, dass man sich im psychopathologischen Zugang zum Menschen nicht auf eine einzige umfassende Theorie stützen könne. So warnte er entsprechend vor einseitigen Perspektiven einer Hirn- bzw. Psychomythologie. Viel mehr forderte Jaspers dazu auf, die verschiedenen möglichen Zugangswege begrifflich scharf zu fassen und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Mahnung zur kritischen Pluralität gilt heute ebenso, werden sowohl auf neurobiologischem als auch auf psychotherapeutischem bzw. sozialpsychiatrischem Gebiet nicht selten dogmatische Positionen vertreten, ohne dass andere Sichtweisen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausreichend berücksichtigt würden.

Die Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek« möchte die vielfältigen Zugangswege zum psychisch kranken Menschen in knappen Überblicken prägnant darstellen und die aktuelle Bedeutung der verschiedenen Ansätze für das psychiatrisch-psychotherapeutische Denken und Handeln aufzeigen. Dabei können viele Probleme im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit den Menschen nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden historischen Konzepte verstanden werden. Die »Karl Jaspers-Bibliothek « möchte den Leser dazu anregen, in solch pluralistischer und historisch weiter Horizontbildung den drängenden Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie nachzugehen, wie sie die einzelnen Bandautoren entfalten werden. Ziel der Reihe ist hierbei auch, ein tieferes Bewusstsein für die begrifflichen Grundlagen unseres Wissens vom psychisch kranken Menschen zu entwickeln.

Oldenburg/Berlin/KemptenMatthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger

Inhalt

 

 

Vorwort zur Reihe

Einleitung

1   Definitorische Vorbemerkungen zu Religion, Glauben und Spiritualität

2   Überlegungen zur Entstehung religiösen Glaubens

2.1   

Primus in orbe deos fecit timor

2.2   Entstehung und Bedeutung des Ritus – der sakrale Komplex I

2.3   Mythos – der sakrale Komplex II

3   Wandel des religiösen Glaubens im 1. Jahrtausend v. u. Z. – die »Achsenzeit«

3.1   Das Achsenzeit-Theorem

3.2   Der Achsenzeit-Diskurs

4   Kognitiver Durchbruch

4.1   Selbstreflexives Denken und Psychotherapie

4.2   Der Mythos von der Überwindung des Mythos

5   Religion und Psychiatrie im Zeichen der Aufklärung

5.1   Gemeinsame Wurzeln und Separierung

5.2   Biografien des Wandels und der Unterschiedlichkeit

5.3   Entwicklung der Religionspsychopathologie und Religionspsychologie

6   »Weltreligionen« – Religionen der Welt

6.1   Religionen der Welt und Versuche ihrer Einteilung

6.2   Religiöse Bindung in den Ländern und die Prognose-Frage

6.3   Neue religiöse Gemeinschaften

6.4   Ersatzreligionen

6.5   Aberglaube, Medizin und Wissenschaftsfeindlichkeit

6.6   Fanatismus und Terrorismus

7   Religion in Berlin

7.1   Entwicklung in Tradition des Toleranzediktes von 1685

7.2   Religionen in Berlin heute

7.3   Ruqyah/Cin cikarma (Dschinn-Beschwörung) und Exorzismus in Berlin 2020

8   Religiöser Glaube und Identität

8.1   Religion und Identitätsbildung

8.2   Kollektive religiöse Identität

9   Persönliche Statements zum religiösen Glauben

10 Religion, Staat, Gesellschaft und Politik

10.1 Heil und Herrschaft

10.2 Diskriminierung, Unterdrückung, Gewalt und Krieg

10.3 Religionsfreiheit

10.4 Religiös geprägte politische Bewegungen/Gemeinschaften

10.5 Religion und nation building – Das Beispiel: Russisch- Orthodoxe Kirche (ROK)

11 Psychische Gesundheit und Mündigkeit – Zwei Seiten einer Medaille

11.1 Psychische Krankheit

11.1.1 Zur Praxis der Feststellung psychischer Krankheit

11.1.2 Kriterien relevanter psychischer Erkrankung

11.1.3 Subjektive Perspektive, religiöser Glaube und psychische Krankheit

11.1.4 Diagnosen und religiöser Glaube

11.2 Seelische Gesundheit

11.2.1 Gesundung und Gesundheit

11.2.2 Prävention psychischer Erkrankung

11.2.3 Geschäftsmodell Gesundheit

11.3 Mündigkeit und Vernunftglaube

11.3.1 Definition

11.3.2 Mündigkeit und Selbstbestimmung im Wandel

11.3.3 Selbstbestimmung und assistierter Suizid

11.4 Selbstbestimmung und Recovery

12 Glauben als Basis von Vertrauen

12.1 Etymologie

12.2 Psychoanalytische Positionen zum Phänomen »Glauben«

12.3 Glauben, Vertrauen und Beziehung im therapeutischen Alltag

12.4 »Glauben« – eine psychiatrisch und psychologisch vernachlässigte kognitiv-affektiv-imaginative Mischfunktion

12.5 Glauben als Kategorie dynamischer Beziehungsgestaltung und Therapie

13 Menschenbilder und religiöser Glaube in der Psychiatrie und Psychotherapie

13.1 Karl Jaspers und »die Frage nach dem Wesen des Menschen«

13.2 Das persönliche Menschenbild

13.3 Psychiatrische Anthropologie und religiöser Glaube

13.4 Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht und religiöser Glaube

14 Mehr als nur

eine

Begabung: über die eigene Existenz hinausdenken und -fühlen (können)

14.1 Philosophischer Glaube

14.2 Jaspers Chiffern der Transzendenz

14.3 Ambiguitätstoleranz

14.4 Selbsttranszendenz

15 Neurobiologie, »Neurotheologie« und die freie Entscheidung zum Glauben

15.1 Psychopharmakologische Beeinflussbarkeit

15.2 Zur Neuropsychologie religiösen Erlebens

15.3 Zur Neurobiologie »freier« Willensentscheidung für oder gegen religiösen Glauben

16 Selbsttranszendenz, Erfahrungsvielfalt und Ressourcenorientierung

16.1 Spiritualität und Selbsttransparenzerfahrung als Ressource

16.2 Vielfalt der Erfahrungen von Selbsttranszendenz

16.3 Angst und Tod

17 Abschluss – Plädoyer für Ambiguitätstoleranz und Ressourcenorientierung in der Psychotherapie und Psychiatrie

Literatur

Einleitung

 

 

Der anhaltenden, zuletzt epochalen Austrittswelle aus den christlichen Kirchen in Deutschland und anderen Ländern Europas zum Trotz: die Religion resp. der religiöse Glaube als wichtiges Thema ist wieder angekommen in der Psychiatrie und Psychotherapie. Und Spiritualität hat Eingang als Kategorie gesundheitlichen Wohlbefindens in die Resolutionen und Definitionen der WHO gefunden. Die daseinsgeschichtliche, anthropologische Bedeutung und die individuelle psychodynamische Funktion systematisierten Glaubens beschäftigen nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern auch die Naturwissenschaften und die Medizin. Religiöser Glaube ist Forschungs- und Diskursinhalt auf nationalen und internationalen Kongressen wie in zahlreichen Publikationen. Um der zunehmenden fachpsychiatrischen Auseinandersetzung gerecht zu werden, hat z. B. die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenheilkunde und Psychosomatik) 2013 eigens das Fachreferat »Religiosität und Spiritualität« gebildet – explizit neben den vorbestehenden themenverwandten Referaten »Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie« und »Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Migration«. 2016 wurde sodann von der DGPPN das richtungweisende Positionspapier »Religiosität und Spiritualität (R/S) in Psychiatrie und Psychotherapie« (Utsch et al. 2017, S. 141–146) vorgelegt. Dieses Positionspapier geht davon aus, dass »R/S zum Menschsein gehören« und »sowohl beim Patienten als auch beim Psychiater/Psychotherapeuten identitätsbildend sind«. Dies werde »in existenziellen Krisen und Grenzsituationen besonders deutlich, aber auch in Momenten der Sinnerfülltheit und Lebensphasen existenzieller Indifferenz […] R/S sind als persönliches Sinnsystem und kulturbildende Einflussfaktoren in der Psychotherapie wahrzunehmen und zu würdigen« (ebd. S. 142). Hierzu werden in dem Positionspapier detaillierte Empfehlungen gegeben.

Auf der internationalen Ebene spricht die WPA (World Psychiatric Assoziation) in ihrer gemeinsam von der »Section on Religion, Spirituality and Psychiatry« mit der WHO (World Health Organization) erarbeiteten »Stellungnahme zu Spiritualität und Religion in der Psychiatrie« davon, dass »in systematischen Überprüfungen der akademischen Literatur mehr als 3.000 empirische Studien identifiziert wurden, die den Zusammenhang zwischen Religion/Spiritualität (R/S) und Gesundheit untersuchen« (Moreira-Almeida 2016, S. 87). Laut WPA berichten 84 % der Weltbevölkerung von einer religiösen Zugehörigkeit. In ihrer Stellungnahme hat die WPA zusammenfassend »die Bedeutung der Integration von Spiritualität/Religion für die klinische Praxis, Forschung und Ausbildung in der Psychiatrie hervorgehoben und auf die Wichtigkeit ethischer Implikationen für die klinische Praxis der Psychiatrie hingewiesen.

Während in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts/Jahrtausends auch in Deutschland Veröffentlichungen zum Thema Religion und Psychiatrie sehr überschaubar blieben (Utsch 2005; Kaiser 2007; Mönter 2007) findet sich seit etwa 5–7 Jahren geradezu eine Publikationsflut mit behandlungsrelevanten Untersuchungen, Übersichten und Aufarbeitungen, von denen nur einige wenige angeführt werden können (u. a. Baatz 2017; Cyrulnik 2018; Frick et al. 2018; Juckel et al. 2018; Utsch et al. 2017; Utsch 2018; Ohls und Agastoras 2018; Machleidt 2019; Mönter et al. 2020b).

Was nun ist passiert in den letzten eineinhalb Jahrzehnten, dass – kurz gesagt – der religiöse Glaube in der Psychiatrie wieder zum Thema wurde? Dem Zeitgeist folgend sah die Psychiatrie inkl. der sich herausbildenden Psychotherapie in den 150 Jahren zuvor die Religion als mental überholt an. Ebenso wieder dem Zeitgeist folgend findet die Wiederentdeckung der Religion als maßgeblich die Weltpolitik, die Länder und Gesellschaften aller Kontinente prägende oder zumindest beeinflussende Kraft nun auch in der Psychiatrie ihren Widerhall. Zeitlich verbindet sich diese Entwicklung vor allem mit dem Ende des Kalten Krieges. Ohne Zweifel haben die unterschiedlichen Prozesse der Globalisierung und mit ihr vor allem die Migration und damit die Konfrontation der westlichen Psychiatrie mit den fremden Kultur- und Überzeugungswelten von Immigranten sehr erheblich zu der neuen Bedeutungswahrnehmung von Religion beigetragen. Dies wird auch in nationalen und internationalen Positionspapieren psychiatrischer Fachgesellschaften wie der DGPPN herausgestellt.

Als weiterer Faktor spielt nach eigener Erfahrung in Deutschland auch das sich stärker durchsetzende Selbstverständnis der Psychiater als neurobiologisch-psychiatrische Fachärzte wie zugleich als kompetente Psychotherapeuten (gleich welcher Psychotherapiemethoden) eine wichtige Rolle; korrespondierend ist auf Seite der psychologischen Psychotherapeuten (gleich welcher Psychotherapiemethode) eine zunehmende Offenheit für die somatische Seite psychischer Erkrankung zu finden. Das zeigt sich u. a. an dem wachsenden Interesse von Ärzten und Psychologen an der oftmals indizierten zweigleisigen (psychotherapeutischen und psychiatrisch-pharmakologischen) Behandlung schwer psychisch Erkrankter; entsprechende Therapieempfehlungen finden sich nunmehr selbstverständlich auch in den S3-Leitlinien zur Behandlung z. B. schizophren, bi- oder auch unipolar Erkrankter. Die Überwindung vormalig oft anzutreffender dichotomer Sicht (somatisch versus psychisch) ermöglicht offenkundig neue Perspektiven, die – schaut man auf Karl Jaspers’ Konzept und seine Fragen zur »Forderung der Synthese unseres Wissens vom Menschen und das Bild der Psychopathologie« (Jaspers 1973, S. 625) – nicht als wirklich neu, sondern eher als verschüttet anzusehen sind. Ausgehend von einer »Leib-Seele-Einheit« lehnte Jaspers Verabsolutierungen von Teilaspekten strikt ab: »Es gibt nicht Einzelnes, das nicht durch anderes Einzelnes und durch das Ganze abgeändert würde, nichts Ganzes, das nicht durch das Einzelne bestände« (ebd., S. 626).

Heute erlaubt die zunehmend ambulant und im Lebensumfeld erfolgende Tätigkeit von Psychiatern und Psychotherapeuten ein stärker individualisiertes Verständnis des Patienten in seiner »Leib-Seele-Einheit« und damit eine kompetentere Behandlung wie auch eine persönlichere Begegnung. Sich änderndes Selbstverständnis der Psychiater und Psychotherapeuten verbunden mit einem Wechsel von der Methodenzentrierung hin zur Patientenzentrierung sowie eine stärkere Kooperation untereinander einerseits und die Konfrontation mit religiös stark gebundenen Menschen anderer Kulturkreise andererseits führten Berliner Psychiater und Psychotherapeuten aus allen Versorgungssektoren gleich nach Gründung (2003) des Vereins für Psychiatrie und seelische Gesundheit (www.psychiatrie-in-berlin.de) dazu, Religion und Religiosität im psychiatrischen Kontext zu thematisieren. Im September 2006 fand dann eine erste Fachtagung zum Thema statt: »Religion und Psychose – Sinnsuche und Sinnstiftung im psychiatrischen Alltag«. Der Tagungsbericht, erweitert u. a. um Beiträge aus Betroffenen- und Angehörigenperspektiven ist veröffentlicht unter dem Titel »Seelische Erkrankung, Religion und Sinndeutung« (Mönter 2007). Ein Jahr später erfolgte eine öffentliche Tagung in der Berliner Urania, die mit über 300 Teilnehmern eine überraschend breite Resonanz fand. Vom Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit wurde in der Folge ein Arbeitskreis »Religion & Psychiatrie« etabliert, der seither jährlich religionswissenschaftlich-psychiatrische Kolloquien durchführt (siehe hierzu Mönter und Mundle 2020; Mönter 2022). Von 2013 bis 2019 realisierte der AK ein mit Lottomitteln unterstütztes Modellprojekt zur psychotherapeutischen Beratung und psychiatrische Informationsveranstaltungen in religiösen Gemeinden, vor allem in türkischen und arabischen Moscheen, das PIRA-Projekt (Psychiatrie-Information-Religion-Austausch) (Mönter et al. 2020a, S. 216–229).

In dem ersten Flyer des AK Religion & Psychiatrie (2008) heißt es: »Wer in der psychiatrischen Behandlung den Patienten ernst nimmt, kann nicht nur nach sogenannten wissenschaftlichen Kriterien vorgehen; Wissenschaft analysiert und versucht zu objektivieren, macht den Patienten zum Objekt und versucht dadurch hilfreich zu sein. Wer in der psychiatrischen Behandlung den Patienten ernst nimmt, muss auch dessen subjektive Sicht und die ganz persönliche Seite seines Leidens, seines Lebens, seiner Familie, seines Umfeldes wahrnehmen und in der Therapie berücksichtigen. Die subjektive Sicht des Patienten beinhaltet auch seinen Glauben oder seine Weltanschauung und natürlich auch ggf. seine religiöse Gemeinschaft. Dies ist – vereinfacht gesagt – der alltägliche Erfahrungs-Hintergrund, warum wir im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit uns mit dem Thema Religion und Psychiatrie befassen.«

Der vorliegende Band wendet sich nun vorrangig an die vielen Akteure der helfenden Berufe insbesondere der psychiatrischen und psychosozialen Bereiche, für die helfendes Engagement sich verbindet mit Gespür und Interesse für die Vielfalt und den dynamischen Wandel des gesellschaftlich-kulturell-geistigen Lebenshintergrunds ihrer Klienten und Patienten. Angesprochen werden natürlich auch in sozialpsychiatrisch-dialogisch-polylogischer Tradition alle interessierten Zeitgenossen, die über ihr eigenes, ggf. auch gestörtes Befinden und Verhalten oder das Befinden und Verhalten anderer nachdenken und Hintergründe im Zusammenhang mit religiöser Prägung und religiösem Glauben einordnen, verstehen wollen. Die Bereiche der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie werden in diesem Zusammenhang einheitlich verstanden, da sich keine relevanten Differenzen im Grundverständnis finden. Aus Gründen flüssiger Lesbarkeit wird auf die Nennung aller drei Bereiche verzichtet und zumeist wird nur ein Bereich genannt, der dann in aller Regel immer auch für die nicht mitaufgeführten steht. Dies gilt im Grundsatz auch für die unterschiedlichen Psychotherapieschulen, auch wenn einzelne Konzepte angeführter Autoren auf methodenspezifischem Hintergrund entwickelt wurden. Diesbezüglich geht es beim Blick auf den religiösen Glauben um jeweils ergänzende, nicht um konkurrierende Perspektiven. Eine möglichst wenig fachbegriffliche Sprache und zugleich fundierter Sachhintergrund hatten klare Priorität vor Tiefe und Vollständigkeit der mit allen angeschnittenen Themen immer auch verknüpften wissenschaftlichen Diskussion. Die Auswahl ergänzender, erklärender Literatur erfolgte in der Systematik eines Psychiaters/Psychotherapeuten der Praxis, der den aufkommenden, die enge Fachdisziplin überschreitenden Fragen und Herausforderungen eher nach eigener Wertschätzung für die Praxis und nicht stringent wissenschaftlich-systematisch nachgeht.

Dass die Betrachtung des religiösen Glaubens aus psychiatrischer und psychotherapeutischer, somit ärztlich-medizinischer Perspektive nur unter Einbeziehung der Erkenntnisse anderer Wissensdisziplinen wie vor allem der Religionswissenschaften und weiterer Kulturwissenschaften möglich ist, gehört zum Selbstverständnis dieses Bands innerhalb der Karl-Jaspers-Bibliothek. Somit sind als Adressaten vor allem die am Blick über die eigenen Fachgrenzen und Erfahrungen hinaus Interessierten angesprochen.

An dieser Stelle danke ich den Herausgebern Matthias Bormuth, Markus Jäger und Andreas Heinz wie auch dem Verlag sehr für das Vertrauen, einem Praktiker die psychiatrische Aufarbeitung religiösen Glaubens in eben der Karl-Jaspers-Bibliothek anzutragen. Mit Andreas Heinz verbindet sich neben langjährig freundschaftlich-kollegialer Zusammenarbeit bei innovativen Projekten zur sektorübergreifenden Verbesserung psychiatrischer Versorgung explizit auch seine langjährige Unterstützung des AK »Religion & Psychiatrie« wie z. B. auch seine Mitwirkung bei Moschee-Veranstaltungen im PIRA-Projekt.

Die Breite der angestrebten Betrachtung war trotz des eigenen Erfahrungshintergrunds mit über fünf Jahrzehnte gehender praktischer Tätigkeit in der nervenärztlich-psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung und den angesprochenen Aktivitäten im Spannungsfeld von Psychiatrie und Religion durchaus herausfordernd. Zu vielen religionsgeschichtlichen, anthropologischen und philosophischen Fragen sind die Beschreibungen und Standpunkte der Sicht und Gedankenwelt eines langjährigen Praktikers entsprungen; die fachlich-theoretische Untermauerung ist dementsprechend limitiert. Die unterschiedlichen Kapitel mit den vielen Einzelaspekten von der Evolution bis zu Fragen von Staat und Politik und dem Bereich der Kunst und Musik mögen einigen Lesern zu ausholend erscheinen; tatsächlich verbinden sich mit den geschilderten Aspekten aber fast immer auch konkrete Behandlungserfahrungen einzelner Menschen. Trotz der vielen behandelten Einzelaspekte und Themen blieben wichtige Bereiche ausgespart, worauf im Text gelegentlich hingewiesen wird. Auch fanden manch anregende Positionen und Konzepte und ihre Autoren keine Berücksichtigung, was der unvermeidlichen Umfangsbegrenzung dieses Bands und nicht mangelnder Wertschätzung geschuldet ist.

Die Berücksichtigung religiösen Glaubens in Psychotherapie und Psychiatrie und dessen adäquate therapeutische Validierung in Bezug zur Vielfalt und zum Wandel ist das zentrale Anliegen dieses Buchs. Dabei fällt unvermeidlich der Blick auch auf die grundsätzliche Glaubensbereitschaft resp. auch die Glaubensfähigkeit, die vom Autor als eine anthropologische Konstante gesehen wird. Es geht aus psychotherapeutischer Sicht um den Status quo und die Vorgeschichte. Die zukunftsgerichtete Dimension des Glaubenswandels kann lediglich in einigen Aspekten (wie Kap. 6.2 Prognose oder im abschließenden Kap. 17) angedeutet werden. Eine systematische Erörterung der divergenten Möglichkeiten zukünftiger Entwicklung erfolgt nicht. Jedoch: »Nichts ist so beständig wie Wandel«; dieser wechselnd Heraklit von Ephesus (535–475 v. Chr.) und Charles Darwin (1809–1882 n. Chr.) zugeschriebene Satz gilt grundlegend für die Geschichte des Lebens. Dem folgend können heute über die Bedeutung und Funktion religiös bzw. spirituell ausgestalteten Glaubens und ihrer Institutionen in 50, 100 oder gar mehreren Jahrhunderten keine Aussagen gemacht werden bis auf die schlichte Feststellung, dass sie nicht mehr die heutige sein werden.

Die Gliederung des Bands ist selbsterklärend: Nach dem Blick auf Geschichte, Tradition und deren Wandel (Kap. 1–5) geht es in den Kap. 6–10 um die Rolle von Religion in Staat und Gesellschaft und die Thematisierung religiöser Identität, wozu auch die Einzel-»Statements« unterschiedlich Gläubiger gehören. Im umfangreichsten und zentralen Teil (Kap. 11–16) wird das Religionsverständnis der Psychiatrie und Psychotherapie und ihr Verhältnis zum religiösen Glauben und zu Spiritualität untersucht. Dabei wird für stärkere, auch respektvolle Beachtung der religiösen Seite des Menschen und um Ambiguitätstoleranz geworben. Ein Experteninterview im Kontext der Arbeit des AK Religion & Psychiatrie mit Prof. Peter Antes dient der Vertiefung der religionswissenschaftlichen Aspekte dieses Buchs. Die Fotos in diesem Werk sollen die Fragen lediglich atmosphärisch untermalen.

Mein großer Dank geht an die psychiatrischen und psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen des Arbeitskreises Religion und Psychiatrie, an die Mitwirkenden der religionswissenschaftlich-psychiatrischen Kolloquien, die mit ihren so unterschiedlichen Erfahrungen das eigene Verständnis und das Bild vom Menschen und der Welt wesentlich mitgeprägt haben. Dies gilt auch für die Teilnehmer zahlreicher Qualitätszirkel speziell zur Thematik interkultureller Kompetenz wie auch dem therapeutischen Team des Gesundheitszentrums für Flüchtlinge http://www.gzf-berlin.org/, das aufzubauen mir gemeinsam mit den Mitstreitern von XENION Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e. V., und Dipl.-Psych. Sabrina Scherzenski in den letzten Jahren gegönnt war. Ich danke sehr herzlich allen direkt mit Beiträgen im Buch Beteiligten und ausdrücklich den psychiatrischen und psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen, Patientinnen und Patienten, Theologinnen sowie dem Imam Ender Cetin und dem Jesuitenpater Christoph Soyer für Durchsicht und Kommentierung einzelner Kapitel. Auch werden mir in diesem Kontext manche Waldspaziergänge durch den Grunewald und um die Seen Berlins in der »Corona-Zeit« unvergesslich bleiben. Meiner bibel- und lebenskundigen Ehefrau Viola danke ich für liebevolle Unterstützung und anregende Diskussionen. Anita Brutler vom Kohlhammer-Verlag danke ich für ihre hilfreiche Begleitung.

Über mehr als 50 Jahre sind Vielfalt und Wandel zentrale Phänomene der eigenen fachlichen Erfahrungswelt. Die persönlich überblickten Veränderungen sind enorm: von einer sich wandelnden, zunehmend multiethnischen Patientenstruktur über ein sich änderndes Krankheitsverständnis, einem gleichwohl diversem Patienten-Selbstverständnis bis hin zu sich ändernden fachlichen Sichtweisen, therapeutische Methoden und Versorgungsmöglichkeiten und nicht zuletzt einer sich politisch und gesellschaftlich-kulturell rasant ändernden Zeit.

Noch ein Hinweis zum Schluss: Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

1          Definitorische Vorbemerkungen zu Religion, Glauben und Spiritualität

 

 

Die Welt des religiösen Glaubens und der Weltanschauungen, der religiösen Gemeinschaften und Kirchen, der Religiosität und Spiritualität, der Sekten und des Aberglaubens ist vielgestaltig und facettenreich. Zur Vermeidung grober Missverständnisse erscheinen einige definitorische Vorbemerkungen, wie die Begriffe in diesem Buch verwandt werden, unverzichtbar. Einleitend geht es um die Abgrenzung der Begriffe Religion, religiöser Glauben, Religiosität und Spiritualität. Es ist von Bedeutung, dass es eine allgemeinverbindliche Definition von »Religion« seitens der Religionen selbst und auch seitens der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen nicht gibt; das macht deutlich, dass es bei der Religion und verwandten Begriffen um einen standpunkt- und kontextabhängig unterschiedlichen Verständigungsprozess und um Deutungen geht. Gut geeignet für eine in diesem Buch oft vergleichende resp. übergreifende Sicht der Religion resp. der Religionen erscheint die Definition von Peter Antes, dem langjährigen Präsidenten der International Association for the History of Religions. Antes begleitet den Berliner »Arbeitskreis Religion & Psychiatrie« seit erster Tagung in 2006. In seiner Definition von Religion weist Antes auf die Provenienz seiner aus dem christlich geprägten Kulturkreis hin und schreibt: Religion sei »seit der Aufklärungszeit eine übliche Bezeichnung für Weltanschauungen […], die verschiedene Dimensionen umfassen« (Lexikon des Dialogs 2016, S. 367). Es geht – so Antes – um

a.  »eine kognitive (z. B. Vorstellungen vom Universum und von der Welt, Wertesystem, Glauben an die Existenz des Übernatürlichen),

b.  eine affektive oder emotionale (d. h. religiöse Gefühle, Einstellungen und Erfahrungen),

c.  eine instinktive oder verhaltensmäßige (z. B. Riten und soziale Bräuche wie Opfer, Gebete, Zauberformeln, Anrufungen),

d.  eine soziale (z. B. Existenz einer Gruppe) und

e.  eine kulturelle (z. B. Abhängigkeit der Religion von Zeit und Raum, von dem ökologischen, sozialen und kulturellen Umfeld)« (ebd., S. 367, Hervorhebung im Original).

Die von Prof. Mehmet Kalayci (Islamisch-theologische Fakultät der Universität Ankara) in dem schon genannten Lexikon des Dialogs gegebene Definition von din (Religion) greift konkret auf Korantexte zurück; Kalayci schreibt: »Gott hat die Religion (din), auf die hin der Mensch von Natur aus angelegt ist […], in vollendeter Form geoffenbart […] und dabei den Gläubigen weder unlösbare Aufgaben noch Zwang auferlegt […]« (ebd., S. 368, Hervorhebung im Original). Din wird abgegrenzt von den Scharias, die die praktische Umsetzung der grundlegenden metaphysisch-ethischen und unveränderbaren Prinzipien von din in je Gemeinschaft unterschiedlicher und veränderbarer Weise vorgeben (vgl. ebd., S. 368–369).

Die hier deutlich werdende starke Kontextabhängigkeit der Definitionen gilt grundsätzlich auch für das Selbstverständnis anderer Religionen. Dies ist ebenso für den Begriff »Glauben« zu berücksichtigen. Darauf weist der Berliner Religionswissenschaftler Hartmut Zinser kritisch hin, »wenn wir außereuropäische nichtchristliche Religionen Glauben nennen, auch wenn in diesen von Glauben nicht die Rede ist, sie sich selber vielmehr als Einsicht in Wahrheiten (Buddhismus) oder als Erfüllung der Pflichten gegenüber den Göttern (römische Religion) oder als Unterwerfung unter Gottes Willen (Islam) ansehen« (Zinser 2000, S. 5).

Aufgrund unterschiedlicher Definitionen bestehen anhaltend unterschiedliche Auffassungen, welcher Bewegung, welchem geschichtlichen, gesellschaftlichen Phänomen überhaupt die Zuschreibung »Religion« zugestanden wird; markantestes Beispiel ist wohl der Konfuzianismus, der ohne Gottesvorstellung und ohne Jenseits auskommt. Unter dem nicht nur ökonomisch wichtigen Aspekt der rechtlichen Stellung und staatlicher Privilegien religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften ist in Deutschland die staatliche Anerkennung der Bezeichnung »Religionsgemeinschaft« auf Antrag (also entsprechend der Selbsteinschätzung) hin bedeutsam; Voraussetzung einer Anerkennung ist u. a., dass Kriterien wie »Einheit des Bekenntnisses«, »geistiger Gehalt«, »Gefügtheit« u. ä. erfüllt sind (vgl. hierzu Rademacher 2003, S. 603 ff.). Das ist nicht ganz konfliktfrei, da die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit eine inhaltliche Prüfung ja untersagt, worauf hier nur hingewiesen sei.

»Der religiöse Glaube« dient diesem Buch als Titelgeber auch als inhaltliche Ausrichtung, da er auf den persönlichen Glauben als psychologisches Phänomen fokussiert. Er korrespondiert mit der formalen oder auch nur inneren Zugehörigkeit zu einer Religion in der oben wiedergegebenen Definition von Antes. Unterschieden wird, wie in Kap. 8 näher ausgeführt, u. a. zwischen dem persönlichen und dem kollektiven religiösen Glauben.

Spiritualität, früher im Christentum oftmals als »Frömmigkeit«, im Islam und anderen Religionen u. a. auch als »Geistigkeit« verstanden, hat seine Herkunft nicht nur in den traditionellen großen Religionen, sondern auch in vielen religiösen Bewegungen der letzten Jahrzehnte. So wird Spiritualität von esoterischen Spezialanschauungen als Inhalt in Anspruch genommen wie der Begriff auch als Marketingprodukt auf dem Sinngebungsmarkt fungiert. Eine humanistische Spiritualität ohne Transzendenzbezug, die z. B. der Dalai Lama vertritt (mit grundlegenden menschlichen Werten wie Güte, Freundlichkeit, Mitgefühl und der liebevollen Zuwendung) sowie eine säkularisierte Spiritualität wie sie der Philosoph Thomas Metzinger mit seinem Konzept von »Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit« (Metzinger 2014) propagiert, erweitern den Begriff hin zu einem Sammelbegriff, dessen Aussage zunehmend unspezifisch erscheint.

Andererseits hat der Begriff mit diesem sehr weit gefassten Verständnis aber Eingang auch in Resolutionen der Weltgesundheitsorganisation gefunden. »Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO 1998) ist dagegen jeder Mensch spirituell, weil er sich spätestens angesichts des Todes existenziellen Fragen stellen muss. […] Heute wird das Konzept Spiritualität weltweit als wichtiger Faktor für gesundheitliches Wohlbefinden angesehen und dient als anthropologische Kategorie, um die existenzielle Lebenshaltung insbesondere in Grenzsituationen zu beschreiben. Spiritualität kann als die Bezogenheit auf ein größeres Ganzes definiert werden, die inhaltlich entweder religiös (›Gott‹), spirituell (›Energie‹) oder säkular (›Natur‹) gefüllt wird« (Utsch 2020a, S. 53). Dieses Verständnis korrespondiert mit einem Statement von Albert Einstein zur Religiosität, was nun wiederum die begrifflichen Überschneidungen spiegelt, aber inhaltlich ob der poetischen Dimension dieses Genies der Naturwissenschaft zitiert sei: »Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder. Zu empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unseren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erreicht, das ist Religiosität. In diesem Sinne bin ich religiös« (Einstein 1932).

Die beschriebene Unschärfe der Definitionen und ausdrückliche Kontextbindung kann nicht als Spezifikum des religiösen Bereichs angesehen werden; offenkundig ist sie auch als Ausdruck kategorial eben nicht unumstößlich präzise erfassbarer Phänomene der existenziell-essenziellen Wirklichkeit des Menschen anzusehen. So sollte sie nicht als Unzulänglichkeit oder gar Fehler missinterpretiert werden; bei allem wichtigen Bemühen um präzise Sachverhaltsbeschreibungen sollte das Verständnis von Unschärfe gerade als Ausdruck adäquater und souveräner Situationserfassung angesehen werden. Auch im Psycho-Bereich geht es nicht viel anders, wenn man auf die unterschiedlichen Verstehenskonzepte der Psychotherapie mit kaum noch vollständig erfassbarer Differenzierung der verschiedenen Psychotherapierichtungen wie auch der Psychiatrie und Psychosomatik mit ihren unterschiedlichen Blickwinkeln (biologisch, sozial, ethnologisch, kulturell, neurobiologisch, somatopsychisch u. a. m.) schaut. Auf die unterschiedlichen Standpunkte aus psychotherapeutischer und psychiatrischer Perspektive und die Konzeptunterschiede der unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen wird nicht explizit eingegangen; sie werden vielmehr als sich in ihren Perspektiven ergänzend und weniger als konkurrierend verstanden.

2          Überlegungen zur Entstehung religiösen Glaubens

 

 

2.1       Primus in orbe deos fecit timor

Die Frage nach dem Anfang, dem Ur-sprung und der frühesten Entwicklung von Religion ist wie die Frage nach der Entstehung (der »Schaffung«), dem Anfang und der frühen Entwicklung der ersten Menschen unverändert herausfordernd und hochspannend. »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?« so beginnt Thomas Mann seine berühmte Tetralogie »Joseph und seine Brüder« und nennt sein Vorspiel mit dem Abriss babylonischer, ägyptischer und biblischer Geschichte »Höllenfahrt«. Seine erklärte Absicht: »im Geist der Ironie das Wesen des Menschen in seinen mythischen Anfängen zu erkunden« (Mann 1954, S. 5). Es sind die großen Mythen der Menschheit, die sich – zumeist verknüpft mit der Entstehung der Welt und des Menschen – auch mit der Entstehung der Religionen befassen. Gründungsmythen haben über alle Zeit hinweg als sinnstiftende, das Menschheitswissen komprimierende und transportierende Erzählungen gesellschaftlich eine nicht zu ersetzende Bedeutung und behaupten ihre Wirkmächtigkeit in den unterschiedlichen Kulturen und Erdteilen bis heute.

Hier geht es erstmal um einige historische Fakten; denn der Nebel um den Auftritt des Homo sapiens vor gerademal ca. 200.000, nach neuesten Funden und Einschätzungen 300.000 Jahren (Djebel Irhoud, Marokko) in unserem viele Milliarden Jahre alten Kosmos beginnt sich seit etwa 200 Jahren zu lichten. Mit Charles Darwins Evolutionslehre über die Entstehung der Arten im 19. Jahrhundert und der nachfolgenden u. a. molekulargenetischen Forschung des 20./21. Jahrhunderts kann wissenschaftlich bekanntermaßen heute nicht mehr bestritten werden: Im Zusammenspiel mit umweltinduzierten Selektionsprozessen vergrößerte sich das Gehirn unserer affenähnlichen Vorfahren über Millionen von Jahren bis hin zur Fähigkeit des aufrechten Ganges (»homo erectus«). Mit der immer differenzierteren Nutzung der Hände wie auch der Ausbildung eines differenzierten Kommunikationsorgans, des Kehlkopfs, zeigte sich – nach weiteren Entwicklungsstufen – schließlich in Afrika »Homo sapiens«, der wissende Mensch. Nicht wenige Details der Entwicklung sind weiter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Diskussion. Belegt ist ein migrantischer Grundzug des Homo sapiens, wenngleich er später sesshaft wurde. Allein die Schnelligkeit seiner Besiedlung der aus afrikanischer Sicht restlichen Welt ist beeindruckend. Diese ersten Wanderungsbewegungen der modernen Menschen von Afrika nach Europa und Asien, später dann auch in alle weiteren Kontinente, sind mittlerweile relativ klar, da sie durch genetische Marker im Y-Chromosom heute lebender Menschen rekonstruiert werden können.

Menschheitsgeschichtlich ist davon auszugehen, dass gemeinsame Vorstellungen von der eigenen Person, dessen Lauf von Geburt bis zum Tod sowie von der Belebtheit der umgebenden Welt und damit verknüpfter Bedeutungskonstruktionen an zumindest basale Formen sprachlicher Verständigung und an soziale Strukturen gebunden waren. Überhaupt ist die Entstehung religiöser Vorstellungen und kultischer Handlungen nur als ein soziales und nicht individuelles Phänomen denkbar. Dies gilt für die Bedeutungssetzung wie natürlich die sich daraus ergebenden frühen gemeinschaftlichen Handlungsweisen wie z. B. Bestattungen. Diese liegen zeitlich zwischen 120.000 v. u. Z. und 37.000 v. u. Z. und werden als die ältesten bekannten, kultisch-religiös motivierten Handlungen zusammengefasst. Die Erforschung des sozialen, kulturellen Lebens der frühen Menschen beruht vor allem auf klassisch archäologischen Funden, die mit modernster, vor allem radiologischer Technik auf Alter, Herstellungsmodus, (Ab-)Nutzung untersucht werden. Auch tragen entwicklungspsychologische, kognitionswissenschaftliche oder auch neurobiologische Forschungen zu immer komplexer werdenden Vorstellungen von der Entwicklung der Religion bei. Simple Analogieschlüsse aufgrund von Vergleichen mit heutigen Naturreligionen bzw. ethnischen Religionen, die zuvor aufgrund ihrer angeblichen »Primitivität« lange für die ältesten Formen von Religion gehalten wurden, werden heute von den meisten Religionswissenschaftlern abgelehnt; diese schriftlosen Religionen sind aufgrund der nicht vorhandenen Dogmen und ihrer großen Anpassungsfähigkeit allesamt jünger als Schrift-Religionen. Andererseits gehen jede Befundinterpretation und spekulative Theorieformulierung auch von der motivationalen, emotional-affektiven wie kognitiven Gegebenheit aus, wie wir sie heute bei uns Menschen in den unterschiedlichen sozial-kulturellen Kontexten anfinden. Allerdings fehlen für diesen frühen Prozess der Menschheitsgeschichte die theoriebelegenden Texte.

Mit dieser Einschränkung erscheint die Feststellung, dass mit verfeinerten Bestattungsformen in der jüngeren Altsteinzeit (ca. 40.000–11.500 v. u. Z.) erste Jenseitsvorstellungen verknüpft sind, relativ belastbar, wie auch die in dieser Zeit entstandenen Höhlenmalereien (Funde bis dato vor allem in Südfrankreich, Nord-Spanien sowie Indonesien, Australien, auch Afrika) religiöse Interpretationen zulassen. Dies gilt auch für die Skulpturen; sehr häufig sind Frauenskulpturen, die Interpretationen als (Mutter-)Göttinnen und als Symbole von Fruchtbarkeit und des Kreislaufs des Lebens gefunden haben. Zu den komplexen Diskussionen in der Religionswissenschaft inkl. der unterschiedlichen Interpretationsmodelle vorliegender Befunde sei verwiesen auf die ausführliche interdisziplinäre Darstellung »Götter, Gene, Genesis« (Wunn et al. 2015). Als eine zentrale Botschaft unterstreichen die Autoren, dass »die Religionsentwicklung durch das Paradox gekennzeichnet ist, dass ihr Verhaltensmuster zugrunde liegen, die verhaltensbiologisch teils sehr viel älter sind als der Mensch« (ebd., S. VII). Sie führen u. a. die Verteidigung des eigenen Territoriums als Lebensgrundlage an. Die Allgegenwärtigkeit des Todes und eine bedrohliche Umwelt sind zudem der Hintergrund für die »kulturgenerierende Bedeutung von Angst und Angstbewältigung« (ebd., S. 22). Sie verweisen auf die »Notwendigkeit existentielle Ängste zu bewältigen, als Motor für die Entstehung von Religion« (ebd. S.26) und zitieren den berühmten Ethnologen Bronislaw Malinowski (1884–1942): »Von allen Ursprüngen der Religion ist das letzte Grundereignis – der Tod – von größter Wichtigkeit« (ebd., S. 26). Bereits 1988 wies der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser auf die religionspsychologisch viel zu wenig berücksichtigte »bereits in der Antike bekannte Überlegung, primus in orbe deos fecit timor1« (Zinser 1988, S. 105) hin, die ja auf Psychisches verweist, »indem in dieser Überlegung die Angst, sowohl de facto die Angsterzeugung, als auch das Versprechen der Angstbewältigung ins Zentrum der Religion gerückt ist« (ebd., S. 105).

2.2       Entstehung und Bedeutung des Ritus – der sakrale Komplex I

Angst und Angstbewältigung stehen auch am Beginn der Entwicklung ritueller Handlungen und den damit korrespondierenden Narrativen, den Mythen. Die Fülle der Literatur zu diesem Thema ist geradezu unübersehbar. Aufgrund seiner umfassenden und in seinen Schlussfolgerungen für einen Psychiater/Psychotherapeuten der Praxis gut nachvollziehbaren kulturgeschichtlichen Analyse wird nachfolgend immer wieder auf das zweibändige große Alterswerk Jürgen Habermas’ »Auch eine Geschichte der Philosophie« Bezug genommen; Habermas bezieht sich mit seinem klaren philosophisch-kulturanthropologischen Anspruch häufig auf Karl Jaspers und setzt sich mit seinen Thesen kritisch auseinander. Im 1. Band »Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen« seines grundlegenden Werkes (Habermas 2019) hat er umfänglich die »sakralen Wurzeln« und die prähistorischen Weltbilder und den »Weg zur achsenzeitlichen Transformation des religiösen Bewusstseins« (ebd., S. 175–306) untersucht; von ihm stammt auch der Begriff des sakralen Komplexes. Habermas fragt, worin das »exclusiv Eigene der Religion« besteht (ebd., S. 189), und konstatiert: »Das nachmetaphysische Denken neigt dazu, das der Religion eigentümliche, für ein religiöses Weltverständnis konstitutive Moment zu verfehlen, solange es nur die kognitiven Strukturen in den Blick nimmt […]. Diesem Blick entgleitet der sakrale Komplex, der sich keineswegs nur aus […] Lehrinhalten zusammensetzt, sondern eben auch aus dem gemeinschaftlichen rituellen Vollzug der existenziell gelebten Glaubensinhalte« (ebd., S. 192).

Dem Ritus schreibt Habermas einen »nachvollziehbaren intrinsischen Sinn« für die beteiligten Gläubigen zu, »ganz unabhängig davon, welche Funktion ihm aus Beobachterperspektive zugeschrieben werden kann« (ebd., S. 192). Er nimmt eine »Durkheim’sche Beobachtung, dass alle bekannten Kulturen unmissverständlich zwischen sakralen und profanen Handlungsweisen und entsprechenden Lebensbereichen unterscheiden« (ebd., S. 194) auf und formuliert als Entstehungshintergrund die Hypothese, dass, »wenn das gesellschaftliche Kollektiv durch unerwartet unbeherrschbare Umstände in Krisen stürzt oder der Einzelne an Bruchstellen des Lebenszyklus aus dem Gleichgewicht gerät«, er auch ggf. »rettende Prozesse« erfahren kann (ebd., S. 196 f.). »Beide Elemente, die ohnmächtige (!) Erfahrung der rettenden (!) Befreiung aus einer vernichtenden (!) Gefahr spiegeln sich im ambivalenten, gleichermaßen von Schrecken wie Ehrfurcht geprägten Modus des Umgangs mit sakralen Gewalten« (ebd., S. 197). Hier setzt nach Habermas der »Glauben an das Walten sakraler, die jeweils eigenen menschlichen Kräfte transzendierender Mächte« ein (ebd., S. 198). Der zur Abwehr der Bedrohung und Erzielung von Rettung gebildete Ritus, die kultische Handlung, fördert Abstand zur Bedrohung und dient mit der praktischen Handlung »die verlorene Fassung zurückzugewinnen« (ebd., S. 198). So gesehen basiert die religiöse Sinngebung auf dem Bewusstsein der »Befristung« unserer Lebenszeit und der »Erschöpfbarkeit« der physischen, materiellen und kulturellen Lebensressourcen. Somit ist die Erschütterbarkeit (früh-)menschlichen Lebens der zentrale Erfahrungshintergrund, der affektiv vor allem mit Angst verbunden ist. Der Ritus entwickelt sich im stufenlosen Lernprozess der frühen Menschen und hat – unabhängig auch von begleitender Narration – einen den Zusammenhalt der Gruppe stärkenden Einfluss.

Nicht erst die moderne Psychologie weiß: Angst gehört zum Leben eines jeden Menschen. Mechanische Angstlosigkeit galt schon Aristoteles als Tumbheit. Heute wird Angstlosigkeit psychopathologisch als Unfähigkeit zu situationsadäquater Emotionsgenerierung verstanden; anderseits ist Angst über explizit klassifizierte Angststörungen hinaus auch wesentliches Begleitsymptom fast aller psychischen Erkrankungen. Angst zählt neben Freude, Liebe, Trauer, Wut, Schuld, Scham zu den Grundgefühlen, die den Menschen sein gesamtes Leben hindurch begleiten. Angst ist eine elementare Emotion des menschlichen Organismus, die in ihrer psychovegetativen, psychosomatischen und psychomotorischen Erregungsdynamik als eine anthropologische Grundgegebenheit verstanden werden kann. Kampf- und Fluchtreflexe, auch Erstarrung erscheinen als die basalen Reaktionsweisen; die gemeinsame Angstabwehr gegen äußere Bedrohung gilt noch heute als gesellschaftliche Maxime und verlängert kulturell in mannigfacher Ausprägung eine der frühesten Sozialhandlungen des Menschen. Die Lebenswirklichkeit des heutigen im Gegensatz zu früher mehr als doppelt so alt werdenden Menschen, ist – vor allem im seit Jahrzehnten erstmals in Frieden lebenden Mitteleuropa – weitaus weniger Alltagsbedrohungen ausgesetzt als es unsere frühen Vorfahren waren. Dass dennoch Angststörungen in den heutigen, zunehmend individualisierten Gesellschaften zu den häufigsten psychischen Störungen/Erkrankungen überhaupt gehören, ist ein wichtiges Thema der Psychiatrie und Psychotherapie.

Mit der skizzierten Bedeutung der Angst in heutiger Zeit korrespondiert, dass Fritz Riemanns tiefenpsychologische Studie von 1961 »Grundformen der Angst« wohl zu den meist gelesenen psychologischen Fachbüchern der vergangenen Jahrzehnte in nunmehr 45. Auflage zählt. Er schreibt in seiner Einleitung: »Es bleibt wohl eine unserer Illusionen zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinander zu setzen, sie immer neu zu besiegen« (Riemann 1978, S. 7). Ein luzides Update des Riemann’schen Konzepts mit präziser Beschreibung der evolutionsbiologischen (überlebenswichtigen) Voraussetzungen und der heute gut belegbaren neurobiologischen Prozesskaskaden hat Franziska Geiser (2013) vorgestellt. Sie geht über enge von den Psychotherapieschulen gesetzte Interpretations- und Therapievorschläge hinaus. Sie hebt hervor und begründet, dass Angst nicht nur Blockierung und Erstarrung bedingt: »Angst ist nicht nur ein wichtiger gesellschaftlicher Kitt, sie ist auch eine wichtige Voraussetzung dafür, andere lieben zu können« (ebd., S. 9). Sie spricht sogar von einer möglichen »Trittstufe zum Glück« (ebd., S. 9), wenn die Angst anerkannt wird und der von ihr Betroffene sich ihr stellt. Bemerkenswert ist Geisers Bezugnahme auf den dänischen Theologen Sören Kierkegaard, dessen 1844 erschienenes philosophisch-theologisches Essay »Der Begriff Angst« (Kierkegaard 2020) für die Existentialphilosophie mitbegründend wurde. Seine christlich dogmatischen orientierten Schlussfolgerungen kann Geiser zwar nicht nachvollziehen, aber: »Dennoch spricht mich sein Bild, dass Angst zur Erstarrung führen kann, man aber auch durch die Anerkennung der Angst zur Freiheit findet, sehr an, und ob man dabei den Sprung in den Glauben wagt oder […] den Mut zum Sein findet, mag jedem selbst überlassen bleiben« (Geiser 2013, S. 9).