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In der modernen Medienlandschaft mit ihrer Tendenz zur Personalisierung und zum Storytelling ist es unabdingbar, die Reportage und das Feature gleichermaßen zu beherrschen. Die Autoren stellen deshalb die beiden großen erzählerischen Darstellungsformen erstmals gleichberechtigt nebeneinander. Dies ist umso wichtiger, als das Feature in der Literatur bisher stets marginalisiert und allenfalls ansatzweise theoretisch aufbereitet wurde. Ein historischer Aufriss legt zunächst die Wurzeln der Formen frei, zeigt ihre Verwandtschaft, aber auch ihre Eigenheiten: Die Anfänge der Reportage können im Wesentlichen gedeutet werden als journalistische Antwort auf den frühen Film, das Feature als Antwort auf die Markteinführung des Zoom-Objektivs in der Fotografie. In den beiden unabhängig voneinander lesbaren Teilen werden dann Reportage und Feature parallel entwickelt: Zunächst wird geklärt, welche Themen sich für die jeweilige Form eignen, anschließend werden detailliert die Recherchewege gezeichnet, ehe es im Kapitel 'Schreiben'" um sprachliche Standards und Spezifika geht. Zahlreiche Beispiele zeigen die regelkonformen Muster ebenso wie kreative Ausnahmen. Anhand der Analyse von drei preisgekrönten Reportagen und exemplarischen Features werden die dargestellten Aspekte noch einmal überprüft und nachvollzogen. Interviews mit Experten beider Genres geben zudem Einblick in die journalistische Praxis.
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Seitenzahl: 359
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Christian Bleher studierte Germanistik und Philosophie. Er war sieben Jahre lang Redakteur bei der Nachrichtenagentur »Sport-Informations-Dienst« (sid) und arbeitete acht Jahre für die »Süddeutsche Zeitung«. Seit 1995 unterrichtet er hauptberuflich als freier Dozent an Journalisten-schulen, Akademien sowie in Verlagen und Unternehmen.
Peter Linden studierte Germanistik und Romanistik und arbeitete acht Jahre als Redakteur bei der »Süddeutschen Zeitung«. Seit 1995 unterrichtet er hauptberuflich an Journalistenschulen und Akademien sowie in-house bei Verlagen und Unternehmen. Er publiziert regelmäßig zu journalistischen Textformen und über Sprache im Journalismus.
1 Filmen mit Wörtern
Peter Linden
TEIL 1: DIE REPORTAGE
2 Themen
2.1 Königsdisziplin als Königsweg?
2.2 Kreative Themensuche
2.3 Das Porträt als Reportage
3 Planung und Recherche
3.1 Der Cast
3.1.1 Sonderfall Ich-Autor
3.1.2 Sonderfall nicht menschlicher Cast
3.2 Szene und Story
3.2.1 Sonderfall Ortsbegehung
3.2.2 Sonderfall Homestory
3.2.3 Sonderfall Protokoll
3.2.4 Sonderfall Inszenierung
3.2.5 Sonderfall Zufall
3.3 Fakten, Hintergründe, Details
4 Schreiben
4.1 Sichtung des Materials
4.2 Dramaturgie
4.2.1 Plot
4.2.2 Sonderfall Kaleidoskop
4.2.3 Sonderfall Mischformen
4.3 Sprache und Stil
.
5 Dichtung und Wahrheit
6 Textanalysen
6.1 »Der Überfall« (Zeit-Magazin)
6.2 »Assads blutendes Antlitz« (FAZ)
6.3 »Im Namen des Volkes, auf Kosten des Kindes« (Hamburger Abendblatt)
7 Die Zukunft der Reportage
7.1 Interview mit Daniel Puntas Bernet
7.2 Interview mit Stefan Plöchinger
Christian Bleher
TEIL 2: DAS FEATURE
8 Themen
8.1 Über die Nachricht hinaus
8.2 Definitionen
8.3 Drei Erzählweisen im Vergleich: Bericht, Reportage, Feature
8.4 Der Themendreh
8.5 Richtige Themen, falsche Themen
8.6 Themenlieferanten
9 Planung und Recherche
9.1 Die These
.
9.2 Das Casting
9.3 Sonderfälle
10 Schreiben
10.1 Struktur
10.1.1 Einstieg
.
10.1.2 Das Portal
.
10.1.3 Der Hauptteil
10.1.4 Der Schluss
10.2 Die Dramaturgie
10.3 Sprache und Stil
10.4 Sonderformen
11 Textanalysen
11.1 »Sie ahnten nichts Böses« (TAZ)
11.2 »Spielend heilen« (P. M. Magazin)
11.3 »Die neue Offenheit der Top-Manager« (Wirtschaftswoche)
12 Das Feature im Gespräch –
Interview mit Joachim Lachmuth, Redakteur der »Sendung mit der Maus«
Literatur
Index
Wer kennt die besten Nachrichtenschreiber im Lande? Niemand. Wer die besten Kommentatoren? Ein paar Experten unter den Journalisten. Sobald aber nach den besten Reportage-Autoren gefragt wird, fallen Dutzende von Namen, und nicht nur Medienschaffende können ihre Favoriten nennen. Der Grund ist ein einfacher: Während Nachrichtenschreiber und Kommentatoren allein unsere Ratio füttern, uns verstehen lassen, was geschehen ist und wie es einzuordnen sei, vermögen es Reporter, auch unsere Emotio zu erreichen. Wir fühlen mit jenen, über die wir lesen, und wir verstehen nicht nur, wir erleben auch, was ihnen widerfahren ist.
Bedeutung und Ausmaß des narrativen Schreibens wachsen und werden beschleunigt durch die visuellen Medien: Unsere Sehgewohnheiten bestimmen und verändern unsere Lesegewohnheiten. Eine der wichtigsten historischen Marken ist hierbei das Jahr 1895. Damals wurde in einem Pariser Café der womöglich erste Film der Geschichte gezeigt: ein 48 Sekunden langer Dokumentarfilm über die Ankunft eines Zuges im französischen Provinz-Bahnhof von La Ciotat. Die Lok dampft klavierbegleitet durchs Bild, der Zug hält an, ein paar Menschen steigen aus, ein paar Menschen steigen ein, dann ist der Film vorbei. Das war sehr aufregend, damals. Gedreht hatten den Film die Brüder Louis und Auguste Lumière.
Im Sog dieser medialen Revolution entsteht im Print-Journalismus eine neue Darstellungsform. Bis 1895 ist der Journalist nahezu immer Chronist, einer, der aus der Distanz Fakten aufzeichnet und diese in den Zeitungen niederlegt. Zwar gab es auch in der Zeit vor 1895 Texte, die formal die Bedingungen an eine Reportage erfüllen. Stets aber beschrieben diese Texte Vorgänge, die sich anders nicht hätten beschreiben lassen; wenn etwa Entdecker auf ihren Reisen Tagebuch führten oder Journalisten in kindlicher Faszination über das Gelände einer Weltausstellung spazierten. Viele dieser Texte stammten von Schriftstellern wie Emile Zola, die als Grenzgänger und Vorboten der neuen Ära in den Journalismus hineinwirkten.
Mit jenem magischen Moment im Jahr 1895 entsteht jedoch auch bei Chronisten und Berufsjournalisten das Bedürfnis, selbst trockene Fakten und Zahlen in bewegte Bilder zu übertragen und diese Bilder mittels einer kraftvollen und bildreichen Sprache zu transportieren. Deshalb ist dieser erste Film die wahre Geburtsstunde der Reportage. Fortan versuchen Reporter in aller Welt, in bewegenden Texten darzustellen, was der Film in bewegten Bildern zeigt. Sie besuchen Fabriken, um die Folgen der industriellen Revolution zu illustrieren. Sie gehen auf Ozeandampfer, um die menschlichen Hintergründe der gigantischen Auswanderungswelle aus Europa zu beleuchten. Und natürlich steigen sie später im Ersten Weltkrieg auch in die Schützengräben und schildern so den Krieg erstmals in seiner wahren Grausamkeit: aus der Innenperspektive Betroffener, nicht aus der Außenperspektive vermeintlich objektiver Journalisten.
Was uns die Kollegen von damals voraushaben, sind die Umstände ihrer Zeit: Der Film steckt in seinen Anfängen, seit wenigen Jahren erst sind Fotografien reproduzierbar und druckbar. Es gibt kein Fernsehen und nichts, was dem heutigen Massentourismus ähneln würde. Mit der Folge, dass für fast jeden Menschen auf dieser Welt fast jeder Ort auf dieser Welt Terra incognita ist. Also jeder Ort, den ein Egon Erwin Kisch oder ein Emile Zola besuchen und in den Zeitungen beschreiben. Die Menschen dürsten nach Bildern, nach bewegten Bildern, nach realen wie nach sprachlichen. Genau deshalb feiern die Reportage und die Reporter damals ihre frühen und vielleicht ihre größten Erfolge. Wo auch immer die Reporter sich hinwenden, sie kehren zurück mit sensationellen Eindrücken. Im Wortsinne: sensationell, zu Gefühlen hinreißend.
Es dauert nicht wirklich lange, dann sind die meisten Städte, Länder, Fabriken, Bergwerke, Gefängnisse, Krankenhäuser, Ozeandampfer, Kriegsschauplätze und Naturlandschaften dieser Welt beschrieben, und die Reportage verliert wieder etwas an Bedeutung. Was jedoch bleibt, ist die Erkenntnis: Die Reportage ist die kraftvolle Antwort des Printjournalismus auf den Film. Sie war und ist eine Art Filmen mit Wörtern.
Auch das Feature, die zweite journalistische Darstellungsform, die sich erzählerischer Mittel bedient, stellt in gewisser Weise eine Antwort auf den Film (und die inzwischen weit verbreitete Fotografie) dar. In der Regel beginnt ein journalistisches Feature mit der szenischen Schilderung eines Einzelfalls, um, sobald dieser beschrieben ist, zu sagen: So wie dieser Mensch handeln, arbeiten, fühlen, leiden viele. Oder, um mit dem Klassiker aller Feature-Sätze fortzufahren: »Dieser Mensch ist kein Einzelfall.« Erst dann, am Anfang des zweiten, dritten oder gar vierten Absatzes seines Texts, beginnt der Autor, sich der Nachrichtenlage, den Fakten und den Zitaten von Experten zuzuwenden.
Darstellungsformen im Vergleich
Diese Form, Berichte aufzuwerten, gewinnt in den Printmedien Ende der 1950er- Jahre an Bedeutung. Und zwar unmittelbar nach der Einführung der ersten Zoomobjektive auf dem Massenmarkt. Stellvertretend sei hier das Zoomar 2,8/ 36–82 von Voigtländer aus dem Jahr 1959 genannt. Das neue Objektiv erlaubt es einem Fotografen oder Kameramann, sich ohne Veränderung seiner Position einem Geschehen anzunähern oder einzelne Personen oder Aspekte zu fokussieren, ehe er sich in die gewöhnliche Halbtotale oder Totale des Nachrichtenschreibers zurückbegibt.
Das Feature ist das printjournalistische Pendant zu diesem technischen Trick. Der schreibende Journalist bedient sich fortan auch dann erzählerischer Sprache, wenn er die Mühen eines Reporters scheut und womöglich keine Zeit hat, weite Strecken zurückzulegen. Vor allem aber, wenn er das Ziel verfolgt, komplexe Zusammenhänge zu erklären und zu veranschaulichen. Er muss dann jene symptomatischen Einzelfälle aufspüren, die für das Ganze stehen, muss also wissen, worauf es sich lohnt, sein virtuelles Zoomobjektiv zu richten. Und er muss in der Lage sein, die so entstandenen Bilder präzise und zielführend einzusetzen.
Es gibt, wenig verwunderlich, auch im Aufbau von Texten eine klare Korrelation zu den Entwicklungen im Film. Im erzählerischen Journalismus wird immer weniger versucht, Geschehnisse chronologisch niederzuschreiben. Stattdessen arbeiten Journalisten mehr und mehr mit dramaturgischen Mitteln. Sie beginnen mit dem Wendepunkt einer Geschichte. Sie beginnen mit dem Höhepunkt einer Geschichte. Sie beginnen mit dem Ende einer Geschichte. Selbst ein banaler »Spielbericht« aus der ersten oder zweiten Fußball-Liga beginnt selbstverständlich nicht mehr mit dem Anpfiff um 15.30 Uhr, sondern mit der Schlüsselszene eines Spieles: einem Foul, einem Platzverweis oder einer taktischen Umstellung. Wir erleben, dass die Art, wie Film und Fernsehen Stoffe aufbereiten, im Printjournalismus kopiert wird. Geschichten werden nach erzählerischen Kriterien gestaltet und nicht mehr einfach nacherzählt.
Hinzu kommt eine Veränderung der Sprache. Die Menschen erfahren heute fast alles zuerst über visuelle Kanäle. Dabei legen sie von klein auf einen enormen Bildervorrat zu praktisch jedem Thema an, der jederzeit im Gedächtnis abrufbar ist. Wenn ein Autor heute »Paris« oder »Eiffelturm« schreibt oder »Atomkraftwerk« oder »Kreuzfahrtschiff« oder »Mount Everest« oder was auch immer – beinahe jeder Begriff wird sofort Bilder und Assoziationen auslösen. Anders als 1895 haben die meisten Menschen praktisch jeden Ort dieser Welt schon einmal besucht. Nicht unbedingt persönlich als Reisende, aber eben doch als Betrachter im Kino, im Fernsehen, im Internet, auf den Fotostrecken von Zeitschriften und Zeitungen. Die Folgen sind nicht nur für die deutsche Sprache sehr genau zu beschreiben: Die Sätze heute sind um fünf bis sechs Wörter kürzer als vor 100 Jahren. Ein Verlust, der eben nicht zurückzuführen ist auf die viel zitierte Verarmung der Sprache, welche Sprachpäpste jeden Alters nimmermüde geißeln. Nein, er hat vor allem zu tun mit einer Explosion der visuell-assoziativen Mitarbeit der Leser. Moderne Leser können auf jedes Stichwort hin so viel mehr abrufen als ihre Vorfahren, und sie brauchen entsprechend weniger explizite Ausarbeitung von visuellen und anderen sinnlichen Eindrücken. Wenn wir zu ausführlich formulieren, wenn wir Sätze schreiben, wie man sie vor 100 Jahren geschrieben hat, diese wunderschönen literarischen Sätze, dann wird sich der Leser relativ schnell langweilen, weil er sich unterfordert fühlt. Gehirn- und Leserforschung gewinnen derzeit immer mehr Klarheit darüber, wie sehr der Konsum visueller Medien beeinflusst, auf welche Weise Menschen Texte lesen. Und welche Art von Texten sie lesen wollen.
Es ist deshalb kein Wunder, dass im Printjournalismus in Zeiten des Sparzwangs und der Krise dennoch über eine Stärkung der Reportage, über eine Stärkung des »narrativen Schreibens« nachgedacht wird. Viele Inhalte lassen sich nicht in 40, 50 oder 60 Zeilen darstellen. Und es reicht auch nicht, die assoziative Mitarbeit der Leser allein durch intelligente Grafiken oder über Fotografie zu stimulieren. Aus der Leserforschung geht deutlich hervor, dass Leser Texte, die das Kino im Kopf in Gang setzen, häufiger und ausführlicher lesen als andere Texte. Aus der Leserforschung geht hervor, dass Texte, die über längere Passagen hinweg statisch geschrieben sind, stark an Lesern verlieren. Statik bedeutet Nominalstil, aber vor allen Dingen eine Dominanz statischer Verben wie »sein«, »sich befinden«, »sorgen für«, »durchführen«. In anderen Worten: Je weniger erzählerische Qualität ein Text hat, umso mehr verliert er an Faszination.
Aus der Leserforschung geht zudem hervor, dass die Länge von Texten nicht grundsätzlich abschreckend wirkt. Die besten Lesequoten erzielten bei zahlreichen Untersuchungen ausgerechnet Reportagen. Die Leser verweigern sich nicht, weil etwas lang ist: Sie verweigern sich, wenn etwas langweilig ist. Langweilig sind Texte, wenn sie statisch sind. Langweilig sind lange Texte, wenn sie nicht narrativ sind. Langweilig sind Texte, wenn sie einfach nur wiederholen, was gestern schon in den Nachrichten im Fernsehen lief oder längst im Internet zu erfahren war.
Letzteres zu vermeiden, gelingt durch ungewöhnliche Perspektiven, die das scheinbar Vertraute in einer befremdend originellen Form neu zeigen. Die Reportage zeichnete sich immer dadurch aus, dass sie, was die Menschheit bewegte, sie veränderte, anhand einzelner Personen und Schicksale so kraftvoll und intensiv beschrieb, dass darüber das große Ganze verstehbar, begreifbar wurde. Und das Feature vermag es zuweilen, nur mit einem einzigen ersten Absatz und dem dort geschilderten Einzelfall zu veranschaulichen, was es mit einer komplexen Neuigkeit aus Politik oder Wissenschaft auf sich hat.
Um »Fakten, Fakten, Fakten« aneinanderzureihen, braucht ein Autor wenige Zeilen. Um eine Geschichte gut zu erzählen, braucht er Platz. Vor allem die Zeitungen stehen am Scheideweg: Fast alles mittelmäßig oder weniges gut machen? So viel wie möglich berichten oder das Wichtige erzählerisch vertiefen? Die Antwort müsste klar sein.
Es gilt in diesem Kapitel mit drei Irrtümern aufzuräumen. Der erste: Jedes Thema taugt automatisch für eine Reportage. Der zweite: Reportage entsteht automatisch, wenn ein Journalist vor Ort recherchiert. Der dritte: Lange Texte, vor allem solche auf eigens dafür eingerichteten Seiten, sind automatisch Reportagen. All diese Automatismen gibt es nicht.
Der erste Irrtum reicht zurück in die Anfänge der Reportage. Das Postulat war das Ergebnis der frischen Faszination für die neue Darstellungsform, es sollte animieren, inspirieren, aufrütteln: Geht endlich raus aus euren Redaktionsstuben, und ihr werdet die Welt entdecken! Es gab vieles zu entdecken, damals um 1900. Europa hatte die halbe Welt kolonisiert oder versklavt, die industrielle Revolution brachte den einen ungeheuren Reichtum und stürzte andere in die Misere, in der Wissenschaft wurden bahnbrechende Entdeckungen gemacht, im Positiven wie im Negativen. Wer nicht die Möglichkeit hatte, die Ereignisse als Augenzeuge mitzuerleben, also fast alle, war auf die Erzählungen von Augenzeugen oder die »rasenden Reporter« der Zeitungen angewiesen.
Die beiden anderen Irrtümer entstammen der Gegenwart und haben mit einem Mangel an Zeit und an Trennschärfe zu tun. In einem Berufsalltag, in dem Redakteure zunehmend damit beschäftigt sind, am Newsdesk zu sitzen und Seiten zu bauen, kommt es immer seltener vor, dass einer hinausfahren und vor Ort recherchieren kann. Und weil dem so ist, wird das Ergebnis eines jeden Ortstermins als Reportage zelebriert. Egal, was war. Hauptsache, ein bisschen szenisch, Hauptsache, ein längerer Text. Es gibt Redaktionen, die in der Ahnung, derart entstandene Texte könnten doch eher wenig mit Reportage zu tun haben, kurzerhand die Endsilbe »age« gekappt haben. Die Texte heißen dann nur noch »Report«. Oftmals wären diese Reports besser als Feature geschrieben worden oder als Wortlaut-Interview. Aber dazu hätte es einer klaren Einschätzung des Themas und seines Potenzials bedurft.
Frühe Reporter wie Egon Erwin Kisch sahen ihre Aufgabe auch darin, dem grassierenden Halbwissen, den Gerüchten, Ahnungen und Vorurteilen einen Einblick in das reale Geschehen entgegenzusetzen. Hatten sich Journalisten bis dato vor allem bemüht, die Fragen Wer, Was, Wann und Wo zu beantworten, lautete die dringlichste Frage auf einmal: Wie? Wie funktioniert so eine Fabrik? Wie leben die Heizer auf einem Ozeandampfer? Wie fühlen sich die Soldaten in ihren Schützengräben?
Die Verschiebung der Ausgangsfrage veränderte die Recherche. Und selbstverständlich den resultierenden Text. Nicht mehr Zahlen und Fakten standen im Mittelpunkt, sondern Handlung und deren Protagonisten. Während Nachrichtenschreiber auf Ergebnisse warteten, beobachtete der Reporter Prozesse. Und der Leser, der bisher nur erfuhr, was sich auf dieser Welt abspielte, konnte es fortan erleben. Dies ist die Revolution, welche die Reportage ausgelöst hat: Dass emotionales Lesen an die Seite, ja zuweilen an die Stelle rein kognitiven Lesens trat. Dass die Menschen mit einem Mal ex motio, aus der Bewegung heraus, am Weltgeschehen teilhaben konnten und nicht mehr ausschließlich ex cathedra.
Was also ist ein Thema für eine Reportage? Jedes Thema, bei dem sich der Autor mehr für das Wie interessiert als für das Wer, Was, Wann und Wo. Jedes Thema, bei dem die Neugierde, Abläufe zu beobachten, größer ist als die Lust, Interviews zu führen und Fakten und Zahlen zu sammeln. Oft folgen die Fragen der Reporter auf jene klassischer Nachrichtenjournalisten. Oft dauert es nur ein paar Stunden, und aus einem »Was ist passiert?« wird ein »Wie war das nur möglich?«.
Redakteure, die solchen Überlegungen folgen, werden es sich zweimal überlegen, ob sie mal wieder einen Volontär zur Begleitung eines Zeitungszustellers »auf Reportage« schicken. Geht es bei diesem Thema wirklich um das Wie? Interessiert irgendjemanden unter den Lesern ernsthaft, wie ein Zeitungszusteller früh morgens die Zeitungen aus der Druckerei holt, sich aufs Fahrrad setzt, die einzelnen Häuser und Wohnungen ansteuert, die Zeitungen in die Briefschlitze steckt und schließlich, kurz vor sieben, wieder nach Hause kommt? 39 Wörter hatte dieser Satz. Der Arbeitstag eines Zustellers im Zeitraffer. Doch nichts, was man, vorausgesetzt man ist ehrlich, nun noch genauer beobachten wollte. Es ist allerdings denkbar, dass die vielen Reportagen über Zusteller auch deshalb geschrieben werden, weil nachrichtliche Texte oder gar Kommentare über deren erbärmliche Stundenlöhne nicht erwünscht sind.
Was Zusteller-Reportagen über den Mangel an interessanter Handlung hinaus in aller Regel fehlt, ist der aktuelle Anlass. Es ist generell ratsam, besonders gründlich über ein Thema nachzudenken, wenn der Ausgangspunkt ein Satz ist wie »Wir könnten doch mal …«. Oder schlimmer: »Wir könnten doch mal wieder …«. Es ist ratsam, noch einmal über ein Thema nachzudenken, wenn die Reportage als Seitenfüller im sogenannten Sommerloch herhalten muss. Texte sollten niemals langweilig sein. Lange Texte erst recht nicht.
Seltsam, wie sehr die Idee kursiert, ausgerechnet Reportagen dürften sich aus der Tagesaktualität ausklinken, hätten ein Recht auf Beliebigkeit, was Thema und Erscheinungstermin betrifft. Genau das Gegenteil trifft zu: Je länger ein Text, umso mehr muss er sich den Lesern aufdrängen. Umso mehr müssen bereits Aufmacher- Foto, Überschrift und Teaser rufen: Lies! Mich! Jetzt! Reportagen erscheinen nicht im nachrichtlichen Vakuum. Und sie werden von den meisten nicht aus purer Lust an ausführlicher Lektüre gelesen. Insbesondere bei Onlinemedien und Tageszeitungen gilt es, den aktuellen Anlass erkennbar zu machen und exakt jenen Zeitpunkt für eine Veröffentlichung zu wählen, der das größtmögliche öffentliche Interesse verspricht.
Ein Beispiel, gestützt durch Zahlen aus der Leserforschung: Eine Reportage über schreckliche Zustände in einem Pflegeheim erzielt normalerweise je nach Erscheinungsgebiet, Auflage und Bekanntheitsgrad des Heims Quoten um die zehn Prozent. Erscheint dieselbe Reportage aber am Montag nach einem ARD-»Tatort«, in dessen Rahmenhandlung es um die Zustände in einem Pflegeheim ging, schnellt die Quote auf über 60 Prozent. Nun sind Reportagen natürlich nur selten die Antwort auf den »Tatort«. Aber das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass sich möglichst viele Leser akut mit dem Thema beschäftigen und sich und ihr Leben sofort wiedererkennen. Für jedes Thema öffnen sich Zeitfenster, in denen es kurzfristig mehr Aufmerksamkeit erhält: saisonale, kulturelle, tagesaktuelle, mediale, private.
Es gibt viele Themen, die oben genannte Bedingungen erfüllen. Es geht um das Wie, und der Anlass ist ein aktueller. Und doch ist es immer noch möglich, dass die Lesequote katastrophal ausfällt, weil ein dritter wesentlicher Aspekt fehlt: die Relevanz. Was geht mich das alles an, mögen die Leser sich fragen, schön geschrieben, aber irgendwie belanglos. Langeweile kann aus mehreren Gründen aufkommen. Einer davon ist, dass sich die Relevanz eines Texts nicht oder zunehmend weniger erschließt. Der Lektüreprozess schläft im Wortsinne ein.
Relevanz entsteht durch inhaltliche, räumliche oder zeitliche Nähe. Relevanz entsteht, wenn die Leser sich wiedererkennen in einem Reportage-Geschehen. Als relevant werden Texte empfunden, die sofort möglichst starke Assoziationen auslösen, ein Gewitter im Gehirn der Leser.
Da sind zunächst die üblichen Verdächtigen. Geht es um Naturkatastrophen, Gewalt, Sexualität, Familie, Religion und Spiritualität oder Tod, entsteht bei den meisten Lesern rasch eine Sogwirkung, die sie zumindest in den Text hineinlesen lässt. In diesen Momenten kann entstehen, was beinahe jeden Leseprozess vorantreibt: eine Art asynchroner Dialog zwischen dem Autor und den Lesern. Die Leser antworten auf das, was der Autor schreibt, mit ihren Erfahrungen, Erlebnissen, Zweifeln. Und entwickeln zugleich Fragen, die der Autor am besten mit den nächsten Sätzen beantwortet. Das Problem asynchroner Dialoge ist, dass kein Autor sie stützen kann mit seiner Stimme, seiner Körpersprache. Dass niemand in die Gesichter seiner Leser blicken und dort Zweifel oder Fragen ablesen kann. Und dass Leser ihrerseits nicht widersprechen können oder dazwischenfragen, sollten sie etwas nicht verstehen. Dennoch schreibt am besten, wer berücksichtigt, dass Leser aktiv am Geschehen teilhaben müssen. Dass sie Texte jederzeit ausgestalten und mitgestalten.
Über die zentralen Fragen des Daseins hinaus reagieren Leser (und Autoren, wenn sie nicht gerade an einer eigenen Geschichte arbeiten) vor allem auf Themen, die ihnen häufig begegnen. Jede Wiedererkennung dringt zumindest in das menschliche Kurzzeitgedächtnis vor. Das heißt, jeder Mensch wird aufmerksam, sobald er auf etwas oder jemanden stößt, dem er schon einmal begegnet ist – je kürzer sie zurückliegt und je heftiger die Begegnung war, umso unvermeidlicher.
Das erklärt, weshalb Politiker, Unternehmenskommunikatoren, Journalisten und Leser Relevanz zu verschiedenen Zeitpunkten durchaus verschieden einschätzen. Ein neues Medikament etwa hat für den Pharmakonzern in dem Moment der Einführung in den Apotheken höchste Relevanz, weil es neue Therapiemöglichkeiten für eine bestimmte Krankheit (und natürlich Profite) verspricht. Leser interessieren sich für das Medikament aber nur, wenn sie entweder selbst betroffen sind oder jemanden persönlich kennen, der betroffen ist. Für mediale Aufbereitung kann das bedeuten, dass die Zielgruppe winzig ist. Es sei denn, ein Prominenter outet sich mit ebendieser Krankheit. Das kann Wochen, Monate, ja Jahre nach der Einführung des Medikaments geschehen.
Für einen Journalisten, der vermitteln möchte zwischen der hohen objektiven Relevanz (neues Medikament) und der geringen subjektiven Relevanz für seine Leser (noch nie von dieser Krankheit gehört), heißt es nun, eben jenen Prominenten zu finden. Oder eine andere Spur zu legen. Und zwar aus dem Erfahrungsschatz seiner Leser hinein in sein Thema und nicht umgekehrt! War ein bekannter deutscher Nobelpreisträger an der Entwicklung beteiligt? Hat der Pharmakonzern mit diesem Medikament einen Wettlauf gegen einen ausländischen Konkurrenten gewonnen? Haben Personen aus dem Erscheinungsgebiet in der Erprobungsphase an klinischen Studien mitgewirkt?
Wer solche Fragen stellt, steckt bereits mitten in einem kreativen Prozess, der unentbehrlich ist, wenn sich ein Thema nicht aufdrängt. Wenn das Bedürfnis der Leser, sich mit einem bestimmten Thema zu beschäftigen, nicht einfach vorausgesetzt werden kann.
Die Relevanz eines Themas liegt zuweilen in einem Detail. Ein besonders interessanter Aspekt etwa oder eine besonders interessante Person, die den Lesern in anderen Zusammenhängen bereits begegnet ist. Der Aspekt bei einem Medikament könnte die Tatsache sein, dass es einem seltenen Mineral gleicht, das in Europa nur in einem südnorwegischen Wald vorkommt, weshalb dieser Wald und der darin versteckte kleine Steinbruch zum Pilgerort für Geologen aus aller Welt geworden ist. Wald, Steinbruch und pilgernde Geologen gibt es übrigens wirklich. Und das Medikament Talcid war der Zeitschrift MEDICAL TRIBUNE deshalb im Juli 2007 eine dreiseitige Reportage wert.
Oder der Aspekt besteht, wie angedeutet, in einer prominenten Person, egal ob Patient oder Forscher. Wäre der Promieffekt nicht so ungeheuer wirksam, würde die werbende Wirtschaft nicht Millionen investieren, um etwa einem George Clooney Espressotässchen in die Hand zu drücken. Die Relevanz eines Produkts, seine Begehrlichkeit, wächst mit dem Bekanntheitsgrad der Protagonisten in den Spots. Erst wenn ein Produkt selbst Promistatus erlangt hat, kann der Hersteller auf die Wiedererkennungswerte prominenter Menschen verzichten.
Die Suche nach dem Detail ist jedoch niemals Selbstzweck. Das Detail ist nur nützlich, wenn es die Kontaktaufnahme mit den Lesern erleichtert. Das Detail ist gewissermaßen ein Trick, um deren Blick alsbald auf das Eigentliche zu lenken.
Das Gegenteil des Details stellt der Kontext dar, in dem ein Thema steht. Im Fall des neuen Medikaments könnte dieser tatsächlich eine spannende Beschreibung des Wettlaufs verschiedener Pharmakonzerne um die Markteinführung eines bestimmten Präparats ergeben. Wie sich Forscher in den Laboren, aber auch Lobbyisten im Umfeld der Gesundheitspolitiker verhalten, um Vorteile gegenüber der Konkurrenz zu erreichen – das ist ein hochinteressantes Reportage-Thema.
Die Relevanz liegt jetzt nicht mehr in dem Medikament selbst – es ist nur der Anlass für eine Geschichte über die Zustände in einer von vielen Geheimnissen umgebenen Branche. Mit einem Mal ist praktisch jedes Medikament erfasst, das von Ärzten verschrieben wird. Die Fragen, die im konkreten Fall gestellt und beantwortet werden, beziehen sich also auf beinahe die komplette Hausapotheke der Leser. Und auf die Unabhängigkeit von Ärzten und der Volksvertreter im Parlament.
Die dritte Kreativtechnik, zu einem relevanten Thema zu gelangen, ist die Frage nach den Folgen einer Nachricht. Wer findet ab sofort neue Arbeits- oder Lebensbedingungen vor? Wessen Handeln wird konkret beeinflusst oder verändert? Viele Nachrichten verwandeln sich auf diesem Weg in Reportage-Themen, auch solche, die für die Leser auf den ersten Blick wenig relevant erscheinen.
Wenn wieder einmal ein Lebensmittelskandal die Republik erschüttert, ist die daraus resultierende Gründung einer Selbstversorger-Initiative sowie deren Wirken ein sehr gutes Thema. Auch das neue Medikament kann weitergedreht werden, etwa in Form einer Reportage über Pharma-Detektive, die den Erzeugern illegaler Generika auf der Spur sind. Nicht jeder Weiterdreh wird automatisch zur Reportage, oft eignen sich Kommentare oder Interviews besser. Sobald aber das Wie in den Fokus gerät, sind die Reporter gefragt.
Schade, dass so viele Lokalredaktionen ihre Themen nur im Lokalen suchen, anstatt die großen Nachrichten im Lokalen zu spiegeln. Selbstverständlich hat Relevanz viel mit räumlicher Nähe zu tun, aber bei Weitem nicht alles, was sich in unmittelbarer Nähe der Leser ereignet, taugt als Stoff für Reportagen. Vom Zeitungszusteller war bereits die Rede, aber auch die leidigen Jahreshauptversammlungen der Schützen, Kaninchenzüchter, Kleingärtner, Schachklubs oder Seniorenwandervereine sind immer nur für deren Mitglieder relevant. Nur in seltenen Fällen entsteht dennoch eine akzeptable Lesequote, nämlich dann, wenn die am Geschehen persönlich Beteiligten einen ausreichend großen Teil der Abonnenten stellen. Je höher die Auflage und je kleiner der Verein, umso mehr sinkt die Quote, häufig unter 0,5 Prozent.
Das bedeutet nicht, dass Schützen, Kaninchenzüchter, Kleingärtner, Schachklubs oder Seniorenwandervereine niemals ein Thema wären. Aber sie werden es eben erst mit einer übergeordneten Relevanz, die über einen konkreten Verein hinaus ausstrahlt. Die berliner zeitung veröffentlichte am 11. Februar 2008 eine Reportage über den ersten türkischstämmigen Schützenkönig. Die Geschichte »Herr Özel schießt den Vogel ab« spielte in Paderborn. Aber sie strahlte in all ihren Facetten tief hinein in die urdeutsche Schützenlandschaft, in deren Gepflogenheiten und Ressentiments.
Auch der örtliche Schachklub wird für die meisten Leser erst interessant, wenn zeitgleich der 22-jährige Norweger Magnus Carlsen in Indien den Titelverteidiger entthront. Gibt es auch hier einen begabten 22-Jährigen? Findet Public Viewing statt? Spielt jemand die Partien der Weltmeisterschaft mit oder nach? Sofort spiegelt sich die Welt im Lokalen. Beinahe jede große Nachricht lohnt den lokalen Check. Der zehnte Todestag von Astrid Lindgren im Jahr 2012? Ein guter Moment, lokale Kinderbuchautoren aufzusuchen. Die hohen Quoten des umstrittenen TV-Formats »Dschungelcamp«? Für die mittelbayerische zeitung im Januar 2012 Anlass, drei Regensburger Sterneköche aufzufordern, ein leckeres Gericht ausschließlich aus Reis und Bohnen zu kreieren – der viel beklagten Basis-Diät der Camp-Insassen.
Es würde den Rahmen dieses Bands sprengen, das journalistische Porträt in all seinen Facetten zu beschreiben. Porträts geraten zuweilen rein nachrichtlich, sie geraten kommentierend, zuweilen reicht ein Wortlaut-Interview aus, um einen tiefen Einblick in das Wesen eines Menschen zu gewähren. Das Porträt kann in sämtliche Darstellungsformen gegossen werden, und selbstverständlich ist auch die Reportage geeignet, Menschen zu porträtieren.
Zuweilen fällt es schwer, eine exakte Grenze zu ziehen zwischen einer Reportage mit einem starken, charismatischen Hauptprotagonisten und einem Porträt, das in Form einer Reportage geschrieben ist. Und doch gibt es feine Unterschiede: Der erste liegt in der Absicht des Autors. Während die Reportage in der Regel ein übergeordnetes Thema hat, zu welchem der oder die Protagonisten erst noch gesucht werden müssen (siehe Kapitel 3.1) geht das Porträt in Reportageform den umgekehrten Weg: Der Protagonist steht, meist wegen seiner Prominenz, bereits fest, gefunden werden muss nun ein Plot (siehe Kapitel 3.2), der es erlaubt, diesen den Lesern auf besonders bewegende Weise vorzustellen.
Nicht immer liefert die Tagesaktualität das geeignete Material für ein Reportage-Porträt. Doch am 16. Januar 2013 bot sich der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG eine hervorragende Gelegenheit, den damaligen Wirtschaftsminister Philipp Rösler in flagranti zu porträtieren. Unter dem Titel »Philipp auf Heimaturlaub« begleitete der Autor den FDP-Chef auf dessen Wahlkampftour nach Niedersachsen. Mit filmischer Präzision erfasste der Autor jene Momente, die Röslers Wesen, seine Befindlichkeit, besonders deutlich zeigten. So bereits in den ersten Zeilen:
»Nun könnte Philipp Rösler den jungen Parteifreund auch mal wieder loslassen. Aber ein paar Sekunden hält ihn der FDP-Chef noch in seinen Armen. Er drückt ihn fest. Sie stehen eng umschlungen da. Dies könnte eine Szene auf einem Fernbahnhof sein (…).«
Was folgt, ist die Dokumentation eines Abends in Bissendorf nahe Osnabrück. Eine Dokumentation aus der Sicht einer virtuellen Handkamera, die Rösler mal von ganz nah zeigt, aber auch dessen Umgebung aus dessen Sicht. Ein Text, der sich tief in die Subjektive des Porträtierten begibt.
Nicht immer lassen sich Prominente darauf ein, dass ihnen ein Autor in den privaten oder beruflichen Alltag folgt. Manchmal fehlt dem Reporter auch schlicht die Zeit dazu. Dann wird es schnell ruhig und statisch vor seiner virtuellen Kamera, die bewegten Bilder stocken oder setzen aus. Zuweilen steht dann plötzlich der Autor selbst im Mittelpunkt und nicht sein offizieller Protagonist. Erstaunlich, wie wenige Autoren dies bemerken. Dass sich ihre Geschichten eher wie Erlebnisaufsätze lesen, über denen stehen könnte: »Als der Autor endlich mal das unfassbare Glück hatte, persönlich mit XY zu sprechen.«
Es gibt sie freilich, jene Momente, in denen sich zwischen Autor und Protagonist eine Art Spannungsfeld auftut, durchaus erotisch im Beispiel von Seite 3 der süddeutschen zeitung vom 23. März 2011:
»Die Frage ist, ob gleich die Augenlider zum Einsatz kommen. Sollte das passieren, sieht es schlecht aus mit dem größenwahnsinnigen Plan, die Wahrheit über Catherine Deneuve herauszufinden.«
Ob ein Leser die Sorge des (männlichen) Autors über 300 Zeilen hinweg zu teilen willens ist, sei dahingestellt, aber immerhin war hier nicht bloß dessen physische Präsenz das Thema. Sätze wie »Wir treffen uns in einem Café in Berlin Mitte« tragen in der Regel nichts bei zum Gelingen einer Reportage. Sie sind aus der Not geboren – aus dem Mangel an authentischen bewegten Bildern.
Wohl dem, der sich da mit einem Trick zu helfen weiß. Die financial times deutschland hatte einst eine Serie mit dem Titel »Zum Lunch mit …«, die welt bittet in ihrem Feuilleton regelmäßig zum »Tischgespräch«. Wie bei TV-Kochshows werden dabei Handlungen und Szenen generiert, die in der Regel zwar nichts mit dem Privat- oder Berufsleben eines Menschen zu tun haben, die aber eben doch vieles aussagen über dessen Geschmack, Sinnlichkeit, Geduld. Und zwischen all den Gängen ist Zeit für ein Gespräch. Oder, wie eine derartige Serie in der MITTELBAYERISCHEN ZEITUNG heißt: »Auf an Ratsch«.
Um Reportage-Porträts nicht zu überfrachten mit Eckdaten aus der Vita des Porträtierten, wird übrigens oft die kürzeste Version des nachrichtlichen Porträts nachgereicht: In einem Kasten stehen dann, ähnlich wie in einem Bewerbungsschreiben, die wichtigsten Fakten und Ereignisse aus dem Lebenslauf. Falls es doch Leser geben sollte, die all dies noch nicht oder nicht mehr wissen.
Romanautoren und Drehbuchschreiber haben es gut. Sie können ihre Protagonisten erfinden, entwickeln und immer wieder neu modellieren, bis sie endlich perfekt in die Geschichte passen. Wer Reportagen schreibt, ist auf Personen aus dem realen Leben angewiesen, auf deren reale Entwicklung und deren reales Handeln, allenfalls ihre Wünsche und Träume. Das macht die Suche nach dem geeigneten Cast zuweilen mühsam. Denn beileibe nicht jeder Mensch taugt als Hauptfigur einer Reportage.
Es gibt Reporter, die machen es sich einfach. Springen in ihr Auto, fahren an den Ort eines Geschehens, schnappen sich jemanden, der willens oder autorisiert ist, mit ihnen zu sprechen, und schreiben alles auf. Zurück in der Redaktion, stellen sie fest, dass sie eher den Stoff für ein Wortlaut-Interview im Block haben als für eine Reportage. Das Schreiben wird zum Martyrium, insbesondere bei der Suche nach Synonymen für das Verb »sagen«. Zu Beginn sagen die Protagonisten noch etwas, dann »erklären« sie, spätestens ab der Textmitte »schmunzeln« und »lachen« sie ganze Sätze, manchmal wird gebeichtet oder gestanden. Bis der Autor kapituliert und ganz auf Verben des Sagens verzichtet. Er schreibt dann nur noch: »so«.
Was den Autoren selten bewusst wird: Oftmals haben sie den falschen Cast für ihre Geschichte erwischt. Wer viel zu sagen hat, mag ideal sein für ein Interview oder als O-Ton-Lieferant für einen nachrichtlichen Text – für eine Reportage taugen die sogenannten »Talking Heads« nur selten.
Wer filmisch denkt, weiß, dass Statik Gift ist fürs bewegte Bild. Menschen, die sich kaum bewegen, weil sie in Büros dahinvegetieren oder in Chefetagen einsam ihre Entscheidungen treffen, stellen jeden Reporter vor große Herausforderungen. Noch schlimmer verhält es sich mit Pressesprechern, deren Hauptaufgabe oft genau darin besteht, den Reporterblick vom Geschehen abzulenken und stattdessen eine offizielle Interpretation des Geschehens zu vermitteln.
Es ist nicht die Lösung für jedes Thema und selbstverständlich keine unumstößliche Forderung an jeden Reporter, aber wer sich an Menschen hält, die ein Thema durch ihr Handeln vermitteln, die sich physisch bewegen, die relevante Orte persönlich aufsuchen und bedeutungsvolle Gegenstände berühren, die andere Protagonisten treffen, mit ihnen sprechen, verhandeln, streiten – der wird beim Schreiben einer Reportage rasch vorankommen und in der Regel ein befriedigendes Ergebnis erzielen. Es sind zwei Fragen, die bei jedem Casting eine Rolle spielen sollten: Wer tut etwas? Und wer spricht nur darüber? Meist führt das Casting deshalb in die Niederungen des normalen Lebens, hinaus aus den Besprechungszimmern, hinein in die Fabrikhallen, hinaus auf die Straßen, hinunter in die Kanalisation der Großstadt.
Wenn etwa ein Teehersteller wegen sinkender Marktanteile beschließt, sein traditionelles Sortiment um Teesorten wie »Wach auf«, »Frecher Flirt« oder »Atme dich frei« zu erweitern, dann wird sich der Wirtschaftsredakteur womöglich ausschließlich in der Chefetage aufhalten, um Zahlen und Hintergründe der Neuausrichtung zu recherchieren. Der Reporter aber muss sich dem Teemacher zuwenden, der die neuen Produkte nun entwickeln wird. Der die Kräuter kauft, sie mischt und verkostet. Der jene bewegten Bilder erzeugt, nach denen nicht nur Kameraleute suchen sollten.
Selbstverständlich ist es nicht jede Handlung wert, verfilmt zu werden, auch wenn manche TV-Dokumentationen nach dem Muster »24 Stunden unterwegs mit …« dies suggerieren. Interessant wird es, sobald die Handlung den Rahmen des Gewöhnlichen und Vertrauten sprengt. Auch hierbei kann der Cast helfen: Je mehr sich ein Mensch abhebt von der Masse, umso mehr Aufmerksamkeit wird er auf sich lenken, im Fernsehen wie in der Print- oder Onlinereportage. Auch diesbezüglich hatte der Teemacher seine Vorzüge. Denn er war der Einzige im Unternehmen, dem diese Aufgabe oblag.
Autoren, die ihre Protagonisten für eine Reportage wählen, sollten sich deshalb zwei weitere Fragen stellen: Wer erlaubt es, eine ungewöhnliche Handlung aus einer ungewöhnlichen Perspektive zu vermitteln? Wer besitzt ein signifikantes Alleinstellungsmerkmal? Wenn es zum Beispiel um die Flüchtlingskatastrophen vor der Insel Lampedusa geht, erscheint dem Leser die Arbeit der dort arbeitenden Helfer mittlerweile ebenso vertraut wie das Schicksal der meisten Flüchtlinge. Wenn ein Medium aber wie das SCHWÄBISCHE TAGBLATT am 12. Oktober 2013 eine eingebürgerte Eritreerin auf der Suche nach ihrem Bruder dorthin begleitet, ist eben diese ungewöhnliche Perspektive gefunden. Mit der Folge, dass Leser, die bereits abzustumpfen drohten angesichts der immer gleichen Nachrichten, doch noch einmal hinsehen, Empathie entwickeln und womöglich nachdenklich werden.
Bei jedem Thema ergeben sich vertraute und ungewöhnliche Perspektiven. Bei jedem Thema gibt es Menschen, die Erwartbares tun, und solche, die überraschen. Zuweilen sind es solche Menschen, die einen Reporter erst auf den Plan rufen. Eine Frau, die Elvis Presley so sehr verehrt, dass sie jeden Quadratzentimeter ihrer Dreizimmerwohnung mit Devotionalien gefüllt hat, auf deren Sofa und in deren Bett gerade noch ein schmaler Streifen zum Sitzen und zum Schlafen übrig geblieben sind, ist so ein Mensch. Ein Mensch, der mitten in den Schweizer Bergen die weltgrößte Whiskybar eingerichtet hat und seit nunmehr über zehn Jahren im Guinness-Buch der Rekorde steht, ebenfalls. In solchen Fällen gilt es nur noch den Protagonisten in Aktion zu versetzen – und fertig ist die Reportage. Die Suche nach dem Plot hat begonnen (siehe Kapitel 2.3.2).
Zurück zum Teemacher. Er handelt. Er besitzt ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb seines Unternehmens und im Zusammenhang mit dem Thema. Er hat aber noch einen dritten Vorzug: Er soll eine Aufgabe lösen. An ihm und seinen Fähigkeiten wird es liegen, ob sein Arbeitgeber seine verlorenen Marktanteile zurückgewinnt. Und, das erfuhr die Reporterin einer Journalistenschule erst vor Ort: Er empfand den Auftrag als Affront. Jahrzehntelang hatte er Assams und Darjeelings gemischt, echten Tee also, feinste Aromen für Kenner. Nun sollte er plötzlich »Wach auf«, »Frecher Flirt« und »Atme dich frei«-Tees kreieren? Teesorten, die nicht mehr aus ihren Zutaten, sondern aus einem wachsweichen Versprechen bestanden? Die Frage, wie sich ein Mensch in einer solchen Situation verhält, ob er loyal und professionell handelt, kapituliert oder gar subversiv wird, vermag einen Leser durchaus zu fesseln.
Woraus zwei weitere Fragen resultieren, die sich ein Reporter stellen sollte: Worin besteht die besondere Herausforderung für den Protagonisten? In welcher Situation oder über welchen Zeitraum hinweg sollte er deshalb begleitet und beobachtet werden? Zuweilen scheitert eine Reportage trotz gelungenem Cast nämlich daran, dass der Autor den falschen Moment für seinen Ortstermin wählt. Jene Stunde, in welcher der Protagonist Zeit zum Durchatmen und für ein längeres Interview hat. Jene Stunde, in der die Herausforderung nur aus seinen Worten, nicht aber in seinem Handeln sichtbar wird.
Zuletzt hilft ein Blick in die Literatur, in die Geschichte des Spielfilms, um zu erkennen, was exzellente Casts über all dies hinaus auszeichnet: Sie verhalten sich archetypisch. Ihre Erfahrungen, ihr Handeln stehen für die Erfahrungen und das Handeln vieler. Und sie gehen zurück auf häufig antike Vorbilder. Nicht unbedingt im konkreten Sinne, immer aber im übertragenen. Natürlich wird kaum ein Leser jemals selbst vor der Aufgabe gestanden sein, neue Teesorten zu kreieren. Aber fast jeder kennt im Beruf wie im Privaten Herausforderungen, die er nicht gesucht hat, denen er sich aber stellen musste. Einladungen zum Scheitern.
Die antiken Vorbilder, auf die so viele Helden in Literatur und Film, aber auch spannende Protagonisten aus der Realität zurückgeführt werden können, sind Odysseus, Sisyphus und Ödipus. Es sind Menschen, die auf eine Reise ins Ungewisse gehen und dabei scheitern oder geläutert zurückkehren, Menschen, die unaufhörlich nach Höherem streben und doch immer wieder an Grenzen stoßen, Menschen, die eigentlich das Gute wollen, doch dabei Furchtbares anrichten.
Ist der Teemacher ein Odysseus? Im ganz Kleinen, ja. Er tritt eine Reise ins Ungewisse an. Er wird dabei mit bisher unbekannten Tücken seines Berufs zu kämpfen haben. Was ist mit einem Menschen, der über den Konkurs seiner Firma zum Flaschensammler wird und der, obwohl er sich redlich müht, ein anständiger Mensch zu sein, wegen der Zinsen auf seine Verbindlichkeiten nur immer tiefer in die Schuldenfalle gerät? Die zeit widmete diesem modernen Sisyphus am 23. November 2006 eine Reportage, Titel: »Hoffmanns Blick auf die Welt«. Und was wäre ein Autobahnraser, der auf dem Weg, jemandem zur Hilfe zu eilen, eine Massenkarambolage mit mehreren Toten verursacht, anderes als ein Ödipus?
Die Begegnung mit Archetypen macht Leser zu Komplizen des Autors. Die Leser verstehen mehr, als sie lesen. Sie blicken tiefer als die erzählte Geschichte reicht. Sie werden sich lange an solche Reportagen erinnern.
Aus Kino und Fernsehen ist das Prinzip vertraut, längst ist es zu einer Formel für die Erzeugung von Spannung geworden: Wo ein Hauptdarsteller, da ein Gegenspieler. Freunde haben Feinde, Unternehmer haben Konkurrenten. Dem Boss steht der Betriebsratsvorsitzende gegenüber, dem Stammspieler der Reservist. Im Kino ergeben Mörder und Kommissar, Bösewicht und Geheimagent eine ebenso symbiotische Kombination wie die Geliebte und ihre Rivalin. Wer beim Casting Erfolg hatte, sollte daher im nächsten Schritt fragen: Hat mein Hauptdarsteller einen Feind? Einen Freund, mit dem er unzertrennlich verbunden ist? Ein Alter Ego?
Zwei Beispiele: In Oberbayern hält ein Schamane regelmäßig Rituale ab. Er erfüllt gleich mehrere Bedingungen, um als Hauptfigur einer Reportage zu dienen. Er übt eine außergewöhnliche Tätigkeit aus, sein Handeln steht im Mittelpunkt des Interesses, und er wirkt, das ist sein Problem, inmitten einer kulturellen Umgebung, in der Schamanismus zumindest äußerst kritisch gesehen wird. Gerade deshalb lohnt hier auch ein Besuch beim örtlichen katholischen Pfarrer. Dessen Reaktionen, etwa eine Predigt, noch besser ein persönlicher Besuch bei dem Schamanen oder seinen fehlgeleiteten Anhängern schaffen Spannung. In Bremerhaven planten Kollegen eine Reportage über den örtlichen Schlüsseldienst. Auf den ersten Blick versprach das ein paar interessante Bilder, aber keinerlei Spannung. Ganz anders, als man den besten Mann vom Schlüsseldienst in einen Wettkampf bat mit einem soeben entlassenen Einbrecher. Ein Redakteur stoppte die Zeit bei deren Versuch, seine eigene Wohnungstür zu knacken, und fand so heraus, wessen Technik die bessere war.
Die Zahl der Personen, die in einem Text auftreten, sollte jedoch immer so gering wie möglich bleiben. Jeder Name, jedes beschriebene Detail (wie Wohnung, Kleidung, Alter, Familienstand) muss von den Lesern verarbeitet und, zumindest für den Verlauf des Texts, erinnert werden. Zu viele Protagonisten verwirren und können verwechselt werden. Zuweilen müssen die Leser dann zurückspringen im Text, um herauszufinden, wann und wo diese oder jene Person schon einmal aufgetaucht ist.
Deshalb gilt bei der Auswahl der Nebendarsteller: Niemand, mit dem der Autor während einer Recherche gesprochen hat, hat allein deshalb ein Recht, in der Reportage aufzutauchen. Zusätzlich zur Hauptfigur und zu ihrem möglichen Gegenspieler sollten nur jene Personen explizit im Text vorkommen, die eine tragende Rolle spielen. Personen, die fehlen würden, würde man sie entfernen.
Es ist ein Dilemma, das jeder Reporter kennt: Er hat sein Thema gefunden, er hat alle Fakten recherchiert, er hat seine Redaktion oder sein Büro verlassen, Orte inspiziert, Menschen getroffen, interviewt, beobachtet. Er war vielleicht sogar beeindruckt vom Geschehen oder von seinen Protagonisten. Er weiß jetzt mehr über sein Thema, vielleicht sogar über das Leben an sich.
Derlei Erfahrungen legen es nahe, manchmal schreien sie danach, den Autor im Text zu aktivieren. »Stellt euch vor«, möchte manch einer seinen Lesern zurufen, »ich war persönlich dabei, als das geschehen ist!« Oder: »Ich war der Erste, der dort recherchiert hat!« Besonders stark fühlt diesen Impuls, wer weit gereist ist oder die Grenzen bisher gemachter Erfahrungen deutlich überschritten hat.
Gerade deshalb muss an dieser Stelle betont werden: Leser interessieren sich in aller Regel nicht für den Autor, dessen Vita oder dessen Erlebnisse. Sie interessieren sich für das Thema und für die Menschen, die dabei eine authentische Rolle spielen. Für die wahren Akteure, nicht für die professionellen Beobachter. Eine Reportage ist kein Erlebnisaufsatz. Und der Leser kein Deutschlehrer, der sich für die Erlebnisse seiner Schüler interessiert.
Ein typischer Einstieg für Autoren, die diesem Dilemma nicht entkommen, stammt aus der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 22./23. Dezember 2007: