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Am liebsten hätten alle Menschen die absolute Sicherheit, dass in ihrem Leben nichts schief gehen wird, ob Jung, ob Alt. Aber es werden immer wieder Situationen kommen, in denen sie sich überwinden und über ihren eigenen Schatten springen müssen – hinein in eine ungewisse Zukunft. Da wäre die junge Vanessa, die sich nicht weiter von ihrem Chef drangsalieren lassen möchte, oder Nico, der mutig genug ist, beruflich das zu tun, wofür sein Herz schlägt. Auch bei den Menschen in der Residenz Seestern, die dort auf Sylt den goldenen Herbst ihres Lebens verbringen, ist es wichtig, den Mut zu haben, sich auf neue Situationen einzulassen. Jeder Neuanfang braucht Mut und die Bereitschaft für Veränderungen.
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Lynda Lys/Eliza Simon
Residenz Seestern
Mut verändert alles
Sylt-Roman
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Steve Mayer, 2022
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Über die Autoren
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Am liebsten hätten alle Menschen die absolute Sicherheit, dass in ihrem Leben nichts schief gehen wird, ob Jung, ob Alt. Aber es werden immer wieder Situationen kommen, in denen sie sich überwinden und über ihren eigenen Schatten springen müssen – hinein in eine ungewisse Zukunft.
Da wäre die junge Vanessa, die sich nicht weiter von ihrem Chef drangsalieren lassen möchte, oder Nico, der mutig genug ist, beruflich das zu tun, wofür sein Herz schlägt. Auch bei den Menschen in der Residenz Seestern, die dort auf Sylt den goldenen Herbst ihres Lebens verbringen, ist es wichtig, den Mut zu haben, sich auf neue Situationen einzulassen.
Jeder Neuanfang braucht Mut und die Bereitschaft für Veränderungen.
***
Arne Feist saß am gedeckten Frühstückstisch, als seine Frau Sabrina mit der Sylter Rundschau unter dem Arm in die Küche kam. Sie legte die Zeitung neben seinen Teller, holte den frisch aufgebrühten Kaffee und goss sich und ihrem Mann die Tassen voll. Sie hatte nichts dagegen, dass er beim Frühstück seine Zeitung las, denn bei so wenig Zeit, wie er immer hatte, kam er anders nicht dazu. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war es ihm meist zu spät. Sie selbst las in der Regel erst gegen Abend die Zeitung.
Arne lehnte sich entspannt zurück, griff nach dem Blatt und schlug es auf. Gleich auf der zweiten Seite fiel ihm der Artikel über die Residenz Seestern ins Auge, den der Reporter mithilfe seiner Informationen als Leiter dieser Residenz geschrieben hatte. Der Reporter hatte in der vergangenen Woche bei ihm im Büro angerufen und um ein Interview bezüglich der neuerbauten Residenz gebeten. Arne war gerne dazu bereit gewesen, darüber Auskunft zu geben und lud den Reporter gleich für den nächsten Tag ein, denn er sah in diesem Interview die Chance, für die Residenz auch eine gewisse Werbung zu betreiben. Arne Feist war sehr verwundert darüber, denn die Veröffentlichung dieses Artikels war eigentlich erst für die kommende Woche vorgesehen.
»Du, Sabrina, horch mal, der Artikel über meine Residenz ist heute schon in der Zeitung«, rief er aufgeregt und rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Sabrina lächelte. Sie fand es immer recht amüsant, wenn er von seiner Residenz sprach, doch sie verlor darüber kein Wort. Sie wusste, dass ihr Mann diese Residenz mit viel Enthusiasmus und Herzblut leitete und sie immer als sein Eigen betrachtete, obwohl dem nicht so war.
»Dann lese ihn mir mal vor, Schatz«, ermunterte sie ihn und lehnte sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Arne räusperte sich und fing an zu lesen:
»Residenz Seestern - Es weht ein frischer Wind auf Sylt
Eine gutbetuchte Klientel erwartet ein selbstbestimmtes Leben in der im letzten Jahr eröffneten Residenz Seestern mit luxuriösem Ambiente auf Sylt. Dabei wurde auch an Wohnungen mit sozialverträglichen Mieten gedacht.
In Westerland werden, getreu dem Motto »Leben kennt kein Alter«, mit Luxus-Apartments Bewohnerinnen und Bewohnern vielfältige Möglichkeiten angeboten, so lang wie möglich ein unabhängiges, aktives und abwechslungsreiches Leben zu führen.
Die großzügigen und durchdachten Raumaufteilungen der 1- bis 4-Zimmer-Wohnungen sind barrierefrei gestaltet und ermöglichen ein weitgehend autonomes Leben bis ins hohe Alter. First-Class-Dienstleistungen wie Housekeeping, Textil- oder Room-Service verschaffen auf Wunsch Erleichterungen im Alltag. Auch im Krankheitsfall sind die Bewohner in der luxuriösen Residenz Seestern bestens versorgt. Das Pflegepersonal steht dort mit individuellen, auf die Bedürfnisse der Senioren zugeschnittenen Pflege- und Betreuungsangeboten zur Seite. Diese reichen von punktueller ambulanter Unterstützung bis hin zur hauseigenen stationären 24-Stunden-Betreuung. Eine Physiotherapeutin, Arztpraxen sowie ein hauseigener Friseur sind ebenfalls dort ansässig.
Dabei wurde auch an Wohnungen gedacht, welche sich bei den Mietstandards an denen des sozialen Wohnungsbaus anlehnen. Das versicherte uns Arne Feist, der als Geschäftsführer der MEDICUS-GROUP dort zuständig ist. Das parkähnliche Areal ist, obwohl nicht weitläufig, eine Augenweide und wird vom hauseigenen Personal gepflegt. Arne Feist betont, dass Interessierte sich um die geplante Stelle eines Gärtners bei ihm bewerben können.
Diese Einrichtung ist eine Bereicherung für die gesamte Insel Sylt und der demografisch älter werdenden Bevölkerung.«
Unter dem Artikel war ein großes Bild der Residenz abgebildet und zeigte den imposanten, eleganten Haupteingang mit dem weißen Kiesweg, der rechts und links von Thuja-Hecken gesäumt wurde.
Arne Feist ließ die Zeitung sinken und strahlte über das ganze Gesicht. »Der Reporter hat es auf den Punkt gebracht, ein wirklich toller Artikel, den er da verfasst hat.« Er klappte die Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch zurück und fing an zu frühstücken.
Frau Bleiken, die Rezeptionistin der Residenz Seestern, stand hinter ihrem Empfangstresen und runzelte die Stirn. Der nette junge Mann vom Paketlieferdienst lief bereits zum dritten Mal hinaus zu seinem Lieferauto und stellte nur Augenblicke später mit einem lauten Rums den letzten Karton vor dem Tresen ab.
»So, das wäre alles«, sagte der Paketzusteller. »Wenn Sie hier bitte unterschreiben wollen.« Er hielt ihr ein elektronisches Tablet unter die Nase und reichte ihr einen Schreiber ohne Mine. Frau Bleiken kritzelte ihren Namen auf den Bildschirm. Der junge Mann nahm ihr den Stift aus der Hand und bestätigte den Vorgang durch Anklicken auf einem grünen Feld mit OK. Er tippte sich leicht gegen die Schläfe und wünschte Frau Bleiken noch einen schönen Tag. Gleich darauf war er verschwunden.
Die Mitvierzigerin stellte sich auf Zehenspitzen und blickte über den Tresen. Die steile Falte auf ihrer Stirn wurde tiefer. »Schon wieder Pakete für Anne Keller«, murmelte sie und schüttelte kaum merklich den Kopf. Die große Glastür der Residenz ging mit einem leichten Zischen auf und Herr Feist betrat gutgelaunt die Eingangshalle.
»Guten Morgen, Frau Bleiken«, grüßte er freundlich und lächelte sie an. »So viele Pakete?«, fragte er und blickte auf den Turm von Kisten.
Frau Bleiken, die noch immer missmutig dreinschaute, schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf. »Nein, Herr Feist, die sind nicht für uns. Alle Pakete gehören der Physiotherapeutin Anne Keller«, brummte sie. »Wie immer!« Herr Feist lachte und ging weiter. Die Zornesröte stieg der Rezeptionistin ins Gesicht.
»Ich finde das ganz und gar nicht lustig«, schnaubte sie. »Ich bin doch nicht Frau Kellers Sekretärin. Auf ein Wort, Herr Feist«, rief sie ihm laut hinterher. Er blieb abrupt stehen, drehte sich um und ging zu ihr zurück. Er schätze seine Empfangsdame sehr und so ärgerlich, wie sie in diesem Moment aussah, hatte er sie noch nie erlebt.
»Frau Bleiken, alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen verärgert aus.«
»Na ist das ein Wunder? Tagtäglich muss ich mich um die Belange von Frau Keller kümmern. Wissen Sie, ich helfe wirklich gerne aus und nehme auch mal etwas in Empfang, wenn Frau Keller nicht in ihrer Praxis ist. Aber das geht zu weit!« Sie schnaubte wütend durch die Nase. »Nicht nur, dass neuerdings hier Patienten anrufen, um einen Physiotermin bei mir zu buchen. Nein, auch Pakete werden für Frau Keller hier regelmäßig abgeworfen und von der täglichen Post ganz zu schweigen. Da Frau Keller noch immer keinen Briefkasten am Eingang ihrer Praxis hat, gibt der Postbote die Briefe immer hier am Tresen ab.« Frau Bleiken machte eine kurze Pause und holte tief Luft. »Und sie gehört ja auch nicht zu uns, also ist keine Mitarbeiterin des Hauses. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich mag Frau Keller, und sie ist auch wirklich eine Nette, aber …«
»Frau Bleiken, ich werde mit Frau Keller sprechen. Es bedarf keiner weiteren Worte, das geht natürlich wirklich nicht«, beschwichtigte Herr Feist seine Empfangsdame. Er nickte ihr freundlich zu und setzte seinen Weg ins Büro fort.
Anne Keller schaute gehetzt zur Uhr. Kurz vor acht! Sie griff nach ihrer Handtasche, schlüpfte in ihre bequemen Schuhe, warf sich ihre Jacke über und riss die Wohnungsschlüssel vom Flurschränkchen. In Windeseile schloss sie ihre Wohnung ab und hastete die drei Etagen des sechsgeschossigen Neubaus hinunter, denn auf den Fahrstuhl zu warten hätte ihr zu viel Zeit gekostet. Im Erdgeschoss öffnete sie die Hintertür, die zu der kleinen Grünanlage und den Fahrradständern führte, sperrte das Fahrradschloss auf und zerrte ihr Rad aus dem Ständer. Sie schob ihren Drahtesel durch das kleine Gartentor, schwang sich aufs Fahrrad und trat kräftig in die Pedalen. Der kalte Fahrtwind ließ sie frösteln und Anne ärgerte sich, dass sie nicht ihren warm gefütterten Anorak übergezogen hatte, aber fürs Umkehren war es zu spät.
Um halb neun hatte sie ihre erste Patientin und sie wollte vorher noch ihren Anrufbeantworter abhören und die Massageliege vorbereiten. Bis zur Residenz Seestern, in der ihre eigene Praxis lag, war es nicht weit, doch etwa zehn Minuten musste sie schon strampeln. Sie fuhr den weißen Kiesweg der Residenz gerade nach oben, als Paul Schiefelbein, ein Bewohner der Residenz, aus der Empfangshalle trat. Das Berliner Unikum rief Anne auf seiner lautstarken, doch charmanten Art zu:
»Juten Morgen, Frau Keller. Na, wieder uff'n letzten Drücker, wa?«, dröhnte er mit seiner lauten Bassstimme und winkte Anne freudig zu. Anne winkte kurz zurück, schob ihr Rad in den Fahrradständer und betrat die Eingangshalle. Während sie auf den Tresen zulief, suchte sie in den Tiefen ihrer Handtasche die Schlüssel zu ihren Praxisräumen. Sie hatte sich von Anbeginn ihrer Tätigkeit daran gewöhnt, ihre Praxis nicht durch den separaten Hintereingang, der auf der Rückseite des Gebäudes lag, zu betreten, sondern lief immer gleich durch die Empfangshalle der Residenz, da die Praxisräume auch von dort zu erreichen waren. Sie blieb am Tresen stehen, rieb sich die kalten Hände und blickte in die funkelnden Knopfaugen von Frau Bleiken. Anne Keller spürte sofort, dass die erbosten Blicke ihr galten und sie lächelte verlegen.
»Guten Morgen, Frau Bleiken.« Während sie den Morgengruß aussprach, glitt ihr Blick über den Tresen und blieb an einem Stapel Briefe haften, die an sie adressiert waren. Ohne einen weiteren Kommentar schob Frau Bleiken ihr den Stapel zu und Anna verstand auch ohne Worte den Grund der verärgerten Rezeptionistin.
»Ich hatte bis jetzt keinen guten Morgen«, sagte Frau Bleiken spitz und streckte ihre Hand über den Tresen. »Und die …« Sie zeigte mit dem Finger auf die drei Pakete. »… können Sie bitte auch gleich mitnehmen.«
Anne Keller schaute wieder zur Uhr. Fünf Minuten vor halb neun. »Kann ich die auch später abholen?«, kam es zaghaft über ihre Lippen. »Ich habe gleich eine Patientin, aber anschließend hole ich sie ab, versprochen. Ich nehme schon mal die Post mit.« Anne hütete sich davor, Frau Bleiken zu fragen, ob irgendwelche Anrufe für sie waren. Wortlos nahm sie den Stapel Post an sich und trollte sich in Richtung Praxis.
Sie schloss die Eingangstür auf, ging durch alle Räume, zog die Jalousien nach oben und bereitete Kabine 1 für ihre erste Patientin vor. Ihr Blick fiel auf den Anrufbeantworter, der in ihrem kleinen Büro stand. Das rote Lämpchen blinkte fröhlich vor sich hin und die Zahl dahinter zeigte ihr an, wie viele Anrufer es waren. Die dreizehn leuchtete in grellrot und brannte sich in Annes Netzhaut ein. Sie seufzte.
Es klopfte an der Tür und Anne rief: »Herein!«
Die Klinke wurde zaghaft heruntergedrückt und Käthe Eriksson, eine Bewohnerin der Residenz, steckte ihren Kopf durch die halb geöffnete Tür. »Guten Morgen. Bin ich hier richtig bei der Physiotherapie?«
»Aber sicher, kommen Sie herein, Frau Eriksson. Ich habe Sie bereits erwartet«, lachte Anne und streifte sich ihren weißen Kittel über. »Sie bekommen heute Ihre erste Lymphdrainage an den Beinen.«
Käthe, der das Gehen immer schwerer fiel, schob ihren Rollator durch die Tür. Sie hatte auf Drängen ihres Mannes Enno den Hausarzt der Residenz Seestern aufgesucht und sich Massagen für ihre Beine verschreiben lassen. Anne führte Käthe in die Kabine und bat sie, auf der Liege Platz zu nehmen. Sie zog Käthe die Schuhe aus und half ihr, sich hinzulegen. Anne begutachtete mit fachmännischem Blick Käthes nackten Beine, die ziemlich angeschwollen waren.
»Wird die Massage wehtun?«, flüsterte Käthe und schaute Anne ängstlich an.
»Nein, keine Angst, Frau Eriksson. Ich erkläre Ihnen kurz, was ich gleich machen werde, und ich hoffe, dass es Ihnen nach ein paar Anwendungen besser gehen wird.«
Anne lächelte. »Ziel der Lymphdrainage an den Beinen ist es, den Fluss der Lymphe wieder anzuregen. Entsprechend wird immer in Abflussrichtung vom Lymphknoten weg massiert. Ich massiere die Beine zunächst vom Knöchel ausgehend bis zum Knie. Dadurch wird Ihr Gefäßsystem zum Abtransport der Schadstoffe angeregt, führt somit zur Entgiftung, zum Abschwellen der Beine, zur Verbesserung der Durchblutung und schließlich zur Schmerzreduzierung.«
Käthe hatte mit großen Augen Annes Erklärungen gelauscht und nickte jetzt.
»Na dann mal los«, sagte sie und Anne fing an zu massieren.
Während bei Anne Keller sich am Vormittag die Patienten die Klinke in die Hand gaben und es in der Praxis wie in einem Taubenschlag zuging, saß die junge Sprechstundenhilfe Vanessa Jensen weinend in der Teeküche einer Arztpraxis. Dicke Tränen vermischt mit Wimperntusche tropften auf ihre pinkfarbenen Stoffschuhe und hinterließen dort kleine hässliche Spuren. Soeben hatte der cholerische Allgemeinmediziner Dr. Henrich Möller Vanessa zum wiederholten Mal angeschrien, weil sie vergessen hatte, in dem Behandlungsraum 2 die Box mit den Untersuchungshandschuhen aufzufüllen. Es war nicht das erste Mal, dass Dr. Möller wegen Kleinigkeiten explodierte und an die Decke ging. Mal war es eine nicht aufgezogene Spritze, die nicht bereit lag, ein anderes Mal ein nicht auffindbarer Rezeptblock, den er selbst verlegt hatte und nicht mehr wiederfand.
Vanni hatte die Nase gestrichen voll. Auch wenn sie noch sehr jung war und erst seit einem Jahr als ausgelernte Sprechstundenhilfe arbeitete, musste sie so nicht mit sich umgehen lassen. Sicher machte sie noch Fehler, aber es waren nie solche, die dem Arzt das Recht gaben, so auszuflippen.
Jetzt war endlich Schluss damit! Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Sie ging zum Wandschrank, den sie sich mit ihrer Kollegin teilte, nahm ihre Jacke und den selbstgenähten Stoffbeutel, der in allen Nuancen der Farbe Rosa leuchtete, heraus, knöpfte ihren weißen Kittel auf und zog ihn aus. Sie stopfte ihn achtlos in den Beutel, als Susann, ihre Kollegin, den Raum betrat.
»Na, geht’s wieder?«, fragte Susann und schaute Vanni mitleidig an.
»Nein, nichts geht mehr. Rien ne va plus. Aus und vorbei. Ich kündige!« Erschrocken über ihre eigenen Worte hielt Vanni inne und starrte Susann an. Diese klappte wortlos den Mund wieder zu und zuckte mit den Schultern.
»Du bist nicht die Erste, die kündigt«, sagte Susann bedrückt, »ich verstehe das sogar.«
Vannis Blick war entschlossen und sie war bestrebt, das soeben gesagte auch in die Tat umzusetzen. »Dass du das hier seit Jahren aushältst, ist mir ein Rätsel, Susann, ehrlich. Da nutzt es auch nichts, dass er gutes Gehalt zahlt. Richte ihm bitte aus, dass ich meinen Resturlaub nehme und bis zum nächsten Ersten nicht mehr komme. Für die Zeit, die ich noch arbeiten müsste, kriegt er einen Gelben. Ich lass mich auf ›grausamen Psychoterror‹ oder was weiß ich krankschreiben. Ich wünsch dir aber alles Gute, Susann. Mach’s gut.«
Vanni wischte sich ihr Mascara verschmiertes Gesicht sauber, drehte sich um und rauschte aus der Arztpraxis.