Resilienz: Modelle, Fakten & Neurobiologie - Ann S. Masten - E-Book

Resilienz: Modelle, Fakten & Neurobiologie E-Book

Ann S. Masten

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Beschreibung

Nicht nur in Studien zeigt sich immer wieder: Es gibt erstaunlich viele Menschen, denen es gelingt, schwere Schicksalsschläge zu bewältigen oder trotz widriger Umstände glücklich und erfolgreich zu leben. Sie sind resilient. Ann S. Masten, eine Pionierin auf dem Gebiet der Resilienzforschung, bezeichnet Resilienz als „ganz normales Wunder“, das sich in alltäglichen Prozessen entwickelt. In ihrem Buch fasst sie das verfügbare Wissen über Resilienz zusammen, beschreibt die wichtigsten Modelle und erläutert, was in Forschung und Praxis getan werden kann, um Resilienz zu fördern. „Niemand versteht so viel von Resilienz wie Ann Masten. Und niemand anders schreibt darüber so klug, tiefgründig und klar.“ – Alicia F. Lieberman

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Ann S. MastenResilienz: Modelle, Fakten & NeurobiologieDas ganz normale Wunder entschlüsselt

Über dieses Buch

Nicht nur in Studien zeigt sich immer wieder: Es gibt erstaunlich viele Menschen, denen es gelingt, schwere Schicksalsschläge zu bewältigen oder trotz widriger Umstände glücklich und erfolgreich zu leben. Sie sind resilient. 

Ann S. Masten, eine Pionierin auf dem Gebiet der Resilienzforschung, bezeichnet Resilienz als »ganz normales Wunder«, das sich in alltäglichen Prozessen entwickelt. In ihrem Buch fasst sie das verfügbare Wissen über Resilienz zusammen, beschreibt die wichtigsten Modelle und erläutert, was in Forschung und Praxis getan werden kann, um Resilienz zu fördern. 

»Niemand versteht so viel von Resilienz wie Ann Masten. Und niemand anders schreibt darüber so klug, tiefgründig und klar.« – Alicia F. Lieberman

Ann S. Masten, PhD, Professorin an der University of Minnesota. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind kindliche Entwicklung und Resilienz.

Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2016

Copyright der Originalausgabe: © 2014 The Guilford Press A Division of Guilford Publications, Inc. 370 Seventh Ave, New York, NY 10001-1020http://www.guilford.com

Originaltitel: Ordinary Magic. Resilience in Development

Übersetzung: Claudia Campisi

Coverfoto: © katana0007 – iStock

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-421-5

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-528-1 (EPUB), 978-3-95571-530-4 (PDF), 978-3-95571-529-8 (MOBI).

Im Gedenken an Ruth,
einen natürlichen Schutzfaktor im Leben von Kindern

Vorwort

Vor etwa 40 Jahren zog es mich magisch in die noch im Aufblühen begriffene Resilienzwissenschaft, als ich an der University of Minnesota mit meiner Promotion im Fach Klinische Psychologie begann. Eine Arbeitsgruppe führte dort eine Untersuchung an aus diversen Gründen gefährdeten Kindern durch und war auf erstaunliche Abweichungen gestoßen: Obwohl alle Kinder Widrigkeiten erlebt hatten oder aufgrund ihrer Herkunft hochgradigen Risiken ausgesetzt waren, gab es einige, denen es gut oder sogar sehr gut erging. Neugierig fragten wir uns nach den Wurzeln dieser beobachteten Resilienz. Wie konnte es sein, dass manche es schaffen, während andere sich abquälen? Könnte man jungen gefährdeten Menschen zu mehr Resilienz verhelfen, wenn man Genaueres darüber in Erfahrung brächte?

Drei Forschungswellen löste die Suche nach Erklärungen für Resilienz in der menschlichen Entwicklung aus, wobei sich die ersten Beschreibungen der Anpassungsunterschiede unter riskanten oder belastenden Bedingungen schließlich zu Studien ausweiteten, die sich mit den möglichen Ursachen für die Abweichungen und für die positiven Ergebnisse befassten. Das ultimative Ziel war jedoch, Einfluss auf resilienzfördernde Maßnahmen zu nehmen. Mit dem neuen Jahrhundert und den neuen Technologien – wie etwa bildgebende Verfahren zur Darstellung des Gehirns oder Gentests und Statistikmethoden zur Modellierung komplexer Systeme – wurde die vierte Phase der Resilienzwissenschaft eingeläutet, die sich vor allem durch die systemebenenübergreifende Integration auszeichnet, mit der sich die positive Anpassung in widrigen Kontexten prognostizieren bzw. fördern lässt.

2001 fasste ich meine diesbezüglichen Schlussfolgerungen aus 25 Arbeitsjahren – angefangen mit meiner Studienzeit – in einem Artikel zusammen: „Ordinary Magic: Resilience Processes in Development“. Da er von all meinen Veröffentlichungen am häufigsten zitiert wurde, wollte ich ihn weiter ausführen. Ich begann mit der Planung dieses Buches, doch meine fortlaufenden Forschungsarbeiten, Unterrichtsverpflichtungen und administrativen Aufgaben verzögerten das Ganze – bis die Integration der Ideen und Erkenntnisse über Resilienz bei Kindern und Jugendlichen schließlich keinen Aufschub mehr duldete. Ich hatte drei große Wellen der Resilienzwissenschaft miterlebt und wusste, eine neue rollte heran. Sicher würde sich die Wissenschaft weiter entwickeln und noch weiter verbessern. Doch mit der vierten Welle war die Zeit reif für eine Zusammenfassung aller bis dato gemachten Fortschritte – und zwar in Buchlänge.

Mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Abweichungen bei den Reaktionen komplexer Systeme auf Herausforderungen erfährt die Resilienzwissenschaft derzeit international auf vielen verschiedenen Gebieten einen regelrechten Boom. Terroranschläge, Naturkatastrophen, Klimawandel, Pandemien, Wirtschaftskrisen und Kriege – die Welt ist voller Desaster, was Menschen dazu motiviert, sich auf vielen Interventions- und Gesetzesebenen für den Schutz des Lebens einzusetzen, das globale Wohlbefinden zu fördern und von Widrigkeiten bedrohten Bevölkerungsgruppen zu mehr Resilienz zu verhelfen. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass die Resilienz von Kindern mit der der Eltern, der Kommunen, der Regierungen und der Ökonomie verzahnt ist.

Herangehensweise des Buches

Als Beobachterin und Mitakteurin der ersten Stunde möchte ich beschreiben, was die Erforschung der Resilienz von Kindern und Jugendlichen bis heute gebracht hat. Es geht um die Ursprünge und Fortschritte der entwicklungsbasierten Resilienzwissenschaft, ihre Forschungsmodelle und Strategien, die exemplarischen Arbeiten und Erkenntnisse sowie die daraus abgeleiteten Implikationen für die Praxis und die zukünftige Forschung. Grundsatzkonzepte werden sorgfältig definiert und durch empirische Beispiele verdeutlicht. Im Vordergrund stehen drei Forschungsbereiche: erstens Längsschnittstudien der kindlichen Anpassung im Zusammenhang mit Stress und Widrigkeit, zweitens die Untersuchung sozioökonomisch benachteiligter Kinder und drittens Studien von Massentraumata im Zusammenhang mit Kriegen und Katastrophen.

Viele verschiedene Studien an vielen unterschiedlichen Orten zu diversen Arten von Widrigkeiten deuten alle auf ein und dieselbe Gruppe fundamentaler adaptiver Systeme hin, die zum großen Teil für die gelungene Bewältigung von bzw. der Regeneration nach Widrigkeiten verantwortlich ist. Eine von mir zusammengestellte „Shortlist“ dieser Systeme liefert wichtige Hinweise auf die essenziellen Schutzfaktoren im Leben junger Menschen, aus denen sich präventive Interventionen ableiten lassen.

Ich konzentriere mich zwar hauptsächlich auf die individuelle Resilienz auf der Verhaltensebene, doch da schon während der ersten Forschungswelle auch Studien zu anderen Systemebenen einen wichtigen Beitrag leisteten, befasse ich mich außerdem mit dem rasant fortschreitenden Gebiet der Neurobiologie sowie mit der Erforschung von drei für das Leben und die Resilienz von Kindern wichtigen Kontexten der Kindesentwicklung: Familie, Schule und Kultur. Da inzwischen viel mehr global geforscht wird als früher und sich die Aufmerksamkeit auf den kulturellen Kontext und die Resilienz in wirtschaftlich unterentwickelnden Gebieten verlagert, habe ich, so weit möglich, internationale Perspektiven und Forschungsbeispiele mit einbezogen.

Die Resilienzwissenschaft hat mit ihrem Fokus auf Stärken und Ziele die Modelle und Interventionsstrategien zahlreicher Praxisbereiche verändert. Wie solch ein resilienzbasierter Handlungsrahmen aussehen könnte, erfahren Sie im vorletzten Kapitel. Das Buch schließt mit einer Erläuterung der andauernden Kontroversen und einem Ausblick auf die Richtung, die die Resilienzforschung meiner Meinung nach ansteuert.

Da ich immer schon der Ansicht war, dass man Komplexität auch mit einfacher Sprache beschreiben kann, habe ich einen Stil gewählt, der für verschiedene Leser und Leserinnen verständlich ist und gleichzeitig den wissenschaftlichen Ideen und provokanten Erkenntnissen gerecht wird. Ich habe stringente Fallbeispiele mit einbezogen, auch solche aus nicht westlichen Kulturen und Ländern wie Sierra Leone und Kambodscha. Diese individuellen Lebensläufe dienen einem doppelten Zweck: Sie illustrieren wichtige Punkte der Resilienzliteratur und machen das Phänomen der Resilienz greifbarer. Im Anhang finden Sie ein Glossar, eine Liste mit Abkürzungen sowie nach Themen geordnete Literaturempfehlungen.

Zielgruppe

Das Buch richtet sich sowohl an Wissenschaftler, die sich bereits mit dem Thema Resilienz beschäftigen, als auch an jene, die damit beginnen möchten, also auch an Studierende und Menschen, die etwas dafür tun wollen, damit Kinder, die aufgrund von Traumata oder widrigen Kindheitserlebnissen gefährdet sind, ein besseres Leben haben. Die Förderung der Resilienz ist ein multidisziplinäres Unterfangen: In der Psychologie, Psychiatrie, Sozialarbeit, Pädagogik, Pädiatrie, Gesundheitsversorgung, Volkswirtschaft, humanitären Hilfe und Katastrophenplanung Tätige werden hier nützliche Anregungen und Hintergrundinformationen für ihre Arbeit finden.

Danksagung

Mein Weg in die Resilienzforschung wurde über die Jahre von vielen Menschen und Erlebnissen geprägt. Dass ich im Armeeumfeld aufgewachsen bin, hat zweifellos mein persönliches Interesse für Anpassungsfähigkeit, Mobilität und die Beeinträchtigung von Kindern durch Krieg beeinflusst. Als Studentin hatte ich das Glück, nacheinander eine Reihe von großartigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen als Mentoren zu haben. Am Smith College schrieb ich meine erste größere Semesterarbeit für ein Psychologieseminar bei Professor Elsa Siipola. Nach dem College empfahl diese mich an David Shakow, und so kam es, dass ich drei Jahre lang als dessen Forschungsassistentin am National Institute of Health (NIH) arbeitete. Der renommierte Schizophrenieforscher, der damals bereits 73 und meines Wissens der erste emeritierte Wissenschaftler des NIH war, gehörte zu den Gründervätern der modernen klinischen Psychologie und inspirierte mich, auf diesem Gebiet zu promovieren. Zu seinen häufigen Besuchern gehörte auch Norman Garmezy, der ebenfalls jahrelang zum Thema Schizophrenie geforscht hatte, sich später jedoch dem Ursprung psychischer Erkrankungen in der Kindheit zuwandte. Mit seiner ansteckenden Forschungsleidenschaft erzählte Garmezy mir von seiner neuen Arbeit über Risikokinder, die trotzdem gut zurechtkamen, seine „stressresistenten Kinder“, wie er zu sagen pflegte. Ich biss an. Viele Jahre während und nach meiner Promotion war seine enthusiastische Unterstützung von unschätzbarem Wert – für mein Denken und meine Ausdauer in der Erforschung der Resilienz. Über Garmezy lernte ich weitere Pioniere in der Psychologie und Psychiatrie kennen, die die im Entstehen begriffene Risiko- und Resilienzwissenschaft prägten und von denen ich viel gelernt habe, vor allem Michael Rutter, Arnold Sameroff und Emmy Werner.

An der University of Minnesota profitierte ich von hervorragenden Lehrern wie Irving Gottesman, Alan Sroufe und Auke Tellegen und einer Gruppe bemerkenswerter Doktoranden. Zu den Studierenden in Garmezys Team gehörten meine Langzeitmitarbeiterinnen Margaret O’Dougherty Wright und Patricia Morison. In den folgenden Jahrzehnten war es mein Kommilitone und frühreifer Mentor Dante Cicchetti, der mich und viele andere in Bezug auf Resilienz und Entwicklungspsychopathologie beeinflusste.

Als ich einen Block weiter ans Institute of Child Development zog und selbst unterrichtete, lernte ich weiter, sowohl von meinen Kollegen und Kolleginnen als auch von meinen Studierenden. Wie alle Mentorinnen sicher wissen, ist diese Beziehung ja ein dynamischer Austausch, aus dem wir meist mehr Erkenntnisse gewinnen als unsere Mentees. Diese haben durch ihre Forschungsarbeiten über Risiko und Resilienz, auf die ich überall in diesem Buch hinweise, Großartiges geleistet und gleichzeitig mein Denken geschärft. Was ich über Entwicklungstheorien weiß, habe ich mir größtenteils von meinen genialen und resoluten Kollegen und Kolleginnen an der Uni abgeschaut.

Frosso Motti-Stefanidi und Joy Osofsky und viele andere Kolleginnen aus den USA und anderen Ländern haben meine Ansichten über Resilienz bereichert. Dankbar bin ich außerdem für den erhellenden Austausch mit Jack Block, Tom Boyce, Emory Cowen, Ron Dahl, Glenace Edwall, Glen Elder, Vivian Faden, Xiaojia Ge, Lance Gunderson, Stuart Hauser, Mavis Hetherington, Elizabeth Hinz, Rich Lerner, Jeff Long, Pat Longstaff, Suniya Luthar, Michael Maddaus, Danny Pine, Rainer Silbereisen und Joe White. Dante Cicchetti, Catherine Panter-Brick und Michael Rutter sowie meine Lektorinnen beim Verlag The Guilford Press, Rochelle Serwator, Kristal Hawkins und C. Deborah Laughton, steuerten einfühlsame Kommentare bei, die dem Buch sehr zugute kamen. Bei der Fertigstellung des Buches war mir Zoe Jacobson eine begeisterte und scharfsinnige Lektorin und Assistentin.

Die in diesem Buch beschriebene Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne den großzügigen Einsatz und das Vertrauen vieler Mitwirkender, Lehrer und weiterer Mitarbeiter an Schulen und anderen kommunalen Institutionen, die ihre Zeit opferten, damit andere etwas über Resilienz erfahren können. Des Weiteren danke ich denjenigen, die meine und andere Forschungsprojekte, die in diesem Buch erläutert werden, finanziert haben, besonders den Unterstützern der Längsschnittdatensammlung. Danken möchte ich vor allem auch den Organisationen, die die hier vorgestellten Arbeiten unterstützt haben: der William T. Grant Foundation, dem National Institute of Mental Health, der National Science Foundation, dem National Institute of Child Health and Human Development, dem Center for Urban and Regional Affairs, dem Institute of Education Sciences, der Jacobs Foundation, der John D. and Catherine T. MacArthur Foundation sowie der University of Minnesota. Selbstverständlich sind die in diesem Buch vertretenen Meinungen ausschließlich meine eigenen und geben nicht unbedingt die der Sponsoren oder anderen Forscher wieder.

Ich widme diesen Band dem Andenken an meine Mutter Ruth, die mir und vielen anderen bewies, dass ein erwachsener Mensch, der an einen glaubt und daran, dass man in den schlimmsten Momenten am besten lacht, Wunder wirkt. Sie, mein Vater Charlie und eine kleine Truppe findiger Verwandter lehrten mich, wie viel Menschen, die einen beschützen, vermögen. Und zu guter Letzt möchte ich vor allem meinem Mann Steve und unseren Töchtern Carrie und Madeline für ihre Unterstützung danken, die sie mir während all der Jahre meines Forschens und Schreibens gewährt haben und die schließlich zu diesem Buch führte.

TEIL I: EINFÜHRUNG UND ÜBERBLICK

1. Einleitung

Geschichten über Menschen, die nach Überwindung von Schwierigkeiten zum Erfolg gelangen, gibt es wohl, solange Menschen sich Geschichten erzählen. Traditionelle Volkserzählungen und Märchen drehen sich um Themen wie Kampf und Verwandlung, Beharrlichkeit und Heldentaten im Angesicht von Widrigkeiten oder handeln von jungen Menschen aus ärmlichen Verhältnissen, die es aufgrund ihres Scharfsinns und ihrer Tatkraft weit im Leben bringen, manchmal in Begleitung einer erfahrenen Person oder eines Zauberwesens. Über Jahrhunderte hinweg haben sich überall auf der Welt diese alten Geschichten als „unwiderstehlich“ bewährt (Zipes 2012). Sogar im 21. Jahrhundert, wo es so viele Mittel zum Geschichtenerzählen gibt – soziale Medien, Bücher oder Tageszeitungen, Film und Fernsehen, E-Mail, Blogs und andere digitale Kommunikationsformen –, ist man wie eh und je fasziniert von Geschichten, in denen sich das Schicksal eines jungen Menschen, der sich in Gefahr befindet oder in Armut aufwächst, trotz allem schließlich doch noch zum Guten wendet. Diese Faszination rührt meines Erachtens von der grundlegenden Wahrheit über menschliche Resilienz, die in diesen Geschichten enthalten ist, und auch das Thema dieses Buches: Resilienz entspringt ganz gewöhnlichen Ressourcenund Prozessen.

In Zeiten der Unruhe wird das Interesse für Resilienz angefacht. Daher überrascht es nicht, dass sie ausgerechnet jetzt so viel Aufmerksamkeit bekommt und überall – im Internet, in Vorträgen, Büchern und Artikeln – präsent ist. Das 21. Jahrhundert hat ja mit einer außergewöhnlichen Serie globaler Desaster begonnen, darunter Naturkatastrophen, politische Konflikte und Kriege, Virusepidemien, Wirtschaftskrisen und Industrieunfälle. Dazu die Angst vor dem Klimawandel. Heute sind unglaublich viele Kinder und junge Menschen auf der ganzen Welt bedroht: Krieg, Terrorismus, Naturkatastrophen, Armut, Hungersnot, Krankheit, Vernachlässigung, Entwurzelung und vieles mehr gefährden ihr Leben und ihre Entwicklung.

Natürlich kann man nicht verhindern, dass die Kindesentwicklung solchen Gefahren ausgesetzt ist. Gerade deswegen ist es jedoch unerlässlich, Kinder vor den schlimmsten Folgen zu bewahren und zu überlegen, was man tun kann, damit sie sich trotz der widrigen Umstände, unter denen sie aufwachsen, gut entwickeln. Was genau wem und wann hilft, wird durch die systematische Erforschung der Resilienz in der Kindesentwicklung klar, die in den 1960er- und -70er-Jahren initiiert wurde. Ausgangspunkt und Motivator war die Prämisse, dass auch Kinder, die aufgrund von negativen Lebensumständen gefährdet sind, eine Chance haben und dass diejenigen, die sich um die Verbesserung dieser Chancen bemühen, eine Orientierungshilfe brauchen.

Die Erforschung der Resilienz in der menschlichen Entwicklung begann mit dem Zweiten Weltkrieg, durch den sich die Aufmerksamkeit auf die Notlage von Kindern richtete, die Bomben, Tod, Unterernährung, Völkermord und Vertreibung und anderen Widrigkeiten gewaltigen Ausmaßes ausgeliefert waren. Die Frage, welche Folgen diese Widrigkeiten für Kinder und Erwachsene haben würden, löste gleich mehrere Untersuchungswellen aus, u.a. auch Langzeit-Follow-up-Studien mit Menschen, die Konzentrationslager, Verstrahlung, Hungersnot, den Verlust der Eltern und andere Katastrophen überlebt hatten. Von den Pionierarbeit leistenden Wissenschaftlern waren manche selbst vom Krieg betroffen. Norman Garmezy beispielsweise hatte als junger US-amerikanischer Soldat bei der Ardennenoffensive mitgekämpft. Emmy Werner hatte die Bombenangriffe auf Europa am eigenen Leibe erlebt. Als Folge der Zerstörung drohte der Hungertod, vor dem sie zusammen mit vielen anderen Kindern und Jugendlichen von der damals gegründeten Hilfsorganisation UNICEF gerettet wurde. Michael Rutter gehörte zu den „Seavacuees“, wie man die britischen Kinder nannte, die zum Schutz vor den Bombenangriffen über den Ozean ins sichere Nordamerika geschickt wurden. Alle drei gingen schließlich in die Wissenschaft und forschten über die Resilienz von Risikokindern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schossen Forschungsprojekte in der Psychologie, Psychiatrie und verwandten Gebieten wie Pilze aus dem Boden, es herrschte ein regelrechter Wissensdurst nach den Ursachen für psychische und Verhaltensstörungen, deren Behandlung und Prävention man mithilfe der neuen Erkenntnisse zu verbessern hoffte. Gemäß den gesundheitspolitischen Strategien suchte man zuerst nach den mit negativen Zielergebnissen verbundenen Risikofaktoren. Dazu wurden folgende Fragen gestellt (Gruenberg 1981, S. 8):

Wer erkrankt und wer nicht?

Warum?

Was kann man tun, damit es seltener zu Erkrankungen kommt?

Um herauszufinden, wer eventuell irgendwann Probleme bekommen würde und wer nicht, hätte man alle heranwachsenden Kinder der Gesamtbevölkerung über einen längeren Zeitraum untersuchen müssen. Da dies, besonders bei außergewöhnlichen Störungen oder Problemen, zu teuer und zu aufwändig gewesen wäre, wählte man nur diejenigen Kinder aus, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Lauf der Zeit eine bestimmte Störung aufweisen würden, überdurchschnittlich hoch war. Die Auswahl geschah auf der Basis von Risikofaktoren oder Prädiktoren für psychische und Verhaltensschwierigkeiten, die in drei Hauptkategorien aufgeteilt wurden:

genetisch bedingte Risiken aufgrund der Verwandtschaft zu schwer psychisch kranken Menschen (z. B. wenn ein Elternteil Schizophrenie hat),

Risiken aufgrund von belastenden Lebensereignissen (z. B. Krieg, Misshandlung oder Scheidung) und

Risiken aufgrund von Statusindikatoren für prekäre Lebensumstände (z. B. Frühgeburt, niedriger sozioökonomischer Status [SöS], niedriges Bildungsniveau der Mutter, unverheiratete minderjährige Eltern).

Die Risikoforscher und -forscherinnen – darunter auch Garmezy, Rutter und Werner – untersuchten die Kindesentwicklung stark gefährdeter Gruppen, weil sie sich davon erhofften, auf effiziente Weise zu neuen Erkenntnissen über störungsverursachende Prozesse zu gelangen und die Prävention und Behandlung dieser Störungen mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse letztendlich voranzubringen.

Zu Beginn dieser Langzeitstudie stellte sich heraus, dass sich die Lebensläufe der noch jungen Risikokinder sehr voneinander unterschieden (Masten 1989; Sameroff & Chandler 1975) und dass sich etliche trotz erheblicher Schwierigkeiten bemerkenswert gut entwickelten. Also machte sich eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Risikoforschern und -forscherinnen daran, die Fragestellungen etwas zu verändern:

Wer bleibt gesund und wer erholt sich gut?

Wie kommt das?

Was kann man tun, um die Gesundheit zu fördern und für eine positive Entwicklung zu sorgen?

Mit diesen Fragen beschäftigten sich namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie E. James Anthony, Emory Cowen, Norman Garmezy, Lois Murphy, Michael Rutter, George Vaillant und Emmy Werner. Sie beobachteten und beschrieben die positiven Entwicklungsverläufe stark gefährdeter Kinder und Jugendlicher und lösten damit die erste Welle der Resilienzforschung aus.

1.1 Vier Wellen der Resilienzforschung

Die Resilienzforschung hat sich im Lauf der letzten 50 Jahre in vier größeren Phasen entwickelt (Masten 2007; Wright, Masten & Narayan 2013). Die erste war deskriptiv: Auf der Suche nach Prädiktoren für Resilienz wurde gutes Funktionieren bzw. Erfolg im Zusammenhang mit Risiken bzw. Widrigkeiten systematisch definiert, gemessen und beschrieben. Es ging also um die Frage: Was ist Resilienz? Wie kann man sie messen? Was bewirkt etwas? Mithilfe der so gewonnenen Erkenntnisse konzentrierten sich die Forscher der zweiten Welle dann mehr auf die Prozesse der Resilienz und auf die Frage nach dem Wie: Wie kommt es zu Resilienz, welche Prozesse machen resilient? Wie funktionieren protektive, protegierende oder präventive Kräfte? Wie wird die positive Entwicklung im Risikokontext gefördert? Dies löste die dritte Welle aus, die die Theorien der ersten beiden Wellen zu den Fragen, was für Resilienz wichtig ist und wie, überprüfte und sich gleichzeitig auf resilienzfördernde Interventionen konzentrierte. Ihre Fragestellung lautete daher: Treffen Theorien über Prozesse, die zu Resilienz führen, auch zu? Kann man Resilienz fördern?

Die von technologischen und wissenschaftlichen Fortschritten in Genetik, Statistik, Neurowissenschaft und Neuroimaging angestoßene vierte Welle erhebt nun die Resilienz zu einer multidisziplinären Wissenschaft mit dynamischen und systemorientierten Ansätzen, die verschiedene Analyseebenen miteinander verbindet und sich auf Interaktionen wie die zwischen Anlagen und Erfahrungen sowie Menschen und Kontexten konzentriert. Die Fragen der vierten Welle sind noch im Entstehen: Wie wirken sich genetische Unterschiede auf die Resilienz aus? Gibt es so etwas wie eine individuelle Sensibilität für traumatische Ereignisse? Sprechen in dieser Hinsicht hochsensible Menschen ebenso stark auf positive Interventionen an? Wie kann man die Entwicklung des Gehirns vor zu viel Stress und einem hohen Aufkommen an Stresshormonen schützen? Kann man wichtige menschliche Anpassungssysteme so beeinflussen, dass die Resilienz gestärkt wird? Was passiert gesellschaftlich und im Gemeinwesen zur Förderung der Resilienz?

Jede einzelne Welle hat neue Tatsachen, Kontroversen und Lektionen ans Land gespült, die ich genauer analysieren werde.

Die Pioniere der Resilienzwissenschaft kamen zu der tief greifenden Erkenntnis, dass ein Verständnis der positiven Ergebnisse stark gefährdeter Kinder und Jugendlicher für die Politik und die Wissenschaft (für Theorie und Praxis) potenziell signifikant ist. Mit dem Ziel, die Chancen der Kinder auf eine positive Entwicklung zu erhöhen, motivierten sie ihre Studierenden und Kollegen, nicht nur die negativen Einflüsse auf das Leben von Kindern zu untersuchen, sondern auch die positiven. Ein halbes Jahrhundert später ist nun die Zeit gekommen für eine Bestandsaufnahme aller Forschungserkenntnisse zum Thema Resilienz bei jungen Menschen: die Evidenz und die Überraschungen, die Rückschlüsse und Kontroversen, die Lücken und Ziele sowie die Folgen für die bisher praktizierten Vorgehensweisen und Richtlinien.

Gewöhnliche Magie

Was bei der Untersuchung von Kindern, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz zu erfolgreichen Jugendlichen und Erwachsenen entwickelten, am meisten erstaunte, war das Gewöhnliche daran (Masten 2001). Die spannenden Biografien resilienter Menschen haben wohl zu der verzerrten Wahrnehmung geführt, dass Resilienz selten sei und (symbolisiert durch die Zauberkräfte und wundersamen Gehilfen aus Mythen und Märchen) außergewöhnliche Talente oder besondere Ressourcen verlange. Die Evidenz lässt jedoch auf das Gegenteil schließen: nämlich dass Resilienz verbreitet ist und in der Regel über elementare Schutzmechanismen funktioniert. Es gibt durchaus Ausnahmefälle, wo Kinder schlimme Dinge überstanden haben, weil sie über außergewöhnliche Talente und Ressourcen verfügten oder großes Glück hatten, doch die meisten haben es dank ihren normalen menschlichen Ressourcen und gewöhnlicher Schutzfaktoren geschafft. Das heißt: Widerstandskraft geht aus adaptiven Systemen hervor, wie sie für die Kindesentwicklung gang und gäbe sind. Diese Systeme beinhalten ein gesundes und gut funktionierendes Gehirn, enge Beziehungen zu kompetenten und fürsorglichen Erwachsenen, eine engagierte Familie, effektive Schulen und Gemeinden, Erfolgschancen und ein von positiven Interaktionen mit der Umwelt genährtes Selbstvertrauen. Wie Resilienzstudien andeuten, sind es immer wieder die gleichen, mit positiver Anpassung oder Entwicklung verbundenen Faktoren, die Hinweise dafür liefern, worauf es bei Resilienz wirklich ankommt. Durch diese Erkenntnisse wird klar, wie sehr das menschliche und soziale Kapital die Entwicklung bestimmen und welche Prioritäten Menschen setzen sollten, die das Schicksal von Kindern, die von den verschiedensten negativen Lebensumständen bedroht sind, zum Guten wenden möchten.

Die Resilienzforschung ist daran beteiligt, Interventionen und Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern mit einem Risiko auf schulische und verhaltensmäßige Probleme zu verändern. Nach und nach werden defizitäre Modelle so abgewandelt und ergänzt, dass nicht nur auf Risiken, Probleme und Schwächen fokussiert wird, sondern auch auf Potenziale, Stärken und Schutzfaktoren. Wie sich zeigt, zielen die besten Präventions- und Verbesserungsmaßnahmen von Entwicklungsproblemen eher auf die Förderung von Kompetenz und Erfolg ab, was auch Eltern und die Öffentlichkeit wesentlich mehr anspricht als Programme, die sich mehr auf die Reduzierung von Problemen konzentrieren (Masten 2011, Masten & Coatsworth 1998).

Die Resilienzforschung ist vom Kern her entwicklungsorientiert. Sie entstammt einer Forschungsrichtung, die sich auf Kinder mit einem Risiko auf psychische Erkrankungen konzentrierte und dazu auch entscheidende Längsschnittstudien durchführte. Damit entspringt sie derselben Wurzel wie die Entwicklungspsychopathologie – ein weit gefasster, integrativer und multidisziplinärer psychologischer Ansatz, der in Theorie und Praxis auf die ganze Palette individueller Anpassungs- und Entwicklungsmerkmale im Lebenszyklus fokussiert (Cicchetti 2006, 2010; Masten 2006a, 2012a). Die Untersuchung psychisch gefährdeter Kinder ist mit einer der wichtigsten Bereiche unter dem breiten Schirm der Entwicklungswissenschaft.

1.2 Was versteht die Entwicklungswissenschaft unter Resilienz?

Der Begriff Resilienz stammt von dem lateinischen Verb resilire (zurückspringen). Er bezeichnet etwas, das elastisch ist und wie ein Gummiband zurückschnellt, wenn man daran zieht und dann loslässt. Im Ingenieurwesen werden Materialien als resilient bezeichnet, die Belastungen widerstehen und weder zerbrechen noch reißen oder die nach Überfrachtung oder zu großem Druck wieder ihre ursprüngliche Form annehmen. In der Ökologie bedeutet Resilienz „die Fähigkeit eines Systems, Störungen zu absorbieren, sich umzuorganisieren und trotzdem in einem ähnlichen Zustand bestehen zu bleiben“ (Gunderson, Folke & Janssen 2006). Dass der Begriff Resilienz auf unterschiedlichen Gebieten ähnlich verstanden wird, lässt sich auf ihre gemeinsame Wurzel in der allgemeinen Systemtheorie zurückführen (von Bertalanffy 1968). Resilient ist ein System, das in Turbulenzen geraten ist, sich anpasst und überlebt. Mit Resilienz ist oft der Prozess gemeint, durch den das funktionelle Gleichgewicht wieder hergestellt wird, und manchmal auch der erfolgreiche Transformationsprozess in einen stabilen neuen funktionellen Zustand. Demnach könnte man auch das lebende System Mensch als resilient bezeichnen, wenn im Kontext potenziell destabilisierender Bedrohungen bei ihm ein Muster der Anpassung oder Genesung zu erkennen ist.

Jede neue Welle in der Erforschung der Resilienz bei Kindern brachte mehr Dynamik in die Definitionen und Modelle. In den frühen Arbeiten wurde Resilienz meist in dem Sinne definiert, dass jemand im Kontext von Gefahren oder Widrigkeiten wohlauf war oder eine psychische Erkrankung abwenden konnte. In den Verhaltenswissenschaften wie Psychologie, Psychiatrie und verwandten Disziplinen bezeichnet man damit bis heute die positive Anpassungim Kontext von Gefahren oder Widrigkeiten. Unter diesen sehr weit gefassten Begriff fallen etliche Phänomene, darunter die Bewältigungsfähigkeit im Angesicht von Widrigkeiten, Coping-Prozesse im Umgang mit Herausforderungen, die Regeneration nach Katastrophen, posttraumatisches Gedeihen sowie die guten Ergebnisse von Menschen mit einem hohen Versagens- oder Fehlanpassungsrisiko. In Entwicklungsstudien bezieht sich Resilienz auf die positive Entwicklung im Kontext eines hohen Risikos für Probleme oder Verhaltensstörungen. In neueren Studien wird Resilienz im Sinne eines Prozesses oder Systems definiert. Dabei bemüht man sich um eine übergreifende Terminologie, und zwar im Hinblick auf Disziplinen, die sich mit verschiedenen Systemen und Analyseebenen befassen und daher sowohl eine integrative Forschung also auch eine auf Integration beruhende Anwendung – wie etwa im Katastrophenschutz – fördern. Ich selbst würde Resilienz derzeit folgendermaßen definieren:

Das Vermögen eines dynamischen Systems, sich erfolgreich an Störungen anzupassen, die seine Funktion, Lebensfähigkeit oder Entwicklung bedrohen.

Dieses Konzept kann nicht nur auf die Resilienz junger Menschen angewandt werden, auf die ich mich hier konzentriere, sondern auch auf alle anderen dynamischen Systeme wie Familien, Schulen, Gemeinden, Organisationen, Wirtschafts- oder Ökosysteme.

Allgemein systemtheoretisch verstanden, muss Resilienz nicht unbedingt „Gutes“ im Sinne der Menschenrechte und der Kinderwohlfahrt bewirken. Demnach kann auch eine „resiliente“ Organisation oder Regierung Kinder quälen. In der Entwicklungspsychologie hingegen ist Resilienz immer mit guten Folgen verbunden, wobei stets zu beurteilen und zu definieren ist, was für Kinder jeweils gut oder wünschenswert ist.

Muster und Pfade der Resilienz

Was Resilienz ist, kommt auch über die Funktions- und Entwicklungsmuster im Lebensverlauf zum Ausdruck. Abbildung 1.1 zeigt grob vereinfacht den Verlauf verschiedener Lebenspfade oder -muster im Hinblick auf Resilienz. Alle Beispiele enthalten so viele Widrigkeiten, dass die normale Entwicklung oder Funktionsfähigkeit potenziell aus den Fugen gerät.

Pfad A zeigt einen relativ gleichmäßigen Verlauf. Die Funktionstüchtigkeit bleibt erhalten, obwohl die Jugendlichen zum Zeitpunkt X ein akutes Trauma erleben oder davor und danach eine ständige oder chronische Widrigkeit besteht, etwa in Form von Armut, häuslicher Gewalt oder Krieg. Während die Qualität ihrer Anpassung schwankt, bewegt sich ihre Funktionsfähigkeit immer im normalen Bereich, womit sie die allgemeinen Erwartungen für eine gesunde Entwicklung im Lebensverlauf erfüllen. Solche Fälle erregten häufig die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, die in der Erforschung von Kindern mit psychopathologischen und anderen Risiken Pionierarbeit leisteten. Kinder wie diese gibt es an jeder Schule: Sie wachsen in einem von Armut und Chaos geprägten Haushalt auf und sind trotzdem gut in der Schule, sowohl von der Leistung her als auch sozial. Früher, als man den Grund für diese positive Funktionsfähigkeit unter Extremzuständen nicht kannte, hätte man sie als „unverwundbar“ oder „stressresistent“ bezeichnet. Doch mit jeder neuen Forschungsarbeit wurde das Geheimnis ihres Erfolgs – gewaltige Abwehrkräfte – ein Stück weit mehr enträtselt.

Abbildung 1.1: Ein Beispiel für Resilienz auf verschiedenen Lebenspfaden: (A) Stresswiderstand im Kontext eines akuten Traumas zum Zeitpunkt X oder einer chronischen Widrigkeit vor und nach Zeitpunkt X; (B) Genesung nach einem akuten, überwältigenden Trauma zum Zeitpunkt X; (C) Normalisierung nach deutlicher Reduktion der Widrigkeit, die zum Zeitpunkt X einsetzt; (D) posttraumatisches Gedeihen nach einem Trauma zum Zeitpunkt X.

Pfad B zeigt eine andere Art der Resilienz, bei der sich die Betroffenen nach einem Trauma erholen. Sie entwickeln sich normal, bis ihnen ein überwältigendes Unglück zustößt. Wie bei einer Katastrophe nicht anders zu erwarten, lässt die Anpassungsfähigkeit nach, nimmt jedoch im Lauf der Genesung wieder zu. Dieses Muster verläuft entweder relativ schnell – akutes Trauma und prompte Genesung – oder über einen längeren Zeitraum, wenn die Betroffenen länger brauchen, bis sie sich erholt haben, wie es bei Großkatastrophen ja häufig der Fall ist. So können sich Kinder, die ihre Eltern verloren oder andere furchtbare Schicksalsschläge erlitten haben, sehr wohl wieder davon erholen.

Pfad C zeigt einen starken langfristigen Wandel in der Qualität der Anpassung oder Entwicklung, d. h., die Funktionsfähigkeit steigert sich von schlecht auf gut. Genau dieses Muster der „Normalisierung“ erhofft man sich von einer wirksamen Verbesserung der Bedingungen oder Ressourcen in der Erziehung von Kindern, die in einem Umfeld extremer Deprivation oder chronischer Adversität aufwachsen. Ein sehr drastisches Beispiel dafür konnte man vor nicht allzu langer Zeit in Rumänien beobachten, als viele Waisenkinder nach dem Zusammenbruch des Ceaușescu-Regimes aus den für die Kindesentwicklung denkbar ungeeigneten Heimen geholt und zu Adoptiveltern gebracht wurden. Während manche, die lange unter den schlimmsten Bedingungen leben mussten, weiterhin latente Probleme hatten, zeigten viele, die zur Adoption in andere Länder kamen und unter günstigeren Lebensbedingungen aufwuchsen, deutliche Verbesserungen in der Entwicklung (z. B. Rutter 2006, Rutter & the English and Romanian Adoptees Study Team 1998; Rutter, Sonuga-Barke & Beckett 2010; Rutter, Sonuga-Barke & Castle 2010).

Pfad D veranschaulicht posttraumatisches Gedeihen, bei dem sich die Anpassungsfunktion nach einem Trauma oder einer Widrigkeit verbessert. Zu diesem Muster gibt es zwar Veröffentlichungen, doch halten sich die Forschungsarbeiten dazu in Grenzen, besonders aber in Bezug auf Kinder (Masten & Narayan 2012).

Da Resilienz ein weit gefasstes Konzept ist, könnte man noch viele andere Pfade aufzeigen, die sich zur Resilienz hinbewegen oder von ihr wegstreben. In Anbetracht unseres komplexen Lebens und der unzähligen Einflüsse auf unsere Anpassungsfähigkeit und Entwicklung ist zu erwarten, dass entsprechend viele Wege zur Resilienz führen. Beispiele dafür finden Sie überall in diesem Buch.

1.3 Zweierlei Kriterien zur Beurteilung von Resilienz

Zur Einschätzung der Resilienz im Leben eines Menschen müssen zwei Dinge berücksichtigt werden: zum einen die Widrigkeitsexposition und zum anderen das Wohlergehen der Betroffenen währenddessen und hinterher. Mit anderen Worten: Resilienz lässt sich anhand von zwei Parametersätzen messen, wobei der eine mit der Art und Weise der bedrohlichen Lebenserfahrungen zu tun hat (Hat ein Risiko vorgelegen?) und der andere mit der Qualität der Adaptation oder der Entwicklung (Kommt die betroffene Person zurecht?). Im Alltag werden solche Beurteilungen ständig vorgenommen, und so würde den meisten Menschen auf die Frage, ob sie eine erwiesenermaßen resiliente Person in ihrem Umkreis nennen könnten, jemand einfallen.

Gibt es im Leben eines Menschen keine oder nur wenig Gefahr oder (noch) keine Evidenz für eine Besserung oder ein positives Ergebnis, dann ist er nicht (oder noch nicht) resilient. Dies klingt einfach und scheint recht klar – der Teufel steckt jedoch im Detail. Denn wie soll man „Risiko“ und „positives Ergebnis“ eigentlich genau definieren? Und wer legt die Kriterien fest? Wie die Resilienzforschung gezeigt hat, sind diese Entscheidungen komplex und umstritten (Luthar 2006; Masten 2007, 2012a; Rutter 2012b).

1.3.1 Die Beurteilung der Gefahren für die Entwicklung und Adaptation von Kindern

Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts wurden viele Arten von Risiken für die Funktionsfähigkeit und Entwicklung von Kindern untersucht, angefangen von der Frühgeburt bis zum Krieg (Evans, Li & Sepanski Whipple 2013, Garmezy 1974, Kopp 1983, Obradović, Shaffer & Masten 2012, Sameroff & Seifer 1983). Diese bewährten Risikofaktoren sind Prädiktoren für unerwünschte Ergebnisse, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es später zu Problemen kommt, evident ist. Die Entwicklungswissenschaften kennen bereits zahlreiche gut belegte Risiken, darunter Merkmale des Umfelds, der Familie und des Kindes sowie eine große Bandbreite an potenziellen Belastungen wie z. B. ein niedriges Geburtsgewicht, Gewalt in der Familie, ein niedriger SöS, Scheidung, Strenge oder Vernachlässigung vonseiten der Eltern, Naturkatastrophen, Terrorismus, kognitive Schwierigkeiten, Unterernährung, Armut, Obdachlosigkeit, Flucht und Vertreibung.

Spezielle Risikofaktoren können sich auf ein ganz bestimmtes Ergebnis beziehen, doch viele der am häufigsten auftretenden Kindheitsfaktoren (z. B. Armut, Misshandlung oder eine sehr junge alleinerziehende Mutter) prognostizieren zahlreiche Verhaltens-, Gesundheits- und Wachstumsprobleme. Dafür kann es unterschiedliche Erklärungen geben. Erstens sind Risikofaktoren oft miteinander verkettet: Risiken prognostizieren Risiken. Armut, Unterernährung, Bleibelastung, niedriges Geburtsgewicht, geringe Bildung der Eltern und Vernachlässigung treten nebeneinander auf. Demnach kommen auf jeden gemessenen Faktor wahrscheinlich noch weitere, unberücksichtigte Faktoren. Zweitens sind manche Risikofaktoren so grundlegend, dass sie mehr als nur einen Anpassungs- oder Entwicklungsaspekt schwächen. So ist die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln unabdingbar für eine normale Entwicklung, weswegen Unterernährung ein breites Spektrum an Problemen in Bezug auf Wachstum, Gehirnentwicklung und Kognition verursacht (Fiese, Gunderson, Koester & Washington 2011; Walker et al. 2011). Und drittens führt ein Problem wahrscheinlich zu einem anderen Problem, sodass ein einziger Risikofaktor mit der Zeit eine ganze Problemlawine auslöst, die zugleich mehrere Bereiche erfasst. Liegt etwa im Vorschulalter ein Risikofaktor vor, der sich negativ auf die Entwicklung der für die Aufmerksamkeit und die Impulskontrolle wesentlichen Selbstregulationsfähigkeit auswirkt, kann das tief greifende Folgen für den späteren schulischen Erfolg haben. Der Lernprozess, die Freundschaften mit Gleichaltrigen und die Beziehungen zu Lehrern werden vermutlich beeinträchtigt (Diamond & Lee 2011, Masten, Herbers et al. 2012).

Recht früh zeigte sich in der Risikoforschung, dass Risikofaktoren im Leben von Kindern selten isoliert, sondern gehäuft auftreten oder sich nach einer Weile ansammeln. Der Begriff dafür lautet: kumulatives Risiko (Masten, Best & Garmezy 1990; Rutter 1979; Sameroff, Seifer & Bartko 1997). Darüber hinaus wurde klar, dass mit der Anzahl der Risikofaktoren auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Problemen steigt. So hatten Kinder mit mehreren Risikofaktoren eher psychische und Verhaltensprobleme als Kinder mit wenigen oder gar keinen Risikofaktoren (Evans et al. 2013, Obradović et al. 2012). Außerdem erwiesen sich die meisten Hauptrisikofaktoren (d. h. Faktoren mit breit gefächerten Prognosen oder weitreichendem Effekt) als Marker für viel komplexere, mit vielen Bedrohungen und Stressoren verknüpfte Prozesse. Demnach ist eine Scheidung kein einzelnes Erlebnis, sondern ein allgemeiner Risikofaktor für verschiedenste Probleme im Kindes- und Erwachsenenalter, sowohl über einen langen als auch über einen kurzen Zeitraum (Hetherington 1979, Kelly & Emery 2003). Der elterliche Konflikt kann Jahre dauern, vielleicht hat er schon vor der Scheidung bestanden und geht auch anschließend noch weiter. Darüber hinaus kann die Zerrüttung der Familie weitere bedrohliche Folgen haben; es kommt zu finanziellen Engpässen und Brüchen aufgrund von Wohnungs- und Schulwechsel, familiäre und freundschaftliche Beziehungen werden getrennt. Auch die Suche nach einem neuen Partner oder die Gründung einer Patchworkfamilie kann sich belastend auswirken.

In den Publikationen zum Thema Resilienz lassen sich zwei grundsätzliche Herangehensweisen an die Erforschung kumulativer Risiken erkennen. Die eine konzentriert sich auf das tabellarische Anordnen der bekannten Risikofaktoren im Leben einer Person. Bei der anderen wird der Grad der Belastung gemessen, entweder durch das Addieren der negativen Lebensereignisse in einem festgelegten Zeitraum oder die quantitative Bestimmung der kumulativen Exposition gegenüber potenziell schädigenden Lebensereignissen. Diese kumulativen Risikoberechnungen werden dann mit den Zielergebnissen verknüpft (siehe Kapitel 2, im Abschnitt über Modelle, die mit Risiko und Resilienz arbeiten). Mit zunehmendem kumulativen Risiko steigt meist auch die Anzahl der durchschnittlich in einer Gruppe von Menschen beobachteten Probleme (siehe Risikogradienten in Kapitel 2).

1.3.2 Die Beurteilung der Lebensqualität anhand von Entwicklungsaufgaben, Kompetenz und Kaskaden

Zur Erforschung oder Bestimmung der Resilienz muss man außerdem beurteilen, wie gut es einem Menschen (oder einem System) – entweder langfristig oder kurzfristig – in Bezug auf die Anpassungsfähigkeit oder Entwicklung geht. Bei einem komplexen Lebewesen wie dem Menschen ist diese Beurteilung auf vielerlei Weise und auf mehreren Analyseebenen möglich (Cicchetti 2010, Masten 2007, Masten, Burt & Coatsworth 2006). In all den Jahren war man sich deshalb nicht immer einig über die in Resilienzstudien verwendeten Kriterien zur Definition positiver Adaptation. Man stritt sich, ob man neben den äußeren Erfolgen auch das innere Wohlbefinden in Betracht ziehen, wer die Kriterien aufstellen und ob ein Kriterium allgemein oder spezifisch sein sollte (siehe Kapitel 12; Luthar 2006, Luthar, Cicchetti & Becker 2000, Masten 1999, 2007, 2012a, 2013b; Schoon 2006).

In Verhaltensstudien zur Resilienz werden häufig zwei Arten von Kriterien zur Beurteilung des Erfolgs verwendet, die sich auf die positive oder negative Funktionsfähigkeit konzentrieren, d. h.: (1) die Kompetenz bzw. den Erfolg bei altersspezifisch vorrangigen Entwicklungsaufgaben oder (2) die psychopathologischen Symptome. Egal ob man nun erwünschte oder unerwünschte Ergebnisse betrachtet – man bewertet die Lebensqualität eines Menschen in Relation zu etablierten Normen oder Erwartungen im entwicklungsgemäßen, historischen, kulturellen und / oder situationsabhängigen Kontext.

Dass man zur Definition einer guten Adaptation oft die Abwesenheit von Symptomen einer psychischen Störung als Kriterium heranzog, überrascht nicht, da die Resilienzforschung ja aus den Bemühungen erwuchs, die Entwicklung von psychischen Störungen zu verstehen und zu verhindern. So scheint es bei der Untersuchung von Kindern mit einem Risiko auf psychische Störungen nur vernünftig, die Qualität des Ergebnisses danach zu definieren, wie erfolgreich eine psychische Störung vermieden wurde. Doch wenn man erwachsene Durchschnittsbürger und -bürgerinnen fragen würde, ob ihnen eine Person einfalle, deren Leben gut läuft, würden sie kaum antworten: „Sie ist nicht psychisch krank“, sondern positive Eigenschaften oder Erfolge nennen. Fragte man Eltern, was sie sich für ihre Kinder erhofften, würden sie bestimmte Leistungen oder Glück nennen und nicht die Abwesenheit von Problemen. Wenn Eltern für gemeinhin sagen, dass sie ihren Kinder ein glückliches Leben und Erfolg in Beziehungen, in der Schule und im Beruf wünschen, implizieren sie ja damit, dass diese möglichst keine psychische Krankheit bekommen, nicht als Teenager schwanger werden, Drogen nehmen oder die Schule abbrechen.

Entwicklungsstudien zur Resilienz definieren eine gute Adaptation häufig in Bezug auf Erfolg bei altersspezifisch vorrangigen Entwicklungsaufgaben (Masten 2001, McCormick, Kuo & Masten 2011, Roisman, Masten, Coatsworth & Tellegen 2004, Sroufe 1979). Entwicklungsaufgaben sind die Verhaltensweisen und Leistungen, die eine Gemeinschaft oder Gesellschaft von verschiedenen Altersgruppen erwartet. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben reicht tief in die Vergangenheit hinein (siehe Masten, Burt et al. 2006), wurde jedoch in der Pädagogik und Entwicklungspsychologie durch Robert Havighurst (1974) bekannt, als dieser Professor an der University of Chicago war. Manche Erwartungen an das Verhalten von Kindern und Jugendlichen sind gesellschaftlich so weit verbreitet, dass man sie als „universell“ bezeichnen kann. So erwartet man überall von Kindern, dass sie Laufen und Sprechen lernen und den Regeln der Gesellschaft folgen. Andere Aufgaben hingegen sind in industriell oder kulturell ähnlich entwickelten Gesellschaften üblich. Zum Beispiel erwarten viele Gesellschaften, dass Kinder zur Schule gehen und dort etwas Nützliches lernen. Doch gibt es auch Entwicklungsaufgaben, die nur in einer bestimmten Region oder Kulturgruppe vorkommen, wie etwa die Erwartung, dass man Weben oder Fischen lernt. Außerdem gibt es in manchen Lebensabschnitten der Angehörigen einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur auch einen gewissen Spielraum bei der Wahl alternativer Entwicklungsaufgaben (etwa zwischen Familie und Beruf).

Als Entwicklungsaufgaben gelten in der Regel beobachtbare Leistungen wie die Sprechfähigkeit oder ein Schulabschluss, aber auch innere wie etwa Glück oder das Gefühl von Identität. So ist die Identitätsfindung für Erik Erikson (1968, 2005) die alles entscheidende Herausforderung während der Adoleszenz. In Tabelle 1.1 sind Beispiele für die in vielen Industriestaaten üblichen vorrangigen Entwicklungsaufgaben jeder Entwicklungsphase aufgeführt, anhand derer sich beurteilen lässt, wie es jemandem geht. Diese vordringlichen Aufgaben spiegeln sowohl die Fähigkeiten typischer Menschen einer bestimmten Altersgruppe oder Lebenserfahrungsstufe wider als auch die kollektive Weisheit der Kultur in Bezug auf die dort üblichen Meilensteine und Erfolgsprädiktoren. Mit fortschreitender Reife treten einige Aufgaben allmählich in den Hintergrund und andere in den Vordergrund. Sobald ein Kleinkind laufen kann, ist Krabbeln weniger wichtig. Und bei Eintritt ins Erwachsenenalter ist die schulische Leistung nachrangig, während die berufliche und die elterliche vorrangig werden.

Säuglingsalter

Bindung zu primären Bezugspersonen

Sitzen und Krabbeln

Zunehmend: Über Gestik und Sprache kommunizieren

Kleinkind- und Vorschulalter

Abnehmend: Krabbeln

Laufen und Rennen

Die Sprache der Familie lernen

Einfachen Anweisungen gehorchen

Mit anderen Kindern spielen

Zunehmend: Selbstkontrolle der Aufmerksamkeit und Impulse

Erste Schuljahre

Zur Schule gehen und sich angemessen verhalten

Die Sprache des näheren Umfelds lesen und schreiben lernen

Sich mit anderen Kindern vertragen

Respekt und Gehorsam gegenüber älteren Menschen

Zunehmend: enge Freundschaften eingehen

Adoleszenz

Anpassung an den körperlichen Reifungsprozess

Erfolgreicher Übergang auf eine weiterführende Schule

Gesellschaftliche Regeln und Gesetze beachten

Bekenntnis zu einer Glaubensgemeinschaft

Aufbau enger Freundschaften

Zunehmend: Suche nach Identität, erste Versuche mit Liebesbeziehungen und Arbeit

Junges Erwachsenenalter

Abnehmend: Schulbildung

In sich schlüssiges Selbstbild

Eingehen einer engen Liebesbeziehung

Familiengründung

Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie durch Arbeit zu Hause oder außerhalb

Stabilisierung der beruflichen Laufbahn

Zunehmend: bürgerliches Engagement

Tabelle 1.1: Die üblichen vorrangigen Entwicklungsaufgaben verschiedener Altersstufen

Kleine Kinder nehmen diese entwicklungsspezifischen Erwartungen vonseiten der Eltern und der Gesellschaft kaum bewusst wahr, werden aber trotzdem anhand dieser Kriterien beurteilt. Größeren Kindern und Jugendlichen sind sie hingegen ziemlich bewusst und dienen ihnen zur Einschätzung ihres Erfolgs, Misserfolgs oder Selbstwerts, je nachdem wie gut sie ihrer Meinung nach bei der Bewältigung dieser Aufgaben abschneiden beziehungsweise wie sie meinen, dass andere ihren Fortschritt oder Erfolg beurteilen. Jugendliche, die sich von ihrer Familie entfremden, schlagen manchmal einen Weg ein, der absichtlich nicht mit den entwicklungsspezifischen Erwartungen der Mainstream-Gesellschaft übereinstimmt. Dies bezeichnete Erikson (1968) als Bildung einer „negativen Identität“.

Warum legen Gesellschaft, Eltern, andere Beteiligte und irgendwann auch die Kinder selbst Wert auf die kompetente Bewältigung von Entwicklungsaufgaben? Meiner Ansicht nach deshalb, weil sie beobachtet haben, dass über Generationen hinweg das Erreichen dieser Meilensteine ein Indikator dafür ist, dass ein Kind sich auf dem rechten Weg befindet und es ihm später einmal gut ergehen wird. So lautet ein landläufiger Grundsatz, der auch für die entwicklungspsychologische Theorie der Kompetenz und ihrer Entwicklung wesentlich ist und von der Wissenschaft gestützt wird (Heckman 2006, Masten, Burt et al. 2006; McCormick et al. 2011): Kompetenz erzeugt Kompetenz.

Die These, dass das Abschneiden bei einer Entwicklungsaufgabe auf andere Anpassungsbereiche überspringt, ist immer wieder auch Thema der Erforschung der sogenannten Entwicklungskaskade, auch progressive Entwicklung, Schneeball- oder Dominoeffekt genannt; wenn also ein Effekt sich nicht auf nur einen Funktionsbereich, eine Ebene oder ein System beschränkt, sondern auf weitere überspringt, womöglich sogar generationsübergreifend (Masten & Cicchetti 2010c). Diese Kaskaden können sich natürlich nicht nur positiv, sondern auch negativ auf das Leben eines Kindes auswirken. Die nachfolgenden Kapitel handeln von Modellen, Forschungsergebnissen und Interventionen, die der Förderung von positiven und der Unterbrechung von negativen Kaskaden dienen.

Kinder oder Jugendliche, denen es überall dort, wo sie von ihrem Lebensumfeld und ihrer Familie beurteilt werden, gut ergeht, könnte man als gut angepasst, kompetent, erfolgreich oder lernfähig bezeichnen. Die Kriterien für Resilienz würden sie jedoch erst dann erfüllen, wenn sie zuvor auch großen Gefahren oder einem hohen Ausmaß an Unglück ausgesetzt waren. Denn wie gesagt erfordert Resilienz ja nicht nur eine positive Anpassung, sondern auch ein evidentes Risiko.

1.4 Was bewirkt den Unterschied?

Die Resilienzforschung hat letztlich ein praktisches Ziel: die Bemühungen um eine positive Wende zugunsten der Anpassung und Entwicklung zu unterstützen. Motiviert wurde sie schon immer von der Frage: Was hilft Kindern weiter, deren Leben von Nachteilen oder Widrigkeiten bedroht wird? Die Wegbereiter der Resilienz glaubten, dass ein Verständnis der Resilienzprozesse – d. h. dafür, wie manche Kinder schwere Schicksalsschläge erfolgreich überstehen und kompetent und gut angepasst heranwachsen – wichtige Strategien und Interventionen liefern könnte, die den Effekt von Widrigkeiten auf die Entwicklung und das Wohlbefinden des Kindes abwenden oder mildern. Der erste Schritt auf dem Weg dahin bestand darin, die Unterschiede herauszufinden zwischen den Kindern, die es geschafft hatten, und denjenigen, die es nicht geschafft hatten, und nach Hinweisen auf die entscheidenden Gründe zu suchen. Dafür gibt es diverse Möglichkeiten, am einfachsten ist es jedoch, Menschen zu vergleichen, die denselben Hintergrund oder dieselben Risikofaktoren haben, sich aber sehr unterschiedlich entwickeln. Die Unterschiedlichkeit der Gruppen lässt darauf schließen, dass Adaptionsprozesse am Werk sind.

Die Merkmale, die die Kinder als resilient oder maladaptiv ausweisen – Familie, Beziehungen und andere Lebensaspekte – sind in vielen Studien weltweit so konsistent, dass man daraus eine Liste der am häufigsten beobachteten Resilienzfaktoren zusammenstellen kann (siehe Kapitel 6). Diese Faktoren, darunter individuelle Merkmale sowie solche in Bezug auf die Familie und das Umfeld, werden in der Regel mit besseren Ergebnissen bei jungen, von Widrigkeiten betroffenen Menschen assoziiert. Mithilfe dieser Liste lassen sich die adaptiven Prozesse ausmachen, die größtenteils erklären, warum verschiedene Menschen in verschiedenen Situationen Resilienz aufweisen. Andererseits können diese allgemeinen Schutzfaktoren kaum immer und überall ausschlaggebend sein, da es zweifellos auch einmalige Konstellationen individueller Risiko- und Schutzfaktoren gibt, die sich in einem bestimmten Moment miteinander verbinden und Resilienz produzieren.

1.5 Zum Aufbau des Buches

Im nächsten Kapitel beschreibe ich die wichtigsten Risiko- und Resilienzmodelle, an denen sich die entwicklungspsychologische Resilienzforschung orientiert. Teil II ist eine kurze, von Fall- und Forschungsbeispielen veranschaulichte Zusammenfassung der Evidenzlage in Bezug auf Resilienz bei Kindern und Jugendlichen. Da ein Gesamtüberblick mehrere Bände füllen würde, konzentriere ich mich hier auf die drei wichtigsten Resilienzstudien. Dabei stütze ich mich selektiv auf Schriften zum Thema Resilienz bei Kindern, die unter verbreiteten negativen Lebensumständen wie Armut, Obdachlosigkeit, Katastrophen und Krieg aufgewachsen sind, sowie auf die Ergebnisse meiner eigenen und anderer, ähnlicher Studien zu Kindern, die sowohl gewöhnliche als auch außergewöhnliche Widrigkeiten erlebt haben. In Teil III beschreibe ich die Liste der Faktoren, die in der Resilienzforschung eine Rolle spielen, und erläutere, was diese über die der Resilienz zugrunde liegenden Anpassungssysteme und -prozesse aussagen. Dieser Abschnitt enthält außerdem einige Kapitel über die Resilienzforschung aus der Perspektive multipler Analyseebenen. Eines beschäftigt sich mit der noch am Anfang stehenden Neurobiologie der Resilienz; weitere Kapitel setzen sich mit Resilienz im Zusammenhang mit drei wichtigen Entwicklungsbereichen auseinander: Familie, Schule und Kultur. Teil IV fasst die Konsequenzen der Resilienzforschung zusammen, sowohl für die praktische und politische Förderung von Resilienz als auch für zukünftige Forschungsprojekte. In Kapitel 11 stelle ich ein Resilienz-Rahmenwerk sowie praktisch-theoretische Richtlinien vor, mit dem Ziel, die positive Anpassung und Entwicklung bei durch Widrigkeiten oder Nachteile gefährdeten Kindern zu fördern. Im letzten Kapitel fasse ich alle bis dato gewonnenen Erkenntnisse zum Thema Resilienz in der Entwicklung zusammen. Ich gehe dabei auch auf die andauernden Kontroversen ein und betrachte neue Horizonte in der Resilienzwissenschaft. Diese hat gerade erst damit begonnen, die spannenden Errungenschaften der Neurowissenschaften zu integrieren. Neu ist auch, dass man Resilienztheorien zu spezifischen Schutzprozessen in Interventionsexperimenten austestet, damit Menschen resilienter werden und sich in positiveren Bahnen entwickeln können. Anhang A enthält ein Glossar der verwendeten Begriffe und Abkürzungen.

Dieses Buch dreht sich hauptsächlich um die Entwicklung der Resilienz bei einzelnen Menschen und nicht so sehr um die von größeren Systemen wie Familien oder Gemeinwesen. Da natürlich das System, in dem ein Kind lebt, Einfluss auf dessen Resilienz hat, werde ich aber auch auf die diesbezüglichen Rollen von Familie, Schule, Gemeinde und Kultur eingehen. Außerdem betrachte ich eine bestimmte Zeitspanne, in der die Grundlagen für Resilienz gelegt werden, nämlich die von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter. Zwar steigt das Interesse an der Resilienz bei erwachsenen und älteren Menschen und auch die Anzahl der Forschungsarbeiten dazu (siehe Hayslip & Smith 2012, Reich, Zautra & Hall 2010), doch hat die Forschung sich bisher noch wenig damit befasst und sich größtenteils auf die Zeit zwischen Geburt und Volljährigkeit konzentriert. So konzentriere auch ich mich auf die ersten 20 Lebensjahre, wobei ich den Übergängen (d. h. zu Schulzeit, Adoleszenz und Erwachsenenalter) besondere Aufmerksamkeit schenke, weil sie gerade für Risikokinder kritische Momente darstellen, die entweder Chancen bieten oder verwundbar machen. Des Weiteren gehe ich auf sogenannte „Spätzünder“ ein, die erst im Übergang zum Erwachsenenalter einen drastischen Wandel in ihrer Entwicklung vollziehen.

Das Buch basiert auf einer einfachen These: Resilienz ist das Ergebnis „gewöhnlicher Zauberei“. Es ist nachvollziehbar, woher sie kommt und wie man sie pflegen kann, sie ist jedoch keineswegs einfach. Denn die Anpassung und die Entwicklung des Menschen sind hochkomplexe Prozesse, zumal Kinder in den verschiedensten, sich ständig verändernden Welten aufwachsen. Infolgedessen ist der Weg zu einem Verständnis der Resilienz kein leichtes Unterfangen. Aber: Es geht voran! Nun gibt es allerdings Kinder, die es alleine wahrscheinlich nicht schaffen und auch nicht so lange warten können, bis die Wissenschaftler alles ganz genau durchblickt haben. Deshalb soll in diesem Buch der augenblickliche Wissensstand geprüft werden, an dem sich Hilfsmaßnahmen orientieren können – zugunsten dieser Kinder.

2. Resilienzmodelle

Um zu sehen, wie Resilienz unter natürlichen Gegebenheiten auftritt und wie man sie in Interventionsstudien mobilisieren kann, braucht man Forschungsmodelle, Methoden und Strategien. Jede Herangehensweise lässt sich in eine von zwei klar voneinander abgegrenzten Gruppen oder als Mischform klassifizieren und beinhaltet immer eine Vielzahl analytischer Modelle (Masten 2001). Bei personenfokussierten Studien werden Personen mit einer vermutlich resilienten Lebensgeschichte identifiziert und auf Indizien für Ressourcen oder Schutzprozesse untersucht, die eine Erklärung für ihre Resilienz liefern könnten. Dieser Ansatz umfasst Einzel- oder aggregierte Fallstudien von passiv beobachteter Resilienz, Untersuchungen von einzelnen Menschen und ihren Veränderungen über einen längeren Zeitraum sowie die Erforschung von Resilienz erzeugenden Interventionen für Menschen mit einem Risiko in Bezug auf schwere Anpassungsprobleme.

In variablenfokussierten Studien untersucht man die in variablen Gruppen auftretenden Muster empirisch, testet sie statistisch und verknüpft die gemessenen Attribute der Personen, ihrer Beziehungen und ihres Umfelds mit deren Erfahrungen. Auch hier ist das Ziel, herauszufinden, was ausschlaggebend für Resilienz ist und wie sie funktioniert. Die mit diesem Ansatz getesteten Modelle korrelieren die Gefahren mit spezifischen Ergebnissen und berücksichtigen dabei potenziell einflussreiche Attribute oder Prozesse im Menschen, in seinen Beziehungen, Ressourcen oder Interaktionen mit der Umwelt, die als Gründe für die unterschiedlichen Ergebnisse infrage kommen. Seit man neuerdings zur Untersuchung der Gemeinsamkeiten bei langfristig auftretenden Verhaltensmustern hoch entwickelte Statistikinstrumente verwendet, gibt es auch Mischformen, die Eigenschaften der personen- und variablenfokussierten Methoden miteinander kombinieren.

Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile (Luthar 2006, Masten 2001). Personenfokussierte Studien liefern aussagekräftige und fesselnde Fallbeispiele und erfassen die Resilienz in ihrer Ganzheitlichkeit. Sie folgen der vernünftigen Sichtweise, dass als resilient gilt, wer sich im Gesamten auf vielfältige Weise anpasst, aber nicht unbedingt in sämtlichen Bereichen auch erfolgreich ist. Demnach würde jemand, der ein Trauma überlebt hat und in der Schule oder im Beruf Erfolg hat, aber Familienangehörige misshandelt, nicht als resilient bezeichnet werden. Personenfokussierte Ansätze respektieren außerdem die empirische Evidenz, dass Hauptmerkmale der Resilienz oder damit assoziierte Schutzfaktoren häufig gemeinsam, aber, wie es scheint, nicht zufällig auftreten. Das lässt vermuten, dass hier vielschichtige Anpassungssysteme am Werk sind, wo das Ganze größer als die Summe seiner Einzelteile bzw. untrennbar mit seinen Komponenten oder Prozessen verbunden ist.

Will man spezifische Prozesse oder Schutzfaktoren auf bestimmte Aspekte des adaptiven Funktionierens hin testen, sind variablenfokussierte Strategien besser geeignet. Da diese mit schon lang etablierten und leistungsfähigen multivariaten Techniken arbeiten, hat man sie bis vor Kurzem für statistische Tests von Resilienzmodellen bevorzugt. Nun haben Fortschritte in der personenfokussierten Forschung und deren Instrumenten zu neuen, spannenden Methoden geführt, die die Komplexität menschlichen Verhaltens im Kontext erfassen. Sie beachten nicht nur die Ganzheitlichkeit des Menschen im Lauf der Zeit, sondern ermöglichen auch eine feinmaschigere Analyse, was wann und für wen einen Unterschied ausmacht. Dafür werden in diesen Methoden die auf individueller Unterschiedlichkeit basierenden und statistisch aussagekräftigen Informationen des variablenfokussierten Ansatzes mit berücksichtigt (Bergman & Magnusson 1997, Nagin 1999).

2.1 Personenfokussierte Resilienzmodelle

2.1.1 Der Einzelfall

In der Geschichte der Resilienzwissenschaft wird oft berichtet, dass die Motivation zur Erforschung dieses Phänomens durch die Lebensgeschichten junger Menschen ausgelöst wurde, denen es gelungen war, große Widrigkeiten zu bewältigen. Die ersten Wissenschaftler, die Kinder mit einem Risiko (in Bezug auf Fehlanpassung oder psychische Probleme aufgrund von Widrigkeiten oder Nachteilen) untersuchten und mehr erfahren wollten, waren meist Psychologen und Psychiater. Zu ihnen gehörte auch Norman Garmezy (1982), der in seinem Artikel „The Case for the Single Case“ den heuristischen Wert von Einzelfallstudien erläuterte.

Einzelfallstudien zur Resilienz sind meist Biografien oder Autobiografien von Menschen, die tatsächlich eine außerordentliche Vielfalt an Widrigkeiten beschreiben, aber auch Erfolge – minuziöse Chronologien, die zeigen, wie reichhaltig und vielschichtig das Leben ist. Wie Sie an den folgenden Beispielen sehen, verlaufen resiliente Lebenswege selten geradlinig oder einfach. In der leuchtenden Prosa ihrer autobiografischen Serie, die mit Ich weiß, daß der gefangene Vogel singt beginnt, schildert Maya Angelou (1983) das komplexe Auf und Ab ihres Lebens. Sie berichtet, wie sie als Afroamerikanerin in den USA aufwuchs und was sie alles ertragen musste: die Trennung von den Eltern, Vergewaltigung und Armut. Eine von Entbehrungen und Widrigkeiten gezeichnete Kindheit hat auch Oprah Winfrey überstanden, eine der erfolgreichsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der amerikanischen Unterhaltungsbranche. JoAn Criddle (1998) berichtet in ihrem nach einem Slogan der Khmer Rouge benannten Buch To Destroy You Is No Loss von dem fünfjährigen Überlebenskampf eines jungen Mädchens namens Thida Butt Mam und deren Familie, die nach der Eroberung von Phnom Penh nach Thailand flüchteten. Antwone Fishers Autobiografie Finding Fish – Vorlage für einen mehrfach ausgezeichneten Film – erzählt die bewegende Vergangenheit eines Mannes, der seine Kindheit in Heimen und bei Pflegeeltern verbrachte, missbraucht wurde und wiederholt Verluste erlitt, bis er schließlich zur Marine ging. Dort traf er auf einen Psychiater, mit dessen Hilfe er seinem Leben eine neue Richtung geben konnte (Fisher & Rivas 2001). Der Film Homeless to Harvard zeigt die Geschichte von Liz Murray, Tochter drogenabhängiger Eltern, die mit 15 Waise wurde, völlig mittellos war, ein Harvard-Stipendium der New York Times gewann und nach ihrem Studienabschluss im Jahre 2010 die Autobiografie Breaking Night veröffentlichte (Murray 2011). Elizabeth Smart wurde entführt und neun Jahre in meist notdürftigen Unterkünften gefangen gehalten, immer wieder angekettet und vergewaltigt. Sie litt Hunger und lebte in ständiger Angst, bis sie endlich gerettet wurde. Zehn Jahre später berichtet sie über dieses Trauma und die anschließende Wiedervereinigung mit ihrer Familie, die Umgewöhnung an das Leben zu Hause und den Prozess ihrer Entführer (Smart & Stewart 2013). Heute ist sie verheiratet und Präsidentin einer Stiftung, die sich um Kinder kümmert, die Opfer eines Verbrechens wurden.

Mein Mentor Norman Garmezy hielt solche Fälle für sehr wertvoll, weil sie der Veranschaulichung von Resilienz dienten und neue Forschungsideen anregten. In seinen Vorlesungen sprach er gerne über resiliente Menschen, von denen einige berühmt, die meisten jedoch unbekannt waren. Eine seiner Lieblingsgeschichten hatte er in einem Lokalblatt aus dem Jahre 1978 entdeckt. Ein elfjähriges Mädchen – ein Fan der fiktiven Detektivin Nancy Drew – war entführt und im Kofferraum eines Autos eingesperrt worden. Doch wie ihre Heldin bewahrte sie in dieser scheinbar ausweglosen Situation die Ruhe und schaffte es, sich zu befreien, indem sie ein Rücklicht auseinandernahm (Garmezy 1982). Gerne erwähnte Garmezy auch eine historische Berühmtheit, deren Vater ihre Mutter getötet und die von ihrer Halbschwester im Tower von London gefangen gehalten wurde. Diese Frau wurde später zur Königin gekrönt und hieß Elisabeth I.

In einer seiner Schriften nimmt Garmezy (1985) Bezug auf einen Beitrag, den Manfred Bleuler – Sohn des Mitbegründers der Psychiatrie, Eugen Bleuler – für einen Band über die ersten Risikostudien (Watt, Anthony, Wynne & Rolf 1984) verfasst hatte und der vom „paradoxen Fall“ der Verena Maurer handelt. Diese hatte eine schwierige Kindheit und Jugend gehabt, weil ihr Vater alkoholabhängig und ihre Mutter schizophren war und sie ihre jüngeren Geschwister so gut wie allein versorgen musste. Bleuler blieb in Kontakt mit ihr und erlebte, wie aus ihr eine gesunde und glückliche Ehefrau und Mutter wurde. Seinem Eindruck nach verfügte sie über keine besonderen Begabungen und war zu Aufgaben berufen, die ihr gut gelangen, Spaß machten und am Herzen lagen.

2003 las ich im Alumni-Magazin der University of Minnesota einen Artikel über die Lebensgeschichte von Michael Maddaus (Broderick 2003). Er war in einer chaotischen, von Alkoholismus und Gewalt geprägten Familie aufgewachsen, als Jugendlicher auf die schiefe Bahn geraten und dann aber ein erfolgreicher Chirurg geworden. Dr. Maddaus repräsentiert den klassischen Fall des „Spätzünders“, der am Übergang zum Erwachsenenalter – also in einer Phase, in der sich bei entgleisten jungen Menschen Resilienz abzeichnen könnte (Masten, Obradović & Burt 2006) – doch noch die Kurve kriegt. An der Schwelle zum Erwachsenenalter, wenn das Gehirn und dessen Funktionen entsprechend ausgereift sind, sind viele Menschen motiviert, zukunftsorientiert und planungsfähig. Zeitgleich stützt die Gesellschaft oft das positive Wachstum durch Angebote wie höhere Bildung, Wehrdienst oder Lehrstellen sowie die gesetzliche Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben (Masten, Obradović et al. 2006; Masten et al. 2004).

Mit der Entwicklung des Gehirns wird man auch fähig zur Selbstreflexion. Dies entspricht den Berichten vieler Spätzünder, die mit 18, 19 Jahren zu der Einsicht gelangen, dass sie ihr Leben ändern sollten. So auch Maddaus. Er ging zum Militär, machte dort vom Gesetz zur Wiedereingliederung von Soldaten ins Berufsleben Gebrauch und ließ sich ehrenvoll entlassen, um wieder zur Schule zu gehen. Seine Mentoren rieten ihm zum Medizinstudium. Doch der Weg vom kriminellen Jugendlichen zum Arzt verlief weder glatt noch gradlinig. Der Wehrdienst sei nur ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, sagt er. Dem folgten weitere, aber auch Probleme und Rückschläge. So hatte er nicht lange nach der Entlassung aus dem Militär einen Autounfall wegen Trunkenheit am Steuer. Als er auf der Intensivstation aufwachte, beschloss er, das Ruder wieder herumzureißen.

Maddaus holpriger Lebensweg ist eine spannende Resilienzgeschichte, die er gerne mit jungen Menschen teilt, etwa mit Teenagern, die riskante Wege gehen, oder mit Assistenzärzten in der Chirurgie. Seine Geschichte ist auch Thema einer Folge der populärwissenschaftlichen Fernsehserie Nova, die 2010 unter dem Titel This Emotional Life auf dem US-amerikanischen TV-Sender PBS lief.

Vor Kurzem führte Mikes Weg wieder einmal über größere Stolpersteine. Als ich mit ihm sprach, wurde uns beiden klar, dass seine Resilienz bei allem Auf und Ab immer da ist, aber schwankt. Er ist eben in mancher Hinsicht verletzbar, was wohl auf seine Kindheit zurückgeht. Wie man an seinem Lebenslauf sehen kann, bedeutet Resilienz weder Unverwundbarkeit noch Reibungslosigkeit. Daher erzählt er jungen Menschen nicht nur über Erfolge und Triumphe, sondern auch über Fehler und Kämpfe. Als er kürzlich in einem meiner Grundstudiumsseminare einen Vortrag über die Höhen und Tiefen seines Werdegangs hielt, waren die Studierenden fasziniert von seiner Ehrlichkeit. Als ich sie bat, über die Schutzfaktoren zu schreiben, auf denen seine Resilienz gründete, nannten sie Intelligenz, Kontaktfreudigkeit, Entschlossenheit, Mentoren, Chancen und Optimismus.

Man sollte einmal überlegen, was die Betroffenen davon haben, wenn sie „Geschichten über Resilienz erzählen“, schreiben, malen, Filme drehen oder anregende Vorträge vor jungem Publikum halten. Es könnte eine Form der Transformation oder Therapie sein, durch die man traumatische Erfahrungen einigermaßen in den Griff beziehungsweise unter Kontrolle bekommt.

In JoAn Criddles (1998) Biografie über die Frau, die die Brutalitäten der Khmer Rouge überlebte, erreicht Thida Butt Mam im Teenageralter einen Punkt, an dem sich ihr Leben von der Verzweiflung zur Hoffnung wendet. Als sie und ihre Freundinnen erfahren, dass eine von ihnen in ein Arbeitslager verschleppt und dort zu Tode vergewaltigt worden ist, haben sie furchtbare Angst, dass ihnen dasselbe passieren könnte. Sie schwören einander, sich lieber umzubringen, als Opfer zu werden, und tragen von nun an immer Gift bei sich. Thida Butt Mam glaubt sich dem Untergang nahe und verfällt in eine Depression: „Ich fühlte mich in meinem Inneren wie abgestorben und ertappte mich dabei, wie ich mehrmals täglich nach dem Fläschchen tastete“ (S. 156). Doch hat sie eine Art Erleuchtung. Sie stellt fest, dass die brutalen Soldaten nicht die ganze Welt unter Kontrolle haben. Die folgende Passage soll dies veranschaulichen (NB: Der Begriff Angka Loeu bezieht sich auf die Vorherrschaft der Khmer Rouge).

„Dann, eines Morgens auf meinem Weg zur Reisplantage, blickte ich, genau in dem Moment, als die Sonne über den Feldern aufging, unversehens hoch. Die reine Schönheit der schwer reifen Ähren, deren Silhouette sich gegen den prächtigen orangefarbenen Himmel abzeichnete, nahm mir den Atem. Ein wuchtiger Büffel trottete schwerfällig durch diese Szene. Da war mir zumute, als hätte das Leben einen durchgehenden Zusammenhang, von früher bis heute – ein Augenblick, der mich Geduld und Beharrlichkeit lehrte. Die ganze Natur bestätigte, dass es Dinge gab, über die Angka Loeu keine Macht hatte. Weder über den Sonnenaufgang noch über die Wolke, weder über den Wind noch über den Bambus hatte Angka Macht, und auch nicht über mich. Angka Loeu war nicht allmächtig. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass das Leben noch immer irgendwie lebenswert war.“

(S. 156–157; mit Genehmigung der Autorin, JoAn D. Criddle)

Der Holocaustüberlebende Viktor E. Frankl (2008) beschreibt in seinem Buch Trotzdem Ja zum Leben sagen einen Moment, in dem er und andere Häftlinge im Konzentrationslager einen ungebrochenen Lebenswillen und eine starke Dankbarkeit für die Schönheit der Natur verspüren:

„Oder es kam einmal dazu, dass eines Abends, als wir todmüde von der Arbeit, die Suppenschüssel in der Hand, in den Baracken auf dem Erdboden schon hingestreckt lagen, plötzlich ein Kamerad hereinstürzte, um uns aufzufordern, hinauszueilen auf den Appellplatz, trotz aller Müdigkeit und trotz der Kälte draußen, nur um uns den Anblick eines Sonnenuntergangs nicht entgehen zu lassen.

Und wenn wir dann draußen die düster glühenden Wolken im Westen sahen und den ganzen Horizont belebt von den vielgestaltigen und stets sich wandelnden Wolken mit ihren phantastischen Formen und überirdischen Farben von Stahlblau bis zum blutig glühenden Rot und darunter kontrastierend, die öden grauen Erdhütten des Lagers und den sumpfigen Appellplatz, in dessen Pfützen noch sich die Glut des Himmels spiegelte, dann fragte der eine den anderen, nach Minuten ergriffenen Schweigens: ‚Wie schön könnte die Welt doch sein!‘“(S. 69).1