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Verhaltenstherapeutische Gruppentherapie bietet eine sehr gute Ergänzung und Intensivierung der ambulanten Einzeltherapie. Insbesondere Menschen mit chronischen Depressionen profitieren von solchen multimodalen und -professionellen Behandlungsstrategien. Für diese Patientinnen und Patienten wurde das in diesem Manual vorgestellte strukturierte gruppentherapeutische Vorgehen entwickelt. Es ergänzt bewährte kognitiv-verhaltenstherapeutische Techniken durch aktive und sinnesbezogene Übungen und ermöglicht so intensive Lernerfahrungen im Gruppenkontext. Dabei stehen Ressourcenaufbau und Veränderungswissen im Vordergrund. Die theoretischen Grundlagen und empirischen Befunde zur Entstehung und Aufrechterhaltung des Störungsbildes sowie zu geeigneten Behandlungsstrategien werden zunächst umfassend dargestellt und zeigen Perspektiven zum Verständnis und zur Veränderung chronisch depressiven Erlebens auf. Der zweite Teil des Manuals beschreibt ausführlich und anhand von vielen Beispielen die Durchführung der 12 Sitzungen umfassenden Gruppentherapie. Die im Buch erwähnten, illustrierten Informations- und Arbeitsblätter können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.
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Anne Trösken
Babette Renneberg
Ressourcenorientierte Gruppentherapie bei chronischer Depression
Ein kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansatz
Dr. Anne Trösken, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin. Seit 2010 tätig in eigener Praxis. Seit 2012 Leitende Psychologin der Hochschulambulanz für Psychotherapie, Diagnostik und Gesundheitsförderung der Freien Universität Berlin, seit 2014 Tätigkeit als Dozentin in verschiedenen Aus- und Fortbildungskontexten. Arbeitsschwerpunkte: Ressourcenorientierung und chronische Depression.
Prof. Dr. Babette Renneberg, Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin in Verhaltenstherapie. Seit 2008 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Freien Universität Berlin. Seit 2009 Leiterin der Hochschulambulanz für Psychotherapie, Diagnostik und Gesundheitsförderung und seit 2012 Leiterin des Ausbildungsgangs für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie am Zentrum für Seelische Gesundheit (ZGFU), beides an der Freien Universität Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Grundlagen- und Therapieforschung zu psychischen Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen.
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Satz: Matthias Lenke, Weimar
Illustrationen: Lukasz Buda, München
Format: EPUB
1. Auflage 2022
© 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2932-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2932-9)
ISBN 978-3-8017-2932-5
https://doi.org/10.1026/02932-000
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Im klinischen Alltag begegnen uns immer wieder Patient:innen mit einer langanhaltenden depressiven Symptomatik. Die Behandlung dieses Störungsbildes erweist sich häufig als herausfordernd und noch gibt es wenige verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze. Das vorliegende Manual soll dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Aufbauend auf den bewährten Ansätzen und Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie für die unipolare Depression haben wir in die Entwicklung des Manuals neue Erkenntnisse der psychologischen und neurobiologischen Forschung einbezogen.
Kreativität ist eine zentrale Ressource, die nicht nur die Patient:innen aus ihrem depressiven Erleben mit der Zeit herausholt, sondern auch Therapeut:innen Freude an ihrer Arbeit vermittelt. Letzteres erscheint uns gerade in der Arbeit mit dieser Gruppe von Betroffenen wichtig. Mit diesem Manual möchten wir therapeutischen Fachpersonen eine Hilfestellung und Strukturierung bieten und sie darin unterstützen, Gruppentherapien mit chronisch depressiven Menschen durchzuführen. Wir verstehen unser Manual als ein Grundgerüst, das Anregungen und Übungen zur Verfügung stellt. Wenn Sie Erfahrungen mit dem Konzept gesammelt haben, haben Sie vielleicht gute Ideen für alternative Übungen. Wir hoffen, mit dieser Publikation eine gut verständliche und umsetzbare Darstellung unseres Vorgehens zu bieten.
Viele Personen haben Ideen für das hier beschriebene Vorgehen beigesteuert und uns bei der Entwicklung tatkräftig unterstützt. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir Marina Benoit, Christina Wirz und Rebecca Klimke für ihre redaktionellen Überarbeitungen. Die gründliche Prüfung auf Lesbarkeit, Verständlichkeit und Korrektheit ist von unschätzbarem Wert. An dieser Stelle möchten wir uns herzlich für das ausgezeichnete Lektorat durch Alice Velivassis und Sarah Haase vom Hogrefe Verlag bedanken.
Den Praxistest konnte die Gruppentherapie nur bestehen, weil Kolleg:innen bereit waren, mit einem noch unfertigen Vorgehen eine Gruppentherapie durchzuführen und alles Hilfreiche und nicht so Hilfreiche zurückzumelden. Hier danken wir besonders Felix Reichert, Gabi Waag, Rebecca Klimke, Sandra Stoll, Anna Weinbrecht, Lars Schulze, Lisa Arnhold, Michaela Klien und David Möllers. Matthias Weiler hat sich mit einem unvergessenen Abschlussritual verewigt: „Jau, wir schaffen das“ – das können wir jetzt wirklich sagen.
An der konzeptionellen Arbeit waren ebenfalls viele Kolleg:innen beteiligt: Dorothee Sautters war federführend an der Entwicklung neuer Fragebögen zur Evaluation beteiligt. Sie und Isabel Bahro entwickelten erste Arbeitsblätter. Erste Auswertungen hinsichtlich der Wirksamkeit nahmen Christina Wirz, Dorothee Sautters, Astrid Skujat und andere vor. Weiteres Engagement vieler Personen bezog sich auf die Aufarbeitung der Literatur und der theoretischen Hintergründe. Allen Patient:innen, die an der Gruppe teilgenommen – und viele Fragebögen ausgefüllt haben –, gilt unser besonderer Dank. Die Rückmeldungen unserer ersten Gruppenteilnehmer:innen haben uns geholfen, kleinere und auch ein paar größere Korrekturen am Konzept vorzunehmen.
Einen besonderen Beitrag zu diesem Buch leistete Lukasz Buda, indem er „Marlene“ erschaffen hat, eine fiktive Patientin der Gruppe, deren Erleben die Arbeitsblätter illustriert und besser als Worte ausdrücken kann, worum es jeweils geht.
Mit so viel Unterstützung und Rückenwind können wir nun dieses Manual zur ressourcenorientierten kognitiven Verhaltenstherapie für Patient:innen mit chronischen Depressionen vorstellen. Wir hoffen, dass die kreative und ressourcenorientierte Haltung Ihnen bei der Umsetzung der Inhalte und Übungen ebenso viel Freude bereitet wie uns und Ihre Arbeit mit dieser manchmal herausfordernden Klientel unterstützt.
Berlin, im August 2021
Anne Trösken
Babette Renneberg
Einführung
Teil I Theoretischer Hintergrund
Kapitel 1 Das Störungsbild der chronischen Depression
1.1 Beschreibung des Störungsbildes
1.2 Prävalenz
1.3 Risikofaktoren
1.4 Komorbide Störungen
1.5 Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und in der Arbeitswelt
Kapitel 2 Behandlungsansätze für chronische Depression
2.1 Leitliniengerechte Behandlung
2.1.1 Empfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie
2.1.2 Empirische Befunde zu leitliniengerechten Behandlungen
2.1.3 Europäische Richtlinien
2.2 Somatisch-medizinische Behandlungsstrategien
2.3 Psychologische Therapien
2.3.1 Psychodynamische und psychoanalytische Therapien
2.3.2 Verfahren, die psychodynamische und kognitiv-behaviorale Vorgehensweisen umfassen
2.3.3 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze
2.3.4 Gruppentherapie
2.4 Wozu eine ressourcenorientierte KVT-Gruppe für chronisch depressive Patient:innen?
Kapitel 3 Theoretische Grundlagen der ressourcenorientierten Gruppentherapie für chronische Depression
3.1 Zentrale Therapiestrategien
3.1.1 Ressourcenorientierung
3.1.2 Spezifische Schwierigkeiten chronisch depressiver Menschen bei einer ressourcenorientierten Therapie
3.1.3 Motivorientierte Beziehungsgestaltung und Zielorientierung
3.2 Inhalte und theoretische Hintergründe der einzelnen Gruppentherapiesitzungen
3.2.1 Achtsamkeit (Sitzung 1)
3.2.2 Individuelle Zielformulierung (vor Beginn der Gruppentherapie und Sitzung 2)
3.2.3 Wissensvermittlung (Sitzung 3)
3.2.4 Negative Selbstschemata (Sitzung 4)
3.2.5 Erlernte Hilflosigkeit (Sitzung 5)
3.2.6 Genuss und positive Emotionen (Sitzungen 6 und 7)
3.2.7 Positive Aktivitäten (Sitzung 7)
3.2.8 Ressourcen und Ressourcenanalyse (Sitzungen 8 und 9)
3.2.9 Soziale Kompetenzen (Sitzungen 10 und 11)
3.2.10 Aufrechterhaltung neuer Strategien (Sitzung 12)
Teil II Therapiemanual
Kapitel 4 Grundlegende Informationen zur Durchführung des Therapieprogramms
4.1 Therapiekonzept und übergreifende Therapieziele
4.1.1 Veränderung des depressiven Erlebensmusters
4.1.2 Zwischenmenschliches Lernen
4.2 Umfang, Setting und therapeutisches Team
4.3 Therapeutische Strategien und Grundhaltungen
4.3.1 Dosierte Selbstöffnung
4.3.2 Motivorientierte Beziehungsgestaltung
4.3.3 Therapeutische Haltung
4.3.4 Ressourcenorientierte Gesprächsführung
4.4 Vorbereitung auf die Gruppentherapieteilnahme in Einzelgesprächen
4.4.1 Überprüfung der Rahmenbedingungen und der Motivation
4.4.2 Zielerreichungsskalierung
4.5 Grundsätzlicher Ablauf und Inhalte der Gruppensitzungen
4.6 Planung einer Gruppe
4.7 Anpassung der Sitzungen an ein anderes Setting
4.8 Indikation
4.9 Begleitende Einzeltherapie
4.10 Umgang mit schwierigen Situationen in der Gruppe
4.11 Partizipation von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen
4.12 Formale Aspekte der Beantragung und Abrechnung
Kapitel 5 Beschreibung der einzelnen Sitzungen
5.1 Sitzung 1: Achtsam sein – Was ist das?
5.1.1 Beginn der Gruppe
5.1.2 Theorie-Input: Achtsamkeit
5.1.3 Achtsamkeitsübung
5.1.4 Erarbeitung der Gruppenregeln
5.1.5 Feedback, erste Alltagsübung und Ausklang
5.2 Sitzung 2: Meine Ziele – SMART formuliert
5.2.1 Einführung der Eingangsrunde
5.2.2 Eigene Ziele vorstellen
5.1.3 Psychoedukation (Teil 1): Sammeln und Sortieren von Symptomen der chronischen Depression
5.1.4 Abschluss
5.3 Sitzung 3: Anhaltende depressive Störungen – Was ist das?
5.3.1 Psychoedukation (Teil 2): Vermittlung von Informationen zur chronischen Depression
5.3.2 Psychoedukation (Teil 3): Positive Strategien zur Veränderung von (chronischer) Depression
5.3.3 Abschluss
5.4 Sitzung 4: Mittelgrau statt rosarot – Die Bedeutung der eigenen Gedankenbrille
5.4.1 Übung „Alle in einem Boot“
5.4.2 Sammeln der Gedanken und Gefühle zur Übung
5.4.3 Theorie-Input: Kognitiv-emotionale Schemata
5.4.4 Formulieren eigener Schemata
5.4.5 Abschluss
5.5 Sitzung 5: Wege aus der Hilflosigkeit – Entgegengesetzt Handeln
5.5.1 Wiederholung der kognitiv-emotionalen Schemata und Einführung des entgegengesetzten Handelns
5.5.2 Übung: Gemeinsames Lösen einer schwierigen Aufgabe
5.5.3 Auswertung der Übung
5.5.4 Theorie-Input: Theorie der erlernten Hilflosigkeit
5.5.5 Abschluss
5.6 Sitzung 6: Der Sinnesparcours
5.6.1 Sinnesparcours (Teil 1): Erstes Erfahren
5.6.2 Sinnesparcours (Teil 2): Auswählen und achtsames Wahrnehmen
5.6.3 Theorie-Input: Genussregeln
5.6.4 Abschluss
5.7 Sitzung 7: Positive Aktivitäten – Was bereitet mir Freude?
5.7.1 Positive Aktivitäten malen
5.7.2 Präsentation der Bilder mit Feedback von der Gruppe
5.7.3 Abschluss
5.8 Sitzung 8: Meine Stärken unter der Lupe – Ressourcenanalyse I
5.8.1 Theorie-Input: Ressourcen
5.8.2 Ressourcenanalyse: Allgemeines Vorgehen
5.8.3 Ressourcenanalyse: Materielle Ressourcen
5.8.4 Ressourcenanalyse: Körperbezogene Ressourcen
5.8.5 Potenzielle Schwierigkeiten
5.8.6 Abschluss
5.9 Sitzung 9: Meine Stärken unter der Lupe – Ressourcenanalyse II
5.9.1 Ressourcenanalyse: Persönliche und soziale Ressourcen
5.9.2 Theorie-Input: Broaden-and-Build-Theorie
5.9.3 Abschluss
5.10 Sitzung 10: Grenzen setzen – Kritik äußern und annehmen
5.10.1 Verhaltensdimension „unsicher – selbstsicher – dominant/aggressiv“
5.10.2 Rollenspiele
5.10.3 Abschluss
5.11 Sitzung 11: Sympathie zeigen, Zuneigung annehmen
5.11.1 Sammeln von Assoziationen zu „Sympathie/Zuneigung“
5.11.2 Auswertung
5.11.3 Festlegen individueller Ziele
5.11.4 Rollenspiele oder Überprüfen negativer Überzeugungen
5.11.5 Abschluss
5.12 Sitzung 12: Was nehme ich mit?
5.12.1 Alternative Achtsamkeitsübung
5.12.2 Überprüfen der Zielerreichung
5.12.3 Brief an sich selbst
5.12.4 Abschluss der Gruppe
5.13 Ausblick
Kapitel 6 Diagnostik für die Qualitätssicherung
6.1 Diagnostik der Depression
6.2 Ressourcendiagnostik
6.3 Verlaufsdiagnostik während der Gruppentherapie
6.3.1 Sitzungsfragebögen
6.3.2 Direkte Veränderungsmessung zur Erfassung des Therapieerfolgs
Kapitel 7 Erste Ergebnisse einer Evaluation der Gruppentherapie
7.1 Soziodemografische Daten
7.2 Veränderungsmessung
7.2.1 Depressivität
7.2.2 Ressourcenrealisierung
7.2.3 Inkongruenzniveau
7.2.4 Individuelle Zielerreichungen
7.3 Bewertung der Gruppentherapie durch die Teilnehmenden
7.4 Rückmeldungen zu den einzelnen Sitzungen
7.5 Auswertung der Sitzungsfragebögen über den Therapieverlauf hinweg
7.6 Zusammenfassung der Evaluation
Literatur
Anhang
Das vorliegende Manual stellt ein Konzept für eine gruppentherapeutische Behandlung chronisch depressiver Patient:innen vor. Es handelt sich um ein ressourcenorientiertes und kognitiv-verhaltenstherapeutisches Konzept. Diese beiden Grundorientierungen sehen wir als zielführend und zentral für die Behandlung der chronischen Depression an. Zur Illustration schildern wir im Folgenden eine Situation aus der ersten Gruppendurchführung.
Wir erlebten hochmotiviert Sitzung 6, in der den Teilnehmenden ein „Sinnesparcours“ dargeboten wird. Unsere fünf Patient:innen und unsere Forschungsassistentin waren tatsächlich sehr vertieft in die Partnerübung, boten sich gegenseitig Sinnesreize dar, redeten miteinander, manche lächelten oder reagierten spontan auf etwas. Die Übung sollte 15 Minuten dauern. Eine Beendigung war schwierig; unbeirrt führten die Patient:innen die Übung weiter durch. Da es ihnen – aus unserer Sicht – so gut ging und die Aufgabe so gut ankam, verlängerten wir sie mehrmals um fünf Minuten bis schließlich 40 Minuten ins Land gegangen waren. Nun unterbrachen wir die Übung direktiv und holten die Teilnehmenden zurück aus ihrer Erfahrungswelt in eine gemeinsame Auswertungsrunde. „Wie haben Sie die Übung erlebt?“ – so lautete meine Frage, und gespannt warteten wir auf die Berichte all der verschiedenen, intensiven Erfahrungen, die die Teilnehmenden doch so offensichtlich gemacht hatten. Es war lange still, alle saßen wie versteinert auf ihren Stühlen mit gesenkten Blicken. Schließlich fasste sich eine Patientin ein Herz: „Es war anstrengend.“
In den folgenden Gruppen haben wir ähnliche Szenen häufig erlebt: Gerade noch munter agierende, lachende Menschen saßen still und mit trübem Blick, sobald sie aufgefordert wurden, über sich selbst Auskunft zu geben. Die von außen beobachtbare Erfahrung war ihnen in der Reflexion nicht zugänglich. Dieser so offensichtliche Widerspruch wird erklärbar, wenn man die chronifizierte – oder anhaltende – Depression als ein überlerntes kognitiv-emotionales Schema versteht, dem alles Erleben untergeordnet wird und das im Selbstkonzept verankert ist.
Wir orientieren uns in unserem Verständnis der chronischen Depression an der aktuellen Definition des DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) – hier Persistierende Depressive Störung –, bleiben jedoch bei dem Begriff der chronischen oder anhaltenden Depression. Diese liegt laut DSM-5 dann vor, wenn die depressive Symptomatik über mindestens zwei Jahre – ohne vollständige Remission über mindestens zwei Monate – besteht. Diese Definition, die zunächst so für eine leichte Form depressiven Erlebens getroffen wurde (Dysthymie), gilt im DSM-5 unabhängig vom aktuellen Schweregrad der Symptomatik und reicht von leichten, dysthymen Zuständen bis hin zu schweren, langdauernden depressiven Episoden.
Wie kann es zu der Entwicklung einer chronischen Form der Depression kommen? Wesentliche Einflussfaktoren sehen wir in neurobiologischen Prozessen und in Prozessen der Informationsverarbeitung und der Motivation.
Scott (1992) fasste bereits die besonderen Merkmale von Menschen mit chronifizierten depressiven Störungen zusammen: eine starke subjektive Belastung und hohe Depressivitätsscores, familiäre Vorbelastungen und damit wahrscheinliche genetische Prädispositionen, emotionale Verwundbarkeit (Neurotizismus), ein sehr geringes Selbstwerterleben, eine Generalisierung erlebter Hoffnungslosigkeit, Auffälligkeiten im autobiografischen Gedächtnis, geringe Wahrnehmung von Veränderungen von Stimmung oder Verhalten und ein Unvermögen, neue Erfahrungen zu generalisieren. Der Autor kam zu dem Schluss, dass ein „Überlernen“, im Sinne von sehr häufigem Lernen neuer Erfahrungen, notwendig für eine erfolgreiche Behandlung ist, und eher längere und multimodale Ansätze hilfreich sein sollten. Auch systemische Einflüsse auf die Aufrechterhaltung negativer Selbstannahmen wurden in dieser Studie berücksich|12|tigt – aus heutiger Sicht ein valides Modell – und viele der hier bereits umschriebenen Merkmale wurden in neueren Untersuchungen bestätigt. Doch die zentrale Frage für die Behandlung der chronifizierten Depression lautet: Wie können solche negativen und stabilen Netzwerke verändert werden?
Die Ansätze und die Erkenntnisse der Positiven Psychologie bieten hier Möglichkeiten. Die Auseinandersetzung mit „antidepressiven“ Inhalten – Ressourcen, positiven Möglichkeiten, Kompetenzen und der Fähigkeit, sich zu verändern – wirken jedoch paradoxerweise für diese Gruppe von Patient:innen zunächst konfrontierend und destabilisierend. Das Bedürfnis nach Stabilität (im Sinne von Vermeidung von Veränderung) ist stark ausgeprägt. Neue Gedanken und Erlebensmuster müssen sehr stark und in sinnesbezogener Erfahrung verankert sein, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Wir argumentieren, dass Menschen mit chronischen Depressionen am besten in einem zwischenmenschlichen Umfeld lernen – und dass das Lernen selbst aktiv und spielerisch erfolgen sollte.
Dieses Buch umfasst zwei Teile. Im ersten Teil gehen wir zunächst allgemein auf das Störungsbild der chronischen Depression, auf epidemiologische Faktoren und Komorbiditäten ein und berichten den aktuellen Forschungsstand für die evidenzbasierte Behandlung. Zu den zentralen therapeutischen Strategien und Therapieinhalten des Manuals stellen wir theoretische Hintergründe dar. Hierzu haben wir aus dem großen Forschungsfeld zur Depression Konzepte ausgewählt, von denen wir annehmen, dass sie sinnvolles Hintergrundwissen für Therapeut:innen darstellen. Die ausgewählten Forschungskonzepte und Befunde sind aus unserer Sicht wegweisend und hilfreich im Verständnis der Prozesse der chronischen Depression.
Die praktische Umsetzung dieses Wissens stellen wir dann im zweiten Teil und damit dem eigentlichen Herzstück des Manuals vor. Zunächst gehen wir auf das zentrale Rational und auf die therapeutischen Haltungen ein und beschreiben danach die einzelnen Sitzungen. Um die Umsetzung der Strategien zu erleichtern, haben wir an vielen Stellen fiktive Beispiele oder auch mögliche Gruppenergebnisse eingefügt. Dies soll ein vertieftes Verständnis für das Vorgehen unterstützen. Materialien für die Therapeut:innen sowie Informationen zu einzelnen Übungen finden sich im Anhang. Die Arbeitsmaterialien stehen als Download auf der Hogrefe-Webseite zur Verfügung (vgl. „Hinweise zu den Online-Materialien“ im Anhang).
In einem eigenen Kapitel stellen wir dann erste Ergebnisse zur Evaluation der Gruppe vor. Die von uns entwickelten Fragebögen können Sie gerne bei uns anfordern oder von folgenden Webseiten herunterladen:
https://www.allgemeinepsychotherapie.de/berner-ressourceninventar-und-andere-frageboegen/
oder
https://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/weitere/hochschulambulanz/Diagnostik/Frageboegen-fuer-die-Evaluation-der-Ressourcengruppe-fuer-Patient_innen-mit-chronischen-Depressionen/index.html
Das Erleben von Traurigkeit und dysphorischen Zuständen ist eine normale menschliche Reaktion auf Frustration, Versagen oder Verlust. Damit kann man diesem belastenden Erleben prinzipiell einen förderlichen Wert für die adaptive Weiterentwicklung und das psychische Wachstum eines Menschen zuschreiben. Ein krankheitswertiger Zustand ist erst erreicht, wenn Antriebsverlust, Erschöpfung oder auch ein Mangel an Freude dauerhaft vorhanden und verbunden sind mit dem Erleben eines geringen Selbstwertes, Hoffnungslosigkeit oder deutlichen psychosomatischen Symptomen (z. B. Veränderung von Appetit, des Schlafrhythmus oder der Libido, Veränderungen der Psychomotorik oder Konzentrationsstörungen). Deutliche Beeinträchtigungen des privaten und/oder beruflichen Alltagslebens müssen vorhanden sein.
Dies alles ist bei Menschen, die an einer chronifizierten depressiven Störung leiden, gegeben. Übergreifend gilt, dass es sich bei einer chronischen Depression um ein überdauerndes Störungsbild handelt.
Merke
Bei einer chronischen oder persistierenden Depression besteht ein depressiver Zustand über mindestens zwei Jahre hinweg und war während dieser Zeit nicht länger als zwei Monate voll remittiert. Dabei können die Symptome über den Verlauf hinweg leicht, mittelgradig oder schwer ausgeprägt sein.
Chronische Depressionen werden von akuten depressiven Episoden und rezidivierenden depressiven Störungen unterschieden. Im DSM-5 werden folgende Verlaufsformen unipolarer Depressionen unterschieden: (1) Major Depression, einzelne Episode (Major Depressive Disorder, single episode), (2) Major Depression, rezidivierend (Major Depressive Disorder, recurrent episode) mit vollständigen Remissionen zwischen den depressiven Episoden und (3) Persistierende Depressive Störung (Persistent Depressive Disorder [Dysthymia]). Letztere umfasst alle depressiven Verläufe, bei denen depressives Erleben über mindestens zwei Jahre hinweg manifest war.
In der ICD-10 kann für die unipolaren affektiven Störungen nur eine Unterscheidung zwischen akuten Episoden, rezidivierenden Verlaufsformen und einer dysthymen Störung (Dysthymia) getroffen werden; jeweils kodiert werden Schwere und Besonderheiten der aktuellen Episode.
In der Nachfolgeversion der ICD-10, der ICD-11 (World Health Organization [WHO], 2018), wurde die bisherige Aufteilung in Verläufe (einzelne Episode, rezidivierende depressive Störung, Dysthymie und andere Formen) beibehalten. Neu im Vergleich zur ICD-10 ist die Möglichkeit, Besonderheiten des Verlaufs und der Symptomatik zu kodieren (unter der übergeordneten Kodierung 6A80; vgl. WHO, 2018). Somit können auch die aktuellen Episoden als persistent kodiert werden. In Tabelle 1 stellen wir die Diagnosekriterien nach DSM-5, ICD-10 und ICD-11 für die chronische Depression gegenüber. Tabelle 2 bietet einen Überblick, welche Angaben zum Störungsbild nach den unterschiedlichen Klassifikationssystemen (zusätzlich) kodiert werden können.
|16|Tabelle 1: Vergleichende Gegenüberstellung der diagnostischen Kategorien der chronischen Depression nach DSM-5, ICD-10 und ICD-11
DSM-5: Persistierende Depressive Störung (Dysthymie)1
ICD-10 (F34.1): Dysthymia2
ICD-11: Dysthymie (Dysthymic disorder)3, 4
Depressive Verstimmung für die meiste Zeit des Tages an der Mehrzahl der Tage über einen mindestens 2-jährigen Zeitraum, von der betroffenen Person selbst berichtet oder von anderen beobachtet.
Konstante oder konstant wiederkehrende Depression über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren. Dazwischenliegende Perioden normaler Stimmung dauern selten länger als einige Wochen, hypomanische Episoden kommen nicht vor.
Depressive Stimmung über die meiste Zeit des Tages über die meisten Tage, mindestens 2 Jahre andauernd, nicht länger als 2 Wochen unterbrochen von gesundem Erleben. Die depressive Stimmung wird von weiteren Symptomen begleitet, z. B.
B.Während der depressiven Verstimmung bestehen mindestens zwei der folgenden Symptome:
Schlechter Appetit oder Überessen.
Insomnie oder Hypersomnie.
Geringe Energie oder Erschöpfungsgefühle.
Geringes Selbstbewusstsein.
Konzentrationsschwierigkeiten oder Schwierigkeiten beim Treffen von Entscheidungen.
Gefühle der Hoffnungslosigkeit.
B.Keine oder nur sehr wenige der einzelnen depressive Episoden während eines solchen Zwei-Jahres-Zeitraums sind so schwer oder dauern so lange an, dass sie die Kriterien für eine rezidivierende leichte depressive Störung (F33.0) erfüllen.
vermindertes Interesse an Aktivitäten
reduzierte Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeitsspanne oder Entscheidungsfähigkeit
geringer Selbstwert oder übermäßige Schuldgefühle
Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf die Zukunft
Schlafstörungen
veränderter Appetit
Energielosigkeit, Müdigkeit
Keine (hypo-)manen Phasen.
C.Während des 2-Jahres-Zeitraums (1 Jahr bei Kindern und Jugendlichen) gab es keinen symptomfreien Zeitraum von mehr als 2 Monaten ohne die Symptome aus Kriterium A und B.
D.Die Kriterien der Major Depression können in dem 2-Jahres-Zeitraum durchgängig erfüllt sein.
C.Wenigstens während einiger Perioden der Depression sollten mindestens drei der folgenden Symptome vorliegen:
verminderter Antrieb oder Aktivität
ausgeprägte Schlafstörungen
Verlust des Selbstvertrauens oder Gefühl von Unzuläglichkeit
Konzentrationsschwierigkeiten
E.Zu keinem Zeitpunkt ist eine manische oder hypomane Episode aufgetreten und die Kriterien für eine Zyklothyme Störung waren niemals erfüllt.
F.Das Störungsbild kann nicht besser erklärt werden durch eine lang andauernde Schizoaffektive Störung, Schizophrenie, Wahnhafte Störung oder Andere Näher Bezeichnete oder Nicht Näher Bezeichnete Störung aus dem Schizophrenie-Spektrum und Andere Psychotische Störungen.
5.sozialer Rückzug
6.Verlust des Interesses oder der Freude an Sexualität und anderen angenehmen Aktivitäten
7.verminderte Gesprächigkeit
8.Pessimismus im Hinblick auf die Zukunft oder Grübeln über die Vergangenheit
9.Erkennbares Unvermögen mit den Routineanforderungen des täglichen Lebens fertig zu werden
G.Die Symptome sind nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hypothyreose).
H.Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
10.Neigung zum Weinen
11.Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
Hinweis: Wenn gewünscht, kann ein früher (in der Adoleszenz oder in den Zwanzigern) oder ein später Beginn (meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr, im Anschluss an eine affektive Episode) näher gekennzeichnet werden.
|17|Tabelle 2: Kodierungsmöglichkeiten der chronischen Depression nach DSM-5, ICD-10 und ICD-11
DSM-5
ICD-10
ICD-11
Subtypen
können zusätzlich kodiert werden
werden nicht kodiert
können kodiert werden5
Remissionsstatus
kann zusätzlich kodiert werden
wird nicht erfasst
kann für einzelne Episoden kodiert werden
Erstmanifestation
Erstmanifestation kann zusätzlich kodiert werden
Ein früher Beginn (Adoleszenz, in den Zwanzigern) oder ein später Beginn (zwischen 30. und 50. Lebensjahr) kann gekennzeichnet werden.
Erstmanifestation wird nicht erfasst
Verlaufsformen
können zusätzlich kodiert werden
werden nicht erfasst
können kodiert werden6
Schweregrad
kann zusätzlich kodiert werden
ist festgelegt (leichte Symptomatik)
kann kodiert werden
In der klinischen Literatur werden darüber hinaus verschiedene Verlaufsformen der chronischen Depression unterschieden (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde [DGPPN] et al., 2015; Schramm, Brakemeier & Fangmeier, 2012). Diese stellen wir im folgenden Kasten dar. Forschungsbefunde beziehen sich häufig auf diese Verlaufsformen.
Verlaufsformen chronischer Depressionen
Dysthymie: Als Dysthymie wird ein Zustand bezeichnet, der durch milde depressive Symptome gekennzeichnet ist, die über zwei Jahren hinweg über mindestens 50 % der wachen Tageszeit als beeinträchtigend wahrgenommen werden. Dabei berichten die Betroffenen, dass es keine Phase einer vollständigen Remission aller Symptome gegeben hat, die mindestens zwei Monate umfasste.
Chronifizierte depressive Episode: Eine depressive Episode gilt dann als chronifiziert, wenn sie über zwei Jahre hinweg mit voll ausgebildeten Symptomen besteht.
Rezidivierende depressive Störung mit Teilremissionen: Wenn es innerhalb dieser zwei Jahre zu Teilremissionen von mindestens zwei Monaten kommt, dabei aber durchgängig eine Restsymptomatik berichtet wird, entspricht dies (formal) einer rezidivierenden depressiven Störung – die aber zu den chronischen Verläufen gezählt wird.
Double Depression: Eine Double Depression liegt vor, wenn die Betroffenen zunächst über mindestens zwei Jahre hinweg an einer Dysthymie litten und dann – ohne Remission von mindestens zwei Monaten – eine volle depressive Epi sode entwickeln. Üblicherweise ist der weitere Verlauf dann entweder durch eine chronifizierte Episode oder eine rezidivierende depressive Störung mit Teilremissionen gekennzeichnet.
Anhand dieser Beschreibungen wird deutlich, dass eine valide und reliable Diagnostik der Verlaufsformen schwierig ist, insbesondere dann, wenn nicht bereits zu Beginn der Erstmanifestation fachliche Hilfe gesucht und damit der Störungsverlauf dokumentiert wurde. Die Erkrankung selbst färbt im Nachhinein die Rekonstruktion des Verlaufs und möglicherweise wird im Nachhinein das Ausmaß des depressiven Erlebens überschätzt.
Zur Prävalenz aller unipolaren Depressionen gibt es unterschiedliche Angaben. Übergreifend kann man sagen, dass die Erfahrung einer einmaligen Episode oder auch mehrmaliger Episoden depressiver Symptome – bei Anwendung verbindlicher Diagnosekriterien – heute wahrscheinlich bei ca. einem Siebtel der deutschen Bevölkerung über die gesamte Lebensspanne hinweg auftritt (Frauen: 15.4 %; Männer: 7.8 %; Busch et al., 2013).
|18|Die Rückfallgefahr nach einer erlittenen depressiven Episode ist erheblich. Für Deutschland werden die Lebenszeit-Rezidivraten auf 50 % nach einer Episode, auf 70 % nach zwei Episoden und auf 90 % nach drei Episoden geschätzt (DGPPN et al., 2015).
Einen chronischen Verlauf einer depressiven Episode erleben ca. 15 bis 20 % der Betroffenen (DGPPN et al., 2015). Murphy und Byrne (2012) berichten für Menschen in den USA mit einer depressiven Episode in der Vorgeschichte eine Lebenszeitprävalenz für chronische Verläufe von 29 %. Für Deutschland stellten Melchior, Schulz, Härter et al. (2014) fest, dass 65 % aller Betroffenen mit einer Depressionsdiagnose im Jahr 2011 einen chronischen Verlauf hatten.
In Bezug auf die Häufigkeitsverteilungen des Alters bei Erstmanifestation werden für die depressive Episode und die Dysthymie steile Anstiege mit zunehmender Lebenszeit berichtet: 5 % ab ca. dem 12. Lebensjahr und 50 % für die Altersspanne von 30 bis 35 Jahren (Jacobi et al., 2005). Bei der dysthymen Störung ist das Alter bei Erstmanifestation häufig höher als bei der depressiven Episode.
Interessante Ergebnisse zu Verläufen ergeben sich aus z. T. über Jahrzehnte angelegten Langzeitstudien. Steinert, Hofmann, Kruse und Leichsenring (2014) werteten Daten von über 4 000 Patient:innen aus 12 Kohorten aus, die über Zeiträume zwischen 3 und 49 Jahren beobachtet wurden. Circa 10 bis 17 % aller Studienteilnehmenden mit depressiven Episoden erlebten eine Chronifizierung der Symptome. Die Rezidivraten variierten von 7 bis 65 %. Die besten Prädiktoren für den Verlauf wurden in Merkmalen mit Bezug auf die Störung selbst gefunden (bisheriger Verlauf, Schwere der ersten Episode und Komorbiditäten).
Die durchschnittliche Krankheitsdauer für chronische Depressionen lag in großen Studien aus den USA bei ca. 17 bis 20 Jahren mit einer Streuung von ca. 14 bis 15 Jahren (Gilmer et al., 2005; Kocsis et al., 2008). Auch nach langjähriger Erkrankung ist eine Genesung jedoch möglich. Zu Langzeitverläufen gibt es wenige Studien, die jedoch deren Unterschiedlichkeit belegen, mit z. T. hohen Genesungsraten auch Jahre nach Störungsbeginn, aber auch erneuten Rückfällen (Klein et al., 2006; Richards, 2011). Es wird empfohlen, bei bestehender Restsymptomatik nach einer prinzipiell erfolgreichen Behandlung die Therapiestrategie zu verändern und eine vollständige Genesung anzustreben (Boulenger, 2004; Kennedy & Paykel, 2004).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Depressionen zu den häufigsten und in den Folgen gravierendsten psychischen Störungsbildern gehören, und für ca. 10 bis 20 % der Menschen, die eine depressive Erkrankung entwickeln, eine Chronifizierung dieses Zustandes erfolgt. Die Verläufe sind individuell unterschiedlich, Genesung und Rückfälle sind wahrscheinlich.
Zu den empirisch gefundenen Risikofaktoren für die Entwicklung einer chronischen Depression zählen ein junges Alter bei der Erstmanifestation (vor dem 21. Lebensjahr), eine längere Dauer der ersten Episode, eher eine geringere Symptombelastung (dysthymer Verlauf) und eine positive Familienanamnese für affektive Störungen. Ebenfalls relevant sind komorbide psychische Störungen, eine geringe soziale Integration und als negativ wahrgenommene soziale Interaktionen (Hölzel et al., 2011).
Für Menschen mit einer persistierenden depressiven Störung ist das Risiko für komorbide Störungen erhöht; dies gilt insbesondere für Angststörungen und Substanzabhängigkeiten (American Psychiatric Association, 2013).
In deutschen epidemiologischen Studien wurden für den Bereich der unipolaren Depressionen einzelne Episoden, rezidivierende Verlaufsformen und die dysthyme Störung unterschieden und Angststörungen, somatoforme Störungen und Abhängigkeitserkrankungen als komorbide Störungen untersucht. Für die dysthyme Störung wurden erhöhte Wahrscheinlichkeiten für Angststörungen (Odds Ratio [OR] = 8.5), somatoforme Störungen (OR = 5.7) und Abhängigkeitsstörungen (OR = 2.5) gefunden (Jacobi et al., 2005). In Bezug auf die Gruppe der Angststörungen wurden für die Dysthymie vor allem Komorbiditäten mit generalisierten Ängsten und Panikstörungen gefunden (Jacobi et al., 2005), analoge Befunde berichten Satyanarayana et al. (2009) und Rubio et al. (2011).
In dem US National Comorbidity Survey (NCS) (Kessler et al., 1999) war die Komorbiditätsrate zwischen der Lebenszeitprävalenz von Sozialer Phobie und einer Dysthymie um den Faktor 2.7 (OR) erhöht; in der großen Mehrzahl der Fälle ging die soziale Angststörung der Depression voraus. Soziale Angst zeigte sich auch als Prädiktor für die Schwere und die Dauer der depressiven Episode. Weitere Zahlen berichtet eine repräsentative kanadische Studie: 32.7 % der Menschen |19|mit einer chronischen Depression wiesen eine komorbide soziale Angststörung (Satyanarayana et al., 2009) auf.
Die höchsten Komorbiditätsraten in Bezug auf Substanzabhängigkeit zeigten sich für die dysthyme Störung (Jacobi et al., 2005). Zwischen 2 bis 12 % der Alkoholkranken litten primär (vor der Substanzabhängigkeit) an einer depressiven Störung. Sekundär (in der Folge der Substanzabhängigkeit) stieg die Häufigkeit auf 12 bis 51 % (Soyka & Lieb, 2004). Von Patient:innen mit einer chronischen depressiven Episode waren zwischen 18 und 30 % komorbid substanzabhängig (Hellerstein & Eipper, 2013). In einer repräsentativen Studie waren die Komorbiditäten ebenfalls erhöht, aber deutlich geringer als in klinischen Studien (Satyanarayana et al., 2009; Rubio et al., 2011).
Merke
Die wichtigsten komorbiden Störungen bei chronischer Depression sind Angststörungen (hier vor allem soziale Ängste), somatoforme Störungen und Substanzabhängigkeit.
Laut DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) gehen chronische Formen der Depression häufig einher mit Persönlichkeitsstörungen der Cluster B und C. In den unten genannten Studien wurde die depressive Symptomatik und die – als zeitlich überdauernd anzusehende – Persönlichkeitsstörung zum gleichen Zeitpunkt erhoben; eine Überprüfung der Persönlichkeitsdiagnose nach Abklingen oder nach Teilremission der depressiven Symptomatik wurde nicht vorgenommen. Die berichteten Komorbiditätsraten für Persönlichkeitsstörungen mit chronischer Depression variierten zwischen 50.4 % (Maddux et al., 2009) und 70 % (Garyfallos et al., 1999). In einer repräsentativen Erhebung wurde die Komorbidität chronischer Depressionen mit Persönlichkeitsstörungen mit 38.1 % für Menschen mit einer dysthymen Störung und 36.8 % für Menschen mit einer chronischen depressiven Episode angegeben (Rubio et al., 2011; kanadische Bevölkerung). Im Vergleich dazu litten in dieser kanadischen Studie in der Gesamtbevölkerung 13.9 % an einer Persönlichkeitsstörung.
Betrachtet man die Art der Persönlichkeitsstörung, so wurden die stärksten Zusammenhänge für die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (Blanco et al., 2010; Russell et al., 2003; Pepper et al., 1995; Garyfallos et al., 1999), die dependente Persönlichkeitsstörung (Blanco et al., 2010; Russell et al., 2003; Garyfallos et al., 1999), die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (Blanco et al., 2010; Russell et al., 2003) und die Borderline-Persönlichkeitsstörung gefunden (Russell et al., 2003; Pepper et al., 1995; Garyfallos et al., 1999). Weitere Persönlichkeitsstörungen, die komorbid auftraten, sind die paranoide und die histrionische Persönlichkeitsstörung (Blanco et al., 2010).
Stärker betroffen von komorbiden Persönlichkeitsstörungen waren Patient:innen mit einem frühen Beginn der Depression vor dem 21. Lebensjahr (Garyfallos et al., 1999; Pepper et al., 1995), dies gilt insbesondere für die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (Russell et al., 2003). Umgekehrt erfüllten 74.4 % der Personen, die an einer Persönlichkeitsstörung litten, die Kriterien einer Dysthymie (Lebenszeitprävalenz); je nach Art der Persönlichkeitsstörung rangierten die Komorbiditätsraten mit einer dysthymen Störung zwischen 2.6 % (histrionische Persönlichkeitsstörung) und 21 % (ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung; Skodol et al., 1999).
Im Anhang des DSM-IV (American Psychiatric Association, 1994) war das Konzept der depressiven Persönlichkeitsstörung vorgestellt worden. Im Unterschied zur dysthymen Störung wurden hier nur Symptome aus dem Bereich der Kognition und der Emotion, nicht aus dem Bereich psychovegetativer Symptome für die Diagnose herangezogen (Klein & Santiago, 2003; McDermut, Zimmerman & Chelminski, 2003). Zu der Frage, ob sich eine depressive Persönlichkeitsstörung hinreichend von anderen depressiven Störungen aus dem Bereich der affektiven Störungen abgrenzen lässt, gab es unterschiedliche Bewertungen (für die Diskussion vgl. z. B. McDermut et al., 2003). Im aktuell gültigen DSM-5 und in der ICD-10 fällt diese Symptomatik unter die Persistierende Depressive Störung bzw. Dysthymie.
Menschen, die an schwerwiegenden und anhaltenden psychischen oder auch körperlichen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen leiden, erleben nicht nur das Leiden selbst als quälend, sondern häufig auch die sekundären Folgen für die gesamte Lebensführung. Die Förderung der Fähigkeiten zur Teilhabe sowohl insgesamt am gesellschaftlichen Leben als auch insbesondere in der Arbeitswelt ist eine zentrale Zielsetzung bei der Behandlung von Menschen mit Erkrankungen, die als seelische Behinderungen angesehen werden können.