Rettet die Führung - Armin Zisgen - E-Book

Rettet die Führung E-Book

Armin Zisgen

0,0

Beschreibung

Persönliche Führung in Unternehmen und anderen Organisationen geht verloren. Dieser Prozess hat angefangen mit dem intensiven Gebrauch von Instrumenten, wie beispielsweise Beurteilungssystemen und wird verstärkt durch die Digitalisierung, die die Entpersonalisierung von Führung begünstigt. Gerettet werden muss persönlich ausgeübte Führung, weil keine Organisation ohne sie auskommt. Wie das geschehen kann, zeigt dieses Buch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Auflage

© 2022 Armin Zisgen

ISBN Softcover: 978-3-347-77553-4

ISBN E-Book: 978-3-347-77554-1

Umschlaggestaltung und Satz: Carmen Fuchs

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Vorwort

I Was passiert mit Führung?

II Die drei klassischen Führungsaufgaben

1. Ziele und Aufgaben definieren

2. Feedback geben

3. Arbeitszeit planen und kontrollieren

III Es läuft einiges falsch

1. Es wird falsch geführt

Der Führungskraft mangelt es an Souveränität

Regelhörigkeit anstatt eigenverantwortlicher Entscheidung

Führen ohne Mut und Verantwortung

Opportunismus anstatt Persönlichkeit

Führen mit Druck und Angst

2. Es führen die Falschen

Die am längsten dabei sind, werden befördert

Der vermeintlich beste Fachmann wird befördert

Wer sich am besten verkauft, wird befördert

Sogar ein „funktionaler Psychopath“ kann Karriere machen

IV Die klassischen Führungsaufgaben in der Krise

1. Beurteilungen

Formalismus statt Feedback

Beurteilungssysteme beurteilen zu positiv

Leistungszulagen motivieren nicht

Performance Feedback: Mehr als ein neues Etikett?

2. Ziele

Ziele sind sinnvoll, Zielvereinbarungssysteme auch?

Zielvereinbarungssysteme können das Führen mit Zielen und Aufgaben nicht ersetzen

Zielvereinbarungssysteme decken nur einen Teil des Aufgabenspektrums einer Stelle ab

Zielvereinbarungen fördern Egoismus

Zielvereinbarungen behindern Flexibilität

Ziel-„vereinbarungen“ sind ein Widerspruch in sich

Mythos „Zielpyramide“

3. Arbeitszeit

Arbeitszeitsysteme messen Anwesenheit, keine Leistung

4. „Mythos Motivation“

5. Die Führungskrücken verursachen Aufwand

6. Gibt es auch positive Aspekte?

7. Weg mit den „Führungskrücken“!

V Die Rolle der HR-Funktion

VI Führung und Neue Arbeitswelt

1. Die Prophezeiungen

2. Die Realität

Leistungsverdichtung

Flexibilität

Digitaler Stress

VII Die Entwicklung der Führungskrücken

1. Arbeitszeit

2. Beurteilung

Teambeurteilung statt Individualbeurteilung

Peer Review statt Beurteilung durch den Vorgesetzten

3. Zielvereinbarungssysteme

VIII Geht es ohne Führungskrücken oder verflüchtigt sich die Führung?

1. Kann es die agile Organisation richten?

2. Demokratische Ansätze im Unternehmen

3. Selbstbestimmte Arbeit und entpersonalisierte Führung

4. Die ordnende Hand des Staates und der Gewerkschaften

IX Was passiert mit Führung?

Entlastung

Vermeidung

Entpersonalisierung

X Warum muss Führung gerettet werden?

XI Wie kann Führung gerettet werden?

1. Autorität, Macht und Herrschaft im Unternehmen

2. Der verklemmte Umgang mit der Hierarchie

3. Wie ist das mit den Werten?

XII Wertschätzende Führung rettet die Führung

Endnoten

Vorwort

Dieses Buch ist entstanden aus über dreißig Jahren erlebter und gelebter Führungspraxis. Wenn man als Personalleiter – ich verwende diese heute etwas altmodisch klingende Bezeichnung bewusst – in einem Unternehmen arbeitet, erfährt man Führung aus drei Perspektiven: man wird geführt, man führt selbst und man hat es mit dem Führungsverhalten von anderen zu tun. In allen drei Situationen erlebt man Licht und Schatten. Vor allen Dingen lernt man sehr schnell, Führung ist nicht einfach. Es ist für viele zwar durchaus reizvoll, eine Führungsposition zu haben, Chef oder Chefin von einer Anzahl Menschen zu sein, aber diese dann auch zu führen, stellt für nicht wenige eine Herausforderung dar. Der Name im Organigramm und der mit der Position verbundene Status sind nur der äußere Rahmen, aber dieser muss mit Persönlichkeit gefüllt werden – mit Führungspersönlichkeit.

Doch daran hapert es oftmals. Vielfach wird falsch geführt und manchmal führen auch die Falschen. Wie jede schwere Arbeit ist Führungsarbeit nicht beliebt. Man versucht, sie sich leichter zu machen oder sich ganz davor zu drücken und sie auf andere abzuschieben. All das passiert auch mit Führung.

Es ist für einen Personaler also unabdingbar, sich mit Führung auseinanderzusetzen.

Viele Gedanken aus dieser Auseinandersetzung sind zunächst in einen Blog1 eingeflossen, in dem ich mich mit Themen rund um Führung beschäftigt habe. Dabei kam sehr schnell die Versuchung, ein Buch über richtige und gute Führung zu schreiben, einen Ratgeber also. Ganz abgesehen davon, dass das keine besonders originelle Idee mehr ist, melden sich auch andere Bedenken. Neben einer Vielzahl von Ideen, Ratschlägen und Hinweisen, die ein solcher Ratgeber enthalten sollte, kommen gleichzeitig auch Fragen zur Gewissenserforschung. Wie würden deine Mitarbeiter dein Führungsverhalten beurteilen angesichts deiner Ratschläge? Was hast du als Personaler dazu beigetragen, dass verantwortungsvoll geführt wird?

Das Eingeständnis eigener Unvollkommenheit muss einen nun nicht unbedingt davon abhalten, anderen Ratschläge zu erteilen. Wenn das im richtigen Ton geschieht, können andere vielleicht etwas aus den eigenen Fehlern lernen. Die zweite Frage allerdings stößt ein Tor auf, das den Blick auf ein Problem lenkt, das mindestens so gravierende Auswirkungen auf Führung hat wie individuelle Unvollkommenheit oder falsche Führung.

Es geht weit über individuelles Führungsverhalten hinaus, so dass man ihm guten Gewissens das heute so leichtgängige Adjektiv strukturell anhängen kann.

Damit aber würde ein Ratgeber an seine Grenzen kommen. Es macht wenig Sinn, Tipps für individuelles Führungsverhalten zu geben, wenn mit den Rahmenbedingungen etwas nicht stimmt. Das aufzuzeigen ist der unbescheidene Anspruch dieses Buches. Nun sollte man es sich aber auch nicht zu einfach machen, gerade wenn es um Führung geht. Führung bedeutet immer individuelles Handeln und der entschuldigende Verweis auf Strukturen oder sogenannte Sachzwänge überzeugt nur bedingt. Alles, was Struktur geworden ist, hat zwar Einfluss auf das Handeln innerhalb dieser Strukturen, aber dadurch können auch die Strukturen beeinflusst werden. Nicht zuletzt sind auch Strukturen einmal durch initiatives Handeln entstanden.

Wenn man sich also als Personaler mit diesem Thema auseinandersetzen will, ist Gewissenserforschung ein guter Einstieg. Allerdings sollten Nicht-Personaler an der Stelle nicht aufhören zu lesen. Dies ist kein Beichtspiegel für HR-Mitarbeiterinnen und die Beschäftigung mit Führung ist kein Thema, das exklusiv in den Räumen der Personalabteilung stattfindet.

Die Gewissenserforschung muss beginnen mit der überaus wichtigen Aktivität der Auswahl der für eine Führungsaufgabe geeigneten Personen und weitergehen mit der Begleitung und Unterstützung der Führungskräfte in ihrer alltäglichen Praxis bis hin zur Konzeption von beispielsweise Trainings und Seminaren. Oft genug werden diese Funktionen nicht so wahrgenommen, wie es in den Lehrbüchern vermittelt wird. Dann werden bei Auswahlentscheidungen allzu gerne Kompromisse geschlossen und anstatt die Führungskräfte wirklich zu beraten und zu unterstützen, entwickelt sich HR zur Führungsersatzabteilung. Das fängt bereits damit an, dass von der Unternehmensleitung keine Auseinandersetzung darüber eingefordert wird, wie geführt werden soll und dass das Ergebnis dieser Diskussion auch im Unternehmen konsequent umgesetzt wird. Von den Führungskräften wird viel zu wenig persönlicher Führungseinsatz gefordert. Stattdessen werden voluminöse Instrumente eingeführt, die die Führungsaufgabe unterstützen sollen.

Die Personalerinnen tun vieles, um die Führungskräfte von ihrer Führungsaufgabe zu entlasten, anstatt ihnen zu vermitteln, was Führung wirklich bedeutet.

Leider lassen sie sich dabei allzu gerne von Moden verführen, ohne zu hinterfragen, ob deren Anwendung einen Mehrwert für das Unternehmen bringt. Beispiele dafür sind das Business Partner Modell nach Dave Ulrich im Personalwesen selbst und die sogenannten agilen Methoden, auf die ich später noch zurückkomme.

Bezogen auf die klassischen Führungsaufgaben versammelt sich so unter dem Etikett des Performance Managements ein umfangreiches Arsenal an Tools, die gewährleisten sollen, dass wirkungsvoll im Sinne der Unternehmensziele geführt wird. Was dabei mit Führung passiert, wird nicht mehr hinterfragt. HR entlastet die Führungskräfte von einem Teil ihrer Führungsaufgabe, erzeugt aber bei diesen den Eindruck, dass die Anwendung des Tools schon Führung sei. Von dieser problematischen Entwicklung, die weg von eigentlicher Führung führt, soll dieses Buch handeln.

Will man wieder zum Kern von Führung vordringen, der Frage, was könnte gute Führung sein, muss man sich durch ein Labyrinth durchfinden, das durch einen Wald von schick klingenden Instrumenten gesäumt wird, in dessen Unterholz sich das Unkraut falscher Führung breit gemacht hat. Diesen Weg zu finden ist Aufgabe aller, die in einer Organisation Führungsaufgaben wahrnehmen müssen. Auch wenn die HR-Funktion hier viel Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten muss und kann, darf sie nicht die Deutungshoheit, was gute Führung sein kann, für sich beanspruchen. Diese muss von allen Verantwortlichen – zuvorderst von der Leitung der Organisation – erarbeitet werden.

Führung ist nichts, was man nach Rezepten umsetzen kann. Man kann Verhalten in bestimmten Führungssituationen lernen und trainieren, die persönliche Einstellung zur Führung muss man selbstreflexiv finden. Die Suche des Weges durch das Labyrinth wird so auch zur Suche des eigenen Weges hin zur Führungskraft.

Das Buch richtet sich also keineswegs nur an Beschäftigte in Personalabteilungen, wie immer sie sich auch bezeichnen mögen. Es richtet sich an alle Menschen guten Willens, die sich mit Führung beschäftigen. An Menschen, die nicht zufrieden sind, wenn sie den jährlichen Beurteilungsbogen oder das Zielformular ausfüllen, auch wenn diese in digitaler Form daherkommen, die genug haben von modischen Methoden und Tools, die ihnen im wiederkehrenden Rhythmus mit missionarischem Eifer angeboten werden, sich aber bei näherem Hinsehen als alter Wein in neuen Schläuchen entpuppen. An Menschen, die spüren, dass Führung mehr ist, dass es dabei auf sie ankommt, auf ihren persönlichen Einsatz, nicht auf die Anwendung von Tools.

Im Buch wird zwangsläufigerweise immer wieder von Menschen in verschiedenen Funktionen mit verschiedenen Bezeichnungen die Rede sein. Diese sind immer als Menschen gemeint. Von daher halte ich es auch nicht für geboten, dies ausdrücklich mit * zu dokumentieren. Da ich mich kritisch mit Führungsformalismus auseinandersetzen will, möchte ich auch keinem die Lesbarkeit erschwerenden Genderformalismus folgen. Ich habe versucht immer wieder verschiedene Geschlechts- oder neutrale Bezeichnungen zu wählen, um meine Unvoreingenommenheit zu belegen.

Ein solcher Text braucht für seine Entwicklung Austausch und Diskussion. Besonders dankbar bin ich meiner Familie für die Begleitung mit Rat, Tat und viel Verständnis während der Entstehung des Buches.

Ein Dank geht auch an die, die auf meine Blogbeiträge in der Vergangenheit mit Kommentaren, auch wenn sie kritisch waren, reagiert haben. Auch sie haben meine Gedanken beeinflusst.

I

Was passiert mit Führung?

In einem traditionsreichen mittelständischen Unternehmen in der vordigitalen Zeit steht die jährliche Beurteilungsrunde an. Die Beurteilungsformulare sind verschickt. Eine Führungskraft fragt in der Personalabteilung an, ob das Beurteilungsgespräch auch telefonisch geführt werden kann.

Zwanzig Jahre später poppt im Management-Self-Service-System der Teamleiterin in der Zentrale einer Bank der Link zum Performance-Management-Tool auf mit dem Hinweis, bitte das fällige Target-Review durchzuführen und dabei auch nicht das Feedback zu vergessen. Die Teamleiterin stöhnt und fühlt Ärger in sich hochsteigen. Ihr Team arbeitet seit Monaten die meiste Zeit im Homeoffice und sie weiß nicht, wie sie jetzt auch noch sieben Feedbackgespräche per Video-Call führen soll. Sie überlegt, eine Mail an HR zu schreiben, beschließt aber dann, die Aufforderung zu ignorieren.

In einem Maschinenbauunternehmen war die Umsatzrendite drei Jahre in Folge rückläufig. Im gleichen Zeitraum bewegte sich der durchschnittliche Zielerreichungsgrad bei den außertariflichen Angestellten über der Hundertprozentmarke mit steigender Tendenz.

Durch die Corona Pandemie sind, wenigstens kurzzeitig, wieder einmal die Zustände ins grelle Scheinwerferlicht geraten, die in einigen Großschlachtbetrieben herrschen: harte Arbeit, schlechte Bezahlung und nahezu unzumutbare Wohnverhältnisse für die Beschäftigten.

Wenn ich heute beim Getränkelieferdienst online bestelle, bekomme ich eine minutengenaue Mitteilung, wann meine Getränke geliefert werden. Auch der Paketzusteller teilt mir einen Zeitrahmen mit, wann meine Lieferung zugestellt wird. Was für mich als Kunde Komfort sein kann, bedeutet allerdings für die ausführenden Fahrer, dass sie von einem System fast minutiös präzise gesteuert werden. Da sie alle ihre Arbeitsgänge über ein mobiles Terminal abwickeln, liefern sie dem System auch gleichzeitig alle Daten darüber, wie sie ihre Arbeit machen. Wann haben sie Kundenkontakt und wie lange brauchen sie von A nach B? Auch Speditionen arbeiten mit Systemen, die es den Disponenten ermöglichen, die Fahrzeuge auslastungsoptimiert zu steuern. Dabei erfahren sie auch nebenbei, wie die Fahrer ihre Strecken bewältigen.

Aus Callcentern sind schon lange Systeme bekannt, die zur Leistungskontrolle der Agents eingesetzt werden. Nicht überraschend macht diese Entwicklung auch vor Bürobereichen nicht Halt. Dort sind längst digitale Überwachungsprogramme im Einsatz. „Sie heißen Protectcom („die Nr. 1 in Deutschland für Überwachungs-Software“), Time Doctor, Veri Clock, Activetrack, Enaible oder Teramind. Die Software schreibt ein Logbuch des Nutzerverhaltens: Sie wertet Tastatureingaben auf Mitarbeiter-Laptops aus, speichert besuchte Websites, aufgerufene Programme sowie geöffnete Ordner und fertigt alle paar Minuten einen Screenshot vom Bildschirm an.“2 Wenn der Chef früher das Beurteilungsgespräch am Telefon führen wollte und die Teamleiterin heute keine Möglichkeit sieht, ihren Leuten Feedback zu geben, kennzeichnet das Führungsverhalten. Wenn Zielvereinbarungen aus dem Ruder laufen, liegt das nicht nur an der Konzeption des Systems, sondern auch daran, dass die Vorgesetzten offensichtlich die Zieleinhaltung nicht konsequent verfolgen oder gar die falschen Ziele vorgeben. Die Arbeitsbedingungen auf Schlachthöfen gehen auf die Entscheidungen von Menschen zurück, denen der Profit wichtiger ist als die Bedürfnisse ihrer Beschäftigten. Und auch die Nutzung von Software wird von Managern veranlasst, die dafür berechtigte Gründe angeben, aber möglicherweise auch kein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis zu den Mitarbeitenden in ihrer Organisation haben.

Die Beispiele lassen Fragen aufkommen.

Die Bandbreite reicht von Wie wird hier geführt? bis hin zu Wird überhaupt noch geführt? im Fall der Software-Beispiele.

Nicht zufällig beginnen die Beispiele mit einer Anekdote aus einer Beurteilungsrunde. Gerade die Instrumente des mittlerweile sogenannten Performance Managements wirken wie Brenngläser zur Beobachtung des Führungsverhaltens, da sie klassische Führungsaufgaben bündeln.

Nicht nur das kollektive Stöhnen, das diese Aktionen regelmäßig hervorrufen, viel mehr noch die Ergebnisse, die nachher dabei herauskommen, sind Anlass genug, gerade diese Instrumente in ihrer Wirkung auf Führungsverhalten zu hinterfragen.

Die Palette der Beispiele, aber auch die kontinuierliche mediale Diskussion rund um das Thema Führung zeigen, dass es sich um ein komplexes, dynamisches, aber offensichtlich auch problembehaftetes Phänomen handelt. Führung ist schwierig und deshalb ungeliebt. Führung wird gerne mit autoritär sein verwechselt und deshalb von den einen durchaus gutgeheißen, von anderen dagegen verpönt. Diese wiederum neigen dazu, sie mit Laissez-faire zu verwechseln. Führung und erst recht gute Führung lässt sich auch mit der klangvollsten Managementlyrik nur schwer auf den Punkt bringen. Sicher auch deshalb ist die Diskussion über Führung zum Spielball von Moden geworden.

Aktuell werden gerade die agile Organisation und New Work auf dem Cat Walk vorgeführt. Kaum hat in Folge von Corona die Homeoffice-Arbeit zugenommen, wird von den einschlägigen Medien und auch sonstigen Interessierten wie Beratern die Problematik der hybriden Führung proklamiert.

Organisationen haben nun dafür zu sorgen, dass diese schwierige Führungsaufgabe ordentlich ausgeübt wird, damit am Ende – in welcher Form auch immer – ein gutes Ergebnis steht.

Sie reagieren darauf mit typischen organisatorischen Maßnahmen. Sie führen Regelungen, Methoden und Verfahren ein oder stellen Werkzeuge zur Verfügung, die dabei helfen sollen.

Organisationen aber sind keine eigeninitiativ handelnden Wesen. Sie sind auf Menschen angewiesen, die in ihnen handeln und Entscheidungen treffen. So entsteht eine scheinbar paradoxe Situation, die aber grundlegend für die Arbeit einer Organisation ist. Eine Organisation kann nicht ohne die Beiträge ihrer Mitglieder leben, gleichzeitig aber darf sie nicht von einzelnen Individuen abhängig sein.

Auf die Führungsaufgabe bezogen könnte man nun folgende These formulieren:

Um diese Aufgabe zu bewältigen, ist die Organisation auf Führungskräfte angewiesen, muss aber dafür sorgen, dass die Durchsetzung und Sicherstellung der Leistungserbringung nicht allzu abhängig von den Fähigkeiten der individuellen Führungskraft ist.

Um es zuzuspitzen: Letztendlich sind es die Führungskräfte selbst, die eine Entwicklung vorantreiben, die Führung von Menschen unabhängig machen soll.

Dynamik bekommt diese Entwicklung durch den Optimierungs- und Rationalisierungsdrang, der Organisationen immanent ist, aber auch von außen bewirkt wird. In Wirtschaftsunternehmen ist dafür die Notwendigkeit, Gewinn zu erzielen entscheidend.

Wichtige Verstärker der Entwicklung sind natürlich auch das Bestreben, defizitäres Führungsverhalten auszugleichen wie auch die technologische Entwicklung.

Um die These zu überprüfen, wollen wir den Spuren folgen, die dieser Prozess auf dem unwegsamen Gelände der Führung hinterlässt.

Was passiert dabei mit Führung? Wird sie besser oder schlechter oder geht sie gar verloren?

II

Die drei klassischen Führungsaufgaben

1. Ziele und Aufgaben definieren

Keine Organisation, unabhängig von ihrer Größe, kommt ohne die hier skizzierten Elemente von Führung aus. Eine unternehmerische Organisation, das gilt für einen Handwerksbetrieb wie für einen Autohersteller, will eine Leistung erzeugen und damit einen Ertrag erwirtschaften. Um diesen Unternehmenszweck erfolgreich umzusetzen, muss sie sich Ziele vorgeben, die sie in Aufgaben zerlegt ihren Mitgliedern zur Abarbeitung vorgibt. Nur ist es nicht die Organisation, die das leisten muss, sondern die Menschen, die in ihr aktiv sind. Und es kann auch nicht jedes Mitglied Ziele vorgeben und Aufgaben verteilen. Je arbeitsteiliger die Organisation ist, desto höher ist der Koordinierungsaufwand. Folglich muss es in der Organisation Mitglieder geben, die dazu berechtigt sind, Ziele und Aufgaben vorzugeben: die Führungskräfte. Ihre Aufgabe ist aber nicht nur, Ziele zu formulieren und die Arbeit zu verteilen, sie müssen auch dafür sorgen, dass sie erfolgreich erledigt wird. Ziele zu formulieren und dafür zu sorgen, dass die daraus abgeleiteten Aufgaben erfolgreich abgearbeitet werden, sind somit zwei existenzielle Führungsaufgaben, die in einer Organisation geleistet werden müssen. Die Organisation ist auf Mitglieder angewiesen, die dazu bereit und in der Lage sind, diese Aufgaben zu übernehmen. Aber auch diese Führungskräfte können nicht schalten und walten wie sie wollen. Die Organisation muss also Regeln vorgeben, die sicherstellen, dass die Entscheidungen nach den gleichen Grundsätzen getroffen werden. Wir merken, wie verführerisch es ist, von der Organisation zu sprechen. Dabei wird natürlich auch das grundsätzliche Regelwerk von Menschen formuliert und vorgegeben. Wir sollten diesen Gedanken nicht aus den Augen verlieren. Wenn man schon dabei ist, Regeln aufzustellen, wird man auch solche Aktivitäten einbeziehen, die immer wieder vorkommen. Routinen müssen nicht immer wieder neu entschieden werden. Damit fängt die Entwicklung an, die uns im Folgenden beschäftigen wird. Führungskräfte führen Regeln und Standards ein und entlasten sich damit gleichzeitig vom Führen.

2. Feedback geben

Aus der Vorgabe von Zielen und der Erteilung von Aufgaben ergibt sich notwendigerweise der Bedarf nach Feedback. Die Menschen, die in Organisationen tätig sind, sind keine Roboter. Sie sind auf Kommunikation angewiesen, insbesondere auf Rückkopplung zu dem, was sie tun. Sie müssen und wollen wissen, ob das, was sie tun, richtig ist und wenn nicht, wie es zu verbessern ist. Darüber hinaus passieren natürlich Fehler. Auf die muss hingewiesen werden, die müssen erklärt, korrigiert und je nach Schwere des Fehlers auch sanktioniert werden. Aber vor allem muss gute Leistung anerkannt werden. Nicht nur materiell, sondern auch durch gute Worte. Gute Worte, die von den Verantwortlichen persönlich ausgesprochen werden. Auch wenn sie nachvollziehbar und einleuchtend klingen, werden diese Hinweise noch lange nicht selbstverständlich praktiziert. Wir werden im folgenden Kapitel sehen, welches Schicksal dem Feedback widerfahren ist.

3. Arbeitszeit planen und kontrollieren

Die Kontrolle der Arbeitszeit und die Dokumentation der Anwesenheit der Beschäftigten im Betrieb haben seit Beginn der Industrialisierung eine bedeutende Rolle gespielt. Es wurden Stechuhren eingeführt und die Mitarbeiter, egal ob im Büro oder in der Produktion, mussten Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit und meistens auch die Pausen abstechen. Stechuhren sind heute verschwunden, Zeiterfassungssysteme aber immer noch im Gebrauch. Es geht darum zu kontrollieren, dass die vorgeschriebene Arbeitszeit auch abgeleistet wird. Das ging lange Zeit mit dem Glauben einher, dass dann auch die Leistungserbringung stimmen muss. Wer da ist, arbeitet auch. So hat sich auch die Kontrolle der Arbeitszeit zur klassischen Führungsaufgabe entwickelt.

Was in Kombination mit einer tayloristisch organisierten Produktion noch berechtigt gewesen sein mag, hat sich im Lauf der Zeit als Irrglauben erwiesen. Der Nutzung von Arbeitszeitsystemen hat dies allerdings keinen Abbruch getan. Insofern gibt es keinen Grund, diese als Relikte der vordigitalen Zeit abzutun. Das Bedürfnis, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu kontrollieren, scheint gerade jetzt in der offenbar beginnenden Blütezeit des Home Office wieder zu wachsen. In der Phase, in der die Unabhängigkeit der Arbeitserbringung von Zeit und Ort den Übergang zur neuen Arbeitswelt demonstrieren soll, kommen überwunden geglaubte Verhaltensweisen wieder zum Vorschein. Wir werden uns mit dieser Entwicklung in späteren Kapiteln noch näher beschäftigen.

Im Unterschied zu den beiden vorher genannten Punkten scheint die Kontrolle der Arbeitszeit, wie vielerlei Praxisbeispiele zeigen, keine notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen Betrieb einer Organisation zu sein. Dennoch hat sie im Arsenal der Führungsaufgaben eine gewichtige Bedeutung behalten und wurde wie Zielvorgabe, Aufgabenerteilung und Feedback Opfer derselben Entwicklung, die im Folgenden beschrieben wird.

III

Es läuft einiges falsch

1. Es wird falsch geführt

Wenn wir uns damit auseinandersetzen wollen, was mit Führung passiert, müssen wir mit einem kurzen Streifzug durch die Untiefen der Führungspraxis beginnen. Man braucht in der Regel nicht mit vielen berufstätigen Mitmenschen zu reden, um welche zu finden, die über ihre Arbeitssituation klagen. Oftmals liegt der Grund dafür im Verhalten von Vorgesetzten. Selbst wenn vordergründig über Termindruck und Belastung gestöhnt wird, stellt man bei weiteren Nachfragen auch kritisches Führungsverhalten fest. So geben etwa beim Thema Feedbackkultur viele Angestellte an, dass sie selten Rückmeldung zu ihrer Arbeit und selten bis nie lobende Anerkennung erhalten und dies als frustrierend empfinden. Auch empirisch seriöse Untersuchungen von Unzufriedenheitsindizes bis hin zu Fehlzeitenanalysen geben immer wieder Hinweise auf mangelhafte Führung.

Wir stoßen vielfach auf falsches Führungsverhalten. Im ersten Kapitel haben wir gesehen, wie belastend, weitreichend und nachhaltig unternehmensschädigend sich schlechte Führung auswirkt. Worin liegen Gründe dafür, dass Vorgesetzte nicht gut führen?

Der Führungskraft mangelt es an Souveränität

Dies ist eine nicht zu unterschätzende und leider auch häufig verbreitete Ursache dafür, dass falsch geführt wird. Souveränität ist eigentlich ein staatsrechtlicher Begriff. Er bezeichnet die einem Staat zugehörige Hoheitsgewalt. Es ist ein sehr hohes Gut, das von anderen Staaten als solches geachtet werden muss. Es sichert Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Davon abgeleitet wird der Begriff auch oft als Persönlichkeitseigenschaft verwendet. Das Verhalten eines Politikers beispielsweise oder eines Managers wird als souverän bezeichnet – oder auch nicht. Gerade für Führungskräfte ist diese Eigenschaft sehr wichtig und wird nach meiner Meinung in Zukunft immer wichtiger. Was kann man unter der Souveränität einer Führungskraft verstehen?

Das wichtigste Kennzeichen ist wohl, wie bei einem Staat, die Unabhängigkeit. Damit sind nicht Einzelkämpfertum und Ichbezogenheit gemeint. Kein Mensch lebt als Robinson auf einer Insel, erst recht arbeiten wir nicht als Solisten im Unternehmen. Wir sind in vielfältige Beziehungsgeflechte eingebunden, beruflich und privat. Gerade das aber macht Unabhängigkeit und darauf aufbauend Eigenständigkeit notwendig: Die Unabhängigkeit, mir aus eigener Kompetenz eine Meinung zu bilden. Die für mein Leben notwendigen Entscheidungen eigenständig zu treffen. Nicht jeder Mode hinterherzulaufen und auf jedes Brett zu springen, das einem hingehalten wird. Für Führungskräfte heißt das, kritische Distanz zur eigenen Aufgabe und auch zum eigenen Handeln zu finden. Vom Plan abzuweichen oder ihn gar zu verwerfen, wenn man merkt, dass man auf einem anderen Weg das Ziel besser erreicht. Fehler einzugestehen und anzuerkennen, dass auch andere – besonders Mitarbeiter – gute Ideen haben können. Souveränität bedeutet auch loszulassen. Ich muss nicht bei allen vermeintlich wichtigen Meetings dabei sein. Ich muss nicht immer erreichbar sein. Meine Belastungssituation kann ich nur in den Griff bekommen, wenn ich souverän damit umgehe, als Chef und als Mitarbeiter, bei der Arbeit und privat. Damit ist Souveränität ein Element der personalen Autorität. Souveränität hat zwei Aspekte. Einmal die eigene Souveränität: selbst souverän sein und handeln. Aber Souveränität muss auch gewährt werden. Je souveräner die Mitglieder einer Organisation handeln können, desto besser funktioniert sie. Damit wird Souveränität auch zu einer Anforderung, um die sich Vorgesetzte und Mitarbeiter bemühen sollen. Es ist keine gott- gegebene Eigenschaft, die man hat oder nicht. Man kann sie entwickeln.

In einem Maschinenbauunternehmen gab es schon lange bevor durch die Home Office Idee die Arbeitszeitflexibilität einen Schub bekommen hat, für die Beschäftigten mit einem außertariflichen Anstellungsvertrag die sogenannte Zeitsouveränität. Diese brauchten nicht an der Zeiterfassung teilzunehmen und in ihren Arbeitsverträgen stand ausdrücklich, dass es auf die Aufgabenerfüllung ankommt. Sie hatten also die Möglichkeit ihre Arbeitszeit frei zu gestalten, hätten von zu Hause aus arbeiten können oder auch mal einen Tag frei nehmen können, wenn etwas anderes zu erledigen gewesen wäre. Die Realität war jedoch, dass auch diese Beschäftigtengruppe weitgehend regelmäßig gearbeitet hat. Wenn doch einmal jemand einen halben Tag nicht da war, wurde die Information Der nimmt Zeitsouveränität oft mit einem etwas ironischen Unterton weitergegeben. Schon fast anekdotisch mutet es an, wenn in der Personalabteilung regelmäßig in der Vorweihnachtszeit mindestens ein bis zwei Anrufe von AT-Vertragsinhabern eingingen, die nachfragten, ob sie denn an Heiligabend oder Silvester einen halben Tag Urlaub nehmen müssten. Trotz dieser Zeitsouveränitätsregelung galt für diese Gruppe dieselbe Urlaubsregelung wie für die anderen Beschäftigten. Also auch der zeitsouveräne AT-Vertragsinhaber hatte wie jeder andere dreißig Tage Urlaub zur Verfügung und musste den Urlaub auch klassisch beantragen.

Dieses unspektakuläre Beispiel zeigt gut, wie Souveränität in den tiefen Ritzen des Führungsalltags verlorengeht und wie man sie daraus befreien kann. Indem die Führungskräfte selbst zeigen, dass sie souverän mit ihrer Arbeitszeit umgehen, ihren Mitarbeitern klar machen, dass es wirklich auf die Erfüllung der Aufgabe ankommt und nicht grinsen, wenn doch einmal jemand frei macht. Es ist kein souveränes Verhalten, wenn die Teamleiterin sich nur dann erlaubt, mal einen halben Tag frei zu nehmen, wenn der Abteilungsleiter auf Dienstreise ist. Und auch der Kollege, der in der Personalabteilung nachfragen muss, was er an Heiligabend machen soll, ist für seine Mitarbeiter keine Ermutigung zu souveränem Handeln.

Aber auch das Unternehmen – wobei man in diesem Fall HR in die Pflicht nehmen muss – muss erkennen, dass eine traditionelle Urlaubsregelung im Widerspruch zur Zeitsouveränität steht. Hier wäre es angebracht, die Urlaubsregelung wegzunehmen und den Führungskräften zu sagen: Ihr wisst, wie ihr eure Aufgabe zu erfüllen habt, dann könnt ihr auch euren verdienten Urlaub selbst regeln.

Indem die Beschäftigten ein solches Signal bekommen, kann man sie zu souveränem, eigenverantwortlichem Handeln hinführen.

Nun sollte man nicht der Versuchung anheimfallen, dieses Beispiel müde lächelnd als Relikt aus alten Zeiten abzutun. Auch die eingangs erwähnte Kontrollsoftware ist ein Zeichen fehlender Souveränität. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter. Vordergründig wird den Beschäftigten selbstbestimmtes Handeln ermöglicht, das dann auf mehr oder minder subtile Weise doch wieder, aber trotzdem unter Umständen sogar recht massiv, kontrolliert wird. Auf dieses Phänomen werde ich später noch ausführlicher eingehen.

Gerade weil unternehmerische Entscheidungen durch Komplexität gekennzeichnet sind, ist nicht nur auf höheren Ebenen Souveränität unabdingbar. Je komplexer eine Situation und je schwieriger vorhersehbar sie ist, desto schwieriger ist es, für alle Fallkonstellationen eine Regel oder Anweisung zu formulieren. Souveränität schafft die Basis, eigenständig Entscheidungen zu treffen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Komplexität macht das Entscheiden schwieriger, aber gleichzeitig auch notwendiger. Schon das überschaubare Arbeitszeitbeispiel hat gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen organisatorischen Regelungen und souveränem Verhalten gibt. Von daher kann in dem Verhalten zu Regelungen eine wichtige Ursache für falsches Führen liegen.

Regelhörigkeit anstatt eigenverantwortlicher Entscheidung

Weil dem so ist, hat es sich zu einem beliebten Ersatz für Führung entwickelt, einen Sachverhalt zu regeln. Was zunächst auch verständlich ist. Dort, wo es eine eindeutige und klar verständliche Regelung gibt, braucht die Führungskraft nur noch für deren Einhaltung zu sorgen. Vom Grundsatz her gibt es dann nur noch die Entscheidung, ob regelgemäß gehandelt wurde oder nicht. Eine eigene Entscheidung, ob überhaupt und was zu tun sei, ist nicht mehr notwendig. Auch für die Mitarbeiter schafft dies auf den ersten Blick Sicherheit . Deswegen rufen so viele Führungskräfte und auch Mitarbeiter nach Regelungen. Für möglichst alle Situationen soll es eine Regelung geben. Wie oft habe ich in meiner Rolle als Personalleiter die Frage gehört: „Wo steht das?“, wenn ich jemanden auf eine bestimmte Verhaltensweise hinweisen wollte. Ein eindrucksvolles Beispiel für ein solches Führungsersatzinstrument sind Arbeitszeitregelungen. Auch wenn flexible Arbeitszeitregelungen mittlerweile eine weite Verbreitung gefunden haben, sind sie doch vielen Führungskräften immer noch ein Dorn im Auge. Sprüche wie „Die Mitarbeiter können ja machen, was sie wollen“, „Ich habe gar keine Möglichkeit mehr zu kontrollieren“ oder „Freitagnachmittag ist eh keiner mehr da“ machen deutlich, dass es Ängste gibt, Einfluss zu verlieren. Dabei lassen Arbeitszeitbetriebsvereinbarungen in der Regel immer die Möglichkeit zu, betriebliche Notwendigkeiten zu berücksichtigen. Auch das vielgepriesene Home-Office wird von vielen Chefs im Grunde ihres Herzens mit Argwohn betrachtet – zumindest so lange wie sie selbst noch keine Erfahrungen damit haben. Regelhörigkeit kann sich beispielsweise auch in der Haltung zeigen, besser nichts Ablehnendes zu äußern, da es ja mittlerweile in ist und von der Firma sogar gefördert werden muss. Und sollte es in einer Betriebsvereinbarung oder gar gesetzlich geregelt sein, muss man sich sowieso daran halten. Das Nachdenken über die Konsequenzen des Befolgens oder Abweichens von der Regelung ersetzt das Nachdenken über den eigentlichen Sachverhalt. Wenn es zum Homeoffice eine dauerhafte gesetzliche Regelung geben sollte, wie sie derzeit, in der diese Zeilen geschrieben werden, in der Diskussion ist, wird in den Unternehmen zunächst darüber diskutiert werden, wie diese Regelung umzusetzen sein wird und was das kostet und nicht darüber, welche Chancen und Risiken das Home Office als solches bietet. An diesem Beispiel lässt sich auch nochmal aufzeigen, was souveränes Handeln ausmachen kann. Die nichtsouveräne Führungskraft wird sich die Regelung genau anschauen, in der Personalabteilung und bei ihrem Vorgesetzten nachfragen, wie sie zu interpretieren sei. Dies insbesondere dann, wenn sie die in solchen Fällen übliche Klausel enthält, dass betriebliche Belange berücksichtigt werden können. Nach allseitiger Abstimmung wird sie dann so entscheiden, wie es ihr opportun erscheint.

Die souveräne Führungskraft wird mit ihrem Team diskutieren, was an Homeoffice Arbeit sinnvoll und möglich ist, prüfen, ob das in die Regelung passt und entscheiden.

Dabei ist das Verhältnis zu Regelungen durchaus zwiespältig. So sehr man einerseits nach Regelungen sucht, so sehr beklagt man sich andererseits über sie. Was wird nicht über Tarifvereinbarungen, umständliche und komplizierte gesetzliche und sonstige Regelungen geschimpft und gestritten. Gerade der betriebliche Alltag wird zunehmend durch Vorschriften aller Art bestimmt. Dabei lässt sich beobachten, je mehr geregelt wird, desto unsicherer werden die Leute und rufen dann nach besseren – sprich einfacheren – aber nach Regelungen. Eine moderne Variante einer Regelung ist der Prozess. Alle betrieblichen Abläufe sollen möglichst in detaillierten Prozessen abgebildet und dokumentiert werden. Das kann sehr sinnvoll und sehr heilsam sein, weil man bei der Konzeption Vorgänge sauber strukturieren muss. Voraussetzung ist aber, dass der zugrundeliegende Vorgang in der Realität auch zu mindestens 90% so immer wieder vorkommt. Wenn man weiß, dass immer wieder Sondersituationen auftauchen, kann man die Realität durch keinen noch so detaillierten Prozess einfangen. Regelungen, Prozesse, Standards, Vorschriften – sie können notwendig und sinnvoll sein. Die Situation in betrieblichen und sonstigen Organisationen ist Gott sei Dank dadurch gekennzeichnet, dass hier Menschen zusammenarbeiten. Menschen haben die Fähigkeit, auf unterschiedliche Situationen unterschiedlich zu reagieren. Diese Fähigkeit kann man durch Lernen verbessern. Es reicht deshalb nicht aus, Prozesse zu designen, sondern es ist unabdingbar, auch die Flexibilität der Mitarbeiter zu trainieren. Regelungen sollen im Unternehmen nur im absolut notwendigen Maß eingesetzt werden. Bevor man etwas regelt, muss man sich die Frage stellen, brauche ich diese Regel wirklich? Oder gehört das zum Führungsverhalten der Vorgesetzten und zum eigenständigen und eigenverantwortlichen Arbeiten der Mitarbeiter? Letztendlich ist es in einer komplexen und sich schnell verändernden Umwelt notwendig, dass sich die handelnden Personen zu helfen wissen, dass sie selbstständig wissen, was zu tun und wie zu entscheiden ist. Das ist die entscheidende Fähigkeit, die zu trainieren ist. Prozesse können von Routinen entlasten, aber die Menschen, die mit diesen Prozessen arbeiten, müssen wissen, was dahintersteckt. Wir alle erleben immer wieder Situationen, in denen wir uns in einer Hotline durch einen von einer freundlichen Computerstimme vorgetragenen Katalog von Fragen arbeiten müssen, der aber unser Problem nicht enthält. Am Ende landen wir dann in einem Call-Center, in dem uns ein Agent mit antrainierter Eloquenz davon zu überzeugen versucht, dass unser Problem nicht in den Standard passt. Oder wenn wir bei einer Behörde nachfragen, weil wir den Sinn eines Schreibens nicht verstanden haben und die Antwort bekommen: „Das können Sie vergessen, das verschickt der Computer automatisch.“

Ergänzend zu dem, was ich über Regeln geschrieben habe, passt der Spruch ganz gut, der auf einem Motivationsposter auf dem Gelände von Facebook stehen soll: Better done than perfect. Das kann man in der Griffigkeit schwer ins Deutsche übersetzen. Sinngemäß kann man es etwa so übertragen: Besser man tut überhaupt und auch schnell etwas, als es perfektionieren zu wollen. Perfektionieren heißt dann nicht nur, auf die Lösung zu warten, die allen Eventualitäten gerecht wird und möglichst keine Risiken mehr bringt. Perfektionieren bedeutet heute auch oft sich nach allen Seiten abzusichern, Verantwortung so zu verteilen, dass für einen selbst möglichst wenig davon übrigbleibt. Stattdessen fordert der Spruch auf, etwas zu probieren, auch zu riskieren: Eine Idee einfach einmal umzusetzen, anstatt sie erst in allen möglichen Gremien zu diskutieren und abzuwägen. Vertrauen in die eigene Kompetenz und Erfahrung zu haben, Mut zu zeigen, die Idee umzusetzen und schließlich auch die Verantwortung dafür zu übernehmen. Auf der anderen Seite heißt das auch, Fehler zuzugestehen und sie selbstkritisch zum Lernen zu nutzen.

Führen ohne Mut und Verantwortung

Organisationen müssen heute ihren Mitgliedern ermöglichen, diesen Mut zu haben, zu probieren und zu entscheiden, um sich in einem Umfeld des Wandels und der Komplexität zu behaupten.

Mut zu haben geht einher mit der Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen. Diese Fähigkeit ist eine entscheidende Voraussetzung für Führung. Ich bin verantwortlich für das, was ich tue und die Entscheidungen, die ich treffe, muss die Grundhaltung einer jeden Führungskraft sein. Wenn wir die Übernahme von Verantwortung als wesentliche Führungseigenschaft ansehen, müssen wir in der Tat feststellen, dass vielfach falsch geführt wird. Bei der in der Öffentlichkeit geführten Diskussion um verzögerte und überteuerte Großprojekte erleben wir fast nie das Eingeständnis von Verantwortung. In manchen Fällen muss nach einigem für alle Beteiligten unwürdigen Gezerre ein Verantwortlicher seinen Hut nehmen. Selten erlebt man dann, dass dieser sich auch wirklich für verantwortlich erklärt. Natürlich ist es schwer, einen Fehler einzugestehen und es ist verständlich, wenn der Verursacher versucht, sich zu rechtfertigen und sein Verhalten zu erklären. Das muss ihm auch gestattet sein, Verteidigung muss möglich sein.

Letztendlich aber muss eine Führungskraft zu dem stehen können, was sie durch ihr Handeln und Entscheiden verursacht hat. Verantwortung ist nicht teilbar. Auch in einem komplexen Sachverhalt sind Taten individuell zurechenbar. Teams sind auch deshalb so beliebt, weil man glaubt, Verantwortung vergesellschaften zu können. Wenn ein Team verantwortlich ist, ist niemand verantwortlich. Auch die Häufigkeit von Besprechungen und die zunehmende Zahl von Teilnehmern ist ein Indiz für mangelnde Verantwortungsfähigkeit. „Ihr wart doch alle dabei…Ihr habt alle zugestimmt… Da musste ich doch so entscheiden..“ Überbordende Mailverteiler, meist auch ein Versuch, Verantwortung kollektiv zu verteilen: „Wenn alle davon gewusst haben und keiner hat sich gemeldet, kann es mir egal sein.“

Dieselbe Gefahr bergen Workflows. Der Workflow gibt die Arbeitsschritte vor, die nicht mehr hinterfragt werden (können). Wenn dann eine nichtprogrammierte Situation eintritt, kann der Zuständige hilflos reagieren oder sich bewusst zurücklehnen und mit den Schultern zucken. Dass dann Fehler passieren, darf niemanden überraschen. Gewöhnlich wird dann von einer Verkettung unglücklicher Umstände gesprochen.

Betrachtet man diese Entwicklungen, könnte man einen Trend zur organisierten Verantwortungslosigkeit ausmachen. Der macht natürlich auch vor Organisationen nicht Halt und leistet der eh schon vorhandenen Versuchung, sich vor Verantwortung zu drücken, noch Vorschub.