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Das Buch untersucht das Phänomen „Revolution“ in seiner ganzen Vielfalt. Dabei behandelt es unterschiedliche Ereignisse wie etwa den Bauernkrieg, die Täuferherrschaft in Münster oder die Englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Es vermittelt aber nicht nur Überblickswissen, sondern es demonstriert wie historisches Denken funktioniert und wie Fragen und Thesen entwickelt werden.
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Seitenzahl: 723
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Einführungen in die Geschichtswissenschaft
Frühe Neuzeit
Herausgegeben von Marian Füssel und Christoph Kampmann
Band 3
Ulrich Niggemann
Revolte und Revolution in der Frühen Neuzeit
Vandenhoeck & Ruprecht
Prof. Dr. Ulrich Niggemann ist Direktor und Geschäftsführender Wissenschaftlicher Sekretär am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de
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Umschlag: Hinrichtung von König Karl I. von England am 30. Januar 1649 vor dem Banqueting House in London. Inventarnummer DG2020/5/106. Albertina, Wien, Österreich.
Korrektorat: Vera M. Schirl, Wien
Umschlaggestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart
Druck und Bindung: Plump Druck & Medien GmbH, Rheinbreitbach
Satz: le-tex publishing services, LeipzigEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Printed in the EU
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
UTB-Nr. 6138
ISBN 978-3-8463-6138-2
Inhalt
Vorwort zur Reihe
I.Revolution in der Vormoderne? Zur Einführung
I.Konzepte, Theorien, Kontroversen: Revolutionsforschung im Überblick
1.Entwicklungen und Konjunkturen
2.Definitionen und Abgrenzungen
3.Liberale Revolutionsanalyse: Tocqueville und die Französische Revolution
4.Revolution und Klassenkampf: Marxistische Revolutionstheorie
5.Naturalistische und sozialpsychologische Deutungen: Crane Brinton und James C. Davies
6.Strukturalistische Deutungen: Charles Tilly und Theda Skocpol
7.Revisionismus und Postrevisionismus: Auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte der Revolution
III.Themen und Probleme
8.Sprechen über Revolution – Kommunikation und Medialität, Diskurs und Erinnerung
8.1England, Schottland und Irland 1688/89
8.2Mediale Kommunikation und Revolution
8.2.1Medien, Diskurse und politische Ideen
8.2.2Gedruckte Kommunikation: Die Rolle der ‚Massenmedien‘
8.2.3Die Entwicklung des Revolutionsbegriffs seit dem 14. Jahrhundert
8.3Oralität und Performanz
8.4Rezeption, Tradition und Erinnerung
8.5Fazit
9.Krisen und Verteilungskämpfe – Revolten und Revolutionen als sozioökonomische Konflikte
9.1Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 1524–1526
9.2Neapel 1647–1648
9.3Ökonomische und soziale Konfliktlagen
9.3.1Vor dem Bauernkrieg: Eine Krise des 14./15. Jahrhunderts?
9.3.2Der Bauernkrieg im Kontext: Die „Preisrevolution“ des 16. Jahrhunderts
9.3.3Der Aufstand von Neapel und die „Krise des 17. Jahrhunderts“
9.3.4Eine Krise des 18. Jahrhunderts?
9.4Kulturelle Dimensionen sozio-ökonomischer Konfliktlagen
9.5Fazit
10.Zentrum und Peripherie – Ständische Revolten und dynastische Agglomeration
10.1Niederlande 1566–1609
10.2Frankreich 1648–1653
10.3Herrschaft, Partizipation und Revolte
10.3.1Zentrum und Peripherie in großräumigen Herrschaften
10.3.2Krieg und dynastische Agglomeration
10.3.3Die Mitregierung zentraler Gremien
10.3.4Konflikte um Partizipation in der kolonialen Welt: Ein Sonderfall?
10.4Eine Krise des ‚Absolutismus‘?
10.5Fazit
11.Seelenheil und Apokalypse – Religion und Revolution
11.1England 1642–1660
11.2Religion als Faktor revolutionärer Situationen
11.2.1Reformation als Revolution?
11.2.2Konfessionskonflikt und Revolte
11.2.3Erwählung, Endzeiterwartung und Utopie
11.3Fazit
12.Radikalisierung und Gewalt – Dynamiken und Verläufe revolutionärer Prozesse
12.1Frankreich 1789–1799
12.2Revolutionäre Situationen und revolutionäre Entwicklungen
12.2.1Radikalisierung und Gewalt
12.2.2Konterrevolution und Restauration
12.2.3Terminer la Révolution: Wie beendet man eine Revolution?
12.3Fazit
13.Erfolg und Scheitern – Revolutionäre Ergebnisse
13.1Ungarn, 1703–1711
13.2Nordamerika, 1765–1783
13.3Erfolgreiche und gescheiterte Revolutionen?
13.3.1Neue Staatswesen
13.3.2Neue Regime
13.3.3Soziale und religiöse Veränderungen
13.3.4Ambivalenzen des Scheiterns
13.3.5Verlierer
13.4Fazit
IV.Das Revolutionäre in Vormoderne und Moderne: Ein Fazit
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Einführungs- und Handbuchliteratur
Zitierte Literatur
Personenregister
Ortsregister
Sachregister
Vorwort zur Reihe
Geschichte ist ein Fach in permanenter Bewegung. Jede Generation stellt ihre eigenen Fragen an die Vergangenheit und trägt so entscheidend zum Wandel von Geschichtsbildern bei. Neue Themen treten in den Blick, klassische Themen werden aus einer neuen Perspektive betrachtet. Diese Dynamik in der akademischen Ausbildung zu begleiten, ist das Ziel der UTB-Reihe „Einführung in die Geschichtswissenschaften: Frühe Neuzeit“. Die Frühe Neuzeit ist als eigenständige, den Zeitraum vom 15. bis zum 19. Jahrhundert umfassende Teilepoche fest etabliert. Längst ist Allgemeingut geworden, dass sie weit mehr darstellt als ‚nicht mehr Mittelalter‘ und ‚noch nicht Moderne‘, wobei die Diskussion über Charakteristika und Signaturen der Frühneuzeitepoche mit großer Intensität weitergeführt wird. Der Reihe geht es darum, anhand zentraler Themen ein vertieftes Verständnis der Frühen Neuzeit zu gewinnen. Bewusst werden solche Strukturen, Praktiken und Prozesse in den Mittelpunkt gestellt, die für die Frühe Neuzeit besondere Bedeutung haben und daher verstärkte Aufmerksamkeit der Frühneuzeitforschung gefunden haben, aber bislang kaum Gegenstand von historischen Einführungen gewesen sind.
Die Reihe richtet sich an Studierende wie Lehrende, darüber hinaus aber auch an ein allgemeines, historisch interessiertes Publikum. Der Fokus der einzelnen Bände ähnelt dem eines Seminars. Um Anschaulichkeit und Materialnähe bemüht, bieten die Bände plastische Beispiele, um abstrakte Prozesse mit Blicken aus der Nähe konkret werden zu lassen. Die Perspektive ist europäisch vergleichend, aber keinesfalls auf enzyklopädische Vollständigkeit gerichtet. Der Aufbau der Bände trägt der Theorieorientierung der Frühneuzeitforschung Rechnung, indem ausführlich leitende Konzepte, Kontroversen, Begriffe und Theoreme vorgestellt werden. Jeder Band bietet eine in sich geschlossene Darstellung, die den aktuellen Forschungsstand repräsentieren soll. Weitere Materialien für Lehre und zur individuellen Vertiefung einzelner Aspekte werden auf einer Online-Plattform bereitgestellt.
Die Reihe wird, so hoffen wir, ein plastisches Bild zentraler, die Frühneuzeitepoche prägender Strukturen und Entwicklungen vermitteln, und zugleich der wissenschaftlichen Wege, diese zu erforschen. Auf diese Weise werden die Bände in Studium und Lehre der Frühen Neuzeit wichtige Hilfestellung und Orientierung bieten.
Marian Füssel und Christoph Kampmann
I.Revolution in der Vormoderne? Zur Einführung
„The World turn’d upside down“ lautet die Überschrift einer Ballade, die 1646/47 erschien und gegen die Abschaffung des Weihnachtsfests durch strenggläubige Puritaner im Englischen Bürgerkrieg (1642–1649) protestierte. Die Graphik auf dem Titelblatt geht jedoch in ihrer Drastik über den konkreten Anlass hinaus: Sie zeigt eine aus den Fugen geratene Welt, in der die Gliedmaßen des Menschen verkehrt angebracht sind, die Kirche Kopf steht, Fische durch die Luft schwimmen und Pferde auf zwei Beinen Karren lenken. Mehr noch als der Text der Ballade, der Unerhörtes ankündigt – „Listen to me and you shall hear, news hath not been this thousand year: Since Herod, Caesar, and many more, you never heard the like before“ – thematisiert der einfache Holzschnitt Revolte und Revolution als radikale Umsturzerfahrung, die alle Gewissheiten und Sicherheiten in Frage stellt. Auch andere Zeitgenossen diskutierten die Revolutionen ihrer Zeit, fragten nach den Ursachen und gaben den Fürsten und Regierungen Ratschläge, wie man solche Umstürze verhindern könne:
Ma se alcuna historia è profitteuole al Prencipe, quella, a mio credere, è vtilissima, che narra le riuolutioni, ò commotioni de’ popoli.1
Mit diesen Worten leitete 1653 Maiolino Bisaccioni in seinem Werk über die Bürgerkriege und Revolutionen seiner Zeit den Abschnitt über den Englischen Bürgerkrieg ein. Bisaccioni betonte damit nicht nur die Nützlichkeit einer Auseinandersetzung mit Revolutionen und Aufständen, sondern er verwendete an dieser Stelle auch den Begriff „Revolution“ (hier im Plural „rivoluzioni“). Das Wort, das er auch mit Erdbeben im Staatswesen („terremoti di stato“) gleichsetzte, kam noch einige weitere Male in dem Buch vor, etwa im Zusammenhang mit den Aufständen in den Königreichen Sizilien und Neapel (1647) sowie der Fronde in Frankreich (1648–1653).2 Bisaccioni war nicht der Einzige, der die Unruhen der Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem Begriff „Revolution“ auf den Punkt zu bringen versuchte. In den Titeln einer Reihe italienischer Abhandlungen wurde der Begriff prominent verwendet, und auch in Frankreich und England war er geläufig. Spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde offenbar die tiefgreifende Erfahrung der Zäsur, des Bruchs im geschichtlichen Verlauf mit dem Wort „Revolution“ ausgedrückt.3
Abb. 1 The World turn’d upside down.
Über die Herkunft und Semantik des Wortes „Revolution“ schien lange weitgehende Klarheit zu bestehen: Aus dem Latein der Spätantike stammend habe es v. a. Kreisbewegungen bezeichnet, sei daher für den Lauf der Gestirne verwendet worden, etwa in Nikolaus Kopernikus’ berühmtem Werk „De revolutionibus orbium coelestium libri sex“ von 1543, das das heliozentrische Weltbild begründete. Erst relativ spät, im Laufe des 17. Jahrhunderts, habe man den Begriff auch für politisch-soziale Umwälzungen gebraucht, jedoch unter Beibehaltung seiner zirkulären Semantik, die stets eine Rückkehr zum Ausgangspunkt beinhaltet, mithin gerade nicht die Erfahrung eines Bruchs artikuliert habe. Noch in der Glorious Revolution von 1688/89 habe „Revolution“ daher eigentlich „Restauration“ gemeint.4 Erst im Umfeld der Französischen Revolution von 1789 habe sich die Semantik des Revolutionsbegriffs entscheidend verändert. In der Forschung wird diese Veränderung der Begrifflichkeit oft durch eine Anekdote zum Ausdruck gebracht, die vielfach zitiert und nicht selten an den Beginn geschichtsphilosophischer Überlegungen zur Revolution gestellt wird: Sie spielt in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1789. François Alexandre Frédéric Duc de La Rochefoucauld-Liancourt soll König Ludwig XVI. von Frankreich vom Sturm auf die Bastille berichtet haben. Der König habe entsetzt ausgerufen, das sei ja eine Revolte. La Rochefoucauld-Liancourt hingegen habe geantwortet: „Non, Sire, c’est une révolution“.5
Die zweifellos fiktionale Anekdote ist offenbar schon kurz nach den Ereignissen in Umlauf gekommen und handelt v. a. von der Begrifflichkeit „Revolte“ bzw. „Revolution“. Historiker:innen haben sie immer wieder verwendet, um auf den tiefen Bruch der Erfahrungen und des Bewusstseins in der Französischen Revolution hinzuweisen. Winfried Schulze etwa schreibt in seiner „Biographie“ des 14. Juli:
Was für eine Szene! Wie kaum ein anderes Wort scheint sie die Bedeutung der Bastille- Eroberung nicht nur für die Macht des Königs, sondern auch für den raschen Wandel der politischen Sprache auszudrücken. Hier der naive Monarch, unfähig, das Ereignis politisch richtig einzuschätzen und noch geneigt, den traditionellen Begriff für die üblichen Volksunruhen zu verwenden, dort der getreue, aber weitsichtige Diener, selbst Mitglied der Nationalversammlung, der sofort die Tragweite und die neue Qualität der Pariser Vorfälle erkennt und sie dazu noch bonmotreif formuliert.6
Mindestens drei Punkte sind an dieser Interpretation symptomatisch für das Narrativ von Revolution im Europa der Neuzeit, wie es sich bis in die jüngste Forschung hinein in zahlreichen Darstellungen findet:
1)Es wird klar unterschieden zwischen Revolte und Revolution, wobei die Revolution sich v. a. aufgrund der Größe des Ereignisses und seiner langfristigen Wirkung von der Revolte unterscheide. Mehr noch: Im Gegensatz zu den immer wieder auftretenden Revolten der Frühen Neuzeit verweise der Revolutionsbegriff auf ein geradezu singuläres Ereignis, das alles bisher Dagewesene sprenge.
2)Revolte gilt als der ältere Begriff, während der Revolutionsbegriff am Ende des 18. Jahrhunderts noch relativ jung gewesen sei – ein neuer Begriff für eine ganz neue Qualität von Ereignissen.
3)Die Ereignisse des 14. Juli 1789 – und zwar in der Tat oft zugespitzt auf diesen Tag – bilden eine tiefgreifende Zäsur im historischen Verlauf. Mit diesem Tag beginne eine neue Epoche, was der als weitblickend dargestellte La Rochefoucauld-Liancourt bereits ahne. Er sehe geradezu, dass die Ereignisse den Rahmen älterer Revolten sprengten, dass sie in eine Zukunft wiesen, die sich grundlegend von der Vergangenheit unterscheide. Die Forschung geht bis heute vielfach so weit, die Französische Revolution als das Fanal der Moderne anzusehen und damit die Revolution, die „moderne Revolution“, als spezifisch für die Epoche der Moderne einzustufen. Sie stelle geradezu den epochalen Bruch zwischen der Vormoderne und der Moderne dar.
Es wird also das fundamental Neue, zuvor nie Dagewesene betont. So schrieb Hannah Arendt in ihrem wegweisenden Buch „Über die Revolution“:
Vor den beiden großen Revolutionen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gab es einen eigentlichen Revolutionsbegriff nicht. Denn dieser ist unlösbar der Vorstellung verhaftet, daß sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, daß keiner der Männer, die in den Ereigniszusammenhang eingriffen, der sich schließlich eben als eine Revolution enthüllte, die leiseste Vorahnung von diesem absolut Neuen hatte.7
Dass es dabei um das Bewusstsein des Neuen gehe, dass Revolutionen sich auch durch eine veränderte Zeitwahrnehmung, die Wahrnehmung der Beschleunigung und einer offenen Zukunft auszeichneten, hat v. a. Reinhart Koselleck betont.8
Alle diese Überlegungen zielen letztlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen darauf, die Französische Revolution zum Gründungsakt der Moderne zu erklären, die somit als Resultat eines fundamentalen revolutionären Bruchs erscheint. Zugleich folgt daraus aber auch, dass der Vormoderne die Möglichkeit „echter“ Revolutionen weitgehend abgesprochen wird. Während die Antike und das Mittelalter noch keine sozial und politisch umfassenden, auf das Neue zielenden Umstürze gekannt hätten und auch nicht hätten kennen können, erscheint die Frühe Neuzeit als Epoche des Übergangs, als eine Zeit von Veränderungen und Unruhen, in der die ‚Moderne‘ jedoch noch nicht zum Durchbruch gekommen sei. Noch immer seien Veränderungen v. a. als Rückkehr zum Alten verstanden worden, so dass auch politische Umwälzungen noch restaurativ gewesen seien. Gerade in diesem Wörtchen „noch“ kommt die teleologische Qualität der Deutungen besonders zum Ausdruck, indem aus der historischen Rückschau die Moderne als Zielperspektive einer Entwicklung ausgegeben wird, die in der Frühen Neuzeit bereits angelegt gewesen sei. In etwas modifizierter Form vertritt auch Rolf Reichardt diese Position, indem er zwischen Revolutionen alten und neuen Typs unterscheidet. Zu ersteren gehörten demnach sowohl religiöse als auch von Eliten getragene, auf Wiederherstellung früherer (Ideal-)Zustände zielende Erhebungen, während letztere mit der Französischen Revolution beginnend zukunftsorientiert und demokratisierend gewesen seien.9
Mit diesen Charakterisierungs- und Abgrenzungsbemühungen sind zugleich Fragehorizonte skizziert. Lässt sich tatsächlich eine so tiefgreifende Zäsur 1789 postulieren oder lassen sich nicht die gesamte Frühe Neuzeit hindurch zu verschiedenen Zeitpunkten politisch-soziale Brüche finden? Gab es nicht im gesamten Zeitraum seit dem 15. Jahrhundert – und vielleicht auch früher – Strömungen, Bewegungen, Umstürze etc., die wir mit dem Begriff „Revolution“ kennzeichnen können, weil sie für die Zeitgenossen mit der Erfahrung des Umsturzes und des Bruchs im Geschichtsverlauf einhergingen? Ist die Revolution somit tatsächlich v. a. ein Phänomen der Moderne, während die Vormoderne noch keine richtigen Revolutionen gekannt hat? Oder lässt sich, wie einige Forschungen – man denke etwa an Jack Goldstones „Revolution and Rebellion in the Early Modern World“ – es darstellen, nicht doch auch für die Vormoderne sinnvoll von „Revolutionen“ sprechen?10 Wenn ja, lässt sich dann überhaupt trennscharf unterscheiden zwischen Revolten und Revolutionen? Die von Immanuel Ness herausgegebene umfangreiche „International Encyclopedia of Revolution and Protest“ verzichtet bewusst auf scharfe Begriffsabgrenzungen. Wie verhalten sich also Begriffe wie „Revolution“ oder „Revolte“ zueinander und zu Begriffen wie „Aufruhr“, „Protest“ oder „Widerstand“? Ohne dass wir uns in dieser Einführung auf eine Begriffsgeschichte von „Revolution“ beschränken wollen, tragen die Semantiken unterschiedlicher Begriffe erheblich zur Klärung dessen bei, was wir überhaupt meinen, wenn wir uns mit dem Thema Revolte und Revolution befassen.
Der Begriff „Revolution“ tauchte zudem 1789 nicht aus dem Nichts auf, sondern er war spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts präsent und verfügbar, und konnte gerade deswegen überhaupt auf die aktuellen Ereignisse angewendet werden. „Révolution was far from being an unfamiliar term in 1789“, stellt Keith Baker treffend fest.11 Offenkundig war der Begriff eben keineswegs neu, sondern mit einer ganzen Reihe von Konnotationen, Vorstellungen und Bildern im allgemeinen Wortschatz verankert, so dass er direkt auf die eigene Gegenwart übertragen werden konnte. Neuere Forschungen zur Begriffsgeschichte, etwa von Ilan Rachum, haben zudem gezeigt, dass die noch für das 17. Jahrhundert unterstellte zirkuläre, restaurative Semantik nicht so eindeutig war, wie man lange dachte, dass vielmehr unterschiedliche Bedeutungsebenen und situative Verwendungen nebeneinander existierten.12 Im kollektiven Gedächtnis europäischer Gemeinwesen waren zahlreiche Ereignisse als „Revolutionen“ gespeichert – insbesondere die nur wenige Jahre zuvor sich ereignende Amerikanische Revolution, aber auch die Glorious Revolution –, so dass die Begriffsverwendung 1789 durchaus ihre Vorläufer hatte und zugleich ihre semantischen Konnotationen.
Dabei geht es allerdings nicht nur um die Begriffe und ihre Semantiken, sondern auch darum, dass im kollektiven Gedächtnis Erfahrungen, Narrative, Bilder, Symbole und Performanzen früherer Revolutionen gespeichert waren, dass ihre Geschichten erzählt wurden und somit präsent waren. Man ‚wusste‘ von den früheren Ereignissen, man kannte ihre Helden und Schurken, man griff auf ihre Symbole zurück und imitierte ihre performativen Inszenierungen. Die in unterschiedlichem Umfang und in unterschiedlicher Weise kollektiv erinnerten und mit dem Begriff „Revolution“ belegten Ereignisse konnten zu der eigenen Gegenwart in Beziehung gesetzt werden. Das unmittelbar Erlebte stand somit in einem historischen Kontext, und das Wissen um diesen Kontext prägte die Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Zeit mit, ja es beeinflusste möglicherweise sogar den Lauf der Ereignisse.13 Das sind freilich Arbeitshypothesen, die im Einzelnen vielfach noch der genaueren Untersuchung harren.
Mit einer solchen – dezidiert kulturhistorischen – Perspektive auf das Thema Revolution lässt sich das Augenmerk nicht nur auf die Ereignisse und ihre Erklärung aus sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen sowie auf die revolutionären Ergebnisse richten, sondern das Revolutionäre als Denkrahmen und Handlungsraum in den Blick nehmen. Es geht also nicht allein um einzelne Ereignisse, vielmehr geht es um die Erfassung und Erklärung des Phänomens als solchem und um die Rolle, die es auch mit Blick auf den Epochencharakter der Frühen Neuzeit spielt. In diesem Sinne fragt das vorliegende Buch auch nach dem Weiterwirken von Narrativen, nach der semantischen Aufladung sowie nach symbolischen Bezügen, richtet sich der Blick hin zu einem Kontinuum durch Erinnerungen, Traditionen und kulturelle Transferprozesse verbundener Ereignisse, die sich in ihrer Gesamtheit als „Revolutionskultur“ beschreiben lassen. „Revolutionskultur“ verweist als Terminus auf ein bestimmtes wiederholt auftretendes Repertoire an Symbolen und Ritualen ebenso wie auf das kollektive Erinnern, die kursierenden Narrative und die semantische Aufladung von Begriffen, Bildern und Handlungen.
Vorhandene Überblicksdarstellungen zum Thema haben eine solche kulturhistorische Perspektive zumeist noch nicht berücksichtigt. Es ist daher an der Zeit, neuere theoretische Überlegungen in eine Synthese einfließen zu lassen. Zugleich geraten durch diese Neuperspektivierung auch Umbruchssituationen in den Blick, die sich nicht allein über ihre säkulare politische oder soziale Stoßrichtung fassen lassen, sondern viel stärker in religiösen Vorstellungen verwurzelt waren. Das heißt, die theologische oder religiöse, vielleicht auch religiös-fundamentalistische Agitation mag durchaus als revolutionär zu charakterisieren sein, auch wenn die sozialwissenschaftliche Forschung gerade solche Bewegungen lange ausgeblendet hat, weil ihre Zielsetzung eher „reaktionär“ als „revolutionär“ zu sein schien. Doch es ist darüber nachzudenken, ob solche Unterscheidungen nicht zu normativ sind. Wir haben in unseren Tagen die soziale und politische Sprengkraft ebenso wie die Gewaltexzesse des sogenannten Islamischen Staats gesehen.14 Die religiös-fundamentalistische Ideologie ist unbestreitbar, auch wenn natürlich soziale und ökonomische Komponenten wesentlichen Anteil am Erfolg dieser Bewegung gehabt haben dürften. Zugleich scheint es aber doch erwägenswert, auch darin revolutionäre Dynamiken zu sehen. Hannah Arendts Diktum, „daß das Ziel der Revolution heute wie eh und je nichts anderes sein kann als eben Freiheit“,15 erscheint zu normativ und zu sehr einem – im modernen demokratischen Verständnis – positiv besetzten Revolutionsbegriff geschuldet. Es wäre aber denkbar, dass gerade eine solche Aufladung des Revolutionsbegriffs den Blick auf die Dynamiken und Mechanismen verstellt, die ganz unterschiedlich ausgerichtete, jedoch auf grundlegende Transformationen angelegte Ereigniskomplexe gemeinsam haben. Auch die Gefährdung westlicher Demokratien durch religiös-fundamentalistische, gegen den wissenschaftlichen Konsens und gegen die emanzipatorischen Bestrebungen gesellschaftlicher Gruppen gerichtete Bewegungen legt einen Blick auf revolutionäre Dynamiken der Vergangenheit nahe, die gerade nicht unserem Bild von gesellschaftlichem Fortschritt, von Freiheit und Demokratie entsprechen.
Zu den Streitpunkten sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in den Sozialwissenschaften gehört immer noch die Frage, ob Revolutionen im Verlauf der Geschichte häufiger vorkommen oder ganz seltene Ereignisse sind, die den Verlauf der Geschichte grundstürzend verändern. Im Kern handelt es sich dabei um die Frage nach der Weite des Revolutionsbegriffs bzw. nach den zugrundeliegenden Definitionen. Diese unterscheiden sich, wie unten noch auszuführen sein wird, zum Teil erheblich. Dementsprechend wird das vorliegende Buch nicht vorab eine Definition von „Revolution“ übernehmen, sondern Definitionen kritisch hinterfragen und sie an den Befunden abwägen, um sich am Ende einer Begriffsbestimmung anzunähern. Zugrunde liegt also ein zunächst offener und weiter Revolutionsbegriff, der es erlaubt, sehr unterschiedliche Phänomene in den Blick zu nehmen und sie zueinander in Beziehung zu setzen. V.a. aber bemüht sich das vorliegende Buch, das Revolutionäre als Phänomen nicht vom Ergebnis her zu bestimmen, sondern vielmehr die Entstehung revolutionärer Situationen und die Entfaltung revolutionärer Dynamiken zu betrachten.
Im Gegensatz zu früheren Überblickswerken16 konzentriert sich diese Einführung auf die Frühe Neuzeit, also den Zeitraum der sich grob zwischen der sogenannten Krise des Spätmittelalters und den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen der Industrialisierung und der oft als Revolutionsepoche apostrophierten Phase bis ca. 1850 erstreckt. Dabei wird es jedoch auch immer wieder darum gehen, allzu strikte Grenzziehungen zu vermeiden bzw. kritisch zu hinterfragen. Ebenfalls im Gegensatz zu bisherigen Gesamtdarstellungen geht dieses Buch davon aus, dass Revolten und Revolutionen nicht eindeutig zu kanonisieren sind, dass die revolutionäre Qualität bestimmter Ereignisse umstritten war und bis heute ist. Dementsprechend geht es hier weniger darum, einzelne Revolutionen zu behandeln, als vielmehr darum, das Revolutionäre an sich, die Revolutionskultur der Frühen Neuzeit in unterschiedlichen Facetten herauszuarbeiten.
Das wirft freilich ein methodisches Problem auf, das sich nicht endgültig auflösen lässt, das aber nach einem bewussten Umgang mit den Komplexitäten von Vergangenheitsdeutung verlangt: Ein offener, auf vorab erstellte Definitionen verzichtender, zeitgenössische Wahrnehmungen einbeziehender Revolutionsbegriff bleibt zwangsläufig unscharf. Er kann nicht mehr als klar zu fassende Kategorie dienen, welche Ereigniskomplexe im Buch überhaupt zur Sprache kommen sollen. Gleichwohl muss der Verfasser einer Einführung Entscheidungen darüber treffen, welche Ereignisse er behandeln bzw. als Fallbeispiele für seine Überlegungen heranziehen will. Im Bewusstsein dieser Problematik ist zu hoffen, dass die Auswahlkriterien im Zuge der Erörterung von Revolten und Revolutionen deutlich werden und dass am Ende dann doch eine relative Klarheit darüber entsteht, was Revolten und Revolutionen in der Frühen Neuzeit waren.
Die Reihe „Einführungen in die Geschichtswissenschaft“ soll Studierenden und Lehrenden knapp und prägnant wichtige Informationen an die Hand geben. Die einzelnen Bände sollen Studierenden bei der Vorbereitung von Referaten und Seminararbeiten helfen sowie Dozierenden Anregungen zur Gestaltung von Lehrveranstaltungen geben. Darüber hinaus sollen sich aber auch Schüler:innen, Lehrer:innen und andere Interessierte von dem vorliegenden Band angesprochen fühlen. Sie alle sollen Informationen, Anregungen zum Weiterdenken und Literaturhinweise zum Weiterlesen finden. Geschichte besteht aber aus weit mehr als aus Daten und Fakten. Weit wichtiger ist ein problembewusster Umgang mit historischer Überlieferung jedweder Art. Deshalb beginnt jedes Kapitel mit einem Quellenzitat, und zwar wenn möglich in der Originalsprache. Geschichte lässt sich eben nur anhand von Originaldokumenten in ihrer ursprünglichen Sprache erkennen. Das Bemühen um das sprachliche Verständnis ist dementsprechend ein wichtiger Bestandteil des historischen Erkenntnisprozesses.
Der Aufbau dieses Bandes orientiert sich nicht an der Chronologie von Ereignissen und Prozessen. Vielmehr geht es darum, konkrete Problemkomplexe systematisch zu erörtern. Dabei erhebt das Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Am Beginn steht die Rolle von Medien und Kommunikation, die als zentraler Faktor widerständigen kollektiven Handelns erscheinen. Sodann sollen Ursachenkomplexe revolutionärer Situationen diskutiert werden, um abschließend Verläufe, Dynamiken und Ergebnisse revolutionärer Prozesse in den Blick zu nehmen. Am Beginn der Kapitel stehen stets Fallbeispiele, die in kurzen deskriptiven Skizzen vorgestellt werden, um dann als Ausgangspunkte für systematischere Erörterungen zu dienen. Dabei bemüht sich dieses Buch, die Komplexität historischer Befunde zu verdeutlichen und ihre Mehrdeutigkeit herauszuarbeiten. Redundanzen lassen sich nicht ganz vermeiden, das Register am Ende soll dabei helfen, Sachverhalte an allen relevanten Stellen aufzufinden.
Der vorliegende Band will nicht nur eine Synthese der bisherigen Forschung bieten, sondern zugleich auch Thesen formulieren. Er erhebt jedoch nicht den Anspruch, eine eigene Revolutionstheorie zu entwickeln. Dafür wäre zweifellos noch viel Forschungsarbeit zu leisten – Forschungsarbeit, die einerseits auf einer theoretischen Ebene eine Synthese und Gewichtung bisheriger Ansätze bewerkstelligen, andererseits auf einer empirischen Ebene Beobachtungen bündeln müsste. Wenn aber ein theoretisches Leitkonzept im Fokus der folgenden Beobachtungen steht, so ist es das der Kommunikation. Es ist die Überzeugung des Autors dieser Zeilen, dass Kommunikation ein Schlüsselelement revolutionärer Vorgänge darstellt. Deshalb wird es immer wieder um sprachliche und außersprachliche Repräsentationen des Widerständigen und Revolutionären gehen, um das, was Zeitgenossen und Nachgeborene über die Ereignisse sagten, ins Bild setzten oder nachlebten, wie sie Legitimität und Akzeptanz herstellten, wie sie Unterstützer mobilisierten oder Gegner marginalisierten.
Der inhaltlichen Arbeit geht ein Theorieteil voraus, und es wird sich schnell zeigen, dass der Durchgang durch die leitenden Konzepte, die im Laufe der Zeit entwickelt worden sind, um Revolten und Revolutionen zu analysieren, bereits Teil der inhaltlichen Auseinandersetzung ist. Inhaltliche Arbeit ist nämlich ohne ein theoretisches Konzept nicht denkbar, und nur wer eine ungefähre Vorstellung von der Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Analysen hat, kann die Erkenntnisse bisheriger Forschung richtig einordnen. Der Durchgang durch die Theoriebildung wird daher grob chronologisch erfolgen.
Das Buch nimmt dezidiert eine europäische Perspektive ein. Es ist legitim und notwendig, sich einzelnen revolutionären Ereignissen zu widmen und sie im Detail zu studieren. Um jedoch so etwas wie ein Gesamtphänomen „Revolution“ beschreiben zu können, ist eine vergleichende und verflechtungsgeschichtliche Perspektive, die auf den Einzelstudien aufbaut, unabdingbar. Das setzt freilich die Bereitschaft voraus, sich in Quellen und Forschungsliteratur in unterschiedlichen Sprachen einzuarbeiten. Das vorliegende Buch wird daher auch aus Quellen und Darstellungen in unterschiedlichen Sprachen zitieren, und entsprechend sind auch die Literaturhinweise nicht nur auf deutsche und englische Titel beschränkt. Freilich sind einer solchen Arbeit immer Grenzen gesetzt. Trotz der Bemühung um eine breite europäische Perspektive werden Leser:innen schnell feststellen, dass Beispiele, aus dem mittel- und westeuropäischen Raum die Darstellung dominieren. Damit ist nichts über die Relevanz oder Irrelevanz anderer Räume ausgesagt; vielmehr spiegeln diese Schwerpunkte auch die Grenzen der Kompetenz des Autors. Das gilt noch mehr für den außereuropäischen Raum: Vergleiche zwischen europäischen Revolten und Revolutionen in der Frühen Neuzeit mit zeitgleichen Vorgängen im Nahen Osten und in Asien sind gelegentlich versucht worden, etwa mit Verweis auf einen globalen Krisenbegriff;17 sie bedürfen aber einer sehr eingehenden Kenntnis nicht nur der Ereignisse selbst, sondern auch der sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen, um die Tragfähigkeit von Vergleichen einschätzen zu können. Damit ist – im Gegensatz zu den skeptischen Stimmen18 – nicht gesagt, dass ein solcher, die globalen Zusammenhänge in den Blick nehmender Ansatz nicht fruchtbar sein kann. Er würde jedoch nicht nur den Rahmen dieses Buches sprengen, sondern schnell auch die Kompetenzen eines einzelnen, an der europäischen und ggf. atlantischen Geschichte geschulten Verfassers überschreiten. Als ich im Jahr 2015 zusagte, diesen Band in der Reihe „Einführungen in die Geschichtswissenschaft“ zu übernehmen, ging ich – frisch habilitiert – davon aus, in der vor mir liegenden Zeit als Privatdozent in Marburg recht zügig ein Manuskript erarbeiten zu können. Stattdessen erhielt ich zum Sommersemester 2016 den Ruf auf die Stelle als Direktor und Geschäftsführender Wissenschaftlicher Sekretär am Institut für Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Die neuen Aufgaben, einschließlich der Lehrverpflichtungen, führten dazu, dass das Projekt erst einmal auf Eis lag. Ich danke den Herausgebern, Marian Füssel und Christoph Kampmann, wie auch dem Lektor des Vandenhoeck&Ruprecht-Verlags, Kai Pätzke, sehr für ihre Geduld. Der entstandene Band ist für mich mehr als nur ein Einführungswerk – er enthält auch meine Deutung des Revolutionären in der Frühen Neuzeit. Bei Andreas Pečar in Halle, bei Ulrike Ludwig und André Krischer in Münster, bei Christoph Kampmann und Inken Schmidt-Voges in Marburg, bei Anne-Charlott Trepp in Kassel und bei Lothar Schilling in Augsburg hatte ich Gelegenheit, die laufende Arbeit in Kolloquien vorzustellen. Dafür möchte ich den Genannten herzlich danken. Dank geht auch an Christian Wenzel und Stephanie Bode für Korrekturarbeiten und wichtige Hinweise sowie an Chiara Cedrone, Elisabeth Alexandra Rosin und Matthias Hoff für die Mithilfe bei der Schlusskorrektur sowie der Erstellung des Literaturverzeichnisses und des Registers. Ein besonderer Dank geht an meine Frau Tanja und meine Tochter Milena für ihre Geduld mit meinen Langzeitprojekten. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
1„Aber wenn irgendeine Geschichte für den Fürsten von Nutzen ist, so ist meiner Meinung nach diejenige am nützlichsten, die von den Revolutionen oder Aufständen der Völker erzählt“; Bisaccioni, Historia delle gverre civili, S. 1.
2Z. B. ebd., S. 366, 485, 722.
3Dazu ausführlicher unten Kap. 8.2.3.
4So Arendt, Revolution, S. 51 f.; Griewank, Revolutionsbegriff, S. 143 f.; Koselleck, Art. Revolution I, S. 655 f.; Goulemot, Mot, S. 435–443; Bender, Revolutionsbegriff, S. 47–50.
5Hier zitiert nach Schulin, Französische Revolution, S. 20.
6Schulze, Der 14. Juli 1789, S. 7 f.
7Arendt, Revolution, S. 33.
8Koselleck, Art. Revolution IV; ders., Revolutionsbegriff.
9Reichardt, Art. Revolution, § 3.3–4.
10Vgl. zur Problematik auch Moote, Preconditions; Vogler, Revolte.
11Baker, Inventing the French Revolution, S. 204.
12Rachum, Revolution. S. unten Kap. 8.2.3.
13Vgl. Selbin, Gerücht, S. 9–16.
14Einführend Lohlker, Theologie der Gewalt.
15Arendt, Revolution, S. 10.
16Zu nennen sind etwa Seibt, Revolution; Tilly, Revolutionen; Nautz, Revolutionen; Bookchin, Third Revolution; Wende, Große Revolutionen; sowie als größtenteils überholter Klassiker Rosenstock-Huessy, Die europäischen Revolutionen.
17Etwa Goldstone, Revolution.
18Zu nennen ist etwa Seibt, Revolution, S. 13 f.
II.Konzepte, Theorien, Kontroversen: Revolutionsforschung im Überblick
1.Entwicklungen und Konjunkturen
Im Prinzip ist es nicht unproblematisch, einen Überblick über Modelle und Konzepte der Revolutionsforschung einer Betrachtung der frühneuzeitlichen Revolutionen voranzustellen und damit zu suggerieren, dass sich Theorien und Konzepte losgelöst von Ereignissen und ihren zeitgenössischen Deutungen und Legitimationen erörtern ließen. Es werden zudem zwangsläufig Zäsuren gesetzt, indem eine systematische Revolutionsforschung erst der Moderne seit etwa 1800 zugeordnet wird. Damit wird aber letztlich nur jene Zäsur 1789 fortgeschrieben, die jeder teleologischen Fortschrittsgeschichte der Moderne zugrunde liegt und die es eben deshalb kritisch zu hinterfragen gilt, die also gerade nicht a priori gesetzt werden sollte.
Im Folgenden wird trotz dieser Problematik ein solcher Weg eingeschlagen, der sich einerseits aus pragmatischen Gründen anbietet, aber auch analytische Vorteile bereithält. Denn erstens erleichtert uns diese Vorgehensweise die Trennung zwischen Betrachtungszeitraum und dem Zeitraum wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Phänomenen der Frühen Neuzeit. Das heißt, alles, was vor 1850 liegt, kann grob als Gegenstand dieses Buchs betrachtet werden, alles danach als wissenschaftliche Analyse. Das fällt zudem zusammen mit der Herausbildung moderner akademischer Disziplinen. Zweitens lässt sich nur auf diese Weise der Anspruch der Reihe einlösen, wissenschaftliche Modelle und Konzepte vorab zu behandeln und als „Werkzeugkasten“ für die weitere Beschäftigung mit der Thematik bereitzustellen, während sich die jeweils zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster nur im Kontext der je aktuellen Debatten und Konfliktkonstellationen beschreiben lassen.
Das heißt freilich nicht, dass nicht auch die moderne Revolutionsforschung in ihren jeweiligen zeitgenössischen Kontexten zu verorten wäre. Schaut man sich die Konjunkturen der Revolutionsforschung an, so wird deutlich, dass das Interesse der jeweiligen Gegenwart immer mitschwingt. Zeithistorische Darstellungen einzelner revolutionärer Ereignisse gab es schon früh. Sie waren eingebettet in die Aushandlungsprozesse über die Geschehnisse selbst und damit Teil einer unmittelbar einsetzenden Erinnerungskultur. Alexis de Tocquevilles „L’Ancien Régime et la Révolution“ von 1856 ist Teil einer solchen Erinnerungskultur und einer anhaltenden gesellschaftlichen Debatte über die Französische Revolution, gilt aber zugleich als eine der ersten umfassenden und systematischen Abhandlungen über das Thema. In diesem Sinne markiert der Text vielfach den Beginn der modernen Revolutionsforschung.1 Auch die Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels stellen Analysen vergangener Revolutionen dar und sind zugleich Überlegungen zu der prognostizierten kommenden Revolution und somit Teil einer laufenden gesellschaftlich-politischen Debatte. Die Russische Revolution, die Erfahrungen mit dem NS-Regime in Deutschland, mit dem Stalinismus und dem beginnenden Kalten Krieg hielten das Thema im Bewusstsein und waren ein wesentlicher Impetus für die frühe sozialwissenschaftliche Protest- und Revolutionsforschung in den USA in den 1950er Jahren. Forschende der Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft und Medienwissenschaft begannen, sich mit Massenbewegungen zu beschäftigen. Der Eindruck der studentischen Protestbewegungen um 1968 trug in der Folge wesentlich zum Wiederaufleben, aber auch zur Transformation der Protest- und Revolutionsforschung bei. Eine Reihe von bis heute vielzitierten ‚Klassikern‘ der systematischen sozialwissenschaftlichen Revolutionsforschung wurde in dieser Phase erarbeitet. Als Ende der 1980er Jahre, insbesondere mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Osteuropa die Rede vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) die Runde machte und sich die Vorstellung etablierte, dass Revolutionen obsolet geworden seien und der Vergangenheit angehörten, tat dies auch der Revolutionsforschung Abbruch. In denselben Kontext gehört die Diagnose, mit dem Verschwinden der ‚realsozialistischen‘ Systeme sei das Ende der Utopie gekommen.2 Erst die in den 2000er Jahren aufgekommenen neuen Protestbewegungen der Globalisierungskritik sowie seit 2010/11 die Umstürze des sogenannten Arabischen Frühlings, der mit den Maidan-Protesten von 2013/14 assoziierte demokratische Aufbruch in der Ukraine und die Klimaproteste der Gegenwart scheinen zu einem neuen Interesse am Thema Revolution geführt zu haben. Jedenfalls hat in den letzten Jahren die Diskussion über Revolutionen wieder zugenommen und neue Impulse erhalten.
Auch innerhalb der Geschichtswissenschaft spielten die Debatten der jeweiligen Gegenwart stets eine wichtige Rolle. Gleichwohl blieben einzelne Revolutionen im Zentrum des Interesses, und die Konjunkturen waren nicht nur von politischgesellschaftlichen Aktualitäten bestimmt, sondern auch vom Zyklus der Jubiläen. Lange überwogen dabei narrative Darstellungen, die Revolten und Revolutionen geradezu in die Nähe von Naturereignissen rückten. Leopold von Ranke hatte etwa den Bauernkrieg von 1525 in seiner „Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839) als „größte[s] Naturereignis des deutschen Staates“ bezeichnet, als „Ungewitter der Tiefe“. Es seien die „elementaren Kräfte“ gewesen, die sich erhoben hätten.3 Der Aufstand der Bauern erschien hier als eine Art Naturkatastrophe, als kontingentes, nicht vorhersagbares und nur schwer aus den allgemeinen Entwicklungen heraus erklärbares Ereignis. Zugleich verband sich eine solche Wahrnehmung aber oft auch mit einer dezidierten Akteursperspektive. Je nach Sichtweise waren Aufstände und Revolten das fehlgeleitete Machwerk einzelner Rädelsführer oder auch das heroische Handeln individueller Akteure. Solche Zuspitzungen auf einzelne Handlungsträger finden sich in Revolutionsdarstellungen immer wieder. Lange galt insbesondere Oliver Cromwell als Prototyp des machtgierigen Verschwörers, der um seiner eigenen Interessen willen ein ganzes Land ins Chaos gestürzt habe. Umgekehrt konnten Akteure wie George Washington als selbstlose Retter und Helden inszeniert werden. Mit Blick auf die Französische Revolution überwogen vielfach die Konspirationsthesen, die insbesondere die Verfechter der Aufklärung für den Ausbruch der Revolution verantwortlich machten. Auch Edmund Burke entfaltete in seiner Kritik an der Französischen Revolution eine solche Perspektive, indem er Irreligiosität, lockeren Moralvorstellungen sowie einer ‚falschen Philosophie‘ und ihren Verfechtern die Schuld für die Revolution gab.4 Zumeist dienten solche Zuschreibungen einer Verurteilung der jeweiligen Ereignisse. Sie waren entweder Katastrophen, die plötzlich über die Menschen hereinbrachen oder das Werk einzelner Verschwörer, die ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl nur ihre eigenen sinistren Interessen verfolgten. Auf der anderen Seite stand die ‚romantische Schule‘ mit Historikern wie Jules Michelet, die die Revolution als heroisches Handeln des ‚Volkes‘ glorifizierte.5
Eine systematische und vergleichende Revolutionsforschung hat sich in den historischen Disziplinen hingegen relativ spät entwickelt. Der Fokus lag hier – entsprechend dem traditionellen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft – zumeist stärker auf der Erforschung einzelner revolutionärer Ereignisse, allen voran der Französischen Revolution. Aber auch die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, die Amerikanische Revolution, die 1848er Revolutionen, die Russische Oktober- respektive Novemberrevolution6 sowie die Chinesische Revolution fanden vielfache Aufmerksamkeit der historischen Fachdisziplinen. Dabei lieferte die Geschichtswissenschaft einerseits das empirische Datenmaterial für die generalisierende sozial- und politikwissenschaftliche Forschung, andererseits übernahm sie mehr oder weniger gründlich die theoretischen Modelle aus den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, um ihre konkreten Einzelbefunde zu interpretieren. Die Arbeitsteilung schien also klar zu sein: Die Politik- und Sozialwissenschaften waren für die systematische und generalisierende Revolutionsforschung zuständig, die Geschichtswissenschaft konzentrierte sich auf Einzelereignisse oder einzelne Zeitabschnitte. Dagegen gibt es gute Gründe, auch aus einer historischen, insbesondere kulturhistorischen Sicht das Phänomen des Revolutionären übergreifend in den Blick zu nehmen und dabei die spezifischen Kompetenzen der historischen Wissenschaften einzubringen. Zu den großen generalisierenden Entwürfen wird man dabei vielleicht nicht gelangen, und hier ist möglicherweise ohnehin Skepsis angebracht. Aber Theorien mittlerer Reichweite lassen sich durchaus aus einer dezidiert historischen Perspektive gewinnen.
Um dies zu erreichen, ist es jedoch notwendig, sich zunächst einmal die Ansätze, Theorien und Modelle der systematischen Revolutionsforschung wie auch der geschichtswissenschaftlichen Einzelforschung anzuschauen. Erst auf dieser Basis lassen sich dann konkrete Zugänge entwickeln, um der Vielfalt der Phänomene gerecht zu werden und gleichwohl auch Gemeinsamkeiten und Muster zu erkennen. Es erscheint – entsprechend der Gesamtanlage des Bandes – wenig sinnvoll, eine auf Vollständigkeit angelegte Forschungsgeschichte zu präsentieren. Stattdessen soll eher auf grundlegende Entwicklungen eingegangen werden, wobei exemplarisch einige wegweisende Arbeiten hervorzuheben sind, die bis heute die Auseinandersetzung mit Revolten und Revolutionen geprägt haben. Dabei standen je nach zeitlichem Kontext der wissenschaftlichen Erörterungen Fragen der Definition und Abgrenzung von Revolutionen gegenüber anderen Phänomenen, nach Ursachen und Folgen, nach Entstehungsbedingungen und Einflussfaktoren, nach den Bedingungen für Erfolg und Misserfolg im Vordergrund. Das alles kann hier nur knapp skizziert werden, doch bietet die Bibliographie im Anhang des Buches Hinweise für die weitere Beschäftigung mit den vorhandenen Theorieangeboten.
2.Definitionen und Abgrenzungen
Schlägt man den Begriff „Revolution“ in einschlägigen politik- und sozialwissenschaftlichen Wörterbüchern nach, so werden Revolutionen zumeist als kurzfristige und grundlegende Umgestaltungen der politischen Institutionen und als Austausch der Eliten definiert. Manchmal wird auch die Veränderung der Sozialstruktur in die Definition einbezogen oder die Gewaltsamkeit der Vorgänge betont. Auch eine breite, womöglich einen Großteil der Bevölkerung eines Gemeinwesens umfassende Trägerschaft kommt als Kriterium vor.7 Geschichtswissenschaftliche Definitionsversuche schließen sich diesen Kriterien im Wesentlichen an.8 Beim Vergleich unterschiedlicher Begriffsbestimmungen wird schnell klar, dass in der Forschung keine Einigkeit darüber herrscht, was eine Revolution eigentlich ist und wie sie möglichst präzise von anderen Konfliktereignissen abzugrenzen ist.
Offen ist beispielsweise, ob der Austausch der politischen Eliten, also insbesondere des Personals der Regierung, als „politische Revolution“ von weiterreichenden „sozialen Revolutionen“, die auch die sozio-ökonomischen Verhältnisse weiter Bevölkerungsteile betreffen, unterschieden werden muss oder ob solche „politischen Revolutionen“ überhaupt als Revolutionen gelten können, ob sie nicht eher mit Begriffen wie „Putsch“ oder „Staatsstreich“ bezeichnet werden sollten.9 Mit solchen Festlegungen werden freilich immer Vorentscheidungen getroffen, mit denen bestimmte Phänomene aufgrund eines einzelnen Kriteriums ausgeschlossen werden. Fruchtbarer erscheint daher der Vorschlag, den „grundlegenden Wandel“ in die Definition aufzunehmen, ohne bereits a priori die Formen und Charakteristika des Wandels festzulegen.10
Relative Einigkeit herrscht darüber, dass die durch eine Revolution herbeigeführten Veränderungen innerhalb kürzerer Zeiträume erfolgen und dass Begriffe wie „industrielle Revolution“ eher im Sinne von Übertragungen gemeint sind, weil sie langfristige Strukturveränderungen bezeichnen. Umstritten ist hingegen die Rolle, die Gewalt als Definitionsmerkmal spielt. Während einige Autoren Gewalt als notwendiges Kriterium ansehen und friedliche Revolutionen als „contradiction in terms“ betrachten11, halten andere Gewalt oder auch nur die Androhung von Gewalt nicht für ein konstitutives Merkmal einer Revolution.12 Letztere betonen den grundlegenden und raschen Wandel, der mit oder auch ohne Gewalt zustande kommen könne. Freilich bleibt in diesen Kontroversen der Gewaltbegriff unscharf: Meint er allein physische Gewalt oder auch symbolische Gewaltformen? Auch die Frage der Übertretung geltenden Rechts, ja des „politischen Verbrechens“ als Merkmal von Revolten und Revolutionen wird bisweilen angesprochen.13 Zudem weisen einige Definitionsversuche darauf hin, dass Revolutionen auch einen Wandel in den grundlegenden Mythen und Werthaltungen einer Gesellschaft bedeuten können.14
Schließlich wird in der Forschung ebenfalls kontrovers darüber diskutiert, welcher Stellenwert den Zielen und Ergebnissen einer Revolution zukommt. So wird bisweilen argumentiert, es sollten nur solche Veränderungen als Revolution bezeichnet werden, deren Ziele und Folgen in der Etablierung und Verbreitung von Freiheit bestünden oder in anderer Weise auf den Fortschritt, auf das Neue gerichtet seien.15 Reaktionäre, rückwärtsgewandte Revolutionen kann es in einer solchen Perspektive nicht geben. Es liegt auf der Hand, dass nicht nur die Frage, was denn als Fortschritt oder auch als Befreiung gewertet wird, durchaus umstritten sein kann, sondern dass auch eine Vielzahl von Phänomenen, die für eine Geschichte der Revolution interessant wären, damit vorschnell ausgeschlossen ist. Das gilt nicht nur für die Frage nach den revolutionären Potentialen etwa der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933, die zwar selbst noch mit legalen Mitteln erfolgte, in der Folge jedoch durchaus eine Reihe von Dynamiken entwickelte, die die Weimarer Verfassung weitgehend außer Kraft setzten; hinzu kommt das Selbstverständnis als „nationale Revolution“. Solche Fragen nach vorschnellen Ausschlüssen von Phänomen gelten überdies auch für religiös konnotierte Revolutionen wie etwa die iranische Revolution von 1979 und natürlich für einen Großteil vormoderner Veränderungsprozesse.16 Dementsprechend erweist sich das Fortschrittskriterium, wie oben bereits angedeutet, als recht normativ und zudem so einengend, dass sich der Fokus von vorneherein auf ein sehr schmales Set an Ereignissen beschränkt, während Vergleiche zwischen der Vormoderne und der Moderne weitgehend ausgeschlossen werden.
Es erscheint daher sinnvoll, den Definitionsrahmen nicht zu eng zu fassen, um der Vielfalt von historischen Phänomenen gerecht zu werden, ohne freilich in Beliebigkeit zu verfallen. Mit der Diskussion um eine adäquate Definition ist nämlich immer auch die Frage verknüpft, ob Revolutionen eher seltene und besonders herausragende Ereignisse seien oder vielfach vorkommende, zum Teil auch nur lokal begrenzte Vorgänge.17 Ist der Begriff auf nur einige wenige, eng definierte Ereigniskomplexe zu beschränken oder kann er in einem weiteren Sinne gebraucht werden? Welche Merkmale sind entscheidend für die Eingrenzung und Schärfung des Revolutionsbegriffs? Ist es der plötzliche, zumeist gewaltsame politische Umsturz? Ist es die tiefgreifende Veränderung der Sozialstruktur einer Gesellschaft? Stehen, im Sinne Hannah Arendts, der Freiheitsbegriff und das absolut Neue im Vordergrund? Oder lässt sich neutraler, und unter Einschluss der Vormoderne, nicht auch dann ein tiefgreifender Wandel als revolutionär fassen, wenn er (tatsächlich oder vermeintlich) auf die Wiederherstellung früherer Verhältnisse zielt?18 Welche Rolle spielen Kommunikation und Medien, Dynamiken der Radikalisierung oder auch die Unterscheidung zwischen Zielsetzungen und Ergebnissen?
Als Alternativbegriffe zu „Revolution“ fungieren oft Wörter wie „Staatsstreich“, „Putsch“, aber auch „Revolte“, „Rebellion“, „Widerstand“ oder „Protest“. Teils verweisen sie auf Defizite eines nur eingeschränkt auf die vorab bestimmten Definitionskriterien von „Revolution“ beziehbaren Ereignisses. So werden Begriffe wie „Staatsstreich“ oder „Putsch“ oft dann verwendet, wenn politischen Veränderungen die soziale Komponente fehlt oder sie sich nicht auf breitere Bevölkerungsgruppen stützen können. „Revolte“ und „Rebellion“ verweisen oft auf lokal begrenzte Ereignisse, die keinen grundlegenden Wandel nach sich ziehen oder gar als gescheitert zu betrachten sind.19 In ähnlicher Weise werden „Widerstand“ und „Protest“ als normverletzende soziale Verhaltensweisen gefasst, die in seltenen Einzelfällen in größere Revolten oder gar Revolutionen übergehen können, in der Regel jedoch sowohl hinsichtlich der Trägerschaft, der Zielsetzungen als auch der erreichten Veränderungen als begrenzt eingeschätzt werden. Schließlich werden politische und/oder soziale Veränderungen, die evolutionär und zumeist ohne Anwendung von Gewalt umgesetzt werden, oft mit dem Reformbegriff auf den Punkt gebracht, der somit ebenfalls als alternatives oder sogar konträres Konzept zur „Revolution“ dient. Bei allen diesen Abgrenzungen ist jedoch zu beachten, dass eine scharfe begriffliche Trennung nicht zu erreichen ist und dass es sich immer auch um politisch aufgeladene, letztlich umkämpfte Begriffe handelt, die somit nie allein der wissenschaftlichen Analyse dienen, sondern normative Implikationen besitzen.
3.Liberale Revolutionsanalyse: Tocqueville und die Französische Revolution
Ich war stets der Ansicht, daß ihnen dieses sonderbare Unternehmen weit weniger gelungen sei, als man im Ausland geglaubt und als sie es anfangs selbst geglaubt haben. Ich war überzeugt, daß sie, ohne es zu wissen, großenteils Gesinnungen, Gewohnheiten, ja sogar die Ideen des alten Staates beibehalten hätten, mit deren Hilfe sie die Revolution, die ihn vernichtete, bewerkstelligten, und daß sie, ohne es zu wollen, sich seiner Trümmer bedient hätten, um das Gebäude der neuen Gesellschaft aufzuführen, so daß man, um die Revolution und ihr Werk richtig zu verstehen, das gegenwärtige Frankreich einen Augenblick vergessen und das ehemalige Frankreich in seinem Grabe befragen müsse.20
Alexis de Tocqueville gehörte zweifellos zu den ersten, die nicht einfach eine Geschichte der Französischen Revolution von 1789 schrieben, sondern das Ereignis einer systematischen Analyse unterzogen. 1805 geboren entstammte er dem französischen Landadel, sein Vater war strikter Royalist und in der Lokalpolitik tätig, während Alexis selbst Jurist war und in der Folge der Revolution von 1830 auch politisch Karriere machte, bevor er sich nach dem „Staatsstreich“ Napoléons III. von 1851 aus der Politik zurückzog.21 Er bereiste Nordamerika und verfasste sein wirkmächtiges Buch „De la démocratie en Amérique“ (1835), das als Analyse der US-Verfassung, aber auch der kulturellen Grundlagen der amerikanischen Demokratie bis heute gelesen wird.22 Darüber hinaus beschäftigte er sich intensiv mit der Französischen Revolution und veröffentlichte 1856 sein wegweisendes Buch „L’ancien Régime et la Révolution“.
Tocqueville bemüht sich darin um eine systematische und auf die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen und Problemlagen zielende Auseinandersetzung. Zuvor hatten zumeist historiographische Abhandlungen das Bild von Revolten und Revolutionen bestimmt, wobei die narrativen Darstellungen von Ereignissen und Personen überwogen. Demgegenüber beschritt Tocqueville einen anderen Weg, denn er betonte ausdrücklich, er wolle keine Geschichte der Revolution bieten. Stattdessen kreist sein Werk um zentrale Fragekomplexe, die er analytisch zu beantworten sucht. Seine Position lässt sich als revolutionskritisch beschreiben, jedoch nicht als royalistisch. Er war durchaus ein Befürworter von Reformen, betonte trotz seiner eigenen aristokratischen Herkunft die historische Notwendigkeit der Demokratie und argumentierte für eine politisch verstandene Freiheit und die Gleichheit der Bedingungen (égalité des conditions).23 Allerdings konstatierte er bereits für das Ancien Régime eine Reihe von Reformansätzen, ja, eine Entwicklung hin zu einer bürokratischen, auf Gleichheit der Bedingungen zielenden Modernisierung, die seiner Überzeugung nach auch ohne die Revolution zur Wirkung gelangt wäre. Demnach sei die Revolution – wie schon die oben zitierte Passage aus dem Vorwort deutlich macht – keineswegs ein radikaler Bruch mit dem Ancien Régime gewesen, sondern vielmehr eine beschleunigte und gewaltsame Vollendung von bereits auf dem Weg befindlichen grundlegenden Veränderungsprozessen. Mehrere Aspekte hebt er hervor: Zum einen hätten Klerus und Adel schon vor der Revolution weitgehend ihre Funktionen als lokale Unterrichtungs- und Verwaltungsinstanzen verloren und einer wachsenden Zentralisierung des Staates Platz gemacht. Zum anderen sei die Gleichheit der Menschen durch die wirtschaftliche Erstarkung des Bürgertums bereits weit vorangeschritten gewesen. Die Privilegien von Adel und Klerus seien demnach nur noch umso verhasstere Relikte gewesen.24
Die Revolution habe also einerseits auf der zunehmenden Diskrepanz der gesellschaftlichen Entwicklung und der staatlichen Institutionen beruht; andererseits sei sie aber auch das Produkt weltfremder Ideologien gewesen, wie sie sich in den Schriften der Aufklärer spiegelten und die als Beschleuniger fungiert hätten.25 Der universale Anspruch, den diese Ideologien erhoben hätten und der weit über Frankreich hinaus gewirkt habe, habe der Revolution Züge einer religiösen Revolution verliehen.26 Doch auch wenn sie wie eine religiöse Revolution aufgetreten sei, hätten ihre Ziele im Sozialen und Politischen gelegen. Nicht weniger als die gänzliche Zerstörung der alten Gesellschaft und die Ausdehnung staatlicher Institutionen unter den Prinzipien der Gleichheit seien ihre Ziele gewesen.27 Auf den Trümmern des Ancien Régime habe sie jedoch wenig Neues errichtet, sondern das Vorgefundene zur Errichtung des neuen Staates genutzt. Entscheidend war aber, dass der gewaltsame und plötzliche Umsturz der traditionellen Elemente des vorrevolutionären Frankreich aus Tocquevilles Sicht nicht politische Freiheit und Gleichheit der Bedingungen hervorgebracht hatte, sondern vielmehr neue Tyrannei und Unfreiheit.28
Darüber hinaus ist es wohl insbesondere seine These, die Revolution habe bereits vorhandene Reformansätze aufgenommen und radikalisiert, die einen längerfristigen Einfluss auf die Erforschung von Revolutionen entfalten konnte. Regime seien demnach besonders anfällig für Revolutionen, wenn sie bereits eine Reihe von Reformen eingeleitet hätten. Es seien gerade die Provinzen gewesen, denen es unter Ludwig XVI. nicht besonders schlecht gegangen sei, in denen die Revolution die meisten Anhänger gefunden habe. Daraus zog Tocqueville die Konsequenz, dass Menschen nicht auf dem Höhepunkt von Unterdrückung und wirtschaftlicher Not rebellierten, sondern gerade dann, wenn ihre aufgrund von Prosperität steigenden Erwartungen enttäuscht würden:
Man gelangt nicht immer nur dann zur Revolution, wenn eine schlimme Lage zur schlimmsten wird. Sehr oft geschieht es, daß ein Volk, das die drückendsten Gesetze ohne Klage und gleichsam, als fühle es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam beseitigt, sobald ihre Last sich vermindert. Die Regierung, die durch eine Revolution vernichtet wird, ist fast stets besser als die unmittelbar voraufgegangene, und die Erfahrung lehrt, daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt.29
Die Forschung spricht hier auch vom „Tocqueville-Effekt“.30 Dieser Effekt wurde auch in der Revolutionsforschung des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen und spielt in der Politiktheorie bis heute eine Rolle.
Eine tiefergehende Kontextualisierung und damit auch Erklärung der Thesen und Haltungen Tocquevilles kann hier, wo es allein um die Entwicklung von Revolutionstheorien und Deutungsangeboten geht, nicht geleistet werden. Trotzdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass Tocqueville vor dem Hintergrund aktueller Krisenerfahrungen schrieb. Die Französische Revolution, die Herrschaft Napoléons, die Restauration und die erneuten Unruhen 1830 und 1848 sowie der „Staatsstreich“ Louis Napoléons 1851 hatten Frankreich innerhalb kurzer Zeit in immer wieder neue Machtkonstellationen und Konfliktsituationen gestürzt.31 Tocquevilles Buch wandte sich sowohl gegen royalistische, alle demokratischen Bestrebungen ablehnende Deutungen als auch gegen die ‚romantische Schule‘ und ihre Verklärung der Revolution. Trotz seiner Skepsis gegenüber radikalen Umstürzen war Tocqueville überzeugt, dass nur eine freiheitliche Verfassung und eine demokratische Staatsform auf die Dauer für einen Interessenausgleich in der Gesellschaft sorgen könnten. Seine Beobachtungen während der Amerikareise trugen sicher zu diesen Überzeugungen bei. Doch Tocqueville warnte auch vor dem Entstehen neuer Gegensätze und dem Aufkommen einer neuen Aristokratie aus dem entstehenden Industriekapitalismus.32 Seine Schriften beschäftigten sich unter anderem mit dem Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit bzw. mit den Realisierungsmöglichkeiten von Freiheit unter den Bedingungen der Gleichheit. Wie konnte verhindert werden, dass Wohlstand den Freiheitswillen der Bürger aushebelte oder eine demokratische Gesellschaft zur Tyrannei der Masse entartete? Die USA waren für Tocqueville das Beispiel einer gelungenen Balance, während Frankreich nicht zur Ruhe komme und keine stabile gesellschaftliche Ordnung finde. Die Revolution von 1789 habe hier keine positiven Wirkungen entfaltet, sondern das Land in Chaos und immer wieder in neue Tyranneien gestürzt. Tocqueville interessierte sich aus diesem Grund für die Frage nach einer stabilen staatlichen Ordnung, die Demokratie und Gleichheit der Bedingungen gewähre. Revolutionen betrachtete er skeptisch – daher seien Reformen, die an die hergebrachten Ordnungen, an die etablierten Praktiken anknüpften, der bessere Weg.33
Neben Tocqueville lassen sich auch bei anderen, oftmals als liberal apostrophierten Autoren des 19. Jahrhunderts Ansätze finden, die die Revolution als radikalen und gewaltsamen Bruch mit der Vergangenheit verurteilen, aber gleichwohl Reformen und demokratische Strukturen befürworten. Dabei schwankte die liberale Auffassung zwischen der Vorstellung einer Unvermeidbarkeit der revolutionären Erschütterung, etwa bei Louis-Adolphe Thiers, und einem eher kontingenten, aus dem Handeln Einzelner hervorgegangenen Übel der gewaltsamen Revolution bei Benjamin Constant oder Germaine de Staël.34 Thiers neigte dazu, die Revolution als historische Notwendigkeit zu verteidigen und selbst die Auswüchse der Schreckensherrschaft zu relativieren. Für ihn wie auch für François-Auguste Mignet war die Revolution ein Resultat des Erstarkens der bürgerlichen Mittelschichten und gleichbedeutend mit der Etablierung bürgerlicher Freiheiten.35 Andere, wie de Staël, unterschieden zwischen einer positiv besetzten frühen Phase der Revolution und einer Radikalisierung und Entartung in der Terrorherrschaft.36 In der liberalen Geschichtsschreibung waren es freilich immer wieder v. a. die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, die als vorbildlich wahrgenommen wurden. Liberale Autoren wie Germaine de Staël oder Heinrich von Sybel lobten die englische Verfassung und beriefen sich unter anderem auf Edmund Burke und seine Kritik an der Französischen Revolution. Burke hatte in seinen „Reflections on the Revolution in France“ von 1790 den Radikalismus der Revolution und ihrer Anhänger in England kritisiert und ihnen das Ideal der Glorious Revolution von 1688/89 vorgehalten, die seiner Interpretation nach die alte Verfassung bewahrt und nur an den Stellen repariert habe, an denen es nötig gewesen sei.37 Reformen, nicht Revolution, Anpassung der Verfassung an die Notwendigkeiten der Zeit, Liberalisierung und Modernisierung, aber Ablehnung von Gewalt und Umsturz waren ein gemeinsames Anliegen vieler liberaler Denker des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum stand die Idee des Fortschritts, der sowohl im Hinblick auf bürgerliche Werte und Freiheiten als auch im Sinne ökonomischer Entfaltung verstanden wurde.
Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts war es insbesondere Thomas Babington Macaulay, der das liberale Revolutionsnarrativ ausformulierte. Anders als in Frankreich oder sonst auf dem europäischen Kontinent konnte Macaulay auf eine revolutionäre Tradition zurückblicken, die er grundsätzlich bejahte, die er aber restaurativ deutete und als positive Kontrastfolie gegenüber den Revolutionen des Kontinents ‚verargumentieren‘ konnte.38 Damit formulierte er die klassische Position dessen, was Herbert Butterfield 1931 als „Whig Interpretation of History“ bezeichnet hat. Butterfield meint damit eine spezifisch englisch-protestantische Sicht auf die Vergangenheit, die die englische Geschichte seit dem Mittelalter als einen stetigen Zugewinn an Freiheit und Fortschritt konstruiere. Zentrale Achsen einer solchen Fortschrittsgeschichte seien der Aufstieg des Parlaments, die Etablierung einer konstitutionellen Monarchie, die Entwicklung einer marktorientierten Wirtschaft und die Verbreitung britischer Zivilisation in der Welt.39 Neben Macaulay gilt auch Samuel Rawson Gardiner mit seiner umfangreichen Geschichte der Englischen Revolution als Exponent einer solchen Geschichtsdeutung, in der den Revolutionen eine wichtige Rolle in der englischen Freiheitsentwicklung zukam.40Ähnliche Tendenzen lassen sich auch für die Geschichtsschreibung der Amerikanischen Revolution erkennen, wo etwa George Bancroft die amerikanische Geschichte bis zur Gründung der Vereinigten Staaten als Siegeszug von Demokratie und Freiheit deutete.
Vielleicht ist dies ohnehin der hervorstechendste Zug der liberalen Revolutionsdeutung des 19. Jahrhunderts: Revolutionen werden entweder als notwendige Durchgangsstationen innerhalb eines auf Demokratisierung, bürgerliche Freiheit und gesellschaftliche Chancengleichheit zielenden Fortschritts gesehen oder aber als eigentlich überflüssige, gewaltsame und zur Despotie neigende Phase innerhalb eines ohnehin stattfindenden Fortschrittsprozesses. In beiden Fällen ist die inhärente Teleologie hin zu einer bürgerlichen, marktwirtschaftlichen und demokratischen Moderne unverkennbar. Besonders deutlich tritt diese teleologische Ausrichtung im Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegels zutage. Geschichte war für ihn ein vernünftiger und sinnvoller Prozess, dessen Ziel die Verwirklichung der Idee bürgerlicher Freiheit im Rahmen eines rationalen Staatswesens war.41 Letztlich steht auch Hannah Arendts Buch „On Revolution“ von 1963 noch in dieser Tradition: Für Arendt blieb die Revolution eng mit der Idee der Freiheit verbunden, und der Revolutionsbegriff ergab für sie auch nur dann einen Sinn, wenn er auf ein Mehr an Freiheit ziele. In diesem Sinne spielte die Revolution in der Erlangung moderner, demokratisch verstandener Freiheit in der Deutung Arendts eine Schlüsselrolle.42
4.Revolution und Klassenkampf: Marxistische Revolutionstheorie
Wenn das Proletariat im Kampf gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.43
Im „Manifest der kommunistischen Partei“ legten Karl Marx und Friedrich Engels in der Folge des 1847 in London abgehaltenen Kongresses des internationalen Bundes der Kommunisten das Programm der kommunistischen Bewegung dar. Es ging ihnen um nicht weniger als den Umsturz der sozialen und politischen Verhältnisse, um die Herrschaft des Proletariats, das sich im Zuge der Industrialisierung herausgebildet hatte. Diesem Ziel zugrunde lag indes eine Gesellschafts- und Geschichtstheorie, innerhalb derer die Revolution eine zentrale Stellung einnahm. Die Schriften von Marx und Engels können somit immer auch als Revolutionstheorie gelesen werden.
Im Zentrum der Marxschen Geschichtsphilosophie steht die stufenförmige Entwicklung von Gesellschaften. In enger Anlehnung an Hegel war Marx von einem zielgerichteten, gesetzmäßigen und positiven geschichtlichen Verlauf überzeugt. Geschichte war demnach ein Durchlauf durch verschiedene gesellschaftliche Formationen, deren Übergänge durch Revolutionen gekennzeichnet waren. Revolutionen bezeichnete er folglich auch als „Lokomotiven der Geschichte“, weil sie den geschichtlichen Verlauf vorantrieben.44 Anders als Hegel ging Marx freilich davon aus, dass nicht Ideen, sondern die materiellen Verhältnisse den Gang der Geschichte bestimmten. Die materiellen Lebensbedingungen prägten das Bewusstsein und damit auch die politischen Interessen der Menschen. Geschichte werde von Klassenkämpfen vorangetrieben, ja, die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“.45 Die sozialen Klassen waren seiner Ansicht nach definiert durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln bzw. zu den ökonomischen Rahmenbedingungen. Hatte die Französische Revolution v. a. die Überwindung der vormodernen feudalen Verhältnisse hervorgebracht und die Bourgeoisie, also das über Kapital verfügende Bürgertum, zur herrschenden Klasse gemacht, so war das 19. Jahrhundert nach dieser Sichtweise zunehmend durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit geprägt, wobei dieser Zustand einer stetigen Revolution unterliege: Die Bourgeoisie als herrschende Klasse könne nicht ihre Herrschaft erhalten, ohne die Produktionsverhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Das führe zunehmend dazu, dass es nur noch zwei gesellschaftliche Klassen gebe, die sich unversöhnlich gegenüberstünden: Die Bourgeoisie und das Proletariat.46
Während die Bourgeoisie über die Produktionsmittel – also das Kapital, die Produktionsanlagen und die Rohstoffe – verfüge, bleibe dem Proletarier nichts anderes übrig, als seine Arbeitskraft zu verkaufen. Dabei befinde er sich gegenüber seiner Arbeit und ihren Produkten in einem Zustand der Entfremdung. Anders als Tocqueville geht Marx davon aus, dass die Verhältnisse für die Proletarier immer elender würden, bis sie am Tiefpunkt ihres Elends revoltierten. In der kommenden und ausdrücklich bejahten proletarischen Revolution werde der Klassengegensatz mit Gewalt aufgehoben, das Eigentum im Sinne der Verfügung über Produktionsmittel aufgelöst und eine klassenlose Gesellschaft in der Herrschaft des Proletariats verwirklicht. Letztlich beendete in der Vorstellung von Marx diese Revolution den geschichtlichen Verlauf, der damit an seinem Ziel angelangt sei. Die proletarische Revolution sei somit die letzte Revolution.47
Entscheidend an dieser Konzeption ist nicht nur die ausgeprägte Teleologie, die den Marxschen Geschichtsentwurf in die Nähe der christlichen Heilsgeschichte rückt, sondern auch das Verhältnis von historischer Erklärung und zukunftsbezogener Prognose, oder anders gesagt: von geschichtsphilosophischer Deutung der Vergangenheit und aktiver, programmatischer Bejahung und Förderung der Revolution in der Gegenwart und Zukunft. Gerade das „kommunistische Manifest“ zeigt dies deutlich: Abgefasst am Vorabend der erhofften europaweiten revolutionären Erhebungen von 1848 war es nicht nur eine theoretische Schrift, sondern auch und v. a. Appell und Programm, das selbst nach den für Marx und Engels enttäuschenden Ergebnissen der Revolution immer wieder neu aufgelegt und durch neue Vorworte an neue Kontexte angepasst wurde.48
Mit ihren geschichtsphilosophischen Schriften sowie Arbeiten zu konkreten historischen Ereignissen, wie etwa Friedrich Engels’ Abhandlung zum Bauernkrieg49, setzten sie aber auch die Interpretationsrahmen, innerhalb derer sich die marxistische Geschichtsschreibung als „historischer Materialismus“ entfalten konnte. Es ging dabei um den konkreten Nachweis der stufenförmigen Entwicklung historischer Gesellschaften, um die Konkretisierung des Marxschen Geschichtsmodells und die Analyse historischer Klassenkämpfe.50 Revolte und Revolution blieben daher auch über Marx und Engels hinaus ein zentraler Gegenstand marxistisch geprägter Geschichtsforschung.
Die Geschichtswissenschaft in den Staaten, in denen in der Folge der Russischen Revolution und als Resultat des Zweiten Weltkriegs sozialistische Systeme eingeführt worden waren, übernahm weitgehend die Prämissen der Geschichtsphilosophie von Marx und Engels. Dementsprechend wurden auch die Revolutionen der Vergangenheit im Lichte dieser theoretischen Prämissen gedeutet und in den schon von Marx postulierten Geschichtsverlauf eingebettet.51 Diesem theoretischen Postulat entsprach etwa die Charakterisierung der Reformation und des Bauernkriegs als „frühbürgerliche Revolution“52 oder die Deutung der Bauernaufstände im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts als Klassenkampf (bzw. aufgrund ihres geringen Organisationsgrads als „niedere Formen des Klassenkampfs“) durch Boris Poršnev.53 In Leipzig wurde sogar ein „Interdisziplinäres Zentrum für vergleichende Revolutionsforschung“ eingerichtet, das einerseits die marxistische Revolutionsdeutung forcieren sollte, von dem aber andererseits durchaus internationale Impulse ausgingen, die zeigten, wie zentral die Revolutionsforschung für die Geschichtswissenschaft der DDR war.54
Marxistische oder am Marxismus orientierte Revolutionsdeutungen gab es freilich im 20. Jahrhundert auch in der westlichen Geschichtswissenschaft. In Großbritannien etwa setzten sich seit den 1940er Jahren zeitweise marxistische Deutungen der Englischen Revolution durch. Richard Tawney interpretierte die Revolution aus einer christlich-sozialistischen Haltung heraus und betonte die sozialen Ursachen, insbesondere den Aufstieg des niederen Adels (gentry).55 Noch dezidierter argumentierte Christopher Hill aus einer marxistischen Geschichtsauffassung heraus: Hill war Mitglied der Kommunistischen Partei und der „Communist Party Historians Group“. Er vertrat freilich eine sehr differenzierte sozialhistorische Deutung der Englischen Revolution.56 Darüber hinaus interpretierten auch Edward P. Thompson, Eric Hobsbawm und George Rudé diverse Unruhen, Revolten und Revolutionen in einem marxistischen Deutungshorizont.57 Insbesondere Thompson betonte dabei mit Bezug auf sozialpsychologische Ansätze die spezifischen Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die „moral economy“, der arbeitenden Schichten, die im deutlichen Widerspruch zu frühkapitalistischen ökonomischen Impulsen im 18. Jahrhundert formuliert worden seien.58 In Frankreich hatte die sich in den 1920er Jahren etablierende „Annales-Schule“ zwar keine dezidiert marxistische Ausrichtung, betonte jedoch gegenüber älteren Ansätzen sehr stark die ökonomisch-materiellen Verhältnisse, die sie in den Mittelpunkt ihrer Geschichtsforschung rückte.59 Mit Blick auf die Französische Revolution hatten bereits Jean Jaurès und Albert Mathiez eine dezidiert marxistische Position ausformuliert, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Arbeiten von Georges Lefèbvre, Ernest Labrousse, Albert Soboul und Michel Vovelle zur vorherrschenden Doktrin wurde. Diese in sich keineswegs einheitlichen Ansätze postulierten einerseits, dass der Aufstieg der Bourgeoisie zu einem Klassenkampf mit dem das Feudalsystem vertretenden Adel geführt hätte, und andererseits, dass die verarmten Massen in den Städten wie auch auf dem Land die eigentlichen Träger des revolutionären Fortschritts gewesen und schließlich von den bürgerlichen Schichten verraten worden seien.60