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Die inspirierendsten Freiheitskämpferinnen der Weltgeschichte Auf der ganzen Welt kämpfen Frauen seit Jahrhunderten für Gleichberechtigung, Demokratie, Freiheit und Bürgerrechte. Die Historikerin Alexandra Bleyer erzählt die inspirierenden Geschichten so unterschiedlicher Persönlichkeiten wie Olympe de Gouges und Sojourner Truth, Emily Davison und Bertha von Suttner, Rosa Luxemburg und Alexandra Kollontai und nimmt ihre Leser:innen mit auf eine faszinierende Reise vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. • Die wichtigsten Freiheitskämpferinnen aus allen fünf Kontinenten • Ein Buch für alle, denen die Demokratie am Herzen liegt • Faszinierende Porträts, verfasst von einer ausgewiesenen Historikerin
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Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alexandra Bleyer
Frauen, die Geschichte schrieben
Reclam
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962388
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Tanja Kischel
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962388-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011413-1
reclam.de | [email protected]
Vorwort
Olympe de Gouges: Die Rechte der Frau, erklärt und verteidigt
Abigail Adams: Politik als erfolgreiches Familienunternehmen
George Sand: Zwischen Sozialismus und Feminismus
Manuela Sáenz: Freiheitskämpferin und Agentin
Mathilde Franziska Anneke: Neubeginn nach dem Scheitern
Louise Otto-Peters: Von der Revolution zur organisierten Frauenbewegung
Susan B. Anthony: Freundschaft und Rivalität auf dem Weg zum Frauenwahlrecht
Sojourner Truth: Gegen Rassismus und Sexismus
Emily Wilding Davison: Heiligt der Zweck militante Mittel?
Pandita Ramabai: Frauen und Heilige Schrift(en)
Kishida Toshiko: Ratschläge für Mütter und Schwestern
Vida Goldstein: Eine Frau im Wahlkampf
Qiu Jin: Die Schwertkämpferin in Männerkleidung
Bertha von Suttner: Frauen für den Frieden
Hudā Sha’rāwī: Ausbruch in neue Räume
Lida Gustava Heymann: Radikal für Recht und Gerechtigkeit
Emine Semiye: Feminismus und Islam
Adelaide Smith Casely Hayford: Identitätssuche zwischen den Kulturen
Rosa Luxemburg: Kompromisslos auf Konfrontationskurs
Alexandra Kollontai: Vereinbarkeit von Familie und Beruf(ung)
Was bleibt
Literaturverzeichnis
»Zu allen Zeiten hat es Frauen gegeben, die den Gegenbeweis lieferten für die Theorie des Mannes vom schwachen Geschlecht«,1 schrieb Lida Gustava Heymann in ihren Erinnerungen. Von solchen Frauen handelt dieses Buch.
In einem zeitlichen Bogen von der Französischen Revolution 1789 bis zu den Umstürzen am Ende des Ersten Weltkrieges werden Frauen aus aller Welt vorgestellt, die eines gemeinsam hatten: den brennenden Wunsch, etwas zu bewegen, zu verändern, ihre Welt ein Stück gerechter zu gestalten. Der Revolutionsbegriff wird dabei weit gefasst und reicht vom Sturz des Regimes über Gleichberechtigung bis hin zu neuen Erziehungskonzepten. Manches klingt vertraut, anderes vielleicht fremd.
Indem ich die Revolutionärinnen unter jeweils eigener Schwerpunktsetzung beleuchte, versuche ich, sie in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit und in ihren Widersprüchlichkeiten zu erfassen. Aus einem geweiteten Blickwinkel heraus wird nach Verbindendem gefragt, nach gemeinsamen Erfahrungen, wechselseitigen Beeinflussungen und (internationalen) Netzwerken. Dabei möchte ich aber auch Trennendes wie persönliche Rivalitäten und Abgrenzungen beispielsweise innerhalb der Frauenbewegung oder auch Rassismus nicht unterschlagen.
Die hier vorgestellten Revolutionärinnen waren Frauen mit zutiefst menschlichen Stärken und Schwächen, die Sympathien wecken oder mit manchen Verhaltensweisen irritieren können. Es waren Frauen, deren Geschichte es wert ist, aufgeschrieben und gelesen zu werden.
Als Sammlung von 20 Frauenporträts ordnet sich dieses Buch in eine lange literarische Tradition ein. Seit dem 7. Jahrhundert begaben sich Frauen auf Spurensuche in die Vergangenheit: Sie forschten nach Heldinnen, Herrscherinnen und Heiligen, nach bemerkenswerten und merkwürdigen Frauen, die nicht in Vergessenheit geraten sollten. Im ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit entwickelte sich »das Aufstellen von Listen angesehener Frauen […] zu einem eigenen literarischen Genre«2. Es waren frühe Versuche, in der weithin von Männern dominierten Geschichtsschreibung auch die andere Hälfte der Menschheit sichtbar zu machen, den viel gerühmten »großen Männern« ebensolche Frauen gegenüberzustellen. Sammlungen biographischer Skizzen – von Frauen für Frauen – erfreuten sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit; auch viele der hier vorgestellten Revolutionärinnen, die journalistisch tätig waren, verfassten beispielsweise in Zeitungen Porträts ihnen wichtiger Frauenpersönlichkeiten. Das Interesse an solchen starken Frauenfiguren ist, wie ein Streifzug durch die Buchhandlung des Vertrauens zeigt, bis heute ungebrochen.
Spannend ist die Frage, welche Frauen es in die Geschichte schaffen und welche im Dunkel derselben verschwinden. Die besten Chancen hatten außergewöhnliche Persönlichkeiten, die aus der gesichtslosen Masse herausstachen, Bewunderung erregten – oder im Gegenteil Abscheu und Hass, kurz: die niemanden kaltließen. Revolutionärinnen erfüllen diese Bedingungen. Laut, unangepasst und kämpferisch setzten sie sich für Ideale ein. Nicht immer erreichten sie ihre Ziele; scheiterte die Revolution, bezahlten sie oft genug den höchsten Preis für ihren Einsatz.
Wer ihre Geschichte schrieb, ist keineswegs belanglos. Was wurde ihnen zugeschrieben, was im Gegenzug unterschlagen? Welche Bedeutung maß man ihnen im großen Ganzen zu? So manche Revolutionärin, die von Zeitgenossen noch als unwichtig abgetan wurde, wurde später als Vorbild wiederentdeckt.
Von besonderem Interesse ist, wie sich viele der Revolutionärinnen durch Memoiren und historiographische Werke ihren Platz in der Erinnerungskultur sichern wollten. Beispielsweise wurde innerhalb der US-amerikanischen und der deutschen Frauenbewegung vor dem Hintergrund persönlicher Rivalitäten und Grabenkämpfe die Geschichtsschreibung dazu benutzt, die eigene Rolle hervorzuheben und Konkurrentinnen ins Abseits zu schreiben. Einige der Revolutionärinnen wollten mit ihren Darstellungen der Geschichte nicht »blos zeigen, wie es eigentlich gewesen« (Leopold von Ranke), sondern betrieben ganz klar Geschichtspolitik: Subjektive, parteiische Darstellungen dienten der eigenen politischen Zielsetzung – beispielsweise der Rechtfertigung eines gescheiterten revolutionären Handelns oder der Durchsetzung des Führungsanspruchs innerhalb einer Bewegung – und sollten die Erinnerung in ihrem Sinne prägen.
Wer schreibt, der bleibt.
»Frauen, wann hört ihr auf, blind zu sein?«
»Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt«1, schickte Olympe de Gouges (1748–1793) ihrer Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte voraus. In den Atlantischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatten die führenden Männer bei der Ausarbeitung neuer Verfassungen und der Erklärung der Menschenrechte offensichtlich eine Hälfte der Menschheit vergessen. Dieses Versäumnis versuchte de Gouges zu korrigieren, indem sie – dem Originaltext der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) folgend – festhielt: »Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Mann gleich an Rechten.«2
Während sie und ihr Text erst später – u. a. von der Frühsozialistin Jeanne Deroin 1848 – wiederentdeckt wurden, erreichte die englische Autorin Mary Wollstonecraft mit ihrer Verteidigung der Rechte der Frau (1792) sofort ein großes Publikum. Ihr Werk beeinflusste wiederum die US-amerikanische Frauenrechtlerin Elizabeth Cady Stanton, die 1848 eine Declaration of Sentiments (›Gefühlserklärung‹) verfasste, die in vielerlei Hinsicht aber auch Ähnlichkeiten zu de Gouges’ Werk aufweist. Im Unterschied zu Wollstonecrafts ausführlicher Abhandlung wählten de Gouges und Stanton einen anderen Zugang, um die Rechte der Frauen geltend zu machen: Sie zogen die im Zuge der Atlantischen Revolutionen entstandenen Menschenrechtserklärungen heran, deren bekannte Argumente im zeitgenössischen Diskurs als allgemein gültig anerkannt wurden, und ergänzten, was ihrer Meinung nach zu ergänzen war.
Es ist nicht leicht, in Olympe de Gouges’ Biographie Fakten von Fiktion zu unterscheiden. Als Marie Gouze wurde sie wohl 1748 in Montauban im Süden Frankreichs, in Okzitanien, geboren. Ihre Mutter war Anne-Olympe Moisset, ihr Vater vermutlich der Metzger Pierre Gouze. Sie selbst nährte Gerüchte, die illegitime Tochter des adeligen Schriftstellers Jean-Jacques Lefranc de Pompignan zu sein.
Ihre Bildung war mangelhaft; ihre späteren Werke hat sie meist diktiert. Sie heiratete Louis-Yves Aubry und gebar einen Sohn, Pierre. Unklar ist, ob sie verwitwet war oder ihren Mann verlassen hatte, doch 1767 ging sie mit dem reichen Unternehmer Jacques Biétrix nach Paris. Offizielle Dokumente unterschrieb sie als »Marie Gouze, Witwe Aubry«; sie erfand sich aber als Olympe de Gouges neu. Dass sie ihren Namen mit einem Adelsprädikat aufwertete, war in ihrer Zeit nicht ungewöhnlich; auch Maximilien de Robespierre tat es.
Als femme galante (Kurtisane) ließ sie sich von reichen Gönnern aushalten. Jung, attraktiv und geistreich – die mutmaßliche Abstammung von einem aristokratischen Vater, die sie hervorkehrte, schadete dabei nicht –, fand sie rasch Zugang zu besseren Kreisen. Sie bildete sich autodidaktisch weiter, besuchte Museen und bewegte sich in intellektuellen und künstlerischen Kreisen. Sie entwickelte sich zu einer femme de lettres (Literatin) und verfasste Theaterstücke. 1784 schrieb sie Zamore et Mirza, eine Liebesgeschichte zwischen einer Sklavin und einem Sklaven, in der der Held den Aufseher tötet. Das wog aber weniger schwer als die Sklaverei, fand die Autorin, weshalb sie dem Paar ein Happy End gönnte.
In England gab es bereits erste Forderungen nach der Abschaffung der Sklaverei; in Paris wurde 1788 die Société des Amis des Noirs (›Gesellschaft der Freunde der Schwarzen‹) gegründet. Nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Interessen der Plantagenbesitzer in den französischen Kolonien plädierten diese jedoch für ein behutsames Vorgehen.
Erst am 28. Dezember 1789 wurde de Gouges’ Stück in überarbeiteter Form unter dem Titel L’Esclavage des Noirs (›Die Versklavung der Schwarzen‹) uraufgeführt – und stieß auf Widerstand. Die Mitglieder der Schauspieltruppe wollten sich ihre Gesichter nicht schwärzen, Plantagenbesitzer störten die Vorstellungen und drohten dem Theaterbesitzer mit der Rückgabe ihrer Logen. Nach nur drei Aufführungen wurde es abgesetzt.
Es lag, wie de Gouges sagte, in ihrer Natur, sich auf die Seite der Schwächsten und der Unterdrückten zu stellen. Sie griff erneut zur Feder und schrieb die Réflexions sur les hommes Nègres (Reflexionen über die versklavten schwarzen Menschen). Schon als Kind habe sie der Anblick einer schwarzen Sklavin zum Nachdenken gebracht, und »als ich älter wurde, erkannte ich sehr deutlich, dass es Gewalt und Vorurteil waren, die sie zu dieser schrecklichen Sklaverei verdammt hatten«, beschrieb sie. »Ein Handel mit Menschen! … Gütiger Gott! Dass die Natur nicht erzittert! Wenn sie Tiere sind, sind wir es nicht ebenso wie sie? Und worin unterscheiden sich die Weißen von dieser Art von Mensch? In der Farbe […]. Die Farbe der Menschen ist ähnlich fein abgestuft wie bei allen Tieren, die die Natur hervorgebracht hat, ebenso wie auch bei den Pflanzen und Mineralien. […] Alles ist vielfältig, und gerade das macht die Schönheit der Natur aus.«3
Zwischen der ersten Fassung ihres Theaterstückes und den Reflexionen war Großes passiert: die Französische Revolution. Noch davor, 1788, war de Gouges politisch aktiv geworden. Im November publizierte sie das Pamphlet Lettre au Peuple (›Brief an das Volk‹), nachdem die Generalstände einberufen worden waren, um durch Steuerreformen den drohenden Staatsbankrott abzuwehren. Sie schlug als Ausweg aus der Finanzmisere ein auf Freiwilligkeit basierendes Steuersystem vor.
Die Generalstände zeigten sich nicht bereit, über Steuererhöhungen zu reden, solange sie keine politische Mitsprache erhielten, und leisteten am 20. Juni 1789 den Ballhausschwur, denn sie wollten nicht auseinandergehen, bevor es eine Verfassung gab. Am 14. Juli erfolgte der Sturm auf die Bastille, im August die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. An der Revolution waren Frauen tatkräftig beteiligt. Sie verfassten u. a. Beschwerdebriefe und Petitionen, protestierten gegen steigende Brotpreise und hinterließen mit dem (Brot-)Marsch der Marktfrauen nach Versailles am 5./6. Oktober 1789, durch den die königliche Familie zur Rückkehr nach Paris gezwungen wurde, bleibenden Eindruck.
Es entstanden zahlreiche Vereine und politische Clubs. Der 1790 in Paris gegründete Cercle Social (auch Amis de la verité, d. h. ›Freunde der Wahrheit‹, genannt) gehörte zu den ersten, die Frauen aufnahmen. Innerhalb des Cercle entstand 1791 ein eigener Frauenzirkel unter dem Vorsitz der Niederländerin Etta Palm d’Aelders. Diese erklärte in einer Rede, dass die Menschen- und Bürgerrechte auch für Frauen gelten müssten, und erinnerte die Männer daran, dass Frauen deren Gefährtinnen und keine Sklavinnen seien. Neben de Gouges war Sophie de Condorcet im Cercle mit von der Partie; sie war eine Aristokratin, die sich zur Republikanerin entwickelt hatte und mit dem Philosophen bzw. Mathematiker Nicolas de Condorcet verheiratet war. Die drei Frauen waren mit ihrer Forderung nach Frauenrechten, besserer Mädchenbildung sowie Gleichheit in der Ehe und dem Recht auf Scheidung Geburtshelferinnen für den modernen Feminismus.
Sollten Frauen dieselben bürgerlichen und politischen Rechte erhalten, wie sie Männer im Zuge der Revolution bekommen hatten? Auch für Nicolas de Condorcet, den seine Frau Sophie zu entschieden demokratischen Positionen drängte, war klar: Ja. 1790 erschien sein Plädoyer für die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht: »Entweder hat kein Glied des Menschengeschlechts wirkliche Rechte, oder sie haben alle die gleichen, und derjenige, der gegen das Recht eines anderen stimmt, mag er auch einer anderen Religion, einer anderen Hautfarbe oder dem anderen Geschlecht angehören, hat damit seine Rechte verwirkt.«4
Der gescheiterte Fluchtversuch Ludwigs XVI. radikalisierte die Revolutionäre, doch während einzelne wie der Journalist Jean Paul Marat – er wurde 1793 von Charlotte Corday ermordet – eine Republik forderten, setzte die gemäßigte Mehrheit eine konstitutionelle Monarchie durch. Im September 1791 erschien die neue Verfassung; im selben Monat publizierte de Gouges ihre Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte. Artikel für Artikel knöpfte sie sich die Vorlage von 1789 vor und formulierte sie zu einer universalen Erklärung der Menschenrechte um, indem sie im Text das Wort homme, ›Mann‹, durch Frau und Mann ersetzte und beim Bürger die Bürgerin ergänzte. »Der Ursprung jeder Souveränität liegt wesentlich in der Nation, die nichts anderes ist als die Vereinigung von Frau und Mann«5, heißt es in Artikel III. Da Frauen wie Männer dem Gesetz unterlagen und dieses »Ausdruck des Gemeinwillens« war, sollten auch »alle Bürgerinnen und Bürger […] persönlich oder durch ihre Vertreter zu seiner Bildung beitragen«6. Berühmt ist Artikel X, wonach die Frau das Recht hat, »aufs Schafott zu steigen«, und daher auch ein Recht auf die Rednertribüne. In der »freie[n] Gedanken- und Meinungsäußerung« sah de Gouges »eines der kostbarsten Rechte der Frau«7. Da Frauen lästige Pflichten wie Steuern tragen müssten, sollten sie »ebenso an der Verteilung von Posten, Ämtern, Diensten, Würden und am Gewerbe beteiligt sein«8. De Gouges bezeichnete die Ehe als »Grab des Vertrauens und der Liebe«9 und fügte im Anhang einen Entwurf eines Gesellschaftsvertrags von Mann und Frau bei.
Was bürgerliche Rechte betraf, konnten sich die öffentlich und lautstark auf Reformen drängenden Frauen zumindest über Teilerfolge freuen. 1791 erreichten sie die Gleichstellung im Erbrecht und die Einführung der Zivilehe; im Jahr darauf wurde die Scheidung legalisiert (allerdings 1816 unter Napoleon wieder abgeschafft).
In weiteren Schriften plädierte de Gouges u. a. für Fürsorgeeinrichtungen sowie Unterstützung für ledige und arme Mütter, sie nahm aber auch die Frauen selbst in die Pflicht, gemeinsam an der Verbesserung ihrer Lage mitzuwirken: »Frauen, wäre es nicht an der Zeit, daß auch unter uns eine Revolution stattfände? Oder sollen die Frauen auf ewig voneinander isoliert bleiben und nur dann eine Einheit mit der Gesellschaft bilden, wenn es darum geht, ihr eigenes Geschlecht zu verleumden und beim anderen Mitleid zu erregen?«10
Frankreich kam derweil nicht zur Ruhe. 1792 rückten preußische und österreichische Truppen auf Paris vor, um die Revolution zu beenden und den Absolutismus wiederherzustellen. Das war der Auftakt zu einer Serie von Koalitionskriegen, in denen Frankreich sich behaupten und der Artillerieoffizier Napoleon Bonaparte sich profilieren konnte. Der führende Kopf der Jakobiner, Maximilien de Robespierre, drängte erfolgreich auf die Absetzung des Königs; im September 1792 wurde die Erste Republik ausgerufen und mit der Hinrichtung Ludwigs im Januar 1793 der völlige Bruch mit dem Ancien Régime vollzogen; am 16. Oktober wurde die Königin Marie-Antoinette hingerichtet.
Nicolas de Condorcet war an der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung beteiligt, die auf strikte Gewaltenteilung setzte und im Frühjahr 1793 dem Nationalkonvent präsentiert wurde. Zudem überarbeitete er die Erklärung der Menschenrechte, in der nun die Pressefreiheit einen besonderen Stellenwert erhielt und in die soziale Verpflichtungen des Staates gegenüber Bedürftigen aufgenommen wurden.
Mit dem Argument: »Das Volk ist gut, aber seine Delegierten sind korrumpierbar«11, legte sich Robespierre quer. Nachdem er am 2. Juni 1793 den Machtkampf gegen die gemäßigten Girondisten endgültig für sich entscheiden konnte, beschritt er den Weg Richtung Diktatur. Nun galt es, Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen. Er wollte die Meinungshoheit gewinnen und hetzte gegen unbotmäßige, ihn kritisierende Journalisten, denen er unterstellte, dass ihre »käufliche und mörderische Feder jeden Tag das verführerischste Gift ausspie«12. Neben der Presse- wurde die Kunst- und Theaterfreiheit eingeschränkt. Robespierre setzte im Namen der Tugend auf systematischen Terror durch einen dem Wohlfahrtsausschuss unterstehenden Sicherheitsausschuss, der »Verdächtige« verfolgte. Die neue Verfassung wurde auf unbestimmte Zeit suspendiert und Wahlen ausgesetzt – sie könnten ja die Machtverhältnisse zu Robespierres Ungunsten verändern.
Es gehörte viel Mut dazu, in diesem Klima der Überwachung und Verfolgung Kritik an Robespierre zu äußern. Pariser Drucker trauten sich ab dem 2. Juni kaum noch, oppositionelle Schriften zu produzieren. Im September trat das berüchtigte Verdächtigengesetz (Loi des Suspects) in Kraft, aufgrund dessen sogenannte Feinde der Freiheit verhaftet werden konnten. Die Guillotine war im Einsatz und sollte so schnell nicht zur Ruhe kommen.
De Gouges bezeichnete sich selbst als Republikanerin, war aber keine radikale Revolutionärin; beispielsweise hatte sie sich gegen die Hinrichtung des Königs ausgesprochen. In der Auseinandersetzung zwischen Jakobinern und Girondisten stand sie den Letzteren nahe. Bereits Ende 1792 hatte sie auf Plakaten – signiert mit dem Anagramm Polyme – Robespierre persönlich angegriffen: Sein Atem verpeste die reine Luft, die sie alle einatmeten, und sie beschuldigte ihn, Tugend nur vorzutäuschen und insgeheim nach der Macht zu streben. Er sei die größte Gefahr für die junge Republik. Dass Robespierre solche verbalen Attacken nicht tatenlos hinnehmen würde, war ihr bewusst.
Nachdem er im Juni 1793 tatsächlich die Macht übernommen hatte, ahnte sie, »dass mein Tod unvermeidlich ist«13, wie sie in ihrem Politischen Testament schrieb. Knebeln ließ sie sich von ihrem mächtigen Gegner dennoch nicht. Am 20. Juli veröffentlichte sie ihr Plakat Les Trois Urnes, ou le Salut de la Patrie (›Die drei Urnen oder das Wohl des Vaterlandes‹), auf dem sie vorschlug, dass das Volk selbst die zukünftige Regierungsform – Monarchie, republikanische oder föderative Regierung – wählen solle.
Sie wurde verhaftet unter dem Vorwurf, Robespierre beleidigt sowie die Volkssouveränität angegriffen zu haben. Im Prozess wurde ihr ein Anwalt mit dem Hinweis verwehrt, sie könne sich gut selbst verteidigen. Das tat sie mit den Worten: »Sind uns Meinungs- und Pressefreiheit nicht in Artikel VII der Verfassung als wertvollstes Patrimonium des Menschen verbrieft? Eure Willkürakte und Gräueltaten gehören vor der ganzen Welt gerichtet.«14 Vergebens versuchte sie mit der Behauptung, schwanger zu sein, der Hinrichtung zu entgehen; sie wurde am 3. November 1793 guillotiniert. In der Begründung ihres Todesurteils hieß es: »Olympe de Gouges, die mit ihrer exaltierten Vorstellungskraft geboren war, hielt ihr Delirium für eine Inspiration der Natur. Ein Staatsmann wollte sie sein, und das Gesetz hat die Verschwörerin dafür bestraft, daß sie die Tugenden vergaß, die ihrem Geschlecht geziemen.«15 Politisch aktiven Frauen wurde also vorgeworfen, gegen ihre Natur zu verstoßen.
Dass man Frauen die Rednertribüne verwehren wollte, erlebten auch Pauline Léon und Claire Lacombe. Sie hatten erst im Mai 1793 die Société des républicaines révolutionnaires (›Gesellschaft der Revolutionären Republikanerinnen‹) gegründet und forderten im September, dass Frauen wie Männer verpflichtend eine Kokarde, d. h. eine blau-weiß-rote Rosette aus Papier oder Stoff als Symbol der Zustimmung zur Revolution, tragen sollten – auch als Zeichen für die politische Gleichberechtigung, die sie forderten. Daraufhin untersagte der Konvent am 21. September Frauen das Tragen der Kokarde. Ende Oktober 1793 wurden sämtliche Frauenorganisationen verboten. Wenige Tage, nachdem de Gouges das Schafott hatte besteigen müssen, wurde Madame Roland hingerichtet, die mit einer girondistischen Verschwörung in Verbindung gebracht wurde. Etta Palm d’Aelders konnte nach Holland entkommen. In der willfährigen Presse wurde die Hinrichtung der regimekritischen Frauen gefeiert. So jubelte der Moniteur: »In den letzten Tagen hat das ehrwürdige Tribunal révolutionnaire den Frauen eine ›großartige Lektion‹ erteilt, die sie hoffentlich nie vergessen: dass in rascher Folge Olympe de Gouges, Marie Antoinette und Madame Roland das Schafott besteigen mussten, sollte alle Frauen gelehrt haben, dass die Revolution auch Personen weiblichen Geschlechts nicht schont, wenn diese sich gegen die Revolution vergehen.«16
Politische Rechte oder gar das Wahlrecht konnten Frauen in der Revolution, in der sie so mutig mitgekämpft hatten, nicht erlangen. Frankreich blieb dabei kein Einzelfall.
Während die von de Gouges erklärten Frauenrechte in der Revolution kaum Wirkung entfalteten, wurde die nahezu zeitgleich verfasste Verteidigung der Rechte der Frau zum Bestseller. Von der Französischen Revolution hatte sich die Engländerin Mary Wollstonecraft (1759–1797) viel erhofft, was die Gleichberechtigung der Frauen betraf. Sie hatte als Schulleiterin und Gouvernante gearbeitet und publizierte 1787 ihre Thoughts on the Education of Daughters. Darin plädierte sie für eine Erziehung, die Kinder zum Fragen ermunterte und deren Interessen förderte. Ihr Verleger Joseph Johnson stellte sie als Lektorin und Übersetzerin an; sie schrieb zudem Buchbesprechungen für seine Analytical Review.
1790 verfasste sie als Entgegnung auf Edmund Burkes konservative Kritik an der Französischen Revolution die Vindication of the Rights of Men (Verteidigung der Rechte der Männer) und hielt ihm entgegen, dass Veränderung notwendig sei. 1792 folgte ihre Vindication of the Rights of Woman (Verteidigung der Rechte der Frau): »Die Vernunft verlangt, dass die Rechte der Frauen geachtet werden, und schreit um Gerechtigkeit für die Hälfte des Menschengeschlechts.«17 Aufbauend auf ihren früheren Schriften forderte Wollstonecraft die gleiche und gemeinsame Bildung für Mädchen und Jungen. Kinder sollten mit anderen Kindern zusammen sein, um soziale Kompetenzen zu erwerben und Freundschaften zu schließen. Ebenso wichtig war ihr ein wertschätzender Umgang mit Tieren, wobei sie allerdings Mütter kritisierte, die ihre Haustiere verhätschelten, statt sich um ihre Kinder zu kümmern. Wollstonecraft lehnte jede Form der Unterordnung in sozialen Beziehungen ab; Unabhängigkeit und Selbstbestimmung hatten für sie höchsten Stellenwert, dazu sei aber Bildung als Grundlage nötig. Sie ermutigte Frauen dazu, ihren Körper und Geist zu stärken sowie ihre Rechte einzufordern.
Wollstonecrafts Verteidigung der Rechte der Frau wurde noch 1792 ins Französische übersetzt. Sie selbst reiste Ende des Jahres nach Paris, um sich für ein neues Buch mit der Französischen Revolution zu befassen. Im Frühjahr 1793 traf sie auf den Amerikaner Gilbert Imlay und ging mit ihm eine Beziehung ein. Da aus England Stammenden in Frankreich aufgrund des Kriegszustandes zwischen den beiden Ländern die Verhaftung drohte, gab er sie als seine Ehefrau aus. Im Mai 1794 kam ihre Tochter Fanny auf die Welt, um die sie sich, wie sie Imlay schrieb, mehr als andere Mütter sorgte, wenn sie den abhängigen und unterdrückten Status des weiblichen Geschlechts bedachte.
Zurück in London, begann Imlay ein Verhältnis mit einer Schauspielerin; zutiefst erschüttert unternahm Wollstonecraft einen ersten Selbstmordversuch. Wenig später heiratete sie den Autor William Godwin, mit dem sie die Tochter Mary (die später unter ihrem Ehenamen Shelley als Autorin von Frankenstein berühmt wurde) bekam, jedoch starb sie 1797 nach deren Geburt.
Godwin wollte Wollstonecraft ein literarisches Denkmal setzen und veröffentlichte postum ihre Memoiren. Das war zwar gut gemeint, doch erfuhr die Öffentlichkeit daraus von ihren zwei Selbstmordversuchen, ihrer Beziehung mit Imlay samt unehelichem Kind und dass sie schon vor der Hochzeit mit Godwin schwanger geworden war. Das beschädigte ihren Ruf; statt als Philosophin geschätzt zu werden, stürzten sich ihre Kritiker auf ihren als lasterhaft beurteilten Lebenswandel.
Die Vindication of the Rights of Woman der berühmt-berüchtigten Protofeministin Wollstonecraft wurde ein internationaler Bestseller. Das Buch wurde (bevor Godwin die Memoiren veröffentlichte) überwältigend positiv aufgenommen und beeinflusste die Frauenrechtsbewegung in Europa wie den USA. Die US-Frauenrechtlerinnen Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton druckten die Schrift 1869 in ihrer Zeitung The Revolution ab.
Hat Stanton auch Olympe de Gouges’ Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte gekannt? Vermutlich nicht. Wollstonecrafts Werk hingegen zog sie zu Rate, als sie 1848 mit Elizabeth McClintock die Declaration of Sentiments verfasste. Die Declaration lehnte sich im Wortlaut eng an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 an: »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.«18
Stanton wandte die Technik Olympe de Gouges’ an und ersetzte einfach, aber wirkungsvoll men durch men and women. »Sage mir, wer hat dir [Mann] die souveräne Herrschaft verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?«19, hatte de Gouges gefragt. Die Autorinnen der 1848er Declaration schlugen in dieselbe Kerbe und listeten Fakten zur Unterdrückung der Frauen durch Männer auf. De Gouges hatte die Mitwirkung von Frauen an der Gesetzgebung gefordert, Stanton beklagte, dass der Mann die Frau Gesetzen unterworfen habe, an denen sie keine Mitwirkung hatte; er habe ihr Rechte vorenthalten … Rechte, die de Gouges bereits 1791 eingefordert hatte.
Die Declaration of Sentiments wurde im Rahmen einer Versammlung in Seneca Falls 1848 vorgestellt, bei der die Teilnehmenden darüber diskutierten, wie die Stellung der Frau zu verbessern wäre; dabei wurde – keineswegs unumstritten – die Forderung nach dem Frauenwahlrecht erhoben. Wie Olympe de Gouges konfrontierten Frauen die Männer mit der Frage, ob sie fähig seien, der vergessenen Hälfte der Menschheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Antwort ließ auf sich warten.
»Wenn der Mann der Herr ist, ist die Frau die Herrin«
Zu den aufmerksamen Leserinnen von Mary Wollstonecrafts Verteidigung der Rechte der Frau gehörte Abigail Adams (1744–1818). Das Buch sorgte innerhalb der Familie für Gesprächsstoff. Ihre Schwester Elizabeth bat Ende 1793, es sich bei erster Gelegenheit ausleihen zu dürfen, und ihr Ehemann John nannte seine Abigail im Januar 1794 neckend »Jüngerin von Woolstoncroft [sic]«; sie sei nicht so sehr »Jüngerin«, sondern »Schülerin von Woolsoncraft [sic]«1, korrigierte Abigail ihn.
Vor dem Hintergrund der Amerikanischen Revolution konnte (bzw. musste) Adams ihren Handlungsspielraum weit über die traditionelle weibliche Sphäre des häuslichen Bereichs ausdehnen. Die Patriotin wurde 1778 in ein Komitee berufen, das als Loyalistinnen (Anhängerinnen der britischen Krone) verdächtigte Frauen befragte; John nannte sie daraufhin »einen Politiker«2. Politisch handelte sie jedoch vorwiegend hinter den Kulissen, aus ihrer Position als Ehefrau und Mutter heraus. Ihr Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, das den damaligen Vorstellungen nach als »unweiblich« galt, rechtfertigte sie John gegenüber 1793 damit, dass die großen Weltereignisse sie nicht unberührt lassen könnten, da diese das Wohl und Glück der Kinder und der jungen Generation beträfen. Schon bevor sie die zweite First Lady (der Begriff wurde erst später geprägt) der noch jungen USA wurde, war sie über das politische Geschehen hervorragend informiert und in verschiedenen Funktionen – von der Beraterin zur PR-Managerin – weit mehr daran beteiligt, als man vermuten würde. Darüber hinaus steht sie heute – zu Recht? – im Ruf einer Protofeministin.
Abigail Smith wurde 1744 als Pfarrerstochter in Weymouth, Massachusetts, geboren. In ihrer Kindheit kränklich, wurde sie zu Hause unterrichtet und erhielt vermutlich eine bessere Bildung als der Durchschnitt. 1761 begann ihre Beziehung zum neun Jahre älteren Harvard-Absolventen und Rechtsanwalt John Adams. Ihre Eltern waren zwar der Meinung, dass sie eine bessere Partie machen könnte – vor allem ihre Mutter stufte seine Karrierechancen als gering ein –, aber Abigail setzte sich durch. Am 25. Oktober 1765 wurde Hochzeit gefeiert, und sie bezogen ein eigenes Haus in Baintree; achteinhalb Monate später wurde ihre Tochter Abigail (Nabby) geboren, 1767 folgte der Sohn John Quincy. Insgesamt hatten sie fünf Kinder, von denen vier überlebten.
1765 war nicht nur für Abigail und John ein besonderes Jahr, sondern auch für die US-amerikanische Geschichte. Im Vergleich zu den Briten in Großbritannien zahlte die Bevölkerung der 13 nordamerikanischen Kolonien so gut wie keine Steuern, was die Regierung in London korrigieren wollte; die nordamerikanischen Kolonien sollten selbst die Kosten für ihre Verwaltung und Verteidigung tragen. 1765 verabschiedete das Westminster-Parlament das Stempelsteuergesetz (Stamp Act). Offizielle Dokumente benötigten fortan einen staatlichen Stempel, was auch John Adams als Rechtsanwalt hart traf. Die Folge? Unruhen und Proteste vor allem in der Hafenstadt Boston. Die Stempelsteuer wurde im Jahr darauf zurückgenommen. Der Konflikt schweißte die 13 Kolonien enger zusammen, die Krise von 1765 war der Auftakt zur Revolution, und auch John Adams stieg in die Politik ein.
In London tüftelte man in den nächsten Jahren an neuen Mitteln, um an das Geld der Kolonisten zu kommen. Aus dem Fehler der Stamp Act hatte man gelernt und nannte die Abgaben auf Glas, Papier und Tee (Revenue Act) nicht mehr Steuern, sondern Zölle; von den Kolonisten wurden sie gleichwohl ›auswärtige Steuern‹ getauft und unter dem Motto »No Taxation without Representation« (›keine Besteuerung ohne politische Vertretung‹) zurückgewiesen. Zudem riefen sie zum Boykott britischer Waren auf; erste gewaltsame Zusammenstöße ließen nicht lange auf sich warten.
Bei der Boston Tea Party im Dezember 1773 warfen als Indigene verkleidete Kolonisten Teeladungen der Britischen Ostindien-Kompanie ins Meer. Die Fronten verhärteten sich. Im Jahr darauf wurde ein erster Kontinentalkongress nach Philadelphia einberufen, an dem John Adams teilnahm. Abigail und die Kinder blieben in Baintree zurück.
Wie die Männer wurden die Frauen durch die Ereignisse politisiert und setzten u. a. durch den Boykott britischer Waren – der Verzicht auf Tee fiel Abigail nicht leicht – ein politisches Statement. Noch sprach kaum jemand das Wort Unabhängigkeit aus. Selbst Radikale wie Thomas Jefferson und John Adams traten 1774 noch für eine Personalunion autonomer Königreiche von Großbritannien, Irland und Nordamerika ein. Erst seit den Gefechten von Lexington und Concord im April 1775 befanden sich die Kolonien endgültig im Zustand der Rebellion.
Abigail stand fest an der Seite ihres Mannes. Inspiriert von der römischen Geschichte, unterzeichnete sie Briefe mit dem Pseudonym Portia, der Frau des Brutus. Anfang Februar 1775 schrieb sie ihrer Freundin Mercy Otis Warren: »Wir können nicht glücklich sein, solange wir nicht frei sind.«3
In Philadelphia tagte ein zweiter Kontinentalkongress, der in den nächsten Jahren die Regierungsfunktion übernahm. Der Großpflanzer George Washington aus Virginia wurde zum Kommandanten der neuen Kontinentalarmee bestimmt. Das Anfang 1776 erschienene Pamphlet Common Sense (›Gesunder Menschenverstand‹) aus der Feder von Thomas Paine verstärkte die antimonarchistische Stoßrichtung der Revolution. John konnte dem Pamphlet nicht viel abgewinnen, er lehnte Paines moderne, egalitäre demokratische Ideen ab; Abigail hingegen fand, dass er die patriotische Sache stärke, zumal Paine König Georg III. heftig angriff und Amerika als Hort der Tugend und Aufklärung lobte. Die Delegierten des Kontinentalkongresses waren laut John noch uneinig: Ein Drittel war für die Unabhängigkeit von England, ein Drittel dagegen und der Rest unentschlossen.
Einzelne Kolonien beschlossen, sich neue Verfassungen zu geben; bis Ende Juni 1776 hatten zudem neun der 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit erklärt. Unter diesen Umständen blieb den Delegierten des Kontinentalkongresses nichts anderes übrig, als nachzuziehen. Thomas Jefferson erhielt den Auftrag, die Unabhängigkeitserklärung zu verfassen, die am 2. Juli einstimmig angenommen und am 4. Juli 1776 verkündet wurde.
Auf den Widerspruch zwischen dem Wortlaut der Verfassung, wonach alle Menschen gleich seien, und der Praxis der Sklaverei wies Abigail – obwohl selbst keineswegs frei von rassistischen Vorurteilen – John bereits in der Entwurfsphase hin. Denn wie weit konnte die Leidenschaft für Freiheit bei jenen gehen, die ihren Mitgeschöpfen die Freiheit nahmen?, fragte sie in ihrem bekanntesten Brief vom 31. März 1776.
Berühmt ist dieser Brief aber für ihre Formulierung »denk an die Damen« (»remember the ladies«). John hatte seine Frau über den Kontinentalkongress informiert, auf dem die Unabhängigkeitserklärung erarbeitet wurde. Abigail wusste, dass es eine Zeit des Umbruchs war, in der Zukunft gestaltet wurde. Das war die Chance, Nachbesserungen für das weibliche Geschlecht zu fordern. Inspiriert von der patriotischen Rhetorik ihrer Zeit – in der es um die Freiheit von Unterdrückung ging –, schrieb sie ihm: »Ich sehne mich danach zu hören, dass ihr eine Unabhängigkeit erklärt habt.«4 Und übrigens, fügte sie scheinbar beiläufig hinzu, würde sie sich bei der Erarbeitung des fälligen neuen Gesetzbuches wünschen, dass John Adams und seine Kollegen die Damen nicht vergessen, sondern sich diesen gegenüber großzügiger zeigen würden als seine Vorfahren.
Abigail und John lebten eine Partnerschaft, die von gegenseitiger Zuneigung und Respekt geprägt war, und sie genoss – auch revolutions- und kriegsbedingt – ein hohes Maß an Freiheit und Eigenständigkeit. Doch das entsprach nicht der Norm. Die Ehe bedeutete damals ein Abhängigkeitsverhältnis der Frau, die vor dem Gesetz als unmündig galt. Dem männlichen Familienoberhaupt wurde eine Macht eingeräumt, die leider oft missbraucht wurde, wie Abigail wusste. Deshalb warnte sie in ihrem Brief 1776 im Hinblick auf neue Gesetze davor, Ehemännern unbegrenzte Macht in die Hände zu legen, denn alle Männer – John natürlich ausgenommen, wie sie sich zu versichern beeilte – wären Tyrannen, wenn sie dürften. Im Überschwang ließ sie eine wohl nicht ganz ernst gemeinte Drohung mitschwingen: »Wenn ihr den Frauen nicht besondere Fürsorge und Aufmerksamkeit schenkt, sind wir entschlossen, eine Rebellion zu entfesseln, und werden uns nicht durch Gesetze zurückgehalten fühlen, in denen wir weder gehört noch gewürdigt werden.«5
Abigail Adams dachte vermutlich an häusliche Gewalt, als sie gesetzlichen Schutz für Frauen forderte. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten drängte sie auf Veränderung des gegenwärtigen Rechtszustandes, wobei ihr Mann, der Adressat ihres Briefes, ja nicht irgendwer, sondern ein hochrangiger Politiker war, der ihr Anliegen an der richtigen Stelle, nämlich auf dem Kontinentalkongress, zur Sprache hätte bringen können. Wenn er es gewollt hätte.
Sein Brief erreichte sie Mitte April, und er gab zu, dass er über ihre Bemerkungen zum Gesetzbuch nur lachen könne. In neckendem Tonfall wischte er ihre Bedenken mit der Behauptung beiseite, dass Männer ohnehin nur in der Theorie herrschen und eigentlich ja die Frauen die Welt regieren würden. Mit Humor versuchte er, seiner Ablehnung den Stachel zu nehmen; dennoch konnte Abigail in ihrer Antwort ihre Enttäuschung nicht verbergen:
Ich kann nicht finden, dass du den Damen gegenüber sonderlich großzügig bist; denn obwohl ihr Delegierten den Menschen aller Nationen Frieden und Wohlwollen verheißt, besteht ihr weiterhin auf der absoluten Herrschaft über Ehefrauen. Doch solltet ihr nicht vergessen, dass Willkür wie die meisten anderen schwer zu ertragenden Dinge leicht gebrochen werden kann; und trotz all eurer weisen Gesetze und Maximen steht es in unserer Macht, uns nicht nur zu befreien, sondern auch unsere Unterdrücker zu überwältigen und sowohl eure natürliche als auch eure rechtliche Autorität niederzuwerfen.6
Abhaken konnte und wollte Adams das Thema nicht so einfach. Sie berichtete Mercy Otis Warren von ihrem Schriftwechsel mit John und ließ anklingen, dass Frauen gemeinsam protestieren könnten. Wie ernst war es ihr mit dem Vorschlag, dass sich Warren einer Petition an den Kongress Adams anschließen könnte? Wollte sie sondieren, wie weit ihre Forderung Zustimmung und Rückhalt bei anderen Frauen fand? Was, wenn Warren darauf eingegangen wäre? Doch diese ignorierte ihre Bemerkung.
Anders verhielt es sich wenige Jahre später. Mitte April 1776 hatte John Abigail noch eine weitere Bitte abgeschlagen. Er weigerte sich, ihr eine Ausgabe von Chesterfields Briefe an seinen Sohn (Letters Written by the Late Right Honourable Philip Dormer Stanhope, Earl of Chesterfield, To His Son, Philipp Stanhope) zu schicken, denn das Buch sei »besudelt mit Freizügigkeit«7. Abigail musste sich fügen. (Sprich: Sie fand einen anderen Weg, an Chesterfields Werk zu kommen.) Im Winter 1780 hatte sie eine Ausgabe ergattert und war empört über Chesterfields abfällige Aussagen über das weibliche Geschlecht; seiner Meinung nach waren Frauen nichts als größere Kinder ohne Vernunft. Konnte man das unwidersprochen hinnehmen?, fragte sie Warren. In Hinblick auf Chesterfields Werk waren die beiden Freundinnen einer Meinung: Längst hatte die literarisch ambitionierte Warren eine harsche Erwiderung in Form eines Briefes an ihren Sohn verfasst. Adams überredete sie dazu, diesen an den Herausgeber des Independent Chronicle zu schicken. Der Essay wurde samt einem von Adams verfassten Vorwort veröffentlicht, wobei die beiden Frauen nicht namentlich in Erscheinung traten.
Das Thema Frauenrechte ließ Adams noch nicht los. Im Juni 1782 reflektierte sie in einem Brief an John den politischen Status der Frauen und fand Worte, die weit radikaler als ihr »denk an die Damen« von 1776 waren: Wie könne man von Frauen Patriotismus erwarten, wenn sie von Ehren und Ämtern ausgeschlossen seien und in der Gesetzgebung kein Mitspracherecht besäßen? Frauen hätten wie Männer für die Unabhängigkeit gekämpft; wo bleibe ihr Lohn? »Gerechtigkeit für die Hälfte des Menschengeschlechts« hatte bereits Mary Wollstonecraft verlangt; das konnte Adams unterschreiben.
Ihre Forderung nach politischer Mitbestimmung war keineswegs utopisch, sondern kam zu einem Zeitpunkt, zu dem Frauen in einem Bundesstaat bereits das Wahlrecht besaßen: in New Jersey. Wie erwähnt hatten sich die Einzelstaaten ab 1776 neue Verfassungen gegeben; was das Wahlrecht betraf, tanzte New Jersey aus der Reihe, indem es allen volljährigen Einwohnern mit einem gewissen Besitz das Wahlrecht gewährte. Später erwähnte Adams gegenüber ihrer Schwester, dass sie ihre Stimme abgegeben hätte, wenn es in Massachusetts eine ebenso fortschrittliche Verfassung gegeben hätte. Dabei übersah sie das Kleingedruckte: Anders als ledige Frauen und Witwen konnte sie als Ehefrau von Rechts wegen über keinen eigenen Besitz verfügen und damit auch in New Jersey nicht wählen.
Parallel zu Johns steiler politischer Karriere, die sie tatkräftig unterstützte, rückte ihr Einsatz für Frauenrechte in den nächsten Jahren in den Hintergrund. Mit der Unabhängigkeitserklärung war der Krieg erst richtig losgegangen, denn London hatte seine Kolonien nicht kampflos aufgegeben. 1777 verloren die Amerikaner ihre Hauptstadt Philadelphia an britische Truppen. Allein konnten sich die USA – zumal ohne Flotte – nicht behaupten. Adams war Teil einer Delegation, die 1778 nach Frankreich reiste und eine Militärallianz aushandelte. König Ludwig XVI. hatte die Amerikaner bereits zuvor mit Geld und Waffen unterstützt, jetzt griffen reguläre französische Truppen ein, was vor allem zur See entscheidend wurde. Spanien und die Niederlande schlossen sich ihnen an. Umso größer war der Schock aufseiten der Verbündeten, als die Amerikaner Ende 1782 ohne Rücksprache einen Sonderfrieden schlossen – den erkaufte sich London durch die Anerkennung der Unabhängigkeit sowie die Aufgabe der Westgebiete, so dass die USA (auf Kosten der indigenen Bevölkerung) nach Westen expandieren konnten. Dadurch stiegen die USA eigenmächtig aus der Kriegsallianz gegen England aus. Wie undankbar! Im Januar 1783 wurde Frieden geschlossen. Frankreich saß nun auf einem Schuldenberg, der nicht unwesentlich zum Ausbruch der Französischen Revolution beitrug.
Für Abigail begann mit dem Frieden ein neuer Lebensabschnitt. Wie so viele andere Frauen zu Kriegszeiten hatte sie als Alleinerziehende und Ernährerin der Familie funktionieren müssen. Die Knappheit vieler Güter und steigende Preise machten den Menschen zu schaffen. Abigail startete eine lukrative Karriere im Handel, und es erwies sich als Glücksfall, dass John 1778 als Diplomat nach Europa reiste. Er konnte ihr u. a. französische Luxus- und Haushaltsgüter schicken, die in den USA knapp und heißbegehrt waren. Kleine Accessoires wie Bänder und Federn erfreuten die Ladys und brachten den besten Profit, schrieb sie ihm im Dezember 1781. Tee und sogar Porzellan standen ebenfalls auf ihrer Wunschliste. Selbst wenn nur jede dritte Sendung durchkäme – die feindlichen Briten fingen auf See viele ab –, wäre es noch ein Geschäft. Konnte er die Lieferungen als Diplomatenkorrespondenz verschicken, fiel zudem das Porto weg. Damit konnte das Familieneinkommen aufgebessert werden, bis das Kriegsende 1783 ihr Importgeschäft zunichtemachte.
Dem englischen Common Law entsprechend verfügten Ehefrauen über keinen eigenen Besitz; selbst was sie erbten oder durch eigene Arbeit verdienten, stand unter der Kontrolle des Ehemannes. Abigail war aber der Meinung, dass das von ihr erwirtschaftete Geld zumindest teilweise ihr gehöre: »Geld, das ich meines nenne«8, schrieb sie einem Verwandten, der in ihrem Auftrag in Land und in staatliche Anleihen investierte, was John nicht immer guthieß. Sie lebte in ihrem Haushalt einen Grad an Emanzipation, den Frauen zu jener Zeit rechtlich noch nicht erreicht hatten. 1816 verfasste sie ein Testament, in dem sie ihren Besitz – darunter Bargeld – auf Verwandte aufteilte; John respektierte ihren Letzten Willen.
Nach dem Friedensschluss kehrte er nicht heim, sondern blieb als Diplomat in Europa. Er fehlte ihr. Abigail bezwang ihre Ängste vor der Überfahrt und reiste 1784 mit Tochter Nabby zu ihm. In Paris fühlte sie sich fremd, das französische Volk erschien ihr vergnügungssüchtig und der königliche Hof dekadent. Nach wenigen Monaten übersiedelten sie nach London, wo sie als Angehörige der ehemaligen Kolonien, die sich gerade die Unabhängigkeit erkämpft hatten, zwar am königlichen Hof empfangen wurden und in aristokratischen Kreisen verkehrten, aber auch auf viel Ablehnung stießen. Abigail ärgerte sich über abwertende Presseberichte. Doch bereiteten die Jahre als Diplomatengattin sie gut auf ihre nächste Aufgabe vor.
1788 kehrten sie in die Heimat zurück. Mittlerweile war die Verfassung verabschiedet worden. Während das Wahlrecht New Jerseys Frauen inkludiert hatte, wurde in allen anderen zwölf Staaten bestimmt, dass Wähler männlich sein mussten. Auch die US-Verfassung von 1787 legte sich darauf fest. In New Jersey wurde der ›Fehler‹ von 1776 im Jahr 1807 korrigiert und das Wahlrecht auf »freie, weiße, männliche Bürger«9 eingegrenzt.
Was die Stellung der Frauen betraf, erwies sich die Amerikanische Revolution als sehr konservativ. An die Vorstellung der getrennten Sphären für Frau und Mann anknüpfend, wurde das Konzept der »Republikanischen Mutterschaft« propagiert und die wichtige Rolle der Mütter als Erzieherinnen der Söhne betont. Das griff Adams auf, um zum Wohle der Republik bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen zu fordern: Wer wie John Helden, Staatsmänner und Philosophen haben wolle, müsse auch gebildete Frauen haben.
In Bezug auf Mädchenbildung gingen ihre Ansichten und die ihres Mannes allerdings auseinander: Abigail hatte ihre Tochter Nabby Latein und Griechisch lernen lassen, worüber sie John beiläufig informierte. Prompt antwortete er im April 1776, dass Nabby aufgrund ihres Geschlechts eine andere Bildung brauche als ihre Brüder und lieber Französisch lernen sollte. Adams hielt es aber mit der Historikerin Catherine Macaulay, die in der Erziehung den Schlüssel für die Emanzipation der Frau sah. Auch Mary Wollstonecraft hatte ja gleiche Bildung für Jungen und Mädchen gefordert.
Der charismatische Kriegsheld George Washington wurde zum ersten US-Präsidenten gewählt; Adams wurde sein Vize. Mit seinem Vorschlag, das Staatsoberhaupt als »Seine Exzellenz« oder »Seine Hoheit« anzureden, erntete Adams allerdings scharfe Kritik; er wurde beschuldigt, eine Monarchie in neuem Gewand anzustreben. Statt einen pompösen Titel zu erhalten, wurde der Präsident der USA einfach als Mr President angesprochen.
Abigail folgte John zuerst in die Hauptstadt New York, wenig später nach Philadelphia. Als Gattin des Vizepräsidenten musste sie zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen. In Martha Washingtons drawing rooms gebührte ihr der Platz zu ihrer Rechten; die beiden Frauen verstanden sich gut. Die von Frauen geführten Salons wurden wichtige Schnittpunkte zwischen Gesellschaft und Politik.
Nach zwei Amtsperioden hatte Washington genug. Im Januar 1796 ließ John Abigail vertraulich wissen: »Ich bin der rechtmäßige Erbe, weißt du.«10 In der Tat konnte er die Wahl im selben Jahr knapp für sich entscheiden; im März 1797 wurde er vereidigt. Wenige Tage später drängte er Abigail, die sich zu jener Zeit noch in Baintree aufhielt, zu ihm zu kommen: Er brauche ihren Rat und ihre Unterstützung mehr als je zuvor in seinem Leben. Die Französische Revolution war in den USA anfangs begeistert begrüßt worden. Vor allem Republikaner (Democratic Republicans – nicht mit den 1854 begründeten heutigen Republikanern zu verwechseln) wie Jefferson waren der Meinung, dass die Monarchie ausgedient habe und die Republik die Zukunft sei. Mit der Radikalisierung der Revolution, der Hinrichtung Ludwigs XVI. und der jakobinischen Schreckensherrschaft schlug die öffentliche Meinung aber um. Bei Abigail zeichnete sich unter dem Eindruck der Gewalt ebenfalls eine konservative Wende ab; sie fürchtete, dass die Menschen noch nicht reif für die Freiheit seien.
Als Präsident gelang es Adams, die USA ungeachtet des Allianzvertrages mit Frankreich von 1778, auf den man in Paris pochte, aus den europäischen Koalitionskriegen (1792–1815) herauszuhalten. Die Federalists (Föderalistische Partei), denen Adams angehörte, wollten zudem aus nationalem Interesse die wirtschaftlichen Beziehungen mit Großbritannien nicht gefährden. Jefferson beschimpfte den Vize- und späteren Präsidenten Adams als Tyrannendiener und Monarchisten, während Federalists die Gegenseite als blutrünstige Jakobiner bezeichneten. Abigail war nicht die Einzige, die der Einwanderung aus Europa zunehmend skeptisch gegenüberstand und das subversive Wirken französischer Geheimagenten fürchtete. Die um sich greifende Angst vor einem Bürgerkrieg erfasste auch sie, und während John an der Neutralität festhielt, befürwortete Abigail eine Kriegserklärung an Frankreich. In diesem Fall hörte John nicht auf sie.
Abigail war als Präsidentengattin Gastgeberin und Begleiterin bei gesellschaftlichen Anlässen, Assistentin und Beraterin. Die Macht der öffentlichen Meinung war ihr bewusst; sie reagierte empfindlich auf Angriffe der Presse und nahm Attacken auf ihren John persönlich. 1798 klagte sie über den Journalisten Benjamin Franklin Bache und andere, die den Präsidenten in ihren Zeitungen als »alt, missmutig, kahlköpfig, blind, verkrüppelt, zahnlos«11 bezeichneten; auch schlug ihr Misstrauen gegen ausländische Geheimagenten durch, die sie für feindselige Gerüchte verantwortlich machte. Heutige US-Präsidenten verfügen über einen ganzen Stab an PR-Leuten, damals übernahm Abigail die Öffentlichkeitsarbeit, wirkte auf die Presse ein und korrigierte aus ihrer Sicht falsche (oder unangenehme) Darstellungen. Wie? Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften – beispielsweise in ihrem Salon – sprach sie mit Meinungsführern, und sie wurde im Freundes- und Verwandtenkreis aktiv; so sandte sie ihrer Schwester Mary und ihrem Neffen William Cranch Informationen, die diese in den Zeitungen unterzubringen versuchten.
Mitte Juli 1798 begrüßte sie die vom Kongress verabschiedeten Alien and Sedition Acts (›Gesetze über Ausländer und Aufruhr‹), die die Immigration beschränkten und es ermöglichten, als gefährlich eingestufte Ausländer auszuweisen. Journalisten und Autoren, die gegen die Regierung gerichtete skandalträchtige oder boshafte Schriften verbreiteten (oder einfach nur ehrliche Kritik übten), wurden Geld- und Haftstrafen angedroht. Die Alien and Sedition Acts waren extrem unpopulär. Sie kosteten Adams viele Sympathien und vermutlich 1800 seine Wiederwahl. Neuer Präsident wurde sein Intimfeind Thomas Jefferson, und das Ehepaar Adams musste aus dem neuen President’s House in Washington, D. C., das später den Namen »Weißes Haus« erhalten sollte, ausziehen.
Ein Kritikpunkt, dem sich Adams wiederholt (und nicht grundlos) ausgesetzt sah, war seine Personalpolitik; genauer gesagt wurde ihm Nepotismus angelastet: 1797 bestellte er seinen Sohn John Quincy, der eigentlich für einen Posten in Lissabon vorgesehen war, überraschend zum bevollmächtigten Gesandten in Preußen. John Quincy war dafür zwar qualifiziert, äußerte aber Bedenken, dass Kritiker darin eine Bevorzugung durch den mächtigen Vater erkennen könnten. Abigails Neffe William Smith Shaw wiederum wurde nach seinem Abschluss in Harvard 1797 Johns Sekretär. Dessen Mutter Elizabeth wusste, wem sie zu danken hatte: dem Präsidenten und ihrer Schwester. Selbst den unliebsamen Ehemann seiner Tochter Nabby versorgte John etwas widerstrebend mit Posten. Wie stark war Abigails Einfluss dabei? Sie sah sich als eine Art Matriarchin und hielt es für selbstverständlich, Verwandte beruflich zu fördern.
Nach dem Rückzug ihres Mannes aus der Politik blieb diese ein wichtiger Bestandteil in Abigails Lebens: »Ich kann mich von der Politik nicht entwöhnen«12, schrieb sie 1810. Über die Medien und persönliche Netzwerke hielt sie sich auf dem Laufenden. Selbstverständlich mischte sie weiterhin tatkräftig mit; dabei überschüttete sie vor allem ihren Sohn John Quincy und ihre Schwiegertochter mit gut gemeinten (und keineswegs immer willkommenen) Ratschlägen.
Dieser ging als Botschafter ins weit entfernte Sankt Petersburg. Abigail scheute nicht davor zurück, hinter seinem Rücken dem damaligen Präsidenten James Madison persönlich zu schreiben und zu behaupten, dass der Sohn aus Russland abberufen zu werden wünschte. Sie war gewiss überzeugt, ihm und Louisa, die sich über die teuren Lebensbedingungen in Russland beklagt hatte, damit einen Gefallen zu tun und ihn vor dem Bankrott zu bewahren. Madisons Rücksprache mit John Quincy ergab jedoch, dass John Quincy gar nicht heimkommen wollte. Er blieb.
Wenn sie nicht gerade seine Essgewohnheiten und sein ihrer Meinung nach zu ungepflegtes Aussehen kritisierte, war Abigail für John Quincy eine wichtige Ressource. Sie informierte ihn durch ihre Briefe über politische Ereignisse und sandte ihm Zeitungsartikel. In politischen Angelegenheiten war sie sehr kompetent und konnte mit erfahrenen Staatsmännern mithalten. Den Einzug ihres Sohnes ins Weiße Haus 1825 erlebte die stolze Mutter nicht mehr mit. Sie starb 1818.
Welche Spuren sie in der Geschichte hinterließen, war John und Abigail nicht gleichgültig. Sie empfanden die von ihrer Freundin Mercy Otis Warren 1805 veröffentlichte Geschichte der Amerikanischen Revolution (History of the Rise, Progress and Termination of the American Revolution) als Schlag unter die Gürtellinie. Dabei hatten die beiden Warren dazu ermuntert und bereitwillig Dokumente zur Verfügung gestellt; umso größer war die Enttäuschung darüber, dass John darin sehr schlecht wegkam. Als einer der Gründerväter hätte er – nicht frei von Eitelkeit – mehr Anerkennung für seinen Beitrag erwartet. In seinem Ruhestand arbeitete John daher an seinen Memoiren, um seine Version der Geschichte kundzutun.
Abigail schrieb vor allem mit ihren (von späteren Feministinnen teilweise überbewerteten) Worten »denk auch an die Damen« Geschichte. Doch wie feministisch war sie wirklich? Zwar machte sich Adams ihr Leben lang Gedanken über die Stellung der Frau, doch ihre Haltung war komplex und widersprüchlich. Manche ihrer Positionen waren radikal und ihrer Zeit voraus (wie ihr Anspruch auf eigenes Geld), andere konservativ. Geprägt von ihrer Zeit, stellte sie die männliche Autorität nicht grundsätzlich in Frage, und sie war wie John von einer göttlich inspirierten Ordnung der Gesellschaft und Familienstruktur überzeugt. »Der allwissende Schöpfer erschuf die Frau als Gehilfin des Mannes«13, schrieb sie 1814 und folgte damit weitgehend dem bürgerlichen Konzept der getrennten Sphären: Den Frauen wurde der private Wirkungsbereich, also Haushalt und Kindererziehung (wobei Adams diese als wichtige Aufgabe, ja Arbeit einstufte), zugewiesen, während Männer in der Öffentlichkeit und Politik agierten.
Adams suchte den Austausch mit anderen gebildeten Frauen wie der oben genannten Mercy Otis Warren und der englischen Historikerin Catherine Macaulay, wobei in ihrem Schriftverkehr mit diesen und auch ihren Schwestern politische Themen nicht zu kurz kamen. Ihr Mann John freilich zeigte sich in seiner Haltung meinungsstarken und an Politik interessierten Frauen gegenüber ambivalent. 1775 lobte er in einem Brief an Abigail Dorothy Hancock, deren Mann John Hancock Präsident des Kontinentalkongresses war, für ihre Tugenden wie Bescheidenheit, Anstand, Würde und Diskretion. Auch schätzte er ihre Gewohnheit, nicht über Politik zu sprechen und in größerer gemischter Gesellschaft still zu sein, wie es sich für eine Lady gehöre. Einem solchen traditionellen Maßstab nach wäre Abigail wohl keine Lady – doch John selbst wollte gar keine stille Frau an seiner Seite. Er schätzte Abigail als intelligente Diskussionspartnerin und Beraterin, die er in politischen Dingen weit stärker ins Vertrauen zog, als gesellschaftlich allgemein anerkannt wurde. Das war beiden bewusst. Ihre Ratschläge milderte Abigail oft mit dem Hinweis ab, dass dies außerhalb ihrer Sphäre liege. »Ich darf dir kein Wort über Politik schreiben, weil du eine Frau bist«, schrieb John am 13. Februar 1779 aus Frankreich, um sofort mit einem Lachen hinzuzufügen, dass das eine Beleidigung sei und Abigail freilich ein Geheimnis genauso gut für sich behalten könne wie jeder Mann, »aber die Welt weiß das nicht«14. Sollte einer seiner Briefe mit sensiblem politischem Inhalt abgefangen und in den Zeitungen lanciert werden, würde es heißen, dass man ihm kein Geheimnis anvertrauen könnte.
Abigail Adams war sich bewusst, dass sie mit ihren Erwartungen ihrer Zeit voraus war. Das hatten ihr die Reaktionen Johns und Mercy Otis Warrens gezeigt. In einem Entwurf eines Briefes an ihre Nichte Lucy Cranch drückte sie 1787 die Hoffnung aus, dass Frauen bald »die Grenzen von Ankleideraum & Küche«15 hinter sich lassen könnten, auf die selbst einige eigentlich vernünftige Männer, die in dieser Hinsicht aber engstirnig seien, sie beschränken wollten. In der abgeschickten Fassung des Briefes fehlten diese mutigen Worte jedoch; sie beendete ihn mit Bemerkungen zu Modefragen.
Mehr als zehn Jahre später resümierte sie gegenüber ihrer Schwester Elizabeth:
Ich werde es nie gutheißen, dass unser Geschlecht als minderwertig gilt. Möge jeder Planet in seiner eigenen Umlaufbahn leuchten, wie Gott und die Natur es vorsahen. Wenn der Mann der Herr ist, ist die Frau die Herrin – dafür setze ich mich ein, und auch wenn keine Frau die Zügel des Staates in der Hand hält, sehe ich doch nicht ein, warum sie sich dazu nicht äußern können soll.16
»um Gewissen und Herzen wachzurütteln«
Heute ist es selbstverständlich, dass Frauen für die höchsten Staatsämter kandidieren. Bei Kamala Harris zeigte sich, dass es dabei kein Nachteil ist, als brat zu gelten; der Begriff lässt sich nur unzulänglich mit ›Göre‹ übersetzen. Laut und selbstbewusst aus der Rolle des braven, angepassten Mädchens zu fallen ist gerade in der jungen Generation durchaus positiv besetzt. Unkonventionell und selbstbestimmt war auch George Sand (1804–1876), die oft Männerkleidung trug und Zigarren rauchte. Weit über die Grenzen Frankreichs hinaus war sie für ihre Romane wie ihre Liebschaften berühmt-berüchtigt. Wer, wenn nicht sie, könnte eine gläserne Decke durchbrechen? Zu dieser Ansicht gelangten Pariser Feministinnen, die Sand in der revolutionären Aufbruchstimmung Anfang 1848 dazu drängten, für die Nationalversammlung zu kandidieren – und das zu einer Zeit, in der Frauen noch nicht einmal das aktive Wahlrecht zugestanden wurde. Das war Aktivismus pur und garantierte größte Medienaufmerksamkeit. Wie stand George Sand dazu?
›Geboren‹ wurde George Sand 1832. 1804 kam zunächst Amantine-Aurore-Lucile Dupin auf die Welt, die Tochter Maurice Dupins, der Offizier in Napoleons Armee war, und der Marketenderin Sophie-Victoire Delaborde. Die beiden waren schon länger zusammen gewesen, hatten bereits Kinder und heirateten knapp vor ihrer Geburt. Nach dem Tod des Vaters trat Aurores Mutter 1809 die Vormundschaft an ihre Schwiegermutter Marie-Aurore de Saxe, Madame Dupin de Francueil, ab, wofür sie eine kleine Rente erhielt; die kleine Aurore fühlte sich verkauft. Die Großmutter setzte auf eine strenge Erziehung, um zu verhindern, dass das Mädchen in die Fußstapfen von Sophie-Victoire trat, die sie für eine gefallene Frau hielt. Als 13-Jährige kam Aurore in das Kloster der Englischen Augustinnerinnen in Paris, doch holte die Großmutter sie zurück nach Nohant in der Provinz Berry, als sie den Wunsch äußerte, Nonne zu werden. Die Großmutter verstarb 1821, und Aurore, noch nicht volljährig und nun Alleinerbin, musste zu ihrer Mutter nach Paris ziehen.
Mutter und Tochter verstanden sich nicht. Sophie-Victoire konnte Aurores Wissensdurst nichts abgewinnen und fürchtete, sie würde als Blaustrumpf für potenzielle Ehemänner unattraktiv. Aurore begehrte auf: »Warum sollte eine Frau denn ungebildet sein? Kann sie denn nicht gebildet sein, ohne sich etwas darauf einzubilden und ohne besserwisserisch zu sein?«1 Es war vielleicht ein Akt der Rebellion, als sie sich 1822 in die Ehe mit Leutnant Casimir Dudevant stürzte. Das Paar zog nach Nohant, 1823 kam Sohn Maurice auf die Welt.
Betrachtet man ihr späteres Leben, verwundert die Bereitschaft der jungen Frau, sich in der Ehe dem Mann unterzuordnen, womit sie sich ganz im Rahmen der gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit bewegte: »Wenn zwei Menschen miteinander eine Ehe eingehen, so muß, glaube ich, einer von ihnen vollkommen auf sein eigenes Ich verzichten und nicht nur auf seinen Willen, sondern auch auf seine eigene Meinung«2, schrieb sie der Freundin Emilie des Wismes.
Aurore wurde in der Ehe nicht glücklich. Sie suchte Trost in Büchern und begann, sich für Politik und Gesellschaft zu interessieren – und beides kritisch zu hinterfragen. In den Essais von Michel de Montaigne stieß sie auf frauenverachtende Aussagen über eine angebliche geistige Minderwertigkeit der Frau, die ihren Widerspruchsgeist weckten: »Die Unfähigkeit und Leichtfertigkeit, die ihr uns vorwerft, sind ja nur die Folge jener miserablen Erziehung, zu der ihr uns verurteilt habt.«3
Ihr ganzes Leben lang sollte sie (vergebens) nach Perfektion in der Liebe suchen, die sie bei keinem Mann finden konnte. Aurore ließ sich auf außereheliche Affären ein, so kam etwa ihre Tochter Solange zur Welt.
1830 begrüßte sie die Julirevolution. Im selben Jahr lernte sie den 19-jährigen Jurastudenten Jules Sandeau kennen. Dass ihre Ehe am Ende war, entdeckte sie spätestens im November, als sie in Dudevants Sekretär ein an sie adressiertes Päckchen fand, das laut Vermerk erst nach seinem Tod geöffnet werden durfte. Darauf wartete sie nicht und entdeckte sein Testament, das lauter bitterböse Verwünschungen enthielt.
Das Paar trennte sich, und Aurore zog Anfang Januar 1831 nach Paris. An der Seite Sandeaus erlebte sie eine neue Freiheit, zumal das Tragen von Männerkleidung ihr eine gewisse Anonymität verlieh; so konnte sie sich in der Großstadt ungehindert bewegen und im Theater günstigere Karten für das Parkett kaufen. Später behauptete sie, die Anregung dazu sei von ihrer Mutter gekommen. Zusammen mit Sandeau wurde sie literarisch tätig; sie schrieben Kurzgeschichten für Zeitungen wie den Figaro, dessen Herausgeber Henri Delatouche sie unter seine Fittiche nahm und ihnen riet, die gemeinsamen Texte als J. S. oder J. Sand zu unterzeichnen. Es war eine kurze, intensive Lehrzeit, in der sie von Delatouche herumkommandiert wurden, wie sie im März 1831 dem Tutor ihres Sohnes Maurice mitteilte: Sie mussten schreiben, was er wollte, denn es war sein Geschäft. Ende 1831 erschien der erste gemeinsame Roman Rose et Blanche.
Den nächsten Roman Indiana – dessen weibliche Hauptfigur rebellierte gegen die bürgerliche Ehe, in der die Frau zum Besitz des Mannes wurde – verfasste sie allein. Doch unter welchem Namen? Sand klang gut. Dazu wählte sie George, obwohl es keineswegs üblich war, dass Literatinnen männliche Pseudonyme annahmen. So wurde 1832 George Sand geboren. Noch im selben Jahr legte sie ihren zweiten Roman Valentine vor. Diese ersten Werke brachten ihr den Vorwurf der Ehefeindlichkeit ein – durchaus nachvollziehbar, wenn man in Valentine liest: »Unwürdige Tyrannei des Mannes über die Frau! Ehe, Gesellschaft, Institutionen, euch gilt mein Hass, mein tödlicher Hass!«4 In Lélia ging es – wie skandalös! – um sexuelle weibliche Frustration. Auffallend ist, dass die Motive ihrer Romane ehe- und familienfreundlicher wurden, nachdem sie 1836 die gerichtliche Trennung von Dudevant durchgesetzt hatte.
Auf rund 180 Bände sollte ihr Gesamtwerk anwachsen. Sand stand Vielschreibern wie Victor Hugo und Honoré de Balzac in nichts nach. Dahinter steckte ein ungeheurer Fleiß und Disziplin – sowie der Verzicht auf Schlaf, wenn Abgabefristen nahe rückten: »Ich versuche immer, mich mit Hilfe von Kaffee und Zigaretten wachzuhalten, damit ich gegen drei Uhr morgens mein Pensum geschafft habe und die wenigen Briefe, die mir am Herzen liegen, noch schreiben kann. Ich glaube, der Kaffee wirkt inzwischen wie Opium, und der Tabak macht mich unempfindlich«5, schrieb sie im August 1841. Ihren männlichen Kollegen stand sie auch in puncto Bezahlung in nichts nach, was außergewöhnlich war. Ihr Einkommen aus dem Schreiben verschaffte ihr zusammen mit ihrer Erbschaft jene ökonomische Unabhängigkeit, die ihr ein selbstbestimmtes Leben ermöglichte.
Von Sandeau hatte sie sich 1833 getrennt. Es folgten längere Beziehungen u. a. mit dem Dichter Alfred de Musset und dem Komponisten Frédéric Chopin. Interessanter ist jedoch ihr politisches Bewusstsein und Handeln. Mit ihren Romanen wollte sie auf die öffentliche Meinung einwirken, »Zeichen […] setzen, um Gewissen und Herzen wachzurütteln«6 – ein Zugang zum Schreiben, der sie mit u. a. Louise Otto-Peters und Bertha von Suttner verbindet. In ihren Werken rückte die soziale Frage in den Vordergrund. Die Industrialisierung und die damit einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt führten damals auf dem europäischen Festland zu einer Massenarmut (Pauperismus). Die Situation wurde ab 1845 noch deutlich verschärft, als aus Amerika die Kartoffelfäule eingeschleppt wurde. Die folgende Agrarkrise ließ die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen und ging fließend in eine Wirtschaftskrise über, wobei die Krisen zum Ausbruch der Revolution von 1848 beitrugen.
Die Massenarmut löste noch im Vormärz soziale Proteste und Aufstände wie jenen der Seidenweber in Lyon 1834 aus. Den Prozess gegen diese im Jahr darauf verfolgte George Sand in Männerkleidung und lernte dabei deren Verteidiger kennen, radikale Demokraten bzw. Republikaner wie den Oppositionsführer Alexandre Ledru-Rollin und Louis Michel (Michel de Bourges). Michel wurde ihr Liebhaber und bestärkte sie in ihrer politischen Haltung; allerdings teilte sie seine Ansicht nicht, dass der bestehenden sozialen Ungleichheit nur mit Gewalt ein blutiges Ende gesetzt werden könnte.
Hatte sich Sand bereits als Republikanerin bezeichnet, näherte sie sich nun den Sozialisten an. 1835 traf sie Abbé Hugues Félicité de Lamennais, der Volkssouveränität sowie Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit forderte. Sand schrieb Beiträge für seine Zeitschriften, doch ihre Forderungen nach weiblicher Selbstbestimmung und der Möglichkeit der Scheidung gingen dem Priester zu weit.
Ihre Sympathien für die Revolution von 1830 störten wiederum ihren Verleger François Buloz, der sie 1832 mit einem Knebelvertrag an sich gebunden hatte, beim Lesen ihres neuen Manuskripts Horace