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Es ist das Jahr 1990. Robin ist 11 Jahre alt und lebt in Nordirland. Die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten erlebt er hautnah mit, wenn sich seine protestantische Mutter mit seinem katholischen Vater streitet. Oder wenn in seiner Schule der Hass auf die anderen geschürt wird. Oder wenn er an bunten Bordsteinen vorbeigeht, die zum Zeichen der Trennung in den Farben der irischen Flagge oder des Union Jacks bemalt sind. Er versteht das alles nicht. Warum gibt es so viel Streit? Und warum verlässt sein Vater sogar die Familie? Findet Gott das etwa gut? Antworten auf alle seine Fragen findet er unverhofft in der Begegnung mit einer alten Nonne, einem Polizisten und einem kleinen Vogel. Und dann ist da noch das sommersprossige Mädchen Siobhan, das so anders ist, als die anderen Menschen um ihn...
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Seitenzahl: 254
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„Wenn du anfängst, die Kinder zu töten, fügst du einem Land die tiefsten Wunden zu.“
Emma Groves (1920–2007)
Die Mutter von elf Kindern wurde am 4. November 1971 von einem Gummigeschoss im Gesicht getroffen und erblindete daraufhin. Sie gründete die United Campaign Against Plastic Bullets. Die meisten Todesopfer von Gummi- und Plastikgeschossen in Nordirland sind Kinder im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren.
In Erinnerung an Margaret Doreen Mitchell, „meine“ nordirische Granny(1928–2008)
Sie kannte keine Grenzen, nicht zwischen den Konfessionen und nicht im eigenen Herzen.
In Liebe. Und Dankbarkeit.
Die Geschichte, die gleich folgt und im zweiten Kapitel beginnt, würde es nicht geben, wenn ich nicht einmal – und das ist lange her – in Nordirland gelebt hätte.
Damals traf ich Robin.
Robin ist ein englischer Name. Er bedeutet Rotkehlchen.
Ich saß in einem der Teestübchen, von denen ganz Portamena übersät war, und trank meinen Assam mit Milch. Überall im Vereinigten Königreich kippte man Milch in den Tee. Auch die Iren in der Republik Irland machten das nicht anders.
Das winzige Glöckchen über der Tür klingelte. Ich blickte von meinem Buch auf, denn ich lese immer und überall gern, und sah in die schokoladenbraunen Augen eines schmalen Jungen.
Es war meine erste Begegnung mit Robin.
Als würde er mich kennen, lief Robin zielstrebig zu meinem Tisch und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Mit seiner spitzen Nase und den geröteten Wangen erinnerte er mich tatsächlich an ein Rotkehlchen.
„Was liest du?“, wollte er wissen.
Mein Buch handelte von Freundschaft, aber auch von Verlust und traurigen Kindheiten. Dinge, die ich zu ernst und zu schwer fand für ein Kind, auch wenn ich den Jungen, der mir auf dem Stuhl gegenübersaß und mich erwartungsvoll ansah, auf elf, höchstens zwölf Jahre schätzte.
„Das ist nichts für dich“, erklärte ich und wedelte unwirsch mit der Hand.
Robin sagte nichts.
„Die Kinder in diesem Buch prügeln sich!“, sagte ich.
Das stimmte wirklich. Und es floss Blut! Robin sah mich an. Ich merkte, wie ich unruhig wurde. Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal. „Einige Kinder sind schrecklich traurig. Sie weinen.“
„Das kenne ich“, sagte Robin, „manchmal tut es selbst danach noch weh.“
Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Sieh mal ...“, sagte ich.
„Doch!“ Robin nickte heftig. „Der Kummer packt dich am Genick und schüttelt und rüttelt dich hin und her.“
Der Satz kam mir vertraut vor. Woher kannte ich ihn? Plötzlich fiel es mir ein. So ähnlich stand er in dem Buch, das ich gerade las. Das Buch hieß „Das fliegende Klassenzimmer“, geschrieben hatte es Erich Kästner, und um ehrlich zu sein, war es ein Kinderbuch.
Ich sah Robin an. In seinen Augen schimmerte eine dunkle Tiefe. Mir schwindelte.
„Also gut“, sagte ich.
Ich klappte mein Buch zu. Dann bestellte ich Robin einen Blaubeermuffin und einen Tee, und während ich zusah, wie er sich Milch in die Tasse kippte und Zucker obendrein, erzählte er mir seine Geschichte.
Lustig ist sie nicht, das gebe ich zu, und es kommen in der Tat Pistolenkugeln und Bomben darin vor. Aber sie erzählt auch von Freundschaft und dem Wunsch nach Frieden, von vielen Farben und Robin mittendrin.
Willst du sie wissen? Hier ist sie!
Alles war wie immer in Nordirland im Jahr 1990. Der Wind wehte sacht aus Nordwest wie sonst auch im November morgens um acht. Nieselregen verhüllte die Bürgersteige, die Dächer und Straßen. Und doch ragten jetzt die Wehrgänge einer mittelalterlichen Ritterburg vor Robins erstaunten Augen auf. Sogar ein Bergfried reckte sich, gleich einer geballten Faust, in den dämmerungsgrauen Himmel.
Robin O’Kane, elf Jahre alt und auf dem Weg zur Schule, blieb ruckartig und wie angenagelt stehen.
Cathal1, schlaftrunken noch, rumste gegen Robins Rücken. „Autsch, pass doch auf, Mann!“ Cathal rieb sich die Nase.
Was dort auf der anderen Straßenseite zwischen dunstigen Regenschleiern auftauchte, war keine mittelalterliche Ritterburg, sondern die Königliche Polizeiwache von Portamena. Stacheldraht umwickelte die Mauerspitzen wie Schlingpflanzen. Puffer riegelten den Gehweg ab. Dieser Anblick war kein Grund stehen zu bleiben. Im Gegenteil.
„Hey, Mann, siehst du Engel tanzen?“ Cathal zurrte an Robins Dufflecoat. „Lass uns weitergehen!“
Aus dem Dunkel der Mauer drüben löste sich die kantige Gestalt eines Mannes. Robin erkannte die kugelsichere Weste über der Uniform. Eine Walther PP2 und Hiatt-Handschellen3 baumelten am Ledergürtel. Klock-klack-klock schlug ein Schlagstock gegen die grüne Hose des Polizisten. Dunkelgrün. Heckenschützengrün.
Die mittelalterliche Ritterburg zerplatzte wie Seifenblasen im Wind. Robin rannte los.
„Hey, Mann!“, schrie Cathal. „Warte auf mich!”
Aus den Augenwinkeln erkannte Robin, wie der Polizist in den Schatten der Mauer zurückglitt und seinen Wachgang fortsetzte: fünfzig Schritte in die eine Richtung, fünfzig zurück.
Trottel, beschimpfte sich Robin selbst. Aus dem Schlitz im Turm schossen keine Pfeile. Dort kauerte allenfalls ein Polizist und folgte ihnen mit dem Lauf seines Gewehrs. Und selbst wenn er nur Plastikkugeln geladen hatte, konnte ein Treffer durchaus lästig sein.
Zwar behaupteten die Soldaten, die mit ihren gepanzerten Wagen durch die Stadt rollten, während sie ihre Maschinengewehre auf die Leute richteten, dass ein Treffer nicht wehtue. Aber das stimmte nicht. Nicht immer jedenfalls.
Erst gestern hatten Mum und Big Chief von Klein-Stevie erzählt, dem ein Plastikgeschoss das Gehirn weggepustet hatte.
„Hey, Mann!“ Cathal schloss keuchend neben Robin auf. „Was war denn los?“
Einen Augenblick lang überlegte Robin, ob er Cathal von seiner Erscheinung erzählen sollte. Dann entschied er sich dagegen. Denn wie hätte er es ihm erklären sollen? In seinem Kopf wuselten die Gedanken durcheinander wie ein Hamster im Laufrad. Immer im Kreis. Immer rundherum. Außerdem betraten sie jetzt das Viertel der Anderen – und das zerknäulte Robins Hirn nur noch mehr.
Wo der Regen über Nacht die Bordsteine abgewaschen hatte, glitzerten sie unter den letzten Tropfen in Rot und Weiß und Blau. Klackernd flatterte die Flagge des Union Jack4 in eben diesen Farben über den Schieferdächern, die hier wie dort gleich grau glänzten. Mit ungelenken Buchstaben hatte jemand „No surrender“ – „Wir ergeben uns nicht“ – auf eine Backsteinwand gesprüht.5
Es ist nicht zu übersehen, dass hier Protestanten wohnen, dachte Robin, und sofort dachte er auch an die Messe vom vergangenen Sonntag. Vater Faughan hatte aus der Bergpredigt vorgelesen: Gott, der allmächtige Herr, lässt die Sonne scheinen über Gut und Böse. Und auch der Regen fällt – hier wie dort – auf dasselbe Land.
Gott, der Herr, macht jedenfalls keine Unterschiede.
Aber die Menschen machen sehr wohl Unterschiede, dachte Robin. Sie pinseln ihre Bordsteine rot und weiß und blau und manchmal auch orange. Sie pinseln sie grün. Sie schwenken die Fahne des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland. Sie schwenken die Fahne der Republik Irland.
Robin fand, dass es ziemlich schwer war, Protestanten und Katholiken nicht voneinander zu unterscheiden, wenn man in einem Land wie dem seinen lebte.
Eigentlich sind wir selbst schuld an dem ganzen Durcheinander. Wir könnten das Fahnenschwenken doch bleiben lassen. Und das Bordsteinanpinseln obendrein.
Es war eine Erkenntnis, die Robin durchzuckte, wie wenn jemand in einem dunklen Raum das Licht anknipste. Niemals zuvor hatte er je solch einen Gedanken gedacht, und doch kam er derart leichtfüßig angesprungen, als hätte er immer schon darauf gewartet, dass Robin ihn in seinen Kopf einließe.
Robin hatte Cathal völlig vergessen.
Das war nicht weiter schlimm. Sie standen ohnehin längst unter dem schmiedeeisernen Tor, das zum Hof ihrer Schule Zu Unserer Lieben Frau führte, und Cathal sprang, ohne sich noch einmal umzudrehen, voraus, wo er sogleich von einer Schar sommersprossiger Jungen verschluckt wurde.
Robin sah zum Tor hinauf. Er legte den Kopf in den Nacken, die Arme baumelten lang an den braunen Hosenbeinen. Langsam, Wort für Wort, las er, was über ihm auf einer blanken Messingtafel geschrieben stand in Buchstaben, die strammstanden, als wären sie Zinnsoldaten: „Ad maiorem dei gloria“.
Dei war lateinisch. So viel wusste Robin, schließlich lernte er seit diesem Schuljahr Latein. Dei bedeutete Gott.
Gott war also ein Major, eine Art Oberbefehlshaber. Man musste ihm gehorchen und zu Diensten stehen. Allezeit. Am besten ohne nachzufragen.
Aber völlig sicher, ob seine Übersetzung stimmte, war sich Robin nicht.
1 Robin und sein Freund Cathal leben in Nordirland. Deshalb tragen manche Kinder, die in diesem Buch vorkommen, irische Namen, die oft völlig anders klingen, als du es womöglich vermutest. Wie ihre Namen ausgesprochen werden, erfährst du hinten im Buch im Glossar: eine Liste mit Wörtern, bei denen dir eine Erklärung vielleicht weiterhilft.
2 Eine Walther PP ist eine Selbstladepistole deutscher Herstellung. PP steht für Polizeipistole.
3 Die Firma Hiatt aus Birmingham in England fertigte bis ins Jahr 2008 für fast alle Polizeistationen im Vereinigten Königreich Handschellen an.
4 Der Union Jack ist die Nationalflagge des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland.
5 Solche Graffitis gibt es viele in Nordirland, besonders in den Vierteln, in denen überwiegend Protestanten oder Katholiken wohnen.
Vater Duncan war ein großer Mann. Wobei groß ein zu kleines Wort war für seinen gewaltigen Körperumfang. Wuchtig und schwer wogte sein Bauch vor ihm her, wenn er durch die Stuhlreihen im Klassenzimmer wandelte. Wuchtig und schwer ruhte auch das Brevier der goldenen Gebete in Vater Duncans Hand. Und mit einer Stimme, die wie ein Bierfass schepperte, wenn man es durch eine Gasse mit Pflastersteinen rollte, begann er das Morgenzeremoniell, das sich jeden Tag aufs Neue wiederholte.
Wie auch die Sonne jeden Tag aufs Neue aufging. So würde es Vater Duncan erklären, würde ihn jemand danach fragen. Aber es fragte ihn niemand danach.
Unhinterfragt begann der Tag wie eh und je mit einem Gebet: „Gesegnet seist du, Jungfrau Maria, und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes Jesus. AMEN!“
Vater Duncans Amen dröhnte, als wäre es ein Donnerschlag, und die sechsundzwanzig Jungen, die allesamt in den gleichen braunen Hosen mit den gleichen weißen Hemden mit den gleichen grünen Pullovern im gleichen V-Ausschnitt darüber und den gleichen grün-schwarz gestreiften Krawatten darunter steckten, antworteten schlagartig und wie aus einer Kehle: „Amen!“
„Wo waren wir stehen geblieben?“ Vater Duncan hob beide Arme in die Luft, als erflehte er Hilfe von oben und gab sich die Antwort gleich selbst: „Natürlich bei Geschichte. Bei unserer Geschichte. 1690. Die Schlacht am Fluss Boyne.“
Und er erinnerte die Jungen noch einmal daran. In jener Schlacht hatte Wilhelm von Oranien, der miese Verräter, den einzig wahren, katholischen König Jakob den Zweiten besiegt, ja, ihn vernichtend geschlagen, was überaus bedauerlich, aber leider, leider nun mal eine geschichtliche Tatsache war.
„Und seitdem steht es schlecht um uns“, sagte Vater Duncan und er wiegte den Kopf bedächtig hin und her, als müsste er über seine eigenen Worte und das damit verbundene schwere Schicksal nachdenken.
Die Buben nickten und lauschten betrübt, wie Vater Duncan weiter von jenem folgenschweren Tag erzählte, an dem der protestantische König Wilhelm der Dritte, auch König Wilhelm von Oranien oder König Billy genannt, auf einem weißen Pferd gegen Jakob, den einzig wahren, da katholischen König, angestürmt war und ganz Nordirland ins Verderben gestürzt hatte, mit einem einzigen vernichtenden Schlag – ach, gütiger Gott, erbarme dich unser!
„Schreibt es auf!“, befahl Vater Duncan. „Die Schlacht am Fluss Boyne. Nordirland im Jahr 1690.“
Die Jungen beugten sich über ihre Hefte und schrieben es auf. Vater Duncan schlenderte durch die Stuhlreihen und warf hie und da einen prüfenden Blick über die Jungenschultern. Bis er zu Cathal kam.
„Aber nicht doch, Cathal“, rief Vater Duncan empört, „du hast Nordirland mit zwei R nach dem I geschrieben! Als wäre es ein Irrtum. Aber das ist es doch nicht, ganz sicher nicht. Wie kommst du nur darauf?“
Und während Cathal eines der beiden R nach dem I aus seinem Nordirrland tilgte, setzte Vater Duncan seinen Vortrag fort über ein Land, das wunderbar und einstmals fast nur katholisch gewesen war, bis zu jener verhängnisvollen Schlacht, die schon so viele Jahre zurücklag, dass Robin sich nicht vorstellen konnte, wie viele Jahre das waren. Niemand, den er kannte, war jemals derart alt geworden. Bäume wurden vielleicht so alt, aber Menschen sicher nicht.
Und trotzdem vergessen die Menschen nichts, auch wenn es dreihundert Jahre zurückliegt.
Vater Duncan schritt durch die Stuhlreihen, und das handgroße Kreuz, das an einer goldenen Kette um seinen Hals baumelte, schaukelte bei jedem seiner Schritte hin und her, und der Herr Jesus, der nur mit einem schmalen Lendenschurz bekleidet an dem Kreuz festhing, schaukelte mit. Hin und her, und her und hin.
Robin vergaß, auf Vater Duncans Worte zu achten und sah dem Herrn Jesus beim Schaukeln zu. Bis plötzlich jemand hinter ihm zischte: „Hey, Mann, wach auf! Wo steckst du heute bloß mit deinen Gedanken?“
Cathals Warnung kam gerade rechtzeitig. Vater Duncan war vor Robins Pult stehen geblieben und hatte eine schwere Hand, die eher einer Pranke glich, daraufgelegt. Nun beugte er sich vor, sodass der Herr Jesus genau an Robins Nase vorbeischwang.
Wieder dachte Robin an die Predigt vom vergangenen Sonntag. Gott lasse die Sonne scheinen über Gut und Böse, hatte Vater Faughan behauptet, wie er es auch regnen lasse über Gut und Böse. Deshalb regnete es gewiss auch über Protestanten und Katholiken. Und bestimmt hatte es auch über Wilhelm von Oranien und Jakob den Zweiten geregnet. Das erschien Robin sogar höchst wahrscheinlich, weil es ziemlich oft regnete in Nordirland. Eigentlich regnete es fast die ganze Zeit. Der Himmel scherte sich offenbar wenig um Grenzen und Mauern.
Nur haben sie das wohl nicht begriffen damals, als die feindlichen Heere aufeinander zustürmten vor dreihundert Jahren am Fluss Boyne, lange ist es her.
Lieber Herr Jesus, dachte Robin, als der Herr Jesus erneut an seiner Nase vorbeischwang. Leider verstehe ich das ganze Durcheinander nicht. Ob du es mir wohl bitte einmal erklären könntest? Oder du fragst deinen Vater, falls du es auch nicht weißt, ob er es mir erklärt?
„Deshalb mögen wir kein Orange, denn es ist die Farbe von Wilhelm von Oranien, diesem Schuft“, sagte Vater Duncan und er richtete sich wieder auf. „Und wir mögen es auch deshalb nicht, weil bis heute manche Protestanten am Jahrestag der Schlacht orange gekleidet durch unsere katholischen Straßen laufen, während sie auf ihre Trommeln hauen – bumm, bumm, bumm –, als wären sie kleine Jungs. Kleiner noch als ihr, ha! Und dabei schwenken sie die Fahne, die der Königin von England gehört. Als besäßen wir keine eigenen und besseren Fahnen, tzzz!“
Vater Duncan nahm die Hand von Robins Pult. Die Hand hinterließ einen feuchten Abdruck, der sich langsam auflöste, bis nur noch die Tischplatte übrig blieb.
Es ist wie heute Morgen, dachte Robin erstaunt, während er gebannt zusah. Eine Erscheinung wie bei der Ritterburg, die keine Ritterburg, sondern eine Polizeiwache war. Eine stark bewachte Polizeiwache, um genau zu sein, weil die Polizeiwachen, die in Nordirland die Menschen beschützen sollten, in Nordirland selbst beschützt werden mussten.
„Nun, Robin“, fragte Vater Duncan, „warum mögen wir kein Orange?“
„Weil Wilhelm von Oranien ein Schuft ist, Vater Duncan“, sagte Robin schlagartig, als hätte er Vater Duncans Worte mit einem Aufnahmegerät aufgenommen und würde jetzt den Text abspulen, „deshalb mögen wir kein Orange!“
Aber insgeheim dachte er, dass er bislang noch nicht viel über Farben nachgedacht hatte und dass es vielleicht Zeit war, genau dies einmal zu tun. Wenn er jedoch ein bisschen mutiger gewesen wäre, hätte er eigentlich jetzt schon sagen können, dass er Orange gar nicht mal so grässlich fand, er fand es nämlich durchaus schön. Gab es nicht auch Blumen, die orange blühten, und Tiere, die orange gefärbt waren?
„Nein, wir mögen Orange nicht!“, rief Cathal quer durchs Klassenzimmer.
Quer-durchs-Klassenzimmer-Rufen war nicht erwünscht in der Schule Zu Unserer Lieben Frau, im Gegenteil, es war sogar aufs Strengste untersagt. Denn wenn jeder einfach jederzeit rufen würde, was ihm gerade durch den Kopf trudelte, was gäbe das erst für ein Durcheinander? Vater Duncan aber sagte nichts, er lächelte nur.
Auch Robin sagte nichts, jedenfalls verriet er nicht, dass ihm Orange ausgesprochen gut gefiel. Man musste nicht immer alles sagen, was man dachte. Vielleicht war es mitunter klüger, man blieb still.
Still ging es daheim allerdings nicht zu. Schon als Robin vor der Haustür stand, prasselten ihm die erregten Stimmen seiner Eltern entgegen wie Hagelkörner im Sommer.
„Und es bleibt dabei“, sagte Robins Mutter gerade sehr entschieden, „ich male unsere Bordsteine NICHT an!“
Sonst tönte Mums Stimme hell und glockenklar, aber jetzt schrillte sie wie eine Sirene. „So weit kommt es noch, dass ich mich zu so einem Irrsinn hinreißen lasse.“ Und sie sagte „Irrsinn“ sehr, sehr laut und sehr betont. „Und du solltest endlich aufhören, es von mir zu verlangen!“
Leise schloss Robin die Tür auf; seine Eltern bemerkten ihn nicht.
„Nimm doch Vernunft an, Alison!“ Das war Big Chiefs Stimme, dunkel wie ein Güterzug, der in der Ferne dahinrollte. Meistens sprach Big Chief langsam, als müsste er über jedes seiner Worte einzeln nachdenken. Aber jetzt überschlug sich seine Stimme fast, so hastig sprach er. „Jeder hier malt seine Bordsteine an, Alison. Und wir sollten es auch tun. Damit alle sehen, dass wir dazugehören. Verstehst du? Das macht man nun mal so, wenn man in einer Gemeinschaft lebt. Man verständigt sich.“
„Gar nichts mache ich!“, rief Mum. „Und auf so eine Gemeinschaft pfeife ich sowieso!“
Robin linste um die Ecke. Seine Eltern standen in der Küche. Sein Vater krallte die Hände um den kleinen wackeligen Esstisch, seine Mutter lehnte an der Spüle. Ihre roten Haare, die sie obendrein rot färbte – weil das so schön irisch aussehe, wie sie beteuerte –, flatterten wirr um ihren Kopf. Ihre Wangen glühten, wie sie immer glühten, wenn sie sich aufregte.
„Siehst du nicht, wohin das alles führt, Angus?“, fragte sie jetzt etwas leiser. „Niemand verständigt sich hier. Das ist Krieg.“
„Aber alle machen es“, jammerte Big Chief. „Deshalb müssen auch wir die Bordsteine anmalen!“
„Gar nichts müssen wir“, schimpfte Mum und jetzt schrie sie wieder. „Und erst recht nicht, wenn es alle machen!“
„Du bist und bleibst ein alter Sturkopf!“, brüllte nun auch Big Chief. „Eines Tages werfen sie uns noch eine Bombe ins Haus und alles nur, weil du so unverständig bist!“
„Pah“, schnaubte Alison, „sollen sie doch.“
„Nie kann man mit dir reden. Es ist völlig aussichtlos. Ich gehe!“ Und Big Chief stürmte an Robin vorbei zur Haustür hinaus.
Mit einem lauten Rums knallte sie hinter ihm zu.
„Oh, ha“, stöhnte Mum. Sie hielt den Kopf leicht schräg, als lauschte sie dem Klang der zugeschlagenen Tür nach.
Im Haus war es wieder still.
Bestimmt stiefelte Big Chief jetzt wutschnaubend ins Ochsenauge. Das Ochsenauge war Big Chiefs Lieblingskneipe und der einzige Ort in der gesamten Stadt, an dem er sich verstanden fühlte, was nicht schwer war, weil die Männer, die dort saßen, ohnehin kaum miteinander sprachen.
Plötzlich entdeckte Mum Robin und strahlte ihn an. „Hallo, Darling, da bist du ja. Willst du einen Tee?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, hangelte Mum die Teekanne vom Küchenbord, stopfte zwei Teebeutel hinein – guten Assam – und kippte aus dem Kessel, der schon auf dem Herd dampfte, kochendes Wasser darüber. „Bitte schön, fertig!“ Mum stellte zwei Becher auf den Tisch und füllte sie rasch. Der Tee war heiß und braun. Haselnussbraun. Ohne Milch und ohne Zucker. Ohne Milch war wichtig, weil Milch im Tee nicht schmeckte, wie Mum stets behauptete, und weil sie an der Milch, die sie nicht in den Tee schütteten, das Geld sparten, das Big Chief soeben im Ochsenauge vertrank. Auch das sagte Mum. Aber sooft sie das sagte, zuckte sie mit den Schultern, als bezweifelte sie selbst, dass sie auf diese Weise wirklich Geld sparten.
„Was macht man in einem Land wie diesem, wenn man nicht mehr weiterweiß?“, fragte Mum. „Man trinkt Tee.“ Sie lachte und setzte sich an den kleinen Küchentisch, der immerzu wackelte, wenn jemand mit dem Knie daranstieß, was oft geschah, weil es eine ziemlich enge Küche war. „Komm, Robin, setz dich zu mir.“
Robin rührte sich nicht. Er lehnte in der Tür und fragte sich, ob seine Eltern einander soeben die Scheidung eingereicht hatten.
„Du siehst aus wie ein Päckchen, das niemand abgeholt hat.“ Mum grinste, aber dann wurde sie ernst. „Hör mal, Robin. Dass erwachsene Menschen laut werden, wenn sie miteinander reden, ist völlig normal. Das kommt vor. Das ist auch kein Streit, sondern eine Auseinandersetzung. Auseinandersetzungen gehören dazu, wenn man sich verständigen will. Und genau das tun Ehepaare: Sie verständigen sich. Das sagt auch dein Vater. Also sei friedlich und trink deinen Tee mit mir.“
Robin setzte sich Mum gegenüber. Vorsichtig nippte er an seinem Tee.
Der Tee brannte an den Lippen und schmeckte ohne Milch und Zucker kräftig zud stark. Wie es sich für einen guten Assam gehörte, versicherte Mum. Am Tee sparte sie nämlich nicht.
„Und jetzt erzähl, was sie dir heute in der Schule beigebracht haben! Ich hoffe, es war etwas Anständiges.“
Robin stellte seinen Becher ab. Er dachte nach.
War es anständig, dass sie im Geschichtsunterricht über die Schlacht am Fluss Boyne geredet hatten? Und über Wilhelm von Oranien, der den katholischen König vernichtend geschlagen und damit ganz Nordirland ins Unglück gestürzt hatte? Und wie war das mit den Farben? War Orange eine schlechte Farbe, bloß weil Wilhelm von Oranien sie getragen hatte, damals vor dreihundert Jahren?
„Gibt es Farben, die falsch sind?“, fragte Robin.
Mum sah Robin verdutzt an, dann lachte sie schallend, als hätte Robin etwas äußerst Lustiges gesagt.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, schüttelte sie den Kopf. „Nein, Robin“, sagte sie entschieden, „es gibt keine falschen Farben! Und ich bemale die Bordsteine NICHT. Nein, niemals!“
Ihr Blick rutschte weg. Sie sah Robin nicht mehr an, sondern stierte in ihren Tee, als stünde dort die Antwort auf eine schwere Frage geschrieben, ein Rätsel, das sie nicht zu lösen vermochte. „Wo kämen wir denn hin, wenn alle die Welt bepinseln würden, als wäre sie ein Bastelbogen?“, brummte sie. Aber es war keine Frage, die sie Robin stellte; sie sagte es mehr zu sich selbst.
Robin kannte das. Er wusste, dass seine Mutter jetzt in ihren Gedanken versank und es eine Weile brauchen würde, ehe sie wieder daraus auftauchte.
„Mum“, flüsterte Robin, „ich hab noch Hausaufgaben. Entschuldige bitte.“
Aber Mum merkte nicht einmal, wie Robin aufstand und die Treppe in sein Zimmer hinaufschlich.
In seinem Zimmer setzte sich Robin aufs Bett. Er hatte das dringende Gefühl, dass er einmal tiefgründig über alles nachdenken sollte und dass es dabei vielleicht ratsam war, von vorne anzufangen. Aber wie das ging, wusste er nicht und auch nicht, was vorne war.
In seinem Zimmer sah alles aus wie immer. Auch draußen stand wie eh und je der kleine Baum, von dem niemand wusste, wie er hieß, und klopfte mit seinen dünnen Zweigen gegen das Fenster. All das machte die Sache nicht leichter, weil sich etwas in Robins Kopf soeben ändern wollte.
Auf dem Bett lag die Tagesdecke aus bunten Flecken. An der Wand hing die Weltkarte. Auf der Kommode standen Robins Bücher. Das Lexikon der Weltgeschichte. Das ABC der Tiere. Das Buch der hundert Merkwürdigkeiten, in dem so merkwürdige Dinge standen wie: „Es dauert vierzig Minuten, um ein Straußenei hart zu kochen.“ Daneben steckte der Plastikjesus in seiner Glaskugel. Wenn Robin die Kugel schüttelte, schneite es in der Kugel. Dann schneite es auch über den Herrn Jesus, der die Arme ausgebreitet hielt, als wollte er den Schnee einfangen. Bestimmt freute sich Jesus über den Schnee, weil es weder in Nordirland, wo Robin lebte, noch in Palästina, wo Jesus gelebt hatte, viel schneite, selbst im Winter nicht. Es wäre wirklich sinnvoller gewesen, Regen in die Glaskugel zu stopfen, dachte Robin. Regen hätte es jedenfalls weitaus besser getroffen.
Prompt fing es draußen an zu schütten und der Regen klatschte ans Fenster, als wollte er die Welt ersaufen.
Jetzt wird Big Chief bestimmt nass, dachte Robin. Aber vielleicht saß er längst in der Kneipe und genoss sein Bier? Schließlich machte Big Chief ziemlich große Schritte, er war ja auch ein großer Mann. Deshalb nannte Robin ihn auch so: Big Chief, großer Häuptling. Ein großer Mann war eben ein großer Anführer, auch wenn die Familie, die er anführte, recht klein war. Kleiner jedenfalls als die von Cathal, der vier Brüder und zwei Schwestern hatte.
Aber selbst große Männer konnten einmal nass werden. Manchmal wurden sie auch laut. Und manchmal liefen sie sogar davon.
„Große Männer suchen Halt an kleinen Flaschen, während Mütter sich aufopfern. So ist das!“ Das war Mums Sicht der Dinge, wie sie es nannte. Dann seufzte sie und schimpfte: „Glaub mir, wenn ich nicht so viel bei anderen Leuten putzen würde, ginge alles hier den Bach runter.“ Und dabei sagte sie „alles“ besonders laut, als wollte sie sichergehen, dass Robin auch wirklich alles verstanden hatte. „Denn stell dir nur mal vor: Ohne meine Arbeit gäbe es in diesem Haus keinen einzigen Cent für Toast oder Porridge6 oder Tee und auch nicht für die Milch, an der wir ohnehin schon sparen, weil wir sie uns nicht in unseren Assam, sondern nur ins Müsli kippen. Ist das gelogen, oder ist es wahr?“ Danach lachte sie und Robin wusste nie, ob sie sich freute oder traurig war. Und was er ihr antworten sollte, wusste er auch nicht, weil er noch überlegte, ob es stimmte, dass Mütter sich aufopferten und große Männer Halt an kleinen Flaschen suchten. Obwohl es durchaus zutraf, dass er Big Chief, wann immer Robin ihn im Ochsenauge suchte, meistens hinter einem Bierglas fand.
Robin sah hinaus in den Regen, der auf die Schieferdächer prasselte und alle Bürgersteige ins gleiche Grau versenkte, einerlei, ob ihre Bordsteine nun grün oder orange gepinselt waren.
Ich sollte besser aufpassen, dachte Robin. Denn wenn ein Junge, der mit elf Jahren längst zu alt für Träumereien war, plötzlich eine Polizeiwache für eine mittelalterliche Ritterburg hielt, begann die Sache brenzlig zu werden. Dann nämlich konnte es geschehen, dass besagter Junge die graue Wirklichkeit vergaß.
Die graue Wirklichkeit aber durfte unter keinen Umständen vergessen werden, zumindest nicht in einem Land wie diesem, auch wenn Nordirland kein Irrtum war, weil es sich nicht mit zwei R nach dem I schrieb. Aber vielleicht war es eben doch ein Irrtum – und es hatte sich bislang nur niemand getraut, das zuzugeben?
Die graue Wirklichkeit lautete: Wir sind alle Menschen. Trotzdem sind wir alle anders. Es gibt uns. Es gibt die anderen. Man musste das unterschieden und durfte es nie, niemals, nicht vergessen.
Ganz so einfach war es freilich nicht. Weil Robins Mama Protestantin war. Und Robins Vater Katholik.
Und ich bin eine Mischung aus beiden, dachte Robin. Ich gehe in die Messe und meine Schule ist katholisch. Aber Mum malt unsere Bordsteine nicht grün, wie es die Katholiken tun, und sie schwenkt auch keine Trikolore7. Deshalb bin auch ich anders. Irgendwie hälftig und gespalten. Protestolisch, katholtantisch. Am allermeisten aber bin ich verwirrt.
Am besten suche ich Big Chief, beschloss Robin. Man konnte schließlich schlecht eine Familie sein, selbst eine gemischte Familie nicht, wenn man nicht wenigstens zusammen abend aß. Und Robins Bauch verkündigte gerade unmissverständlich mit lautem, fast schon ärgerlichem Knurren, dass es bald Zeit dafür wurde, vorausgesetzt, Big Chief hatte nicht tatsächlich alles Geld weggetrunken und es blieb ihnen noch etwas übrig für Kartoffeln und Assam und ein paar Erbsen vielleicht.
Suchen musste Robin Big Chief allerdings nicht wirklich. Das war nur so eine Redewendung, wie es in Nordirland viele Redewendungen gab. „Wie geht es dir, Love?“, zum Beispiel, und die Antwort darauf lautete stets: „Danke, mir geht es gut! Und Ihnen, liebe, hochverehrte Mrs Flanagan (oder wie sie alle hießen), geht es Ihnen auch gut?“ Und so weiter und so fort.
Nur die Straße runter, fünfmal um die Ecke und nahe am Fluss, lag das Ochsenauge, Big Chiefs Stamm- und Lieblingskneipe, die so hieß, weil der Wirt Seamus O’Faolain in einer rauschhaften Nacht, in der viel Bier geflossen war, zwei schwarze Kreise um die beiden runden Fenster seiner Kneipe gemalt hatte und Wimpern obendrein, sodass die Fenster seitdem von Weitem ausschauten, als wären sie die Augen eines Ochsen, eines etwas zu groß geratenen und leicht schielenden Ochsen freilich.