Rockefeller-Medizinmänner - E. Richard Brown - E-Book

Rockefeller-Medizinmänner E-Book

E. Richard Brown

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Beschreibung

Kranke Menschen, mehr Profit!
Wie die Superreichen ein Monster namens Big Pharma erschufen

Das legendäre Standardwerk über die Entstehung von Big Pharma! Jetzt erstmals in deutscher Sprache!

Der 2012 verstorbene Professor E. Richard Brown war einer der ersten entschiedenen Gegner von Big Pharma. Als ehemaliger Präsident der American Public Health Association und Mitglied in beratenden Ausschüssen des Weißen Hauses war er Insider und dennoch Kritiker eines Medizinsystems, das eher wirtschaftlichen und hegemonialen Interessen diente als den sozialen oder humanitären Bedürfnissen von Menschen.

In seinem hervorragend recherchierten Buch erzählt Brown am Beispiel der USA die geheime Geschichte der finanziellen, politischen und institutionellen Manipulationen, die dazu führten, ein vielfältiges Spektrum an Heilmethoden auf ein einziges »wissenschaftliches Medizinmodell« zu reduzieren.

Brown dokumentiert Schritt für Schritt den Verfall des medizinischen Ethos und wie eine machtgierige Elite unter dem von Rockefeller und Carnegie finanzierten »Rat für medizinische Ausbildung« der American Medical Association die medizinische Kultur der westlichen Welt zu einer Gelddruckmaschine machte.

Die Vorgehensweise der Eliten von einst unterscheidet sich dabei kaum von den philanthropischen Winkelzügen der WHO und der Bill & Melinda Gates Foundation, die weltweit unzählige Impfprojekte anschob und sich Vakzine patentieren ließ, welche dann millionenfach - oft gegen den Willen der Menschen - verabreicht wurden.

Professor Browns zeitlose Recherche belegt: Die modernen Gesundheitssysteme basieren auf Gier, Gewinn und gesellschaftlicher Kontrolle. Hierbei geht es nicht um Gesundheit, sondern um knallharte Profite. Der Autor sensibilisiert, rüttelt wach und bringt Licht in die ominöse Entstehung von Big Pharma und deren dunkle Machenschaften mit dem Großkapital.

»Niemand kann oder darf dieses Buch ignorieren. Es ist eine eloquente und gut belegte vernichtende Einschätzung der historischen Beziehung zwischen Medizin und Kapitalismus und ihrer Auswirkung auf die Gestaltung des heutigen Gesundheitswesens.« Washington Post

»Man muss dieser These nicht zustimmen, doch es spricht sehr viel für sie. Der Sachverhalt ist gut recherchiert und interessant dargestellt. Dieses Buch spricht ein breites medizinisches Publikum sowie Menschen an, die sich mit der Entwicklung des Gesundheitswesens befassen.« The New England Journal of Medicine

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1. Auflage Juli 2024

Copyright © 2024 bei Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Linde Wiesner Lektorat: Jorinde Reznikoff Satz und Layout: Mohn Media Mohndruck GmbH, Gütersloh Covergestaltung: Nicole Lechner

ISBN E-Book 978-3-98992-031-6 eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis Kopp Verlag Bertha-Benz-Straße 10 D-72108 Rottenburg E-Mail: [email protected] Tel.: (07472) 98 06-10 Fax: (07472) 98 06-11

Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:www.kopp-verlag.de

Widmung

Für Marianne, Delia und Adrienne

Danksagung

Die Idee für dieses Buch kam mir, während ich an der Universität politische Ökonomie des Gesundheitswesens lehrte. Meine Studenten und ich stellten sich die Frage, wie das derzeitige System entstanden sei. Auf der Suche nach Antworten stieß ich auf Geschichten über die Medizin, auf Material in damaligen Zeitschriften und den Archiven der Rockefeller- und Carnegie-Philanthropie. In diesen Archiven stößt man auf eine Fülle von Gedanken, Strategien und Taten einiger der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Geschichte der amerikanischen Medizin.

Die Recherchen führten schließlich zu diesem Buch. Ohne die großzügige Unterstützung, das leidenschaftliche Interesse und das persönliche Engagement zahlreicher Menschen wäre es aber nicht zustande gekommen. Besonders dankbar bin ich Howard Waitzkin, William Kornhauser, Barbara Ehrenreich, Gert Brieger und Michael Pincus, die einen Großteil des Manuskripts detailliert und klug kritisiert und mich sehr ermutigt haben. Hilfreiche Kritik und Unterstützung bekam ich auch von Anne Johnson, Jon Garfield, Charlene Harrington, Barbara Waterman, James O’Connor, Dan Feshbach, Ivan Illich, David Horowitz, June Fisher, Kathryn Johnson, Jack London, Jane Grant, Tom Bodenheimer, Sara McIntire, Joe Selby, Larry Sirott und Myrna Cozen. Howard Berliner hat sich als außergewöhnlicher Kollege erwiesen, indem er sich stetig um Kooperation bemühte und Ideen sowie Materialien zum Verständnis dieser wenig erforschten Themen beitrug.

Meine Frau Marianne Parker Brown hat mich kontinuierlich bestärkt und mit intelligenter Kritik unterstützt, selbst wenn die Belastungen von Familie und Haushalt unverhältnismäßig stark auf ihren Schultern lagen. Meine Töchter Delia und Adrienne waren für ihr junges Alter erstaunlich verständnisvoll, während ihr Vater »an seinem Buch arbeitete«.

Die Mitarbeiter in den Rockefeller Foundation Archives und Rockefeller Family Archives (die heute zum Rockefeller Archive Center zusammengelegt sind) sowie in der Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching (»Carnegie Stiftung zur Förderung der Lehre«) sorgten für gute Arbeitsbedingungen und machten meine Recherchen in New York erfreulich produktiv. Die Mitarbeiter des Health Sciences Information Service und des Library Delivery Service an der University of California ersparten mir unzählige Stunden, die ich sonst mit dem Suchen von Büchern und Zeitschriften in den weit verstreuten Bibliotheken auf dem Berkeley-Campus hätte zubringen müssen.

Eva Scipio, Ruth McKeeter und Sandra Golvin tippten kompetent Teile des Manuskripts in seinen jeweiligen Entstehungsphasen ab, und Estelle Jelinek überarbeitete dann das fertige Manuskript mit großer Sorgfalt.

Einen Großteil der Recherchen für das letzte Kapitel führte ich durch, während ich als Berater des Childhood and Government Project an der University of California Law School tätig war. Das Health and Medical Science Programm, ebenfalls in Berkeley, half bei der Finanzierung meiner Recherchereise nach New York.

Das Rockefeller Archive Center und die Carnegie Foundation for the Advancement of Teaching gaben mir die freundliche Genehmigung, Ausschnitte aus dem Archivmaterial zu veröffentlichen.

Einführung

Die derzeitige Krise im Gesundheitssystem ist tief in der miteinander verflochtenen Historie der modernen Medizin und des Unternehmenskapitalismus verwurzelt. Die wichtigsten Gruppierungen und Kräfte, die unser medizinisches System geformt haben, legten die Saat für die Krise, in der wir uns heute befinden. Die Ärzteschaft und andere medizinische Interessengruppen versuchten, das Gesundheitssystem in den Dienst ihrer jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu stellen, und Stiftungen und andere Institutionen der Unternehmerklasse wollten, dass die Medizin die Bedürfnisse »ihrer« kapitalistischen Gesellschaft befriedigte. Aus der Dialektik zwischen den gemeinsamen Bemühungen und Zusammenstößen dieser Gruppierungen und den wirtschaftlichen und politischen Kräften, die dadurch in Gang gesetzt wurden, entstand allmählich das aktuelle medizinische System, das den gesundheitlichen Bedürfnissen der Gesellschaft einen schlechten Dienst erweist.

Die offensichtlichsten Probleme dieses Systems sind die hohen Kosten, die Inflation und der fehlende Zugang zu medizinischen Leistungen in den USA. 1979 lagen die Gesundheitsausgaben in den USA bei über 200 Milliarden Dollar – das sind fast 1000 Dollar für jede einzelne Person. Heute fließt ein viel größerer Teil der gesellschaftlichen Ressourcen in medizinische Ausgaben als je zuvor; 1980 war der für die medizinische Versorgung aufgewandte Anteil des Bruttosozialprodukts doppelt so hoch wie noch 1950.

Diese Kosten bezahlen wir in Form von Steuern, Krankenversicherungsbeiträgen und direkt aus unserem Geldbeutel. Die öffentlichen Ausgaben – 4 von 10 Dollar, die für die medizinische Versorgung bereitgestellt werden – werden mit unseren Steuergeldern finanziert. Private Krankenversicherungen und Selbstbeteiligungen machen etwa 3 von 10 Dollar aus. In welcher Form auch immer werden die gesamten 200 Milliarden Dollar von Frauen und Männern in der Gesellschaft erwirtschaftet. US-Präsident Carter schätzte, dass der amerikanische 1 Arbeitnehmer durchschnittlich einen ganzen Monat arbeiten muss, um die jährlichen Kosten des Gesundheitssystems abzudecken. 2

Während die meisten Menschen finden, sie sollten für dieses Geld zumindest viel erhalten, erweist es sich allein schon als schwierig, an die notwendige medizinische Grundversorgung heranzukommen, denn für Letztere stehen viel zu wenig Ärzte, also Allgemeinmediziner, Kinderärzte, Internisten und Gynäkologen, zur Verfügung. Während die meisten Arztpraxen und Kliniken in die »besseren« Viertel unserer Städte drängen, findet man in den ärmeren und ländlichen Gebieten kaum noch welche. Medicaid (das staatliche Fürsorgeprogramm für Menschen mit geringem Einkommen), das für Millionen von Amerikanern zuständig ist, versorgt diese ebenso dürftig und unzureichend wie die erniedrigenden Krankenhäuser, die es eigentlich ersetzen sollte. Eine der häufigsten Einschränkungen besteht in den langen Wartezeiten für Arzttermine, mit denen die Mittelschicht und die arme Bevölkerung zu rechnen haben. Statt also ein humanes und leicht zugängliches Gesundheitssystem zu schaffen, haben Medicare und Medicaid dazu beigetragen, die Inflation der medizinischen Kosten anzukurbeln, indem sie mithilfe neuer finanzieller Mittel ein privat kontrolliertes System befeuerten, das jeden einzelnen Penny in Expansion, Technologien, hohe Gehälter und Profite zu stecken bereit ist.

Ein zweites, wenn auch weniger diskutiertes Problem ist die relativ geringe Auswirkung, welche die medizinische Versorgung auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung hat. Trotz einer Unmenge neuer Diagnoseverfahren, Medikamente und Operationstechniken sind wir nicht so gesund, wie uns diese medizinischen Wundermittel machen sollten. Einige Kritiker wie etwa der Sozialphilosoph Ivan Illich 3 sind sogar der Meinung, dass uns die Medizin – physisch, politisch und kulturell – kränker macht, als wir ohne sie wären. Und viele Analytiker haben die sozialen Kontrollfunktionen der Ärzteschaft, die häufigen Negativeffekte medizinischer Techniken für unsere Gesundheit und die Ignoranz des medizinischen Systems gegenüber wichtigen physischen und sozialen Umwelteinflüssen auf unsere Medizin dokumentiert. 4 Statt dass die Medizin uns von durch Krankheiten hervorgerufenen Leiden und Abhängigkeiten befreit, müssen wir feststellen, dass ihre repressiven Aspekte mindestens genauso schnell angewachsen sind wie ihre technischen Errungenschaften.

Warum ist die medizinische Versorgung mit einer derartigen Geschwindigkeit so teuer geworden? Warum ist sie trotz ihres reichlichen Vorhandenseins so schwer zugänglich? Wie konnte es geschehen, dass die Medizin zwar technisch höchst ausgereift, aber sozial nicht nur unbefriedigend, sondern sogar repressiv ist?

Eine beliebte, aber zu simple Antwort darauf lautet, solche Probleme seien für Technologie- und Industriegesellschaften eben charakteristisch. Folgt man dieser Argumentation, so setzen Technologie und Industrialisierung den sozialen Organisationen ihre eigenen Grenzen und führen zu vergleichbaren Problemen, die wiederum ähnliche Lösungen erfordern. Gemäß dem Gesundheitssoziologen David Mechanic sind in der Medizin von Industrieländern Kosten- und Organisationsprobleme sowie ethische Dilemmata weitverbreitet. Er schließt daraus, dass »die Anforderungen der medizinischen Technologie und die verstärkt wissenschaftliche Basis medizinischer Tätigkeiten dazu führen, dass trotz großer ideologischer Unterschiede gemeinsame organisatorische Lösungen gefunden werden müssen«. 5 Illich vertritt die Meinung, dass »die pathogene Medizin das Ergebnis industrieller Überproduktion ist«. 6 In diesem Sinne führt die Technologie ein Eigenleben und zwingt dem Einzelnen und der sozialen Gemeinschaft ihre Imperative auf. Analytiker dieser Art konzentrieren sich auf geläufige Muster industrieller Organisation und technischen Fortschritts und schließen daraus, dass Technologie und Industrialisierung determinierende Kräfte darstellen, die universell sind.

Solch ein technologischer Determinismus blendet aber die spezifische Art und Weise aus, in der Gesellschaft und Technologie im Verlauf der Geschichte miteinander interagieren. Nach der Marx’schen Auffassung formen sich Technologie und Wirtschaftsordnung in einem dialektischen Prozess fortwährend gegenseitig. Einzelpersonen und Gruppen, die die Ressourcen besitzen und die Organisation der Produktion kontrollieren, sind keineswegs von »neutralen« Technologien abhängig, sondern führen selbst Innovationen ein, die ihren eigenen Zielen dienen, und widersetzen sich jenen, die anderen Interessen dienen würden. Diese Innovationen können die Bedürfnisse der Gemeinschaft übergehen und die Interessen anderer verletzen. Maschinen und Fabriken haben die Autonomie und sogar die ökonomische Existenz unabhängiger Gewerbetreibender geschwächt. Krankenhäuser und ihre kostspielige Ausstattung können viele im Gesundheitswesen Tätige an eintönige Aufgaben binden und verbrauchen Mittel, die für kleinere Gemeindekliniken verwendet werden könnten. Wer von diesen technologischen Entwicklungen betroffen ist, kann sich jedoch widersetzen und erreichen, dass diese einen anderen Verlauf nehmen. Arbeiter können sich in Gewerkschaften organisieren und eine gewisse Kontrolle über die Produktionsbedingungen erlangen. Und Gemeinschaften können sich so organisieren, dass sie die Expansion großer Kliniken verhindern und die Gründung gemeindenaher Gesundheitszentren erzwingen. Kurz gesagt: Die politisch-ökonomische Organisation der Gesellschaft bringt ganz bestimmte Arten technologischer Innovation hervor und andere nicht, und diese Innovationen sorgen für soziale Kräfte, die die Technologie und politisch-soziale Beziehungen modifizieren. 7

Dieses Buch betrachtet die wissenschaftlich begründete, technologische Medizin nicht als determinierende Kraft für die Entwicklung des modernen Gesundheitssystems, sondern als Instrument, das von Mitgliedern der Ärzteschaft und des Unternehmerstandes entwickelt wurde, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Einzelpersonen und Gruppen, die notwendige Ressourcen besitzen, können diese dazu verwenden, bestimmte Arten von technologischer Innovation in der Medizin zu entwickeln. Wer über die erforderlichen Ressourcen verfügt, hat auch die Möglichkeit, die daraus resultierende technologische Innovation für seine wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnisse einzusetzen.

In den USA entwuchs die Medizin in genau jener Zeit den Kinderschuhen, in der Unternehmen die gesamte Wirtschaft zu dominieren begannen. Mit dem Voranschreiten des Unternehmenskapitalismus veränderten sich viele Institutionen in der Gesellschaft, und dazu gehört auch die Medizin. Sein Einfluss entstand nicht einfach durch kulturelle Assimilation oder die Bedürfnisse industrieller Organisation, sondern wurde von Personen geschaffen, die in seinem Namen agierten. Diese Interpretation besagt nicht, die Geschichte werde von dunklen Verschwörungen bestimmt, sondern vielmehr, dass die Klasse, die das herrschende Wirtschaftssystem in überproportionalem Maß besitzt, lenkt und von ihm profitiert, auch andere gesellschaftliche Bereiche in überproportionalem Maß beeinflusst.

Mitglieder der Unternehmerklasse, darunter diejenigen, die substanzielle Anteile an Firmenvermögen besitzen, sowie die Spitzenmanager der großen Unternehmen, versuchen natürlich, das Überleben der kapitalistischen Gesellschaft und ihre eigene Position innerhalb der sozialen Struktur zu sichern. Für den Bereich der Medizin bedeutet das: Mitglieder der Unternehmerklasse haben, hauptsächlich über philanthropische Stiftungen, eine Strategie zur Entwicklung eines Gesundheitssystems ersonnen, das den Bedürfnissen der kapitalistischen Gesellschaft entspricht. Dabei glauben sie, ihre Ziele würden der Gesellschaft im Ganzen dienen und private Vermögensanhäufung sowie private Entscheidungen über den Einsatz dieses Vermögens und der Vermögenserträge würden ganz im Interesse der Gesellschaft erfolgen. In diesem Buch werden wir die Strategien, die sie im Laufe dieser »progressiven« Ära entwickelten, und die Gründe für ihr Handeln untersuchen. Dabei stützen wir uns hauptsächlich auf die öffentlich und privat geäußerten Gedanken einiger Personen, die maßgeblich beteiligt waren. Wir werden die Interessen und Strategien der Ärzteschaft und der Unternehmerklasse beschreiben, die sich unabhängig voneinander entwickelten, miteinander verschmolzen und sich dann doch widersprachen. Und wir werden sehen, dass die jeweiligen Regierungen zunehmend die Strategien und Kämpfe übernahmen, die von der Unternehmerklasse initiiert wurden.

Die Unternehmerklasse nahm Einfluss auf die Medizin, konnte sie aber nicht gänzlich kontrollieren. Das Marktsystem in der Medizin gibt einzelnen Interessengruppen – dazu gehören heute Ärzte, Krankenhäuser, Versicherungsgesellschaften, Pharmakonzerne und Hersteller sowie Lieferanten von medizinischer Ausrüstung – die Möglichkeit, eigene wirtschaftliche Macht zu entwickeln, die sie in die Lage versetzt, ihren Platz auf dem Markt zu behaupten. »Über« diesen Interessengruppen steht die umfassendere Unternehmerklasse und versucht, den Leviathan zu zähmen und zu koordinieren, ist aber privatem Eigentum verpflichtet und profitiert von den kulturellen Funktionen der Medizin, die ihr Legitimation verleiht. Die Beziehungen und Widersprüche, die sich zwischen der Unternehmerklasse und diesen medizinischen Interessengruppen entwickelt haben, haben großen Einfluss auf die Organisationen und Inhalte des heutigen Gesundheitssystems.

Ärzte

Aus heutiger Sicht ist es schwer zu glauben, dass es der Ärzteschaft im späten 19. Jahrhundert an Macht, Vermögen und Status fehlte. Damals hatte die Medizin eine pluralistische Vorstellung von Krankheit, war in der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten technisch ineffektiv und in mehrere »sektiererische« 8 Untergruppen aufgespalten, die sich untereinander bekriegten. Die Berufsverbände, die es gab, hatten praktisch keine Kontrolle über den Eintritt neuer Ärzte in das jeweilige Fachgebiet. Ärzte waren lediglich vereinzelte Mitglieder der unteren Berufsschicht, verdienten zwischen mehreren Hundert oder Tausend Dollar im Jahr und genossen in der Bevölkerung kein besonderes Ansehen.

Ab den 1930er-Jahren war die Medizin jedoch fest in der Hand eines Berufsverbands, der den Zugang zur Branche durch Zulassungen und Akkreditierung von medizinischen Hochschulen und Lehrkliniken kontrollierte. Auch Praxis und Ökonomie der Medizin wurden von lokalen Organisationen überwacht. »Medizin« hatte sich zu einem Synonym für die klinische Arbeit von Absolventen jener Hochschulen entwickelt, welche den wissenschaftlichen, klinischen und forschungsorientierten Leitlinien folgten, die von der American Medical Association (AMA, der »Amerikanischen Ärztevereinigung«) und von Abraham Flexner in seinem berühmten Bericht für die Carnegie-Stiftung festgelegt worden waren. Alle anderen Heilkundigen waren davon ausgeschlossen. Ärzte stammten zunehmend aus der Mittel- und Oberschicht. Das durchschnittliche Nettoeinkommen nicht angestellter Ärzte lag 1929 bei 3758 Dollar und damit über den Einkünften von Hochschullehrern, aber unter dem des Lehrkörpers der Yale University und auch unter dem Einkommen von Maschinenbauingenieuren. 9 Doch in der Folgezeit wuchsen Einkommen, Macht und Status der Ärzte rasch an.

In den 1970er-Jahren waren Ärzte in die obersten Ränge der amerikanischen Klassenstruktur aufgestiegen. Das durchschnittliche Nettoeinkommen von niedergelassenen Ärzten – 63000 Dollar im Jahr 1976 – brachte sie in der Einkommensstruktur der Gesamtbevölkerung in die obersten Perzentile. 1939 war das Durchschnittseinkommen eines Arztes bereits zweieinhalbmal so hoch wie das anderer Vollzeitbeschäftigter, und 1976 hatte sich dieser Abstand verfünffacht. 10 Ärzte stehen nun zusammen mit Richtern des Obersten Gerichtshofs an der Spitze der Berufshierarchie. Und in neueren Umfragen gaben Amerikaner an, dass sie Medizinern eher vertrauen als jeder anderen US-amerikanischen Institution – einschließlich Universitäten, Regierung (natürlich) und religiösen Organisationen. 11

Die Steigerung ihrer »Produktivität« ist ein wichtiger Faktor im Bemühen der Ärzte, ihr Einkommen, ihren Status und ihre Macht zu erhöhen. Der Berufsstand kontrolliert die Ausbildung neuer Ärzte rigoros und delegiert Aufgaben, die er nicht mehr für interessant oder profitabel genug erachtet, an unter ihm stehende Techniker und Assistenten. So wurden im Zuge der schnell expandierenden Medizintechnik immer mehr Aufgaben an aufstrebende Arbeitskräfte im Gesundheitswesen abgegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts waren noch zwei von drei aller hierin Tätigen Ärzte, heute ist von den über 4,7 Millionen Beschäftigten nur noch einer von zwölf Arzt. So sind Ärzte zunehmend zu Managern der Patientenversorgung geworden, anstatt als Direktversorger zu fungieren. 12

Und als solche sind immer mehr Ärzte in Kliniken, Forschungseinrichtungen, Lehranstalten, Behörden und anderen Institutionen tätig statt in eigenen Praxen. Heute sind vier von zehn Ärzten in solchen Einrichtungen beschäftigt, 1939 war es gerade einmal einer von zehn. Diese angestellten Ärzte haben ein geringeres materielles Interesse als niedergelassene Ärzte und legen wenig politische Unterstützung für die AMA an den Tag. 13

Sobald sie die Spitzenposition in der medizinischen Hierarchie erlangt hatten, mussten die Ärzte jedoch darum kämpfen, diese Stellung zu behalten. Sieht man von den jüngsten Bemühungen des Pflegepersonals ab, ihre Autorität im Bereich der Patientenversorgung zu verstärken, gingen die Anfechtungen jedoch kaum von unten aus. Die Ärzte gerieten vielmehr in einen Kampf gegen Kliniken, Versicherungsgesellschaften, medizinische Hochschulen, Stiftungen, Gesundheitsbehörden und andere Gruppierungen, die an einem rationalisierten Gesundheitssystem interessiert waren, in dem die Zuständigkeiten hierarchisch und horizontal koordiniert werden und in dem kapitalintensiven Leistungen mehr Bedeutung beigemessen wird. Es ist ein Konflikt entstanden zwischen den organisierten Ärzten als einer Interessengruppe, die Robert Alford »professionelle Monopolisten« nennt, und all jenen Gruppierungen, die das Gesundheitswesen nach bürokratischen und betriebswirtschaftlichen Prinzipien systematisieren wollen, die Alford als »unternehmerische Rationalisierer« bezeichnet. 14

Andere Interessengruppen

Angesichts der großen Macht der organisierten Medizin versuchten Krankenhäuser insbesondere über die American Hospital Association (AHA), ihre Interessen zu schützen, indem sie als »stringente Zentren« eines rationalisierten Gesundheitssystems auftraten. 15 Im Zuge ihrer Transformation von Asylen für kranke und sterbende Mittellose zu Arztbetrieben nehmen Krankenhäuser als Zentren medizinischer Technologien im Gesundheitswesen des 20. Jahrhunderts eine mächtige Position ein. Und weil die Ärzte von diesen Technologien immer abhängiger werden, schlucken die Kliniken einen immer größer werdenden Anteil der für die medizinische Versorgung aufgewendeten Mittel. Gesetzliche und private Krankenversicherungen (eigentlich Krankenpflegeversicherungen) haben sich zu einer stabilen Einnahmequelle für Kliniken entwickelt, da sie mithilfe dieser Gelder ihre Einrichtungen ausbauen können. Als Konsumenten von 40 Prozent der jährlichen Kosten für die Gesundheitspflege sind Krankenhäuser zu einer Hauptantriebskraft im Gesundheitssystem geworden. Blue Cross und Blue Shield (die beiden »Blues«), 16 die in den 1930er- beziehungsweise 1940er-Jahren von Klinikverbänden und Versicherungsgesellschaften gegründet wurden, kontrollieren – zusammen mit kommerziellen Versicherern – inzwischen 30 Prozent der Kosten des Gesundheitssystems, wobei der Schwerpunkt auf der technischen Versorgung im Krankenhaus liegt. Sie haben einen wirtschaftlichen und politischen Einfluss erreicht, der ihrer dominierenden finanzwirtschaftlichen Rolle entspricht.

Während die Versicherungsindustrie eine relativ neue Stimme im Chor der Rationalisierer ist, stehen medizinische Fakultäten hier schon seit über einem halben Jahrhundert an vorderster Front. Obwohl sie als Ausbildungsstätten von Gesundheitsfachkräften und Forschungs- und Entwicklungsarm der medizinischen Industrie von Medizinern geleitet werden, geraten ihre Interessen häufig mit medizinischen Organisationen in Konflikt, in denen Ärzte das Sagen haben. Im 19. Jahrhundert wurden medizinische Fakultäten zumeist von einer Handvoll Ärzten geleitet, die ihren eigenen finanziellen Nutzen im Auge hatten. Während sie im 20. Jahrhundert über weite Strecken hinweg von Universitäten kontrolliert wurden und von Stiftungen abhängig waren, finanzieren sie sich seit dem Ersten Weltkrieg über staatliche Gelder. In der kurzen Zeit von etwa 1900 bis zum Ersten Weltkrieg setzten sich wissenschaftlich ausgerichtete medizinische Hochschulen und die AMA gemeinsam für die Akzeptanz der wissenschaftlichen Medizin ein. Danach gingen sie getrennte Wege: Die AMA kämpfte um den Erhalt der Vorherrschaft und des hohen Einkommens der niedergelassenen Ärzte, und die medizinischen Fakultäten machten sich für ein rationelleres Gesundheitswesen stark, für gewöhnlich mit Ärzten als Topmanagern.

Krankenhäuser, Versicherungsgesellschaften und medizinische Hochschulen haben ein größeres Interesse als Ärzte daran, eine kapitalintensive, rationalisierte medizinische Versorgung voranzutreiben. Der Ausbau der Medizintechnik verhalf den Ärzten zwar zu mehr Ansehen und Einkommen, für Krankenhäuser, medizinische Fakultäten und Krankenversicherer stellte er jedoch die Daseinsberechtigung dar. Der Bedarf an massivem Kapitaleinsatz für die medizinische Technologie führte auch zur Rationalisierung medizinischer Ressourcen – zur Zentralisierung und Koordination von Kapital, Einrichtungen, Aufwendungen, Einkommen und Personal.

Stiftungen und der Staat

Neben diesen Interessengruppen haben zwei weitere Kräfte – der Staat und Stiftungen – großen Einfluss, um die Rationalisierung des Gesundheitswesens durchzusetzen. Obwohl die Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg über den größten Einfluss verfügt, waren Stiftungen in der Bildungsphase der amerikanischen Medizin von 1900 bis 1930 der größte externe Einflussfaktor. Ihr Machtmittel ist Geld, das großzügig, aber mit Bedacht für bestimmte Projekte und Maßnahmen eingesetzt wird. Weder Stiftungen noch die Regierung operieren als Interessengruppe, wie das Ärzte, Kliniken, Versicherungsgesellschaften, medizinische Fakultäten sowie die Pharma- und medizinische Zuliefererindustrie tun. Die gewaltigen Summen, die sie ausgegeben haben – von Stiftungen kamen zwischen 1910 und den 1930er-Jahren rund 300 Millionen Dollar, von der Bundesregierung seit dem Zweiten Weltkrieg viele Milliarden Dollar allein für die medizinische Forschung und Ausbildung –, dienen nicht der eigenen Bereicherung.

Die Argumentation, die in diesem Buch entwickelt und propagiert wird, legt nahe, dass sowohl die Stiftungs- als auch die Regierungspolitik zwar den Interessen bestimmter medizinischer Gruppierungen dient, aber nur deshalb, weil die Interessen dieser Gruppierungen mit denen der Unternehmerklasse übereinstimmen. Wie aus historischen Berichten hervorgeht, waren die Programme der Stiftungen Anfang des 20. Jahrhunderts explizit darauf ausgerichtet, Institutionen aufzubauen und zu fördern, welche die Reichweite und den Einfluss des Kapitalismus in der Gesellschaft begünstigten.

Innerhalb der Medizin verfolgten Stiftungen diese beiden Hauptziele: ein medizinisches System zu etablieren, das die kapitalistische Gesellschaft unterstützt, und das Gesundheitssystem zu rationalisieren, um es für alle zugänglich zu machen, die es erreichen soll, dabei der Gesellschaft aber die geringstmöglichen Kosten zu verursachen. Diese Ziele haben ihre eigenen Widersprüche geschaffen. Zunächst orientierten sich die Stiftungen an den Zielen und Strategien der Ärzteschaft, lehnten aber bald deren eng gefasste Interessen ab und bemühten sich, die Rolle der medizinischen Hochschulen und Kliniken zu erweitern und deren Vorherrschaft über das gesamte Gesundheitswesen zu stärken. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als sich die Rolle der US-Regierung als Verwalter der kapitalistischen Gesellschaft voll etabliert hatte, übernahm die Bundesregierung die führende Rolle der Stiftungen innerhalb der Medizin. Sie setzte damit die grundlegende Strategie fort, die die Stiftungen über 20 Jahre lang verfolgt hatten, und öffnete für ihre Umsetzung die Schleusen der Staatskasse.

Im ersten Kapitel werden Sie erfahren, wie im späten 19. Jahrhundert aus mehreren parallelen Entwicklungen der kapitalistischen Gesellschaft philanthropische Stiftungen entstanden. Während viele Mitglieder der neuen wohlhabenden Schicht wohltätige Organisationen unterstützten, um die Risse und Einbußen in der Gesellschaft zu lindern, für die die kapitalistische Industrialisierung verantwortlich war, erkannten andere den Bedarf an technisch ausgebildeten Fach- und Führungskräften und förderten den Ausbau von Hochschulen und Wissenschaften. Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert gründeten reiche Männer wie John D. Rockefeller und Andrew Carnegie philanthropische Stiftungen, deren Gelder von professionellen Managern verwaltet wurde. Mit den Rockefeller-Philanthropen an der Spitze entwickelten diese Stiftungen strategische Programme zur Legitimierung der Sozialstruktur der kapitalistischen Gesellschaft und zur Deckung deren technischer Bedürfnisse.

Das zweite Kapitel widmet sich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rolle der wissenschaftlichen Medizin in der Geschichte des amerikanischen Gesundheitswesens. Moderne Wissenschaftsmedizin war nicht einfach das »natürliche« Ergebnis aus dem Zusammentreffen von Wissenschaft und Medizin im 19. Jahrhundert. Neben dem konkreten wissenschaftlichen Fortschritt, der die Anwendung wissenschaftlichen Denkens und Forschens auf Krankheiten ermöglichte, hatte die wissenschaftliche Medizin auch wichtige soziale und ökonomische Ursprünge. Sie war wesentlicher Bestandteil einer Strategie, die von führenden Reformern aus der Ärzteschaft entworfen wurde, um die gesellschaftliche Stellung dieses Berufsstandes zu verbessern. Und da sie von dominierenden Schichten innerhalb der amerikanischen Klassenstruktur mitgetragen wurde, war sie erfolgreich.

Die wissenschaftliche Medizin fand im späten 19. Jahrhundert die Unterstützung der amerikanischen Ärzteschaft, weil sie deren ökonomischen und sozialen Interessen entgegenkam. Indem sie den Ärzten größere fachliche Glaubwürdigkeit verlieh, wurden sie aus der unwürdigen Position gerettet, in die ihr Berufsstand herabgesunken war. Darüber hinaus wurde die wissenschaftliche Medizin zu einem ideologischen Instrument, mit dem das dominierende »reguläre« Berufssegment die Heranbildung neuer Ärzte einschränkte, andere medizinische Gruppierungen ausschaltete, führende medizinische Fakultäten und Ärzte vorübergehend vereinte und den Wettbewerb begrenzte.

Trotz ihrer Attraktivität für die Ärzteschaft hätte die wissenschaftliche Medizin ohne die Unterstützung der dominanten Gesellschaftsgruppen in den USA wohl kaum etwas für die Ärzte erreicht. In Kapitel 3 werden wir die Gründe für diese kapitalistische Unterstützung erfahren, insbesondere anhand der Haltung von Frederick T. Gates, der über 20 Jahre lang oberster philanthropischer Berater und Vermögensberater von John D. Rockefeller sowie der Architekt der großen medizinischen Rockefeller-Philanthropien war.

Indem sie Ursachen, Prävention und Heilung von Krankheiten auf eine Weise erklärte, die deutlich an die Weltanschauung des industriellen Kapitalismus erinnerte, gewann die wissenschaftliche Medizin die Unterstützung jener Bevölkerungsschichten, die mit dem Aufstieg des Unternehmenskapitalismus in Amerika in Zusammenhang standen. Denn Kapitalisten und Unternehmensmanager waren der Meinung, dass die wissenschaftliche Medizin die Gesundheit der Arbeitskräfte stärken und somit die Produktivität steigern könne. Für sie war die Medizinwissenschaft ein ideologisches Instrument in ihrem Kampf um die Etablierung einer neuen Kultur, die für den industriellen Kapitalismus zweckmäßig und förderlich war. Sie fühlten sich von der medizinischen Theorie und Praxis angezogen, welche die großen sozialen Ungerechtigkeiten und rücksichtslosen Praktiken des Kapitalismus linderte, die das Leben von Angehörigen der Arbeiterklasse verkürzten. Mithin diente die wissenschaftliche Medizin in den Vereinigten Staaten sowohl den Interessen der dominierenden Ärzteschaft als auch jenen der Unternehmerklasse.

Nichtsdestoweniger tauchte zwischen den Interessen der Ärzte und denen der Unternehmer ein Widerspruch auf. So handelt Kapitel 4 davon, wie der Berufsstand der niedergelassenen Ärzte und die Unternehmerklasse bei den Versuchen, die medizinische Ausbildung zu reformieren, aneinandergerieten. Die Finanzierung der wissenschaftlichen Fakultäten erforderte einen erheblichen Kapitaleinsatz von Kreisen außerhalb des Ärztestands, und das gab denjenigen, die dieses Kapital bereitstellten, ein Druckmittel in die Hand, um ihre Richtlinien durchzusetzen. Die Positionen waren klar abgesteckt: Sollte die medizinische Ausbildung von Ärzten kontrolliert werden und deren Bedürfnissen dienen? Oder sollte sie den Bedürfnissen der kapitalistischen Gesellschaft dienen und von Institutionen der Unternehmerklasse kontrolliert werden?

Der von der Carnegie Foundation finanzierte Flexner-Report versuchte, diese Interessen zusammenzuführen, indem er vor allem die stark kommerziell orientierten medizinischen Fakultäten aufs Korn nahm. Doch die maßgeblich von Gates geleiteten Rockefeller-Philanthropien legten den Widerspruch offen, indem sie gegen die Interessen und Argumente der niedergelassenen Ärzte den geförderten Lehrinstituten ein System mit vollzeitbeschäftigten klinischen Lehrkräften aufzwangen. Gates machte deutlich, dass die Medizin der kapitalistischen Gesellschaft dienen und von kapitalistischen Stiftungen und Universitäten kontrolliert werden müsse – und zwar durch die medizinischen Fakultäten, die das Fachpersonal ausbilden und die Technik auf den neuesten Stand bringen. Bis 1929 hatte eine Rockefeller-Stiftung, das General Education Board, medizinischen Hochschulen bereits über 78 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, um diese Strategie umzusetzen, und Gates’ Sichtweise war fest etabliert.

Indem er keine Fördergelder an staatliche Hochschulen vergab, versuchte Gates seine Strategie von staatlicher Einflussnahme unbedingt freizuhalten. Doch die meisten Führungskräfte und Direktoren innerhalb der Rockefeller-Philanthropien und der maßgebenden Industrie- und Finanzkonzernen betrachteten den Staat als notwendige Hilfe bei der Rationalisierung von Unternehmen, Märkten und Institutionen.

So sollte der Kurs, den Gates und seine Zeitgenossen einschlugen, zwar das folgende halbe Jahrhundert bestimmen, doch der Staat übernahm die dominierende finanzielle Rolle bei der Rationalisierung der medizinischen Versorgung und bei der Entwicklung der Medizintechnik. In Kapitel 5 sehen wir, wie die staatliche Fokussierung auf die technologisch orientierte Medizin einige der wichtigsten Determinanten von Krankheit und Tod ignorierte, während die wirtschaftlichen und politischen Kräfte der kapitalistischen Gesellschaft dafür sorgten, dass die Rationalisierung die Kontrolle des medizinischen Markts durch die Unternehmerklasse aufrechterhielt. Wie die Medizin in diesem privaten Marktsystem kontrolliert und rationalisiert werden kann, ist die Frage, die den Staat und die Unternehmerklasse jetzt plagt, da die Forderung nach einer staatlichen Krankenversicherung wächst. Wie medizinische Ressourcen in effektive Instrumente zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit transformiert werden können, ist eine Frage, die die ganze Gesellschaft betrifft. Die entstehenden Widersprüche und daraus resultierenden Krisen sind das Vermächtnis der Entwicklung der Medizin in einer kapitalistischen Gesellschaft.

Kapitel 1: »Wholesale-Philanthropie«: von Gemeinnützigkeit zu gesellschaftlicher Umgestaltung

KAPITEL 1

»Wholesale-Philanthropie«: von Gemeinnützigkeit zu gesellschaftlicher Umgestaltung

Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte für die Eigentümer und Manager der Unternehmen, die die amerikanische Wirtschaft beherrschten, viele Probleme mit sich. Die Initiatoren dieser Industrialisierung mussten das erforderliche Kapital aufbringen, Rohmaterial besorgen, die Produktion organisieren, unwillige Belegschaften disziplinieren sowie Märkte und Transportsysteme entwickeln. Sie hatten mit politischen Strukturen und Methoden zurechtzukommen, die auf die bisherigen Produktionsbeziehungen zugeschnitten waren, welche auf Landwirtschaft und Handel konzentriert waren und sich nur langsam an die neue industrielle Unternehmensstruktur anpassen ließen. Und schließlich mussten sie veraltete soziale Institutionen transformieren oder neue schaffen. Bildungs-, Religions-, Medizin- und Kultureinrichtungen gehörten zum Leim, der das Ancien Régime zusammengehalten hatte. Die neue Unternehmerklasse stand also vor der Aufgabe, all diese wirtschaftlichen, politischen und sozialen Institutionen so umzugestalten, dass sie der urbanisierten, industrialisierten und unternehmerischen Gesellschaft dienen konnten.

Die neue ökonomische Ordnung schuf auch diverse Probleme für Zugehörige gesellschaftlicher Klassen, die von dem neuen System kaum etwas oder gar nichts abbekamen. Zwar war die amerikanische Gesellschaft noch nie abgeklärt-beschaulich gewesen, doch die Industrialisierung sorgte für große Unzufriedenheit unter jenen, die dadurch umgesiedelt wurden, und unter jenen, die unter der kapitalistischen Anhäufung von Reichtum zu leiden hatten. Die ehemals dominierenden Agrar- und Handelsherren ärgerten sich über den kometenhaften Aufstieg der städtischen Industriellen und Bankiers. Einheimische Handwerker, Einwanderer und enteignete Landwirte unterwarfen sich nur widerwillig dem neuen Fabriksystem. Das Gewerkschaftswesen, Populismus und Sozialismus bedrohten die Macht und den Wohlstand der Konzerne und ließen sogar Zweifel am Fortbestand des Kapitalismus aufkommen.

Um einige der vielen Probleme zu lösen, die sich aus der kapitalistischen Industrialisierung ergaben, wandten sich, wie Sie in diesem Kapitel erfahren werden, Unternehmer der Philanthropie den Universitäten und schließlich der Medizin zu. Die sozialen Veränderungen wurden zum großen Teil von derselben »unsichtbaren Hand« in Gang setzt, die die Marktkräfte des Kapitalismus lenkte, und dieses Eigeninteresse schränkte die Perspektive für den sozialen Wandel ein. Nur allmählich entwickelten führende Kapitalisten und ihre Verbündeten bewusst breit angelegte Strategien für die von ihnen aufgebaute neue Ordnung. Um Kontrolle über die verzweifelten ärmeren sozialen Schichten zu bekommen, unterstützten philanthropische Kapitalisten oftmals Wohltätigkeitsprogramme, die bei all ihrer Brutalität Hoffnung auf Verbesserungen versprachen. Andere fingen an, für den Bedarf der neuen Gesellschaft an ausgebildeten Experten und Managern Universitäten aufzubauen. Es entstand eine neue Schicht von Managern und Fachleuten, die Unternehmen, Hochschulen, Wissenschaften, medizinische Einrichtungen und die Philanthropie selbst leiteten. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert verwandelten einige Philanthropen Stiftungen in echte Unternehmensphilanthropien (in diesem Buch bezieht sich dieser Begriff auf die für den Unternehmenskapitalismus charakteristische Philanthropie, insbesondere auf Stiftungen, die von Mitgliedern der Unternehmerklasse kontrolliert werden). Diese waren nach dem Vorbild der dominierenden Wirtschaftsinstitutionen gestaltet und wurden mit deren »überschüssigem« Kapital finanziert. Repräsentanten des aufkommenden Unternehmensliberalismus erkoren diese Stiftungen zu ihren wichtigsten Instrumenten für die Transformierung gesellschaftlicher Institutionen und verliehen der Unternehmensphilanthropie eine historisch bedeutsame Rolle, die über die visionären Träume früherer philanthropischer Kapitalisten weit hinausging. Aus dieser Verbindung von unternehmerischer Philanthropie, Managerschicht, Universitäten und Wissenschaft gingen die Rockefeller-Medizinmänner und ihr neues medizinisches System hervor.

Privatvermögen und soziale Unzufriedenheit

Wie für fast alle Bereiche der amerikanischen Gesellschaft stellte der Sezessionskrieg auch für die amerikanische Philanthropie einen Wendepunkt dar. Er war ein einschneidendes Ereignis in der US-Geschichte, brachte Tod und Zerstörung, kurbelte den industriellen Fortschritt an und sorgte für Aufstände innerhalb aller und zwischen allen Gesellschaftsklassen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg entwickelte sich eine neue Art von Philanthropie, die auf diese neuen Umstände zugeschnitten war.

Der Bürgerkrieg befreite nicht nur die schwarzen Sklaven, sondern gab dem Kapital der Nordstaaten auch die Möglichkeit, den industriellen Wandel, den es vor allem nördlich des Ohio River initiiert hatte, auf die gesamte Nation auszudehnen. So wie die »Underground Railroad« 1 das Vehikel und Symbol der Freiheit für die Sklaven aus der Vorkriegszeit war, so war die Eisenbahn das Vehikel und Symbol der Industrialisierung und der aufsteigenden Kapitalistenklasse.

Die Eisenbahn, die zunehmend für den Transport der Soldaten und des Nachschubs für die Unionsarmeen eingesetzt wurde, trug zur Erweiterung der Märkte bei, da sie ein arbeitsteiliges, koordiniertes Produktions- und Vertriebssystem ermöglichte, das den gesamten Kontinent umfasste. Eisenbahnen drangen in jede Region des Landes vor. Sie brachten Agrarprodukte auf neue Märkte und in Häfen, um von dort in ferne Länder verschifft zu werden. So wurde Baumwolle von den Südstaatenfeldern zu den Textilfabriken Neuenglands befördert, Eisenerz vom Lake Superior zu den Eisenhütten und den neuen Bessemer-Stahlöfen in Pittsburgh und Öl aus West-Pennsylvania zu den Raffinerien in Cleveland sowie Waren aus den amerikanischen Fabriken auf die Märkte im ganzen Land. Und überall sorgten Eisenbahnen für neue Ansiedlungen und Bauprojekte. Trotz der Unterbrechungen während des Sezessionskrieges wurden in den 1860er- und 1870er-Jahren 100000 Kilometer neue Gleise verlegt, wodurch sich die bestehenden Strecken verdreifachten. Da für den Eisenbahnbau Eisen- und später Stahlschienen und -brücken nötig waren, wurde die Eisenbahn selbst bald zum größten Kunden der wachsenden amerikanischen Stahlindustrie.

Der Bürgerkrieg und die Eisenbahn brachten einigen Männern großen Reichtum ein. Andrew Carnegies Aufstieg zum Millionär begann 1853 als Telegrafenbeamter bei der Pennsylvania Railroad. Im Alter von nur 25 Jahren war der ehrgeizige Carnegie bei Kriegsbeginn bereits ins Management aufgestiegen und verbrachte einige Monate damit, den Schienenverkehr und die Telegrafenkommunikation für das Kriegsministerium zu organisieren. Doch er kündigte seinen aufregenden und gefährlichen Job an der Front und ging zur »Pennsy« 2 zurück, um sich seinen anwachsenden Investitionen in die Eisenproduktion und den Kohlebergbau zu widmen. 1863 lag sein Jahreseinkommen bei über 40000 Dollar. 3

Auch John Davison Rockefeller verdankte seine Vermögensanfänge dem Sezessionskrieg. 1861, als der Krieg die Energie und das Leben von Nord- wie Südstaatlern kostete, baute der 22 Jahre junge Rockefeller in Cleveland eine erfolgreiche Handelsfirma auf. Mit dem Zustrom von Kriegsaufträgen stiegen die Warenpreise stark an, und Rockefellers Gewinne schnellten in die Höhe. 2 Jahre später hatte er genug Kapital, um in eine Ölraffinerie zu investieren, und bei Kriegsende war er so reich, dass er das Unternehmen übernehmen konnte. Dass seine Standard Oil Company 1880 rund 95 Prozent des amerikanischen Öls raffinierte, war Rockefellers Entschlossenheit zu verdanken, »Geld zu verdienen und noch mehr Geld zu verdienen« – kombiniert mit einem harten Wettbewerb auf dem Markt und Rabatten von der Eisenbahn. 4

Die industrielle Basis war zwar schon in den Jahrzehnten vor dem Krieg entstanden, aber erst die kriegsbedingten Veränderungen festigten die Strukturen des neuen Systems. Die Oberschicht in den Südstaaten, deren Position auf Landwirtschaft und Sklaverei basierte, wurde zwar nicht zerschlagen, musste sich jedoch der vom Norden kontrollierten kapitalistischen Wirtschaft unterordnen. Das Fabrikwesen wurde mit der Eisenbahn erweitert, und es entwickelte sich eine industrielle Arbeiterklasse aus einheimischen und immigrierten Handwerkern und Fabrikarbeitern. Das kleinstädtische Amerika wich allmählich dem industriellen und kommerziellen Aufschwung, und die Städte wuchsen schneller, als die minderwertigen Mietshäuser in ihnen gebaut werden konnten. Im Zuge dessen wurden die älteren Unternehmer und der Landadel von den neuen Industriellen und ihren Konzernen verdrängt. In den 1870er-Jahren waren in Massachusetts beispielsweise gerade einmal 530 (5 Prozent) von 10395 Unternehmen im Handelsregister eingetragen, aber diese 5 Prozent besaßen 96 Prozent des Gesamtkapitals und beschäftigten 60 Prozent aller Arbeitskräfte. Im Jahr 1900 wurden drei Viertel aller Handelsgüter von Konzernen produziert. Aufgrund der wichtigen logistischen Funktion der Eisenbahn wurde der Sezessionskrieg auch »erster Eisenbahnkrieg« genannt. Doch der Krieg war nicht auf die industrielle Wirtschaft angewiesen. Wie es William Appleman Williams treffend formulierte, »brachte der Bürgerkrieg eher ein industrielles System hervor, als dass er mit einem solchen ausgefochten wurde«. 5 Als Sieger des Krieges erwiesen sich Unternehmen und Männer, die die neue Wirtschaft großteils beherrschten.

Doch weder lief für die neuen Barone der Konzernwirtschaft alles glatt, noch machten sie ihren Untergebenen das Leben leicht. Die Unternehmenseigentümer, die darauf aus waren, in kürzester Zeit so viel wie möglich vom verfügbaren Markt an sich zu reißen und Kapital anzuhäufen, drückten die Löhne, um die Preise niedrig zu halten und die Konkurrenz zu schlagen. So wurden Einwanderer in die wachsende Arbeiterschaft einbezogen und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rund 16 Millionen Ausländer ins Land gelockt. 1890 machten sie 15 Prozent, ja in den industrialisierten Nordstaaten sogar fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus. Handwerker mussten zusehen, wie ihre Fähigkeiten – die Grundlage ihres Stolzes und einer bescheidenen Sicherheit – degradiert und von Maschinen ersetzt wurden, was schließlich zur Arbeitslosigkeit führte. Migranten aufgegebener Farmen und Einwanderer aus dem Ausland füllten die Fabriken und Städte der Neuen Welt. Die Männer verloren ihren Lebensunterhalt oder hatten härteste Arbeit zu verrichten, und die Frauen, die bislang der traditionellen Hausarbeit nachgingen, mussten in Fabriken, Kaufhäusern und Läden arbeiten. Um 1900 waren 20 Prozent aller amerikanischen Frauen Lohnarbeiterinnen. Auch Kinder wurden als Billigarbeitskräfte in die Fabriken geholt. Das Familien- und Sozialleben der Arbeiterklasse war erschüttert und zerstört worden.

Die Ausbeutung von Arbeitern, die weder durch gesetzliche Beschränkungen noch durch humanitäre Bedenken eingedämmt wurde, führte zu einer verstärkten Organisierung der Arbeitnehmer. Als der Durchschnittslohn für einen 10-Stunden-Tag während der Depression in den 1870er-Jahren auf 1,50 Dollar sank, kam es überall im Land zu Aufständen. Es bildeten sich Gewerkschaften, und Unternehmer nutzten jedes erdenkliche Instrument – von Aussperrungen bis zu Pinkerton-Wachmännern 6  –, um die Gewerkschaftsbewegung zu zerschlagen. 1877 wurde der erste landesweite Großstreik gegen die Eisenbahn mit einem Blutbad niedergeschlagen, bei dem zahlreiche Arbeiter, ihre Familien und ihre Unterstützer in den Armenvierteln der Städte ums Leben kamen. Doch die Gewerkschaftsbewegung wuchs, und in den 1880er- und 1890er-Jahren wurden viele Streiks organisiert. Die Haymarket-Square-Bombe von 1886, der Streik in Carnegies Homestead-Stahlwerk 1892 und der Pullman-Streik 1894 waren nur die prominentesten Ereignisse, die unter den Unternehmern und ihren Verbündeten die Sorge um den Fortbestand der von ihnen errichteten Gesellschaft schürten. »Die Zeit ist seltsam aus dem Gleichgewicht geraten«, sorgte sich ein Politiker aus Kentucky. »Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, die Nation bebt.« 7

Stadtbewohner und Farmer, insbesondere im Mittleren Westen und im Süden, sahen ihr Leben und ihren Lebensunterhalt zusehends von Eisenbahntarifen und den Kreditrahmen der Banken bestimmt, die von weit entfernten Städten aus dirigiert wurden. Da die halbfeudale Naturalpacht 8 viele Landwirte im Süden in ständiger Verschuldung und Armut hielt, fand der Widerstand gegen die kapitalistische Expansion breite Unterstützung. 1896 bildete die Populist Party, die großen Zulauf hatte, eine seichte Koalition mit der Demokratischen Partei um den Demokraten Bryan als Präsidentschaftskandidaten und den Populisten Tom Watson als Vizepräsidenten herum gegen McKinley, den Kandidaten des Großkapitals. Durch ihre Niederlage wurde die Populist Party dezimiert, aber der populistische Widerstand gegen den kapitalistischen Reichtum und die Kontrolle der Landwirtschaft setzte sich mit dem Granges Movement und der Farmers Union bis weit ins 20. Jahrhundert fort. Für die arbeitende Mittelschicht, die in der »Progressive Era« 9 den Ton angab, schien sich die Gesellschaft nach unten hin aufzulösen, weil »die da oben« zu gierig waren. Sie forderte Reformen, um die Konzentration von Macht und Geld zu begrenzen.

Viele Mitglieder der wohlhabenderen Schichten fühlten sich aufgerufen, die große Ungleichheit zu rechtfertigen, die in der Arbeiterklasse für Wut und in der Mittelschicht für Beunruhigung sorgte. Natürlich sahen sie sich selbst nicht als »reiche Müßiggänger«, sondern betrachteten den Aufbau von Industriekonzernen als produktive Arbeit und glaubten, alle Menschen würden von ihren Unternehmungen profitieren. Niemand hat das besser ausgedrückt als Rockefeller:

Die beste Philanthropie, jene Hilfe, die am meisten nützt und am wenigsten schadet, jene Hilfe, die die Zivilisation an ihrer Wurzel nährt, die Gesundheit, Rechtschaffenheit und Glück am weitesten verbreitet, ist nicht das, was man für gewöhnlich Wohltätigkeit nennt. Es ist meines Erachtens vielmehr die Investierung von Mühe, Zeit oder Geld, die im Verhältnis zur Macht, Menschen zu einem angemessenen Lohn zu beschäftigen, sorgfältig abgewogen wird, um die vorhandenen Ressourcen auszubauen und weiterzuentwickeln und um Möglichkeiten für Fortschritt und gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen, die es vorher nicht gegeben hat. Kein bloßes Geldspenden kommt dieser dauerhaften und segensreichen Wirkung gleich. 10

Der größte Nutzen solcher Unternehmen ist sowohl moralischer Natur, da sie Müßiggängern eine Beschäftigung bieten, als auch materieller Natur, da sie »die Annehmlichkeiten des Lebens vermehren, verbilligen und so weit wie möglich verbreiten«. 11 Folglich ist der Aufbau eines privaten Unternehmens die beste Art, Probleme zu lösen, die mit der Industrialisierung entstehen. »Kann es denn einen Zweifel daran geben, dass eine Senkung der Kosten für den Lebensbedarf und die Annehmlichkeiten des Lebens Zivilisation und Fortschritt am stärksten fördern?«, fragte Charles Elliott Perkins, Präsident der Chicago, Burlington and Quincy Railroad. »Das wahre Evangelium«, äußerte er sich mit philosophischer Gefälligkeit, »besteht darin, Menschen zu befähigen, sich die Annehmlichkeiten des Lebens aus eigener Kraft zu ermöglichen. Dann werden sie vernünftig und gut sein.« 12

Unter den Männern und Frauen, die sich dem Rest der Gesellschaft gegenüber so großzügig erwiesen, herrschten unterschiedliche Vorstellungen darüber, was sie mit ihrem Geld und ihrer Macht anstellen sollten. Mark Hanna, ein Industrieller aus Cleveland, machte anderen Kapitalisten vor, dass sie »zum Schutz unserer Geschäftsinteressen« ebenso den Präsidenten und die Exekutive der Regierung wie den Kongress einbinden konnten. Aus Angst vor den wachsenden Reihen der Populisten und deren zunehmender politischer Einflussnahme schuf er ein politisches Direktorium aus führenden Wirtschaftsvertretern, welche die gemeinsamen Interessen organisieren und direkt auf die Bundesregierung einwirken sollten. Mit ihrem ersten Triumph, der Wahl von McKinley 1896 zum Präsidenten, führten sie das moderne System kostspieliger, zentral koordinierter landesweiter Kampagnen ein. Hanna stand an der Spitze einer Unternehmenspolitik, die die breiten Interessen von Industriellen und Finanziers über die »Kirchturmpolitik« zugunsten eng gefasster Interessen stellte, die zuvor die politische Szene auf bundesstaatlicher, nationaler und lokaler Ebene dominiert hatten. Hanna und weitere führende Persönlichkeiten seiner Klasse gründeten zusammen mit ein paar Arbeiterführern neue Allianzen wie die National Civic Federation, um aus den Klassenkonflikten, die die neue Wirtschaftsordnung bedrohten, einen »Interessensausgleich« zu schaffen. Die Bewegung der Progressiven erwies sich als ideales Werkzeug der Unternehmerklasse, um ihre Interessen durchzusetzen, indem sie sich zusätzlich erforderliches Kapital vom Kongress sicherte und – durch Reformen der föderalen Exekutive – Regulierungsbehörden gründete und kontrollierte, um in eine Reihe von Industriezweigen Ordnung und Konsolidierung zu bringen. Die cleveren politischen Anführer dieser Klasse demonstrierten somit, dass die staatlichen Institutionen über strategische Bündnisse mit Sozialreformern und konservativen Gewerkschaftsfunktionären dergestalt reformiert werden konnten, dass sie den Interessen der Unternehmen dienten. 13

Doch nicht alle Kapitalisten vermochten politisch über ihre unmittelbaren Interessen hinauszublicken. John D. Rockefeller, dessen Standard Oil Trust von Henry Demarest Lloyd beschuldigt wurde, die Legislative und Exekutive von Pennsylvania und Ohio gekauft zu haben, war von Hannas breit angelegter politischer Strategie nicht eben begeistert. In der Tat bestand Hannas erster großer Erfolg 1885 darin, mit John Sherman ironischerweise den Autor jenes Gesetzes in den US-Senat zu bringen, mit dem das Standard-Oil-Imperium letztendlich aufgelöst wurde. Vielleicht befürchtete Rockefeller von Politikern mit eigenen Vorstellungen davon, was gut fürs Geschäft ist, genau solche Treuebrüche, denn er behielt seine politischen Spenden gewöhnlich Kandidaten vor, die an den unmittelbaren Geschäftsfeldern von Standard Oil näher dran waren. 14

Viele reiche Männer der USA gaben ihr Geld für prahlerischen Luxus aus, der europäische Aristokraten in den Schatten stellte. Die Vanderbilts, Jim Fisk, Jay Gould und andere Finanziers bauten sich Paläste an New Yorks Fifth Avenue – häufig mit Marmor, Mobiliar und Statuen ausstaffiert, die aus den verfallenen Herrschaftshäusern der Alten Welt stammten. Marshall Field und Potter Palmer errichteten ihre Schlösser auf den teuersten Grundstücken Chicagos. Mark Hopkins, Charles Crocker und Leland Stanford gestalteten San Franciscos Viertel Nob Hill mit opulenten Residenzen um – finanziert durch das Vermögen, das sie mit der Westexpansion der Eisenbahn gemacht hatten. Carnegie baute sich in seiner schottischen Heimat ein Schloss. Und Rockefeller begnügte sich nicht mit einem Schloss, sondern schuf sich eine schier königliche Residenz in Pocantico Hills, die mit 1400 Hektar und Blick auf den Hudson River fünfmal so groß war wie der Central Park. Ein solcher Wohnluxus inmitten von Städten, in denen es von dürftigen Mietwohnungen nur so wimmelte, sorgte natürlich für Aufruhr. Das Massachusetts Board of Education hatte sich bereits 1849 beschwert: »Ein einziger opulenter Palast verschlingt die Arbeitskraft und die Kosten, die für Tausende von komfortablen Häuschen gereicht hätte.« Doch Ende des 19. Jahrhunderts sprangen von den Reichen geförderte Sozialwissenschaftler ihren Wohltätern zur Seite, und so erwiderte ein Wirtschaftsprofessor der Boston University den Gegnern dieser Grandezza: »Die Behauptung, es bestehe zwangsläufig ein kausaler Zusammenhang zwischen Reichtum und Armut, ist zu plump, als dass man ihn ernsthaft widerlegen müsste.« 15

Unwillige Arme aus der Armut holen

Einige Repräsentanten der in Opulenz lebenden Klasse hatten – sowohl vor als auch nach dem Bürgerkrieg – ein umfassenderes Ziel vor Augen. Sie boten ihren Familien und sich selbst ein luxuriöses, ja fürstliches Leben, legten aber einen Teil ihres Vermögens für philanthropische Zwecke zurück, wobei Philanthropie natürlich nicht bedeutete, das Geld direkt unter den Armen zu verteilen. Schon immer hatte Wohltätigkeit bedeutet, den Armen zu ihrer Unterstützung Almosen zu geben, aber die Reichen und die meisten Sozialreformer, die der Schicht unmittelbar unter den Reichen angehörten, blieben stets auch skeptisch, was die Folgen betraf. Cotton Mather ermahnte in der Kolonialzeit Bostoner Kaufleute, ein diszipliniertes, moralisches Beispiel zu geben und nur an »die Armen, die nicht arbeiten können« zu spenden. Benjamin Franklin hoffte, allen in der Gesellschaft so viele Erwerbsmöglichkeiten geben zu können, dass Armut gar nicht erst entstehen müsste, und er versuchte, eine Strategie zu entwickeln, um die Armen dazu zu bringen, ein diszipliniertes Leben zu führen. »Ich glaube, der beste Weg, den Armen Gutes zu tun«, sagte Franklin, »ist nicht, es ihnen in der Armut leichtzumachen, sondern sie aus der Armut herauszuführen oder herauszutreiben.« 16

Franklins Maxime und eine erbarmungslose sozialdarwinistische Perspektive waren der Kern der Wohltätigkeitsbewegung, die in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufblühte. Diese städtischen und nationalen Organisationen, die nach dem Muster der 1869 gegründeten London Charity Organization Society gestaltet waren, gaben nur wenig Almosen. Ihr Hauptzweck war es laut einer Charity-Gruppe aus Philadelphia, »eine Methode zu entwickeln, durch die der Müßiggang und die Bettelei, die heute so sehr gefördert werden, abgeschafft werden und die Möglichkeit einer würdigen, sich selbst achtenden Armut entdeckt wird und mit den geringsten Kosten für die Wohltätigen gelindert werden kann«. Selbst während der großen Depression, die 1873 begann und bis zum Ende dieses Jahrzehnts andauerte, wurden alle Almosenempfänger der Faulheit und Verdorbenheit verdächtigt. 17

Die Armen galten als ein hoffnungsloser, flatterhafter Haufen, der zu Verbrechen, Aufständen und dreister Unzufriedenheit neigte. Extreme Sozialdarwinisten wie Herbert Spencer glaubten, dass diejenigen, die anpassungsfähig sind, leben, und jene, die es nicht sind, sterben: »Und es ist das Beste, wenn sie sterben« 18 . Doch in jeder Gesellschaft benötigen die herrschenden Klassen ein positiveres Programm als dieses, um nach erfolgter Aufteilung des Reichtums mit den verbalisierten Forderungen oder sogar den unausgesprochenen, chaotischen Erwartungen der unterdrückten Klassen umzugehen.

Die Programme, die aus der Arbeit der Wohltätigkeitsorganisationen hervorgingen, sorgten für systematische Studien und brachten der philanthropischen Arbeit das Etikett »wissenschaftlich« ein. Auf der jährlichen National Conference of Charities and Correction kamen Experten aus Wohltätigkeitsverbänden, Leiter von Strafvollzugsanstalten, Krankenhäusern und Settlement Houses 19 , Wissenschaftler aus soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten sowie Geistliche und Mediziner zusammen, um ihre Arbeit zu koordinieren und Strategien zur Unterstützung der Armen zu entwickeln. Die Haltung dieser »wissenschaftlichen« Charity-Arbeiter den Armen gegenüber reichte von grob bis zivilisiert und straf- bis besserungsorientiert. 20 Im Laufe der Jahre wandten sich diese Reformer immer mehr den analytischen Methoden der Sozialwissenschaften und den politischen Ansichten des Progressive Movement zu. Edward T. Devine merkte 1906 in seiner Rede vor der National Conference an, dass karitative Einrichtungen, Irrenanstalten, Gefängnisse und Besserungsanstalten »besser als alle unsere Erziehungsmaßnahmen, unsere Hilfsfonds und sogar unser ganz persönlicher Dienst« in der Lage waren, die Insassen rasch zu rehabilitieren. Die »moderne Philanthropie«, so Devine weiter, habe die Aufgabe, »die organisierten Kräfte des Bösen aufzuspüren und wirksam zu bekämpfen, ebenso wie die spezifischen Ursachen für Abhängigkeit und untragbare Lebensbedingungen, die sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen, dem sie schaden und den sie allzu oft zerstören«. 21

Die wissenschaftliche Philanthropie müsse sich mit »Prävention statt Linderung« befassen, sagte Amos Warner, ein im Progressive Movement aktiver Stanford-Ökonom. Warner verglich Statistiken von Wohltätigkeitsorganisationen in den USA und Europa miteinander und kam zu dem Schluss, dass Armut zu fast 75 Prozent auf persönliches oder gesellschaftliches »Missgeschick« und zu weniger als 25 Prozent auf das »Fehlverhalten« des Einzelnen zurückzuführen sei. 22 »Prävention« bedeutete, ins Leben beider Arten von Armen einzugreifen, um ihnen durch ihr Missgeschick hindurchzuhelfen oder ihnen ihre schlechten Angewohnheiten abzugewöhnen und sie auf den rechten Pfad zu führen.

Aus dieser Perspektive sozialer Intervention und der Bewegung der Wohltätigkeitsverbände entwickelten sich die Berufe der Sozialarbeit. Sozialbetreuer, Mitarbeiter in Settlement Houses, Strafvollzugsbeamte, Bewährungshelfer und ihre akademischen Berater teilten mit der Mittel- und Oberschicht die vorherrschende sozialdarwinistische Auffassung, dass Armut, Kriminalität und soziale Abweichungen im Allgemeinen biologische Wurzeln haben. Dieser neue Berufsstand glaubte aber auch, dass medizinische und soziale Interventionen »natürliche« Unzulänglichkeiten beheben könnten. 23

Angesichts der Auflösung der alten sozialen Beziehungen und der zunehmenden Angst vor einem Aufstand der Arbeiterklasse – beides Produkte der kapitalistischen Industrialisierung – ist es nicht verwunderlich, dass wohlhabende Männer und Frauen die Ziele und Programme der Wohltätigkeitsverbände und der Sozialarbeitsbewegung unterstützten. Charles Hull, der mit dem Immobilienboom in Chicago ein Vermögen machte, spendete großzügig für soziale Rehabilitierungsprogramme in den Armenvierteln und verkaufte billig Land an die arme Bevölkerung, um ihnen eine Beteiligung an der Gesellschaft zu ermöglichen. Das war seine Art, die ungleiche Landverteilung zu korrigieren, aus der seiner Befürchtung nach »Unzufriedenheit und Revolution kommen werden«. 24

Die Wohltätigkeitsverbände, die Berufsgruppen der Sozialarbeit und die reichen Wohltäter lehnten Mitleid und unterschiedslose Hilfe ab, da diese die Armen in ihrem erniedrigten Status nur bestätigten. Sie bemühten sich stattdessen, die Armen moralisch aufzurichten und in die Gesellschaft zu integrieren. Sie gründeten Institutionen, die »arbeitsunfähige Arme« isolierten und davon abhielten, »ehrbare« Arme anzustecken, die harte Arbeit leisteten. Zudem erarbeiteten sie Programme, um den arbeitenden Armen eine bessere Lebensperspektive zu bieten, als dies in den Fabriken und Mietskasernen möglich war, in denen sie bisher ihr Leben verbracht hatten. In den Slums und Gettos wurden Settlement Houses eingerichtet und Sozialarbeiter eingesetzt, um sowohl im Ausland geborene Arme als auch die Opfer einer in Eigentümer und Nichteigentümer gespaltenen Industriegesellschaft in die amerikanische Gesellschaft (wieder) einzugliedern. Jane Addams’ Settlement House – das sogenannte Hull House, das aus dem Nachlass von Charles Hull stammte – versuchte, ihre wichtigsten Ziele zu erfüllen: »die Geisteshaltung des Arbeiters zu stärken, ihn über die Monotonie seiner Arbeit zu erheben und mit der Welt außerhalb seiner unmittelbaren Umgebung in Verbindung zu bringen«. Addams bekämpfte die Exzesse sowohl des Kapitals als auch der Arbeiterklasse und setzte sich dafür ein, diese verfeindeten Schichten durch Programme zusammenzubringen, die für beide akzeptabel waren. 25

Solche Programme bedeuteten nicht, dass die kapitalistische Gesellschaftsstruktur als solche verändert werden sollte, sondern waren dazu gedacht, die rauen Bedingungen des Kapitalismus zu lindern, indem sie Einzelnen halfen, ihrem Elend zu entkommen und ein sinnvolles und befriedigenderes Leben zu führen. Während viele Sozialarbeiter die Forderungen der Gewerkschaften befürworteten, wurde ihre Arbeit finanziell und politisch von den Wohlhabenden unterstützt, da sie die Aufmerksamkeit von streitbareren Forderungen ablenkte. Sozialarbeiter machten Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen durch Sozialprogramme, während die Arbeiter die Anerkennung der Gewerkschaften, höhere Löhne, den Achtstundentag und die Linderung der Arbeitslosigkeit forderten. All diese Programme erwiesen sich als eher symbolischer und ideologischer Natur, als dass sie tatsächlich etwas bewirkten, und arbeitenden ebenso wie arbeitslosen Armen wurde gesagt, an ihrem Zustand seien ihre eigenen Unzulänglichkeiten schuld und sie hätten geduldig auf ihre individuelle Entlohnung zu warten.

Doch sowohl vor als auch nach dem Bürgerkrieg gab es ein paar Kapitalisten, die weniger besorgt über die sich unter ihnen zusammenbrauende Revolte waren beziehungsweise sich mehr Gedanken über die künftigen Erfordernisse ihres Sozialsystems machten. Sie entwickelten eine andere Form der Philanthropie, die sich auf die Schaffung sozialer Einrichtungen konzentrierte, deren wichtigste Funktionen nicht einmal in der symbolischen Linderung der Zustände bestanden, sondern in der Ausbildung von Personal, das der industrielle Kapitalismus für sein Überleben und Wachstum benötigte. Vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beteiligten sich einige dieser Kapitalisten daran, die allgemeine Schulpflicht einzuführen, um Kinder aus der Arbeiterklasse und der Schicht der Armen in die Rhythmen und die kooperativen Bedürfnisse der Fabrikarbeit einzuführen und ihnen rudimentäre Fähigkeiten – Lesen, Schreiben, Rechnen und handwerkliche Fertigkeiten – zu vermitteln, die in einer industriellen Gesellschaft erforderlich waren. 26 Andere wohlhabende Männer und Frauen wussten um den Bedarf des Landes an fortschrittlicheren technischen Fähigkeiten. Sie taten sich mit vorausschauenden Direktoren der traditionellen Hochschulen zusammen und brachten diese aus dem Dunstkreis der einst herrschenden Agrar- und Handelsschicht heraus in den Dienst der neuen Industrie- und Finanzordnung.

Wissenschaftliche Köpfe für Amerikas »hart arbeitende Hände«

Am letzten Apriltag des Jahres 1846 stand Edward Everett, der neue Präsident der Harvard University, vor seiner Fakultät, seinen Studenten und Alumni und läutete eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen Industriellen und Amerikas Colleges und Universitäten ein. Harvard würde von nun an nicht mehr auf die Bedürfnisse der landwirtschaftlichen Oberschicht und der reichen Kaufmannschaft ausgerichtet sein, sondern auf die Ausbildung von Geistlichen, Anwälten und distinguierten Männern aller Art. Everett unterbreitete seinem Antrittspublikum den Vorschlag, Harvard solle eine »Schule für theoretische und praktische Wissenschaften« gründen, in welcher »deren Anwendung auf die Künste des Lebens« unterrichtet und ein »Reservoir fähiger Ingenieure« und anderer Berufsangehöriger geschaffen würde. Diese würden dann die »unerschöpflichen Naturschätze des Landes erforschen und die rasche Entwicklung seiner gewaltigen industriellen Energien dirigieren«. 27

Innerhalb eines Jahres stimmte Abbott Lawrence zu und unterschrieb Everetts Vorhaben. Lawrence’ Investitionen in die Textilverarbeitung und Eisenbahnindustrie hatten ihn reich gemacht und ihm in Massachusetts zu Einfluss verholfen. In seiner Anfangszeit hatte die industrielle Revolution in Amerika noch in ihren Kinderschuhen gesteckt, doch nun, Mitte des Jahrhunderts, hatte sich ihr Potenzial bestätigt. Lawrence wusste aus erster Hand um den Wert des Fabriksystems und der Mechanisierung für die Erhöhung von Produktion und Profiten. Er wusste, dass seine Investitionen in den Eisenbahnbau nicht nur Profite einbrachten, sondern auch die Eisenproduktion ankurbelten und regionale wie nationale Märkte eröffneten, wodurch wiederum Landwirte und Fabrikbesitzer ihre Waren an weit entfernte Ziele transportieren und somit Amerikas Exporte erhöhen könnten. »Harte Hände sind bereit, um unsere harten Materialien zu bearbeiten«, stellte er fest. Aber: »Wo sollen kluge Köpfe lernen, diese Hände zu lenken?« 28

Als Antwort auf seine Frage und um Harvard die ihm zugewiesene Rolle klarzumachen, übergab Lawrence der Universität die damals stattliche Summe von 50000 Dollar. Damit sollte sie eine Lehreinrichtung gründen, in der Chemie und andere Wissenschaften auf die Bedürfnisse von Landwirtschaft, Ingenieurwesen, Bergbau und Metallurgie sowie für die »Erfindung und Herstellung von Maschinen« zugeschnitten werden sollten. Das war die Geburtsstunde der Lawrence Scientific School. Lawrence war von ihr so angetan, dass er Harvard nach seinem Tod im Jahr 1855 weitere 50000 Dollar vermachte.

Die Harvard-Schule war exemplarisch für die neue Beziehung zwischen Wissenschaften, Ausbildung und Industrialisierung. Im 19. Jahrhundert gingen Wissenschaftler, Industrielle und Hochschulpräsidenten eine profitable Allianz ein. Der Nutzen der Wissenschaften für die Industrie, die Bereitschaft der Industriellen, die Forschung zu unterstützen, und die Möglichkeit für Hochschulen, Wissenschaftler und Ingenieure auszubilden und Forschung für die Industrie zu betreiben, sorgten für eine breite gemeinsame Basis. Dies öffnete auch Wissenschaftlern die Tür, die sich in Vollzeit der Wissenschaft widmen und damit von anderen absetzen wollten, die die Kenntnisse und Methoden der Naturwissenschaften lediglich für ihre Arbeit brauchten.

In den frühen Tagen der industriellen Revolution waren die großen Erfinder zumeist praktisch denkende Mechaniker, Handwerker und Tüftler – Männer und Frauen, die durch ihr Leben und ihre Arbeit zur Wissenschaft gekommen waren. »Im Gegensatz zur modernen Praxis«, bemerkt Harry Braverman, »ebnete die Wissenschaft damals nicht systematisch der Industrie den Weg, sondern hinkte ihr häufig hinterher und entwickelte sich aus den handwerklichen Fertigkeiten.« 29 In den 1830er- und 1840er-Jahren entstand eine neue Gruppe von Wissenschaftlern, die mehr als nur »Dilettanten« sein wollten. Wie ihre europäischen Kollegen, die sie um ihre Unterstützung und ihren Status beneideten, wollten sich die oberen Ränge der amerikanischen Wissenschaftler ganz der Forschung widmen können, aber dazu fehlte ihnen der finanzielle Hintergrund. Zwar hatten junge Leute an Amerikas Hochschulen Unterricht in Wissenschaften, doch innerhalb des Landes fand nahezu keine originäre Forschung statt. Joseph Henry, der führende Physiker der Nation, klagte: »Jeder, der Phosphor zu Sauerstoff verbrennen und einer Klasse junger Damen ein paar Experimente vorführen kann, wird hier als Mann der Wissenschaft bezeichnet.« 30

1844 erklärte Alexander Dallas Bache, Leiter des U.S. Coast Survey, auf dem ersten nationalen Wissenschaftskongress des Landes einem aufmerksamen Publikum, dass Amerikas einfallslose und dürftige Wissenschaften die europäischen Wissenschaften lediglich nachahmten. Amerikas Wissenschaften, so sagte er, verfügten über unzureichende institutionelle Unterstützung, ersetzten die wissenschaftliche Forschung durch die Lehre, seien von Dilettanten überlaufen, und es mangelte ihnen an professionellen Vertretern. Zusammen mit dem Harvard-Mathematiker Benjamin Peirce, dem Astronomen Benjamin Gould, dem Chemiker Oliver Wolcott Gibbs, dem Zoologen Louis Agassiz und ein paar weiteren professionellen Wissenschaftlern wähnten sich Bache und Henry als Amerikas einzige Hüter der Wissenschaft und ihrer Fortentwicklung. Offensiv bemühten sie sich um Unterstützung für ihre Forschungsarbeit und warben für professionelle Wissenschaft. Aus ihrer Sicht waren nur wenige mit wissenschaftlichem Talent gesegnet, und nur dieser Elite sollten Ausbildungsstätten, Forschungseinrichtungen und Gelder anvertraut werden. Doch wie Howard Miller unterstreicht, sorgte ihr elitäres Denken nicht gerade für Unterstützung vonseiten der selbstbewussten demokratischen Populisten der Ära Andrew Jackson. 31

Mit dem Unternehmensvermögen der Industriekapitäne wurden diese neuen Männer der Wissenschaft hingegen großzügig gefördert. Lawrence war nicht der erste und auch nicht der letzte Kapitalist des 19. Jahrhunderts, der seine überschüssigen Gewinne an Hochschulen abgab, damit die Wissenschaft im Dienst der Industrie unterwegs sei. 1846 schuf die Yale University mit der finanziellen Hilfe von Philanthropen zwei neue Professuren für landwirtschaftliche und praktische Chemie und berief den angesehenen Benjamin Silliman Jr. auf einen dieser Lehrstühle, um »die Anwendung der Chemie und verwandter Wissenschaften auf die Fertigungskunst, die Erforschung der Ressourcen des Landes und andere praktische Einsatzgebiete« zu entwickeln und zu lehren. Eine von Sillimans herausragenden Leistungen in Yale war die Entwicklung der ersten kommerziell erfolgreichen Methode zur Erdölraffination. Vor dem Bürgerkrieg spendete Joseph Earl Sheffield, ein Mann aus New Haven, der mit Baumwolle aus dem Süden und der Finanzierung von Eisenbahnlinien und Kanälen im Norden ein Vermögen gemacht hatte, der angeschlagenen Yale Scientific School einen großen Geldbetrag. Zum Dank benannte die Universität die Schule nach ihrem Wohltäter, dessen Zuwendungen an Yale für angewandte Wissenschaften sich bis zu seinem Tod 1882 auf mehr als 1 Million Dollar beliefen. 32

Die vielleicht symbolträchtigste Neuorientierung war die Bekehrung von Reverend Nathan Lord, dem Präsidenten des Dartmouth College. Als er 1828 die Präsidentschaft übernahm, stellte er klar, dass Dartmouth nicht für Leute gedacht war, die »sich mit kaufmännischen, mechanischen oder landwirtschaftlichen Tätigkeiten befassen«. Sein striktes Festhalten an den klassischen Fächern und der Vorbereitung distinguierter Herren bröckelte jedoch nach mehreren großzügigen Spenden wohlhabender Verfechter der angewandten Wissenschaften und des Ingenieurwesens. In den späten 1860er-Jahren gab er die »immer deutlicher werdende Notwendigkeit einer höheren Ausbildung in den ›praktischen und nützlichen Künsten des Lebens‹« zu. 33

Einige Industrielle und Finanzkapitalisten, die angesichts der langsamen und unvollständigen Umstellung der älteren Hochschulen unzufrieden waren, riefen technische Hochschulen ins Leben. Stephen Van Rensselaer, ein reicher Landwirt, der den Bau des Eriekanals organisierte und finanzierte und dabei aus erster Hand erfuhr, dass es an gut ausgebildeten Ingenieuren mangelte, gründete 1824 das Institut, das seinen Namen trägt und die »Anwendung der experimentellen Chemie, Philosophie und Naturgeschichte auf Landwirtschaft, Binnenwirtschaft, Kunst und Produktionsstätten« lehren soll. 34 Überall wurden mithilfe von Industriegeldern nun Ingenieur- und Technikschulen gegründet: Cooper Union in New York City, das Massachusetts Institute of Technology, das Stevens Institute in Hoboken, die Case School of Applied Science in Cleveland, das Pratt Institute in New York und das California Institute of Technology, um nur ein paar zu nennen.