Rolle rückwärts DDR? - Katja Adler - E-Book

Rolle rückwärts DDR? E-Book

Katja Adler

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Beschreibung

Katja Adler ist Abgeordnete des Deutschen Bundestages. In ihrem Buch behandelt sie aktuelle Entwicklungen in der Bundesrepublik, die sie an ihre ersten 15 Lebensjahre in der DDR erinnern. Eine DDR, in der die politische Meinungs- und Reisefreiheit beschränkt und Überwachung, Kontrolle und Mangelwirtschaft an der Tagesordnung waren. Mit ihren persönlichen Erinnerungen an ein vergangenes sozialistisches System schaut die Autorin hinsichtlich gegenwärtiger Geschehnisse genau da hin, wo heute ein unbestimmtes Unwohlsein einsetzt. Sie fragt beispielsweise angesichts der vielfach klaglos hingenommenen Einschränkungen der Grundrechte während der Corona-Pandemie: Ist uns unsere Freiheit wirklich so wenig wert? Und weiter: Haben wir schon vergessen, was es bedeutet, Reisefreiheit, Berufsfreiheit oder Meinungsfreiheit schmerzlich zu vermissen? Wo stehen wir gesamtgesellschaftlich und politisch heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall? Welche Rolle spielen die öffentlich-rechtlichen Medien? Wie verhielt es sich damals mit der Planwirtschaft und wie ist es heute mit der Marktwirtschaft? Was bedeuten Demokratie und Freiheit in einer von Krisen geschüttelten Zeit? Katja Adler möchte weder behaupten, wir lebten schon längst wieder in Verhältnissen wie in der DDR, es gebe keine Meinungsfreiheit mehr und die Presse sei faktisch gleichgeschaltet, noch vertritt sie die Position eines linksgrünen Mainstreams, der das Hinweisen auf Parallelen zwischen der DDR und dem heutigen Deutschland tabuisiert. Als Liberale nimmt sie eine Mittelposition ein, die sich gegen beide Extreme wendet: Nein, das heutige Deutschland ist nicht gleichzusetzen mit der DDR. Ja, es gibt gefährliche Entwicklungen in Deutschland, die an Ähnliches in der DDR erinnern. Das Buch zeigt, wie wichtig es ist, sensibel zu sein für jeden noch so kleinen Schritt, für jede noch so ungelenk versuchte Rolle rückwärts in die DDR.

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Seitenzahl: 388

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Katja Adler

ROLLE RÜCKWÄRTS DDR?

Wie unsere Freiheit in Gefahr gerät

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar..

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe, 1. Auflage 2024

© 2024 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Ansgar Graw

Korrektorat: Dr. Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: Autorenfoto: privat

Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)

ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-806-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-575-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-576-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort: Wenn man Ostdeutsche fragt

1 Wenn nicht nur Corona unangenehme Erinnerungen weckt

2 Wie war das damals in der DDR?

Wenn Gegenwart auf Geschichte trifft

Wo komme ich her?

Gemeinsam getrennt

Mein kleines Stück DDR

Wie ich das Ende der DDR erlebte

Aufbruch in eine neue Zeit im Osten

Kein Aufbruch in eine neue Zeit im Westen

Der Westen – das überlegene System

3 Wie ist es heute im wiedervereinigten Deutschland?

Vom Fehlen echter Aufarbeitung und gemeinsamer Erinnerungskultur

Über Demokratie

Das Grundgesetz der BRD und die Verfassung der DDR

Herausforderung soziale Marktwirtschaft

Der Wandel im Bildungssystem

Westdeutsche Gleichberechtigung

Die gesamtdeutsche Gleichberechtigung

Die Rolle der Medien

4 Vollführt Deutschland eine Rolle rückwärts DDR?

Die gespaltene Gesellschaft

Die Tücken der Meinungsfreiheit

Ganz subtil im Linksschritt voraus

Sozialismus der DDR oder Kapitalismus der BRD?

Die Politik der Angst

5 Das Ziel bleibt Freiheit und Demokratie

Nachwort: Keine Rolle rückwärts DDR

Anmerkungen

VorwortWenn man Ostdeutsche fragt

Kann, ja darf man die Verhältnisse in der damaligen DDR und im heutigen Deutschland vergleichen? Schon die Frage wird kontrovers diskutiert. Ich meine: Natürlich kann und soll man sie vergleichen. Aber Vergleichen ist nicht Gleichsetzen. Vergleichen heißt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten sichtbar machen.

Von Rechtsaußen wird manchmal behauptet, wir lebten schon längst wieder in Verhältnissen wie in der DDR – es gebe keine Meinungsfreiheit mehr und die Presse sei faktisch gleichgeschaltet. Das bedeutet jedoch eine Verharmlosung der DDR-Diktatur: Wer dort das Regime öffentlich so scharf kritisiert hätte, wie es heute etwa die AfD gegenüber der Ampel-Regierung tut, der hätte viele Jahre Gefängnis wegen »staatsfeindlicher Hetze« riskiert. Menschen wurden in der DDR gefoltert oder bei dem Versuch, in die Freiheit zu fliehen, erschossen. Deshalb ist eine Gleichsetzung abwegig.

Vom linksgrünen Mainstream dagegen wird es tabuisiert, auf bedenkliche Gemeinsamkeiten zwischen der damaligen DDR und dem heutigen Deutschland hinzuweisen und vor Fehlentwicklungen zu warnen, die uns in Richtung DDR führen. Es wird geleugnet, dass die freie Meinungsäußerung immer mehr reduziert wird, es wird geleugnet, dass wir uns mit unserer Wirtschaft immer weiter von einer Marktwirtschaft entfernen und auf eine Planwirtschaft hinsteuern. Und es wird geleugnet, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk zunehmend von links-grüner Ideologie dominiert wird und in manchen seiner hässlichsten Formen sogar Erinnerungen an Karl-Eduard von Schnitzlers Propaganda und die Aktuelle Kamera wach werden.

Ich nehme als Liberale in diesem Buch eine Mittelposition ein, die sich gegen beide Extreme wendet: Nein, das heutige Deutschland ist nicht gleichzusetzen mit der DDR. Ja, es gibt gefährliche Entwicklungen in Deutschland, die an Ähnliches in der DDR erinnern. Und das sehe nicht nur ich so, dass sieht jeder zweite ehemalige DDR-Bürger so, wie eine Umfrage belegt.

Täglich werden wir in den Medien mit den Ergebnissen von Umfragen konfrontiert. Journalisten verfolgen minuziös, ob eine Partei vielleicht ein halbes oder einen Prozentpunkt im Vergleich zur Vorwoche zugelegt hat, obwohl eigentlich alle wissen, dass dies im Bereich der statistischen Schwankungsbreite liegt und daher nichts aussagt. Wir wissen sogar, wie die Deutschen wählen würden, wenn sie über den amerikanischen Präsidenten entscheiden könnten und wir wissen genau, welcher Ministerpräsident in der Beliebtheitsskala zugelegt und welcher verloren hat.

Als ich das Buch schrieb, dachte ich, es müsse auch Umfragen über das Thema geben, das mir in so vielen Gesprächen mit Menschen begegnet, die – so wie ich – in der ehemaligen DDR geboren wurden: Erinnern sie manche Fehlentwicklungen im heutigen Deutschland an das, was sie in der DDR erlebt haben?

Doch ich fand keine Umfrageergebnisse zu dem Thema (offenbar interessierte sich bislang niemand dafür). Daher beauftragte ich auf eigene Kosten das renommierte Meinungsforschungsinstitut Insa damit, eine solche Umfrage durchzuführen. Das ist methodisch nicht ganz einfach, denn es wäre falsch, einfach die Bürger zu fragen, die heute in den neuen Bundesländern leben. Erstens sind viele davon in den Westen abgewandert. Zweitens leben in den neuen Bundesländern heute auch viele Westdeutsche, die nie in der damaligen DDR gelebt hatten und daher keine Vergleichsmöglichkeit haben. Drittens sind viele einfach zu jung, als dass sie einen Vergleich ziehen könnten.

All das wurde von Insa berücksichtigt. Daher wurden 498 repräsentativ ausgewählte Personen gefragt, die vor dem Jahr 1976 auf dem Gebiet der damaligen DDR geboren wurden. Bei der Wende waren die jüngsten von ihnen also etwa 14 Jahre alt.

Die übergroße Mehrheit verband mit der Wende Hoffnungen. 81 Prozent stimmten der Aussage zu: »Nach der friedlichen Revolution in der DDR hatte ich die Hoffnung, dass vieles besser wird.« Nur 13 Prozent hegten solche Hoffnungen nicht, der Rest war unentschieden. Auch bei denen, die ihren politischen Standort als »links von der Mitte« angaben, überwogen die Hoffnungen: 78 Prozent stimmten der Aussage zu. Bei jenen, die sich »rechts der Mitte« verorten, waren es indes noch deutlich mehr, nämlich 94 Prozent.

Der Eindruck, den ich in vielen Gesprächen mit Menschen aus der ehemaligen DDR gewonnen hatte, bestätigte sich: Fast jeder zweite Ex-DDRler, 46 Prozent, sagt: »Vieles, was sich heute in der Bundesrepublik Deutschland negativ entwickelt, erinnert mich an die DDR.« 43 Prozent stimmen dem nicht zu. Bei den Männern fällt die Zustimmung mit 51 Prozent noch deutlicher aus, bei den Frauen überwiegt dagegen mit 46 zu 41 Prozent knapp der Anteil derjenigen, der sich nicht an die Ex-DDR erinnert fühlt.

Sehr unterschiedlich sind die Wahrnehmungen auch bei denen, die sich eher links und bei jenen, die sich eher rechts verorten. Fast zwei Drittel der Befragten, die sich eher rechts verorten, fühlen sich an die DDR erinnert. Bei denen, die sich eher links verorten sind es nur halb so viele (ein Drittel).

Fragt man jene, die sich an die DDR erinnert fühlen, in welchen Bereichen das besonders zutrifft, dann sagen:

71 Prozent: zu viele Vorgaben des Staates bezüglich der Lebensweise der Bürger,

68 Prozent: Angst, die eigene Meinung zu sagen,

60 Prozent: Propaganda für die Bundesregierung durch den staatlichen Rundfunk,

56 Prozent: zu viele staatliche Eingriffe in die Wirtschaft,

21 Prozent: zu viele staatliche Eingriffe in anderen Bereichen.

Noch eines fällt auf: Während es für Befragte, die aktuell in Westdeutschland leben, deutlich häufiger die Angst ist, die eigene Meinung zu sagen (76 Prozent), spielen für Befragte, die immer noch in Ostdeutschland leben, Propaganda durch den staatlichen Rundfunk (63 Prozent) und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft (58 Prozent) eine besondere Rolle.

Ich finde diese Ergebnisse erschreckend, und sie bestätigen meinen Eindruck: Es geht vielen derer, die in der ehemaligen DDR geboren wurden, ähnlich wie mir. Sie hatten große Hoffnungen, doch diese Hoffnungen wurden nur teilweise erfüllt. Denn sie mussten erleben, wie sich Stück für Stück das neue Deutschland in verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen wieder in eine Richtung von mehr staatlicher Kontrolle entwickelt. Der Staat mischt sich dabei in vielen Bereichen in das Leben der Bürger ein, wo er sich eigentlich raushalten sollte.

Wie konnte das geschehen? Diesem Thema habe ich dieses Buch gewidmet.

Katja Adler

1

Wenn nicht nur Corona unangenehme Erinnerungen weckt

Im April 2020 saß ich mit meinen beiden Kindern im Auto, fuhr über apokalyptisch leere Autobahnen und versuchte nahezu vergeblich, die Ereignisse, die die Corona-Pandemie auslösten, mit meinem Verständnis unserer grundgesetzlich geschützten Freiheit in Einklang zu bringen.

Wir fuhren zu meinem Vater, der 600 Kilometer weit entfernt allein in seinem Haus, abgeschirmt vom Rest der für ihn als so tödlich dargestellten Welt, nicht einsam Ostern feiern sollte und wollte. So wenig, wie mein Vater das Bedürfnis hatte, sich vom Staat beschützen zu lassen, so wenig hatte ich das Verlangen, mich durch den Staat von ihm fernhalten zu lassen. Wir hatten uns entschieden, beisammen zu sein. Uns war bewusst, dass dies viele Menschen für unverantwortlich, für gefährlich, für unsolidarisch hielten. Dass es Menschen gab, die in ernsthaften Panikattacken versanken und großen Abstand zu ihren Mitmenschen, eingeschlossen ihren Eltern, Kindern oder anderen Verwandten und Freunden wahren wollten, um sie, aber auch sich selbst vor Krankheit und Tod zu schützen. Dramatische Bilder und tägliche Aktualisierungen zu Ansteckungen und Todesfällen gab es schließlich in allen und vor allem den öffentlich-rechtlichen Medien zuhauf.

Bilder von einsamen Alten, von gelangweilten und verstörten Kindern oder von in der häuslichen Isolation geschlagenen Frauen hingegen gab es zunächst nicht.

Wir waren konfrontiert mit einer Pandemie, die unsere grundgesetzlich geschützten Rechte vergessen machte und jedem wachen Bürger vor Augen führte, dass unsere Freiheit nicht Gott gegeben, nicht selbstverständlich, sondern entgegen allen demokratischen Annahmen wohl doch verhandelbar ist.

Und so fuhr ich zu meinem Vater, stellte das Auto weit hinten im Hof ab, um nicht entdeckt und gemeldet zu werden und bekam Bauchschmerzen bei dem Gedanken, dass es ähnliche Zustände und Situationen schon einmal in der vergangen geglaubten DDR gab.

Die ehemalige DDR hielt in den Monaten der Corona-Pandemie ausgesprochen viele Vergleichsmöglichkeiten bereit, die so manchem, vor allem im Osten sozialisierten Mitbürger deutliches Unbehagen bescherten. Das begann schon beim Kampf um die letzte Rolle Toilettenpapier, der zu viele lockdowngeplagte Menschen so manches Mal am leeren Metallcontainer oder Supermarktregal hat verzweifeln lassen – 1985 genauso wie 2020. Sorgte in den Vorwendejahren die sozialistische Planwirtschaft, die regelmäßig an den Bedürfnissen des Kunden vorbei operierte, für leergefegte Metallcontainer, waren es 2020 die Menschen selbst, die gänzlich irrationale Hamsterkäufe tätigten. Klopapier! Wasser, Nudeln, Reis oder auch Schokolade, Bier und Camembert blieben in Deutschlands Geschäften fast durchgängig in den benötigten Mengen vorhanden. Nicht jedoch die Zelluloserollen, bei denen die Verbraucher eine Verknappung befürchteten und sie dadurch erst selbst erzeugten. Und konnte 1985 noch die weichgeknüllte, planerfüllungs-beschwörende Tageszeitung gut das Toilettenpapier ersetzen, stellte uns die nun fortschreitende Digitalisierung vor neue Herausforderungen, flattern doch höchstens noch einmal wöchentlich die kostenlosen Wochenblätter in die meisten Haushalte.

Viel gravierender jedoch waren die zumeist noch sehr präsenten Erinnerungen an die Einschränkungen der persönlichen Freiheit, der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit oder der Berufsfreiheit, die wieder aufkeimten. Jedes laut geäußerte Unbehagen, jedes gesetzte Ausrufungszeichen zur Vorsicht im Umgang mit unseren Freiheiten und jede Kritik an den verhängten Maßnahmen wurde entweder als »Schwurbeln« oder häufig als extremistisch abgetan. Aus dem Kritiker wurde ein »Querdenker« im moralisch bestimmenden stigmatisierenden Kontext.

War Querdenken bis dahin Ausdruck eines eindeutig positiv besetzten wachen Geistes, der gerne mal gegen den Strom schwimmt und der Gesellschaft damit wichtige Perspektiven abseits der Norm aufzeigt, wurde eben dieses Querdenken nun zum delegitimierenden Synonym für Unvernunft oder Radikalismus, nahezu ausschließlich als von »rechts« definiert.

Diese Pandemie konfrontierte uns zum Beginn zwar noch mit einer unbekannten Gefahr. Appelle und Aufrufe zu Vorsicht und Eigenverantwortung oder zum Tragen von Masken in geschlossenen Räumen und selbst das Angebot freiwilliger Impfungen wären daher durchaus angemessen gewesen. Doch die Mehrzahl der Politiker, die meisten Medien und auch Teile der Gesellschaft schossen weit über dieses Ziel hinaus. Sie versetzten die Menschen in irrationale Angstzustände, stellten die Impfung wider besseren Wissens als alternativlose und einzige Lösung aller Corona-Probleme dar und denunzierten und diffamierten all jene, die aufgrund eigener Urteilskraft zu anderen individuellen Entscheidungen gelangt waren. Dies bewusst und in einer Art und Weise, dass selbst die liberaler Umtriebe unverdächtige taz seinerzeit davor warnte, die Menschen anderer Meinungen als »asoziale Minderheit« auszugrenzen.1

Dabei wären Demut und Zurückhaltung angesichts unserer grundrechtlich garantierten Freiheiten angezeigt gewesen. Zu viele Politiker und Meinungsbildner entschieden sich jedoch, die Argumente des einen Lagers über alle Zweifel zu stellen und gegenläufige Meinungen, selbst wenn sie mit vergleichbarer Expertise daherkamen, mit dem Bann der Leugner und Extremen zu belegen.

Von Liberalität, Respekt für die Selbstverantwortung und die individuellen Entscheidungen oder von der Bereitschaft, Gegenargumente anzuhören, war in diesen Wochen und Monaten der Diffamierung ausgesprochen wenig zu spüren.

Verbunden in neu entdeckter und doch altbekannter Solidarität schien unter Corona vielmehr jede Individualität verpönt und geriet im Strudel der Moral sehr schnell in die Ecke des Egoismus und Extremismus. Allgemeingesellschaftlich getrieben und medial unterstützt sollte der Drang nach individueller Freiheit, kritischem Denken und der eigenen Entscheidungsmacht im kollektivistischen Kampf gegen das Coronavirus erdrückt werden.

Ein Aufbegehren gegen diesen Druck endete zuweilen in auch öffentlichen Beschimpfungen einzelner Personen oder ganzer Gruppen, insbesondere ungeimpfter Menschen, die sie zudem beruflich und persönlich zu zerstören drohten. Das Narrativ der »Pandemie der Ungeimpften« war schließlich geboren und sollte genährt werden.

So habe auch ich mich impfen lassen. Aus zwei Gründen: Ich wollte, erstens, reisen und ich war, zweitens, Abgeordnete im Bundestag. Wesentliche Voraussetzung für Auslandsreisen war eine gewisse Zeit lang in der Regel mindestens der zweifache Impfnachweis. Ich hatte bereits eine Reise gebucht, die einen Impfnachweis bei Einreise zur Bedingung machte. Nach den langen Monaten der Corona-Pandemie mit ihren umfassenden Einschränkungen wollte ich diesem bedrückenden Kreislauf schlicht mal für eine kurze Zeit entkommen. Ich brauchte Luft. Welche Folgen wären zudem im Bundestag auf mich zugekommen, hätte ich die Impfung inklusive Booster abgelehnt? Schließlich hätte ich ohne Impfung, so wie einige MdBs der AfD, auf der Besuchertribüne des Plenums Platz nehmen müssen. Mehr und mehr Veranstalter machten die 2-G-Regel (geimpft oder genesen) zur Zugangsvoraussetzung, wodurch der tägliche Test für eine Teilnahme dann nicht mehr genügt hätte. Das Testen wäre für mich noch völlig in Ordnung gewesen. Doch welche Stigmatisierung wäre auf mich zugekommen angesichts der nahezu diskussionsfeindlichen Atmosphäre, die Corona mit sich brachte? Es hieß nicht mehr: »Wir sehen das so und du siehst das anders«, sondern: »Wir sehen das so und du siehst das falsch.«

Situationen und drohende Diffamierungen, die ich vermeiden wollte. Dabei hatte ich Angst vor den Folgen der Impfung. Dieser unbekannte Stoff brachte Unruhe und Skepsis in mir auf. Ein Insider hatte mir in einem Gespräch ganz klar gesagt, dass eine Impfung in so kurzer Zeit gar nicht umfassend getestet und geprüft werden kann. Das war wenig vertrauenserweckend. Und doch ließ ich mich impfen und gab damit dem gesellschaftlichen und politischen Druck nach.

Ich konnte die Skepsis der Menschen und ihre Weigerung, sich impfen zu lassen, verstehen. Nicht verstanden habe ich die Verurteilung dieser Menschen, die ihre ganz eigenen, oftmals sehr persönlichen Gründe für ihre Entscheidung hatten. Weder moralischer Druck noch Gesetze dürfen Menschen zur Impfung zwingen. Rücksicht, Verantwortung, Anstand und Hygiene durften hingegen ausdrücklich erwartet werden.

Manches Mal wünschte ich mir heute bestimmte Hygieneregeln zurück. Toilettengänge ohne anschließendes Händewaschen, das legen zumindest meine möglicherweise nicht repräsentativen Beobachtungen nahe, scheinen beunruhigend weit verbreitet zu sein. Auch hätte ich nichts gegen freundliche Begrüßungen ohne Händedruck. Denn schaue ich bei Veranstaltungen oder Sitzungen in die Runde der Teilnehmenden, ist es zuweilen bemerkenswert, was deren Hände zu vollführen im Stande sind oder wo sie zwischendurch unterwegs sein können.

Diese Pandemie ist zwar vorbei, wirklich aufgearbeitet wurde sie bisher aber nicht.

Derweil setzt sich der Kurs linker kollektivistischer Denkrichtungen fort, der mit und durch Corona offen in den Vordergrund auch politischer Auseinandersetzungen gespült wurde. Sich als progressiv begreifende Kräfte drängen die Gesellschaft auf einen intoleranten Gesinnungskurs, von dem es immer schwerer wird, ohne größere Verwerfungen zurück auf einen freiheitlichen, bürgerlichen Pfad zu kehren. Derartige Verschiebungen unseres politischen Koordinatensystems zu korrigieren, wird erst recht schwer, scheint sich die bürgerliche Mitte über die vergangenen Jahrzehnte nach links verschoben zu haben. Zunehmend steht zudem eine vermeintlich »richtige«, also mit linken und grünen Vorstellungen harmonierende Haltung im Vordergrund jeder persönlichen, politischen oder wirtschaftlichen Handlung.

Doch wer legt die bürgerliche Mitte fest? Wer definiert die richtige Haltung? Anders gefragt: Wer bestimmt heute im vereinigten Deutschland unseren Handlungsrahmen und vor allem, wie?

Wurden früher individualistische Ansichten respektiert, darunter linke und liberale und selbstverständlich auch rechte Positionen, solange sie sich im demokratischen Spektrum bewegten, gilt inzwischen alles rechts der Mitte als demokratiefeindlich und »rechtsextrem«. Einige wenige selbsterklärte Moralwächter definieren die heute maßgebliche »richtige« Haltung. So wurde fast schon folgerichtig in den ersten Monaten des Jahres 2024 in vielen deutschen Städten gegen rechts oder Rechtsextremismus demonstriert, ausgelöst durch Berichte des Recherchenetzwerkes »Correktiv« über ein Treffen einer Handvoll Personen aus einem Spektrum zwischen AfD, rechter Union und der »Identitären Bewegung« in einem Landgasthaus in Potsdam. Konferiert wurde entweder über härtere Abschiebemaßnahmen gegen Ausländer ohne legalen Aufenthaltsstatus, wie sie selbst Kanzler Scholz wenige Monate zuvor in einem großen Spiegel-Interview eingefordert hatte. Oder über das Hinausekeln sogar von Menschen mit deutschem Pass, deren Integration von den Versammelten als unzureichend angesehen wurde. Im Detail gehen die Darstellungen der Teilnehmer und die Vorwürfe der heimlichen Beobachter des Recherchenetzwerks zum Inhalt des Besprochenen weit auseinander. Wirklich relevant waren diese Details für den Aufruf zu den »Demos gegen rechts« im Prinzip aber nicht.

Unbestritten ist es gutes Recht von Menschen zu demonstrieren und so auch die Correktiv-Berichte zum Anlass solcher Aufrufe zu nehmen. Doch muss es in einer Demokratie genauso legitim sein, sich solchen Demonstrationen nicht anschließen zu wollen, ohne in den linken Verdacht zu geraten, Rechtextremismus zu unterstützen. Die Toleranz der Meinungsfreiheit darf nicht einseitig ausgelegt und beansprucht werden. Erlebt habe ich selbst anderes. Sich die Meinung zu erlauben, gegen jeden Extremismus (von rechts und links) einzutreten und zudem noch Antisemitismus und religiösen Fundamentalismus als Gefahren für unsere Demokratie in den Blick zu nehmen, wurde von vornehmlich linken Meinungsträgern kaum toleriert, wenn nicht gar als demokratiefeindlich diffamiert. Selbst als über 1000 Islamisten in Hamburg und anderen Städten Deutschlands zu einem Kalifat aufriefen oder die israelische Sängerin Eden Golan beim ESC widerlichen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war, blieb der Fokus der vornehmlich linken Gruppierungen beharrlich auf dem Rechtsextremismus konzentriert. Wer Demokratie schützen will, gleichzeitig wesentliche Gefahren für unsere freiheitliche demokratische Gesellschaft stur, ignorant und bewusst ausblendet, muss sich die Frage gefallen lassen, wie ernst es ihm mit der Stärkung der Demokratie ist. Zwölf Punkte hat Israel beim besagten ESC auch aus Deutschland bekommen. Zwölf Punkte sind dabei mehr als nur ein Votum für eine tolle und vor allem mutige Sängerin. Sie sind Botschaft und Statement sehr vieler Menschen und demonstrieren wohltuend klar ihre Haltung gegen Antisemitismus.

Nur ein breites Meinungsspektrum mit Links, Mitte und Rechts lässt auch einen breiten Diskurs und umfassendes demokratisches Ringen um die beste politische Lösung zu. Inwiefern daher mit den »Demos gegen rechts« auch inhaltlich die Demokratie gefördert oder gestärkt worden sei, darf hinterfragt werden. Sind alle einer (linken) Meinung, braucht es keine Diskussion mehr. Wird alles rechts der Mitte denunziert, diffamiert und ausgrenzt, geht dieser wichtige Teil unseres demokratischen Meinungsspektrums verloren und wird durch zuvor noch als Mitte definierte Meinungen ersetzt. Ehemalige Mittemeinungen werden damit erst moralisch nach rechts gerückt und dann von vornehmlich linken Moralwächtern ebenfalls diffamiert, denunziert und ausgegrenzt. Eine Taktik, die beliebig oft angewendet werden kann. Irgendwann sind es moderate Linke, die von Linksextremisten als Rechte angesehen werden. Und kurz darauf sind die Linksextremisten unter sich.

Eine solche Entwicklung wäre kein erstmaliges Ereignis in der Geschichte. Im zaristischen Russland kam es 1917 zunächst zur »Februarrevolution«, getragen vor allem von den marxistischen Menschewiken, den berufsrevolutionären Bolschewiken und etlichen Arbeiter- und Soldatenräten. Damit war die absolutistische Zarenherrschaft beendet. Aber den Bolschewisten, angeführt von dem erst im April aus dem Schweizer Exil nach Russland heimgekehrten Lenin, reichte die Aussicht auf ein diverses Parlament und eine möglicherweise bürgerliche Regierung nicht. Sie beschimpften die ja ebenfalls linken Menschewiken und die Sozialrevolutionäre als »Konterrevolutionäre«, die »auf den Müllhaufen der Geschichte« gehörten (Trotzki) und putschten sich am 25. Oktober 1917 (7. November neuer Zeitrechnung) im Sowjetkongress an die Macht.2 Doch auch der Kommunist Trotzki, der im Gegensatz zu Stalins Konzept vom »Sozialismus in einem Land« die Weltrevolution anstrebte, sollte später als nicht genügend linientreu von den noch linkeren Bolschewisten verfolgt und ins Exil gedrängt werden, bis ihn Stalin 1940 in Mexiko von einem Agenten ermorden ließ.

In der DDR gab es sehr ähnliche Phänomene wie in der UdSSR. Es begann 1946 mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und setzte sich dann sehr bald fort mit einer systematischen Diffamierung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, immerhin die Älteste der deutschen Parteien. Im Kleinen Politischen Wörterbuch aus Ost-Berlin ist noch in der Auflage von 1988 nachzulesen, dass die SPD nur zur Zeit ihrer Entstehung im späten 19. Jahrhundert »eine revolutionäre Partei« gewesen sei, aber später habe sich in ihr »der Revisionismus immer stärker« ausgebreitet. Nach der Oktoberrevolution in der Sowjetunion habe sich bei der SPD »eine grundsätzlich konterrevolutionäre Position« durchgesetzt: »Die rechten Führer der SPD leugneten die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution.«3

Spreche ich heute mit meiner Oma (Jahrgang 1931), erinnert sie sich fast schon wehmütig an die Anfänge der DDR mit ihrer sozialistischen Idee eines Arbeiter- und Bauernstaates, die noch von vielen Menschen und so auch von ihr getragen und unterstützt wurde. Umgekehrt wurde auch sie vom Staat unterstützt, bei der Wohnungssuche, bei der Betreuung ihrer Kinder, in ihrem Beruf, den sie in ihrer »Männer-Brigade« im Heizkraftwerk sehr gerne ausübte. Doch wurde es mit der Zeit immer schlimmer, wie sie sagt. Verbissene Ideologen übernahmen die Parteiorgane und zogen weitere Ideologen in die Parteispitzen nach. Die einstige Idee eines gleichberechtigten, solidarischen, sozialistischen und demokratischen Staates wurde von diesen Ideologen verkauft und einem kommunistischen Ideal, das nichts neben sich duldete, preisgegeben.

Was hat das mit der Entwicklung in der heutigen Bundesrepublik zu tun? Zunächst noch nicht allzu viel. Doch wenn wir tatenlos dabei zusehen, wie immer größere Teile des nicht-linken und nicht-grünen Spektrums als »rechts«, also gewissermaßen »konterrevolutionär« diffamiert werden, akzeptieren wir eine gefährliche Entwicklung.

In dem offiziellen Wörterbuch der DDR-Ideologie wurde die SPD als rechte Partei bezeichnet, und 2024 wurde dies erneut in München und bei vielen anderen Demos »gegen rechts« behauptet. Auf etlichen Plakaten und Transparenten und von Rednern bei diesen Demonstrationsveranstaltungen wurden auch Freie Wähler, Unionsparteien oder FDP des Rechtsradikalismus bezichtigt – oder gleich die gesamte Ampel-Regierung. Man muss kein Anhänger der Sozialdemokratie, der Freien Wähler, der Christdemokraten oder der Liberalen sein, um eine solche Verzerrung von Fakten nicht nur als bösartig anzusehen, sondern auch als Gefahr für die Demokratie.

Viele dieser Demonstrationen nach dem AfD-nahen Potsdamer Treffen wurden zudem von linksradikalen Kräften wie der Antifa unterwandert und Demonstranten, von denen die meisten zweifellos ein Zeugnis für eine starke Demokratie ablegen wollten, wurden damit ideologisch instrumentalisiert. So demonstrierten im Januar 2024 beispielsweise in München bis zu 100 000 Menschen »gegen rechts«. Anschließend sagte der frühere SPD-Oberbürgermeister Christian Ude: »Ich hätte mir eine Großkundgebung gewünscht, die ganz klar gegen rechtsradikale Strömungen antritt und nicht mit derselben Vehemenz auf die Ampelregierung schimpft.«4 Weil angesichts einer solchen Stimmung Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler und stellvertretender Ministerpräsident Bayerns, an der Demo gar nicht erst teilgenommen hatte, freute sich die Organisatorin und Lehramtsstudentin Lisa Poettinger: »Als Versammlungsleiterin kann ich sagen, dass ich gar keinen Bock auf Rechte jeglicher Couleur habe.«5

Es lässt frösteln, dass Menschen mit einem derartig radikalen Weltbild Hunderttausende Deutsche zu Demonstrationen motivieren können – und sehr viele gutwillige Bürger sich in dieser Weise vor den Karren spannen ließen. Repräsentanten des Staates, die diese Protestveranstaltungen lobten, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, hielten es leider nicht für geboten, gegen eine derartige Hetze das Wort zu erheben.

Wollen wir unsere Demokratie nicht aufs Spiel setzen, müssen wir wieder lernen, abweichende Meinungen zu akzeptieren – und wirklich genau hinzuschauen, ob jemand »nur rechts« von uns steht oder wirklich rechtsradikal, eventuell sogar rechtsextrem ist. Gleiches gilt natürlich für die Unterscheidung zwischen links, linkradikal und linksextrem.

Das bedeutet weder, sehr weit rechte oder sehr weit linke Positionen zu umarmen, noch Extremisten oder Verfassungsfeinde gewähren zu lassen. Der Staat muss sich gegen seine Feinde als wehrhaft erweisen, doch darf er die Zahl seiner Feinde nicht dadurch vergrößern, dass er Menschen mit irritierenden, ungewöhnlichen, vielleicht störenden, mitunter an die Grenzen gehenden Positionen voreilig zu Feinden erklärt.

Wie verengt, aufgeregt, delegitimierend und vor allem diffamierend unsere Debattenkultur mittlerweile ist, zeigt Social Media auf erschreckende Weise. Nahezu alles, was sich mit persönlicher Freiheit und Individualismus, mit der Wahrung unserer Kultur, dem Schutz unserer Werte, mit Patriotismus oder auch mit christlichen Bräuchen im konservativen Stil befasst, wird von progressiven Strömungen als rechts und noch eher als rechtsradikal diffamiert. Das linke Meinungsspektrum stürzt sich auf konservativ Denkende in einer Art und Weise, die Menschen verstummen lassen soll. Alarmierend.

Selbst Jugendliche sind mittlerweile solchen Diffamierungen ausgesetzt. Wenn sich ein 16-jähriges Mädchen vor dem Rektor ihrer Schule in Ribnitz-Dammgarten und begleitet von der Polizei für ihre Social-Media-Posts, die sie zwar weit im rechten Spektrum erscheinen lassen, jedoch nicht strafbewährt sind, rechtfertigen muss, dann liegt zumindest für ihre Mutter der DDR-Vergleich nahe, als sie von der »Jungen Freiheit«, die zuerst berichtete, mit den Worten zitiert wird: »Das ist so eine heftige, mit Verlaub, Stasischeiße, ich hätte das in meinem ganzen Leben nicht für möglich gehalten, was meiner Tochter hier angetan wurde.«6

Diese Gleichsetzung ist sicher abwegig. Dass jedoch Vergleiche gezogen werden zwischen der ständigen Praxis in der ehemaligen DDR und gelegentlichem Verhalten und so manchen Handlungen im vereinten Deutschland, sollte niemanden überraschen – und jeden beunruhigen.

Auch ich hatte vor ’89 hin und wieder Gespräche mit meinen Lehrern, wenn ich in Diskussionen oder insgesamt ihrer Meinung nach »zu vorlaut« oder zu kritisch bestimmten Ereignissen oder Vorgaben gegenüber war. Mit meinem Ziel im Blick, unbedingt Abitur machen zu können, lernte ich jedoch sehr schnell, was ich nicht sagen durfte oder was ich unbedingt sagen sollte, um negative Konsequenzen wie die Verwehrung meines Abiturwunsches zu vermeiden. Bestimmte Verfehlungen, wie Diebstahl oder Schwänzen wurden im Klassenverband oder gar vor der versammelten Schulgemeinde ebenso öffentlich besprochen wie auch Belobigungen für besonders gute Leistungen öffentlich zelebriert wurden. In jedem Fall wurde öffentlich diszipliniert. Niemals jedoch wurde zumindest in meinem Umfeld ein Mitschüler wegen solcher Vergehen von der Polizei zum Direktor oder aus dem Schulgebäude geführt.

Sicherlich bildet Social Media nicht unsere Gesellschaft in Gänze ab. Gleichwohl stellt insbesondere die Plattform X einen wichtigen Seismografen dar, der die jeweils aktuelle gesellschaftliche Stimmung und Bewegung und den Kampf um die Deutungshoheit zur finalen gesellschaftlichen Ausrichtung widerspiegelt. Sehr viel eindeutiger sind da Verbote. Im Juli 2024 hat die SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faser das politische Magazin Compact inklusive der zugehörigen Social-Media-Kanäle auf den verschiedensten Online-Plattformen mit den dahinter stehenden Gesellschaften verboten. Faser hat sich dabei nicht nur am Vereinsrecht bedient, welches ein Verbot von Vereinigungen zwar ermöglicht, nicht jedoch das von Pressemedien. Sie hat auch gleich die Vermögenswerte der GmbH beschlagnahmt und ihre Einnahmen konfisziert. Unabhängig davon, dass Compact unbestritten unappetitliche, rechtsextremistische Inhalte anbietet und verbreitet, stellt dieses Verbot eine neue Dimension des Eingriffs in die Meinungs- und Pressefreiheit dar, die durch Artikel 5 des Grundgesetzes elementar geschützt ist und deren Beschränkung einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegt. Hier wurde von einer Bundesministerin und ohne rechtsstaatliches Verfahren ein Medienverbot durchgesetzt, das Vergleichbares in freiheitlichen Demokratien vergeblich suchen und kaum finden wird, wohl aber in autoritären Regimen. So etwa hat die DDR Ende 1988 den Vertrieb der Jugendzeitschrift Sputnik verboten, alle Hefte eingezogen und eingestampft, gerade zu dem Zeitpunkt, als sie im Rahmen von Glasnost und Perestroika immer systemkritischer wurde.

Der Verdacht drängt sich auf, dass in Deutschland, mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, eine links-grüne gesellschaftliche Minderheit moralisch codiert sowohl den Diskussionsrahmen als auch die Denkrichtung bestimmen. Sowohl politische als auch wirtschaftliche Entscheidungen werden immer häufiger der Deutungshoheit dieser Minderheit untergeordnet, will man sich den teilweise zerstörerischen moralbasierten Auseinandersetzungen entziehen, die ähnlich einem Kampf »Gut« gegen »Böse« nicht gewonnen werden können.

Ist die gesellschaftliche Mitte derart stark nach links gerückt, dass selbst ein gesundes Heimatgefühl, Stolz auf die eigene Kultur und unsere Demokratie, und der intensive Schutz der Freiheit viel zu schnell und vor allem viel zu leise widersprochen in den linken Verdacht geraten, rechtsradikal zu sein, haben wir nicht nur unsere gesellschaftliche Mitte verloren, sondern auch unser gesellschaftliches Gleichgewicht.

Da ist es schon nicht mehr überraschend, dass der Kapitalismus als Garant für Wachstum und Wohlstand von den vornehmlich progressiven linken Kräften heute wieder ganz selbstverständlich in Frage gestellt wird.

Die sozialistische Planwirtschaft hat es zurück auf die Schreibtische so mancher Politiker und Beamten geschafft, im Gleichklang mit dem Kampf für die gute Sache der Gemeinwohlorientierung und der Vergemeinschaftung von Eigentum.

Man tut sich im heutigen Deutschland schon schwer mit der Akzeptanz individueller Freiheit. Unternehmerische Freiheit soll es dann gleich gar nicht geben. Unbekümmert erwecken Demagogen den Eindruck, der Kapitalismus sei schuld an Umweltzerstörung, Klimawandel, Armut und Kriegen in der Welt. Dabei waren es die sozialistischen Länder, in denen die Flüsse vergiftet waren, die Fabrikschlote ungefilterte Abgase in die Atmosphäre pusteten und die Menschen stundenlang Schlange stehen mussten, um wenigstens die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu decken. Ge- und verhungert wurde und wird während Kriegen und Bürgerkriegen überall, doch in Friedenszeiten fast ausschließlich in sozialistisch regierten Staaten.

Was bleibt der Mehrheit?

Ihr bleibt die Demokratie. Haben die Menschen in der DDR bis 1989 lediglich mit den Füßen abstimmen können, indem sie das Land verließen oder es zumindest versuchten, bleibt ihnen wie allen Deutschen heute die Wahlurne. Unsere grundgesetzlich verankerte freiheitliche parlamentarische Demokratie garantiert das Recht, in freien, gleichen und geheimen Wahlen Volksvertreter in die Parlamente zu wählen.

Das ist der wesentliche Unterschied zum diktatorischen SED-Regime der DDR. Selbst wenn die Wahlergebnisse dem ein oder anderen nicht gefallen, durch und mit den Wahlen gerät unsere Demokratie nicht in Gefahr. Wohl aber durch die Überheblichkeit einiger, moralbasiert und haltungsfest bestimmen zu wollen, was (noch) demokratisch ist.

Menschen, vor allem den Ostdeutschen, vor dem Hintergrund unerwünschter Wahlergebnisse ihr Demokratieverständnis absprechen zu wollen, missachtet auf fatale Art und Weise den Kampf vieler Ostdeutscher um Freiheit und Demokratie und ihre möglicherweise größere Sensibilität gegenüber den kleinen, feinen, aber permanenten sozialistischen Schwingungen im wiedervereinten Deutschland.

Der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz hat 2021 gesagt, dass die Ostdeutschen »gefestigte, nicht demokratische Ansichten« und eine »vertiefte Grundskepsis« gegenüber der Politik und der Demokratie7 hätten. Damit hat er die Notwendigkeit seines damaligen Amtes gut 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eher in Frage gestellt, als bestätigt. Warum braucht es diesen also noch immer? Als Feigenblatt einer besonderen Fürsorge? Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands liegt im Vergleich zu Westdeutschland auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung noch weit hinter dem Westen zurück. Ostdeutsche haben es bis heute kaum in die Führungsetagen größerer Unternehmen selbst in Ostdeutschland geschafft.

Dafür werden im Jahre 2023 in einem ZDF-Beitrag zur Deutschen Einheit aus der Reihe Am Puls mit Mitri Sirin Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund gleichgesetzt. Nicht wirklich in Deutschland angekommen zu sein, dieses Gefühl teilten »viele Ostdeutsche« mit »Menschen mit Migrationsgeschichte«, so der Moderator Sirin.8 Es braucht keine Erklärung für das sich daraus ergebene Störgefühl. Es braucht auch keine Rechtfertigung, werden mit diesem Störgefühl weder Menschen mit Migrationshintergrund herabgesetzt noch Ostdeutsche über sie erhoben. Sich als Ostdeutscher jedoch in einem Topf mit Menschen mit Migrationshintergrund wieder zu finden, wo es doch um die Aufarbeitung einer gemeinsamen gesamtdeutschen Geschichte gehen soll, ist störend. Es sagt mehr über das eigentliche Problem aus, dass laut einer in dieser Sendung zitierten Umfrage sich 50 Prozent der Ostdeutschen als »Bürger zweiter Klasse« fühlen, als dass ein solcher ZDF-Beitrag jemals zur Lösung beitragen könnte.

Wo steht Deutschland heute, 35 Jahre nach dem Mauerfall? Welchen Weg wird Deutschland gehen? Wird Deutschland dem süßen Klang sozialistischer Verheißungen folgen und die Rolle rückwärts in die DDR vollziehen?

Fahre ich heute auf wieder gut gefüllten Autobahnen quer durch Deutschland, um meinen Vater in meiner alten Heimat zu besuchen, habe ich noch immer das Gefühl, eine Grenze zu überqueren. Unsichtbar und abgetragen zwar, aber noch immer da. Dabei geht es nicht um das wohlige Gefühl, nach Hause zu kommen. Es geht um die Menschen, denen ich begegne, ihre Geschichten, ihre Wut, die sie teilweise noch immer oder wieder in sich tragen. Es geht um verpasste Chancen, um übersehene Notwendigkeiten und um die große Kraftanstrengung, die viele hinter sich haben, im neuen Leben der Bundesrepublik anzukommen.

Und es geht um das sprichwörtliche Augenrollen der Menschen in meiner neuen Heimat in Hessen und das Unverständnis, das mir zuweilen begegnet, möchte ich die alte und neue Wut der Ostdeutschen erklären, die Distanz, die noch immer da ist, wo längst ein Zusammenwachsen abgeschlossen sein sollte.

Es geht um eine fast schon einträchtige Trennung, die sich im gegenseitigen Unverständnis eingerichtet hat und jede Gemeinsamkeit verschwinden lässt.

Dabei beginnt unsere gemeinsame Reise nicht erst 1989. Mit der Paulskirchenverfassung wurde bereits 1849 ein ausführlicher Grundrechtekatalog erarbeitet, der wegweisend war und bis heute Maßstäbe setzt. Und mit der Weimarer Republik erlebten wir zum ersten Mal eine demokratische Republik, die bitter gescheitert ist. Mit den Nationalsozialisten bekam Deutschland eine mörderische Diktatur, die, selbst gewählt, in den Abgrund führte und die anschließende Teilung Deutschlands nach sich zog. Mit dem Kapitalismus im Westen und dem Sozialismus im Osten kamen Wirtschaftswunder und Wohlstand für die einen und planwirtschaftliche Mangelwirtschaft im kollektivistischen Miteinander für die anderen. Gemeinsam ist allen heute die Wiedervereinigung mit der Möglichkeit zurückzublicken, um verstehen zu können und für die Zukunft zu lernen.

Blicke ich zurück, drängen sich mir Vergleiche förmlich auf. Vergleiche zur ferneren Vergangenheit auf der einen Seite ebenso, wie Vergleiche zu meiner ganz persönlichen Geschichte in einem sozialistischen Staat, der den meisten Menschen, so wie auch meinen Eltern, zwar ein gutes Leben ermöglicht hat, denen große Träume oder Wünsche aber verwehrt blieben.

Mein Glück ist, dass ich nur 15 Jahre meines Lebens in der DDR verbringen musste. Ebenso wie ich es gleichermaßen als mein Glück empfinde, jene ersten 15 Jahre meines Lebens in diesem Staat gelebt zu haben. Ein Staat, der mir nicht nur eine kindliche Sicherheit, sondern auch erste Diktaturerfahren mit auf den Weg gab, die mich sensibel werden ließen für noch so kleine und feine, fast unsichtbare Schwingungen der gesellschaftlichen Veränderungen, deren Ausschläge Richtung Unfreiheit immer stärker werden.

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Wie war das damals in der DDR?

Erinnere ich mich an bestimmte, prägende geschichtliche Ereignisse, bleibt das Gefühl nicht aus, dass sich Dinge wiederholen: Entscheidungen laufen auf ähnliche Ereignisse hinaus und manche Handlungen gab es bereits. Es drängen sich Vergleiche auf, die ich nicht selten verschämt wegschiebe, scheinen sie zu weit hergeholt oder könnten den Vorwurf von Geschichtsvergessenheit, Unwissenheit oder Übertreibung auslösen. Eine Gefahr, die angesichts der mittlerweile einseitig geprägten Debattenkultur durchaus real ist.

Dabei scheint es umso wichtiger, Vergleichsempfindungen auszusprechen, lösen sie zwar Unbehagen, vor allem aber auch die notwendigen Diskussionen aus, die es angesichts der Tragweite sich wiederholender Geschehnisse braucht, um diese mindestens zu erkennen und bestenfalls zu verhindern.

Der Weg in unsere heute bestehende Demokratie war lang, steinig und von vielen Kämpfen um Freiheit auf der einen und Machterhalt auf der anderen Seite, von blutigen Aufständen, zwei verheerenden Weltkriegen und einer nationalsozialistischen Diktatur geprägt. Das gemeinsam zu erinnern, wird uns in unserem vereinten Deutschland einerseits leicht und andererseits nahezu unmöglich gemacht, ist doch die vor allem jüngere deutsche Geschichte auch von Zeiten geprägt, die einem Teil der Deutschen noch sehr präsente, sozialistische diktatorische Erfahrungen aufgezwungen hat. Das muss zu unterschiedlichen Erinnerungen führen.

Auch wenn diese persönlichen Erfahrungen durchaus besser einschätzen lassen, welche Folgen und Wirkungen bestimmte aktuelle Entscheidungen und Handlungen haben würden, braucht es sicher keine Wiederholung des sozialistischen Experiments der DDR, um festzustellen, dass ein solches gesellschaftspolitisches System keine Alternative zu unserer freiheitlichen Demokratie sein kann und darf. Hier möge man getrost auf die Erzählungen der Zeitzeugen vertrauen, die sich nicht Dank, sondern trotz der Diktatur, ein irgendwie auskömmliches Leben aufgebaut haben.

Erst recht muss man den Menschen zuhören, die Opfer dieses diktatorischen Regimes wurden, um der Versuchung zu widerstehen, die auch schönen, zumeist persönlichen Erlebnisse, diesem menschenverachtenden Regime auch noch positiv zuzuschreiben.

Vergleiche heutiger Ereignisse mit längst vergangen geglaubten persönlichen Erfahrungen in einer sozialistischen Diktatur sind zwar nur den Ostdeutschen möglich, machen diese damit aber nicht nebensächlich. Diese Erfahrungen sind vielmehr wertvoll für eine Gesellschaft, die im Bemühen um Demokratie und Freiheit zwar zeitweise getrennte Wege gegangen ist, jedoch immer mit dem gleichen gemeinsamen Ziel einer freiheitlichen demokratischen Republik. Im Westen hörte man bis zum Fall der Mauer alljährlich zur Erinnerung des 17. Juni 1953 entsprechende Reden um Demokratie und Freiheit. Im Osten wurde genau darum aktiv gekämpft, erst mit einem Volksaufstand im Juni 53, dann in vielen einzelnen dissidenten Aktionen und Widerstandshandlungen, und schließlich in großen Zahlen erneut im Wendejahr 1989, als dieser Freiheitswille bis ins demokratische Ziel getragen wurde.

So bitter die Erfahrungen vieler Ostdeutscher waren, so wichtig sind sie für ein Erkennen. Nehmen wir sie ernst und hören und sehen wir genauer hin, denn um entscheiden zu können, wohin wir gehen, müssen wir wissen, woher wir kommen.

Und so, wie kleine vereinzelte Gedankenfetzen der damaligen Erlebnisgenerationen die Weimarer Republik oder das Naziregime aus der geschichtlichen und gleichzeitig theoretischen Versenkung heraufzuholen vermochten, ist die Diktatur der DDR vielen Ostdeutschen wie mir noch sehr lebhaft in Erinnerung, mit zuweilen ganz praktischen und greifbaren Déjà-vus.

Wenn Gegenwart auf Geschichte trifft

Die Ereignisse 1989 waren von nahezu atemloser Dynamik und großem Druck freiheitshungriger Ostdeutscher, artikuliert durch Parolen wie »Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr«, geprägt. Dem Mauerfall 1989 folgten daher nur ein knappes Jahr später erst eine zügige Währungsunion und schließlich die Wiedervereinigung. Angesichts der grundverschiedenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systeme waren die damit einhergehenden Umbrüche viel grundlegender, als im Angesicht der friedlichen Revolution und auf den ersten wendewilligen Augenblick vermutet werden konnte.

Dem Eindruck einer gewissen Ähnlichkeit mit 1848 kann ich mich nicht erwehren. Damals war es der Druck aus der, wegen der katastrophalen Kartoffelfäule und anderen witterungsbedingten Missernten, in großen Teilen hungernden Bevölkerung, der eine revolutionäre Stimmung reifen ließ. Darum sollte eine verfassungsgebende Nationalversammlung das Programm einer politischen Reform ausarbeiten, »das einerseits das ›Gespenst‹ der proletarischen Revolution bannen sollte (…) und das andererseits auch eine Antwort im weitesten Sinne auf die deutsche Frage zu geben hatte«.9 Und überall im Deutschen Bund wurden vom Bürgertum und namentlich von Demokraten und von Liberalen die sogenannten »Märzforderungen« formuliert, die für eine Liberalisierung der Gesellschaft sorgen sollten. Freiheitlicher Wandel, die Stärkung der Menschen- und Bürgerrechte, die Schaffung eines Nationalparlamentes und eines deutschen Nationalstaates, schließlich Pressefreiheit waren weitreichende Forderungen, die bis in unsere Gegenwart wirken.

Eine Gegenwart, die wir Deutschen seit 1990 wieder vereint bestreiten, in einem freiheitlich demokratischen Land und einer Gesellschaft, die alle Möglichkeiten hat, aus ihrer Geschichte, auch noch vor der Teilung, zu lernen.

Eine Geschichte, in der die politische Gesellschaft nicht durchgängig, aber immer wieder unversöhnlich in linke und rechte politische Lager aufgespalten war. Mit der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) betrat 1919 das linke Extrem die politische Bühne, die den revolutionären Umbruch Richtung Räteherrschaft nicht nur durch blanke Gewalt und mehrere Aufstände herbeiführen wollte,10 sondern ihre Mitglieder dabei auch noch total und mit ihrer ganzen Person und ihrem ganzen Dasein zu integrieren, anstatt zu repräsentieren versuchte.11 Am entgegengesetzten rechten extremen Rand stand die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Die DNVP wollte sich mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nach dem verlorenen Krieg ebenfalls nicht abfinden und stand deshalb der Weimarer Republik genauso wie die KPD feindselig und dazu noch antisemitisch gegenüber.12 Bis zum Aufstieg der NSDAP 1930 war sie die stärkste bürgerliche und zugleich rechtsextreme Partei.13 Deutschland war gespalten und an den äußeren Rändern des Parteienspektrums agierten radikale Kräfte. Nach 1945 schien dies auf ganz unterschiedliche Art und Weise überwunden.

Ostdeutschland wurde durch die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands linksaußen regiert. Der Raum in der Mitte und rechts der Mitte wurde durch die sogenannte »Nationale Front«, zu der unter Führung der SED die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD), die Christlich-Demokratische Union (CDU), die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) zusammengeschlossen wurden – die »Blockflötenparteien«, wie sie rasch vom Volksmund genannt wurden, belegt, jedoch nicht ausgefüllt.

Westdeutschland wurde durch das Streben auch der rechts und links stehenden politischen Lager in die Mitte von den Christdemokraten aus der Mitte heraus regiert. Mit dem Godesberger Parteitag 1959 und den Bekenntnissen zur sozialen Marktwirtschaft und zur Landesverteidigung nahmen auch die Sozialdemokraten Kurs auf die Mitte und definierten sich nunmehr als Volkspartei. Extremistische Parteien wie die Sozialistische Reichspartei (SRP) rechts und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurden 1952 beziehungsweise 1956 verboten; beide waren zuvor über den Status von Splitterparteien nicht hinausgekommen. Die NPD, die in den 1960er-Jahren zur stärksten rechtsextremistischen Partei werden sollte, scheiterte bei den Bundestagswahlen 1969 mit 4,3 Prozent vergleichsweise knapp an der Fünfprozenthürde. Inzwischen ist sie so wenig relevant, dass ein Verbotsantrag vom Bundesverfassungsgericht 2017 abgelehnt wurde mit dem Hinweis, zwar vertrete die NPD ein politisches Konzept, das auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgerichtet sei, allerdings fehle es »(derzeit) an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt«.14 Die kommunistische, Moskautreue DKP war ähnlich irrelevant, sie kam bei keiner Wahl auch nur in die Nähe der Fünfprozenthürde – oder, um genauer zu sein, hatte mit 0,3 Prozent 1976 ihr stärkstes Ergebnis. Die Wiedervereinigung mit der Folge, dass die SED unter verändertem Namen als PDS und schließlich Die Linke nunmehr gesamtdeutsch antreten konnte, degradierte die DKP von einer Splitterpartei endgültig zu einer Sekte.

Während Kommunisten in Italien indirekt und in Frankreich direkt an Regierungen beteiligt waren und in beiden Ländern inzwischen Rechtsaußen-Parteien bestimmende Faktoren geworden sind, schien die Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung absolut stabil und versammelt um eine breite gesellschaftliche Mitte ohne Akzeptanz für extremistische Kräfte am linken oder rechten Rand. Mit dem Aufflammen neuer Krisen nicht nur in Deutschland und in Einklang mit sich neu formierenden Parteienlandschaften in vielen Staaten Europas gewinnen rechts- und linksaußen stehende Kräfte inzwischen aber wieder an Gewicht. Sie haben genügend Potenzial, um die Gesellschaft erneut zu spalten.

Und wo stehen die Liberalen in dieser deutschen Parteiengeschichte? Getrieben primär von der Idee der Freiheit des Individuums und dessen Verteidigung gegen einen übergriffigen Staat, sahen sie sich als Reformer, nicht als Revolutionäre. Sie standen daher zwischen der revolutionären Linken und den die Verhältnisse zementierenden Konservativen. Nicht nur die Märzrevolution von 1848, sondern zuvor auch schon das Wartburgfest 1817 und das Hambacher Fest 1832 setzten moderne liberale Akzente in den Staaten des Deutschen Bundes. Nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 waren es Liberale wie Friedrich Naumann, die sich frühzeitig für Frauenrechte einsetzten.

Nach dem Ersten Weltkrieg bildeten im gemäßigten politischen Lager die 1918 gegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) den bürgerlich-liberalen Gegenpol zur SPD. Während jedoch die DDP für die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und eine verständigungsbereite Außenpolitik kämpfte, sah die DVP im Liberalismus in erster Linie das Ziel, der Einzelpersönlichkeit Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten zu schaffen.15 Ihr Kern war damit der reine Wirtschaftsliberalismus während für die DDP soziale Sicherheit und die Begrenzung der ungehemmten Entwicklung der Wirtschaft wesentliche Voraussetzungen für Freiheit waren. Beide Parteien rangen um das gleiche Wählerspektrum, das weder sozialistisch noch katholisch gebunden war. Die liberalen Parteien waren stark von finanziellen Zuwendungen der Wirtschaft abhängig und wurden überwiegend von Männern gewählt.16

Wirtschaftsliberale und sozialliberale Werte und Ideale finden sich vereint in der heutigen FDP wieder – und lassen die beiden Flügel des Liberalismus immer wieder um ihre Ausrichtung ringen. Dieses Ringen ist mitunter enervierend und aufreibend, hat aber eine gleichermaßen wirtschafts- wie sozialliberale FDP hervorgebracht, die sich seit ihrer Gründung 1948 verstärkt, bewusst und gezielt in der Mitte positioniert.

Ich bin 2010 in die FDP eingetreten, als sie regierungsbeteiligt um ihre liberalen Strandpunkte rang, wesentliche Positionierungen aufgab, sich innerparteilich aufrieb und schließlich drei Jahre später aus dem Bundestag flog.

Ich bin eingetreten trotz der Aussage einer damaligen Funktionsträgerin, die FDP sei keine Partei der Kinderkrippen. Gerade hatte ich mit viel Kraft und Zeit und großer Unterstützung eines liberalen Stadtrates eine Kinderkrippe gegründet und war daher dezidiert anderer Meinung, insbesondere vor dem Hintergrund der grundrechtlich geschützten Selbstbestimmung, die Möglichkeiten und Rahmen zu deren Verwirklichung braucht. Also trat ich (erst recht) ein und damit auch in den Kampf um die Ausrichtung der Partei, die nun auch die meine ist.

Ich erinnere nicht meine erste, wohl aber meine erste lebendige Diskussion mit meinem Parteikollegen und damaligen Bundestagsabgeordneten, der die vom damaligen Koalitionspartner CDU präferierte »Herdprämie« oder »Fernhalteprämie«, wie die Opposition sie nannte, verteidigte.

Eltern, die ihre Kleinkinder nicht in die Kinderbetreuung gaben, sollten 150 Euro Prämie monatlich bekommen. Eine angeblich gute Alternative zum (fehlenden) Krippenplatz. War das im Einzelfall vielleicht zutreffend, sollten davon aber auch Kinder betroffen sein, deren Eltern sie daheim behielten und gerne das Betreuungsgeld annahmen, ohne sich jedoch ihrer frühkindlichen Bedürfnisse ausreichend zu widmen. Das bildungspolitische Raster wäre für diese Kinder zu groß und sie würden durchfallen, so meine Sorge. Dieses hochumstrittene Betreuungsgeld wurde 2012 von der schwarz-gelben Koalition knapp beschlossen, 2013 eingeführt und 2015 schon wieder abgeschafft.

Mit Blick auf Guido Westerwelle und seine Erkenntnis, dass unsere Freiheit zentimeterweise stirbt, bin ich auch und bewusst der FDP beigetreten, nachdem ich mir das grüne Wahlprogramm angeschaut hatte. Die große klimapolitische Sonnenblume, die über dem gesamten Programm schwebte, ohne jegliche nachhaltige und vor allem logische wirtschaftspolitische Idee, wie diese am Leben erhalten werden könnte und die vielen Ideen der kleinen, scheinbar unbedeutenden Schritte weg von individueller Freiheit ließen meine Eintrittsidee in die FDP zusätzlich wachsen. Und von Jahr zu Jahr sehe ich mich mehr bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Freiheit wurde und wird so scheinbar leichtlebig und selbstverständlich hingenommen, während Verantwortung für sich selbst und für die Gesellschaft einen zunehmend solidarischen Charakter bekommt.

Umwelt und Klima schickten sich zudem an, Freiheit und Verantwortung in ihrer eigentlichen Bedeutung und ihrem eigentlichen Wert aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu verdrängen. Bis heute werden immer wieder und mit wachsendem Nachdruck Anläufe aus dem linken Deutungsspektrum unternommen, den Freiheitsbegriff neu und vor allem gemeinschaftlich zu definieren. Nicht mehr der Einzelne habe das individuelle Recht, sich zu verwirklichen, sondern nur im unteilbaren Kollektiv einer solidarischen Gemeinschaft sei Freiheit real, so lautet ihr Narrativ.

Spätestens 2011, als wir Liberalen im Kommunalwahlkampf in Oberursel mit unseren Grünen Mitbewerbern, die eine Anti-Atomkraft-Tonne in unsere Vorstadt stellten, vergeblich versuchten, um sachliche und vor allem kommunale Themen zu ringen, wurde auch mit unserem ernüchternden Ergebnis klar, dass Klima- und Umweltsolidarität endgültig in der auch kommunalen Gesellschaft angekommen ist. Der Ausstieg aus der sicheren Energieversorgung begann leider auch mit Unterstützung der FDP, Verzicht- und Verbotsvorschläge sollten alsbald folgen. Und ein grüner Slogan begleitet mich seit dieser Zeit: »Wachstum ist endlich«.

2013 ist die FDP aus dem Bundestag geflogen. Bitter, nicht nur für die Partei, sondern auch für die Gesellschaft, die offensichtlich glaubte, auf eine liberale Stimme verzichten zu können.