Rollende Steine - Terry Pratchett - E-Book

Rollende Steine E-Book

Terry Pratchett

4,4
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tod spielt auf – und die Scheibenwelt rockt ab.

Gevatter Tod steckt in der Midlifecrisis. Als er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet, muss daher seine Enkelin Susanne das Geschäft übernehmen. Anfangs kein Problem für die begabte junge Dame, bis sie es mit einem merkwürdigen magischen Phänomen zu tun bekommt: Eine neue Musikrichtung erobert die Scheibenwelt. Mit seiner »Brocken-Troll-Bande« und den Klängen einer ganz besonderen Gitarre löst der junge Barde Imp Y Celyn nicht nur regelmäßig Massenhysterien aus, sondern verändert auch den Lauf der Geschichte – und macht damit Susanne das Leben schwer. Denn ausgerechnet Imp hätte eigentlich längst das Zeitliche segnen sollen. Doch statt ihn endlich abzuführen, verliebt sich Tods Enkelin unsterblich in den Shooting-Star …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 532

Bewertungen
4,4 (56 Bewertungen)
35
11
10
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Buch

Gevatter Tod steckt in der die Midlifecrisis. Als er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet, muss daher seine Enkelin Susanne das Geschäft übernehmen. Anfangs kein Problem für die begabte junge Dame, bis sie es mit einem merkwürdigen magischen Phänomen zu tun bekommt: Eine neue Musikrichtung erobert die Scheibenwelt. Mit seiner "Brocken-Troll-Bande" und den Klängen einer ganz besonderen Gitarre löst der junge Barde Buddy nicht nur regelmäßig Massenhysterien aus, sondern verändert auch den Lauf der Geschichte – und macht damit Susanne das Leben schwer. Denn ausgerechnet Buddy hätte eigentlich längst das Zeitliche segnen sollen. Doch statt ihn endlich abzuführen, verliebt sich Tods Enkelin unsterblich in den Shooting-Star ...

Autor

Terry Pratchett, geboren 1948, gilt als einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Romanen wurden weltweit bisher über 80 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke sind in 38 Sprachen übersetzt. Für seine Verdienste um die englische Literatur wurde ihm sogar die Ritterwürde verliehen. Terry Pratchett starb im März 2015.

Terry Pratchetts Fanclub in Deutschland: www.pratchett-fanclub.de

Mehr Informationen zum Autor und seinen Büchern sowie eine Gesamtübersicht über seine bei Goldmann und Manhattan lieferbaren Titel erhalten Sie unter www.pratchett-buecher.de

Terry Pratchett

Rollende Steine

Ein Scheibenwelt-Roman

Aus dem Englischen neu übersetzt von Regina Rawlinson

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Soul Music« bei Victor Gollancz Ltd., London. Die vorliegende Ausgabe ist eine Neuübersetzung des erstmals 1996 im Wilhelm Goldmann Verlag auf Deutsch erschienenen Romans.

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 1994

by Terry & Lyn Pratchett

First published by Victor Gollancz Ltd., London

Discworld ® is a trademark registered by

Terry Pratchett

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neuveröffentlichung 2014

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München

Umschlagmotiv: © Sebastian Wunnicke

Redaktion: Kerstin Ingwersen

ISBN: 978-3-641-14571-2www.manhattan-verlag.de

Was bisher geschah

Diese Geschichte handelt vom Erinnern. Und erinnern wollen wir uns daran …

… dass der Tod der Scheibenwelt einst – aus persönlichen Gründen – einem kleinen Mädchen das Leben gerettet und es mit zu sich genommen hat, in sein Haus zwischen den Dimensionen. Weil er glaubte, ältere Kinder seien pflegeleichter als jüngere, ließ er sie zur Sechzehnjährigen heranwachsen. Was beweist, dass man auch als unsterbliche anthropomorphe Personifizierung vor – sozusagen – tödlichen Irrtümern nicht gefeit ist …

… dass Tod später den Jungen Mortimer – kurz Mort genannt – in die Lehre nahm. Mort und Ysabell waren sich auf Anhieb spinnefeind, und worauf so etwas über kurz oder lang hinausläuft, kann man sich denken. Als Stellvertreter des Sensenmanns versagte Mort auf der ganzen Linie. Es kam zu einem Verwackeln der Realität und einem Kampf mit Tod, bei dem der Lehrling den Kürzeren zog …

… und dass Tod das Leben des Jungen – aus nicht weniger persönlichen Gründen – verschonte und ihn zusammen mit Ysabell in die Welt zurückschickte.

Niemand weiß, warum Tod den Menschen, mit denen er beruflich doch schon so lange zu tun hatte, plötzlich ein derart handfestes Interesse entgegenbrachte. Vermutlich aus reiner Neugier. Selbst dem erfolgreichsten Rattenfänger ergeht es früher oder später nicht anders. Er sieht den Tieren beim Leben und Sterben zu und lernt jede Facette des Rattendaseins kennen, ohne selbst jemals zu erleben, wie es ist, durch ein Labyrinth zu laufen.

Doch wenn es stimmt, dass sich das Objekt der Betrachtung durch den Akt der Betrachtung verändert1, gilt dies für den Betrachter umso mehr.

Mort und Ysabell heirateten.

Sie bekamen ein Kind.

Die Geschichte handelt außerdem von Sex und Drogen und Brocken-Troll-Musik.

Ja, ja. Schon gut …

… aber eins von dreien ist doch auch nicht schlecht, oder?

Das sind immerhin dreiunddreißig Prozent. Könnte schlimmer sein.

1 Wegen der Quanten.

Wo hört man auf?

Es ist eine dunkle, stürmische Nacht. Eine Kutsche, deren Pferde sich losgerissen haben, durchbricht den morschen, klapprigen Zaun und stürzt, sich überschlagend, in die Schlucht. Ungebremst rauscht sie an Felsvorsprüngen vorbei in die Tiefe und zerschellt im ausgetrockneten Flussbett.

Nervös blätterte Fräulein Steiß weiter. Diesen Aufsatz hatte das Mädchen als Sechsjährige geschrieben:

»Was wir in den Fehrien gemacht haben: Was ich in den Fehrien gemacht habe war, meinen Opa besuchen. Er hat ein großes weisses Ferd und einen gans, gans schwartzen Garten. Es gab Bratkatoffeln mit Spigelei.«

Das Petroleum der Laterne entzündet sich, und aus dem explodierenden Wrack der Kutsche trudelt – weil auch für eine Tragödie bestimmte Konventionen gelten – ein brennendes Rad.

Das nächste Blatt: ein Bild, das sie mit sieben gemalt hat. Schwarz in Schwarz. Fräulein Steiß rümpfte die Nase. Als ob der Kleinen lediglich ein schwarzer Stift zur Verfügung gestanden hätte. Dabei war das Quirmer Pensionat für Höhere Töchter mit hochwertigen Stiften in allen nur erdenklichen Farben ausgestattet.

Knisternd und zischend erlischt das letzte Fünkchen Glut. Totenstille.

Der Beobachter wendet sich einer Gestalt im Dunkeln zu und sagt:

DOCH. ICHHÄTTEESVERHINDERNKÖNNEN.

Und reitet davon.

Fräulein Steiß blätterte weiter in ihren Unterlagen. Die innere Unruhe, die sie erfüllte, war jedem geläufig, der häufiger mit dem Mädchen zu tun hatte. Dabei fand sie bei ihren Papieren eigentlich immer Halt. Auf Papier war Verlass.

Und dann die Geschichte mit dem … Unfall.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass die Rektorin eine derartige Unglücksbotschaft zu übermitteln hatte. Das blieb leider nicht aus, wenn man ein großes Internat leitete. Die Eltern vieler Mädchen hatten beruflich des Öfteren im Ausland zu tun – und manchmal betrieben sie dort eben auch Geschäfte, bei denen die Aussicht auf glänzende Profite mit der Gefahr einherging, nähere Bekanntschaft mit unliebsamen Zeitgenossen zu machen.

Fräulein Steiß hatte Erfahrung mit solchen Situationen. So grausam der Schicksalsschlag auch war, die Dinge nahmen ihren natürlichen Lauf. Erst kam der Schock, dann kamen die Tränen, und irgendwann war es überstanden. Menschen bewältigten ihre Verluste wie nach einem vorgegebenen inneren Drehbuch. Das Leben ging weiter.

Aber dieses Kind hatte nur stumm dagesessen, so unendlich höflich, dass es der Rektorin angst und bange geworden war. Obwohl die heiße Herdplatte der Erziehung sie mit den Jahren ausgedörrt hatte, war sie alles andere als hartherzig, nur überaus korrekt, und sie hielt streng auf Sitte und Anstand. Sie hatte geglaubt, genau zu wissen, wie das Gespräch ablaufen würde, und war deshalb einigermaßen pikiert gewesen, als es ihren Erwartungen nicht im Mindesten entsprach.

»Äh … vielleicht möchtest du jetzt lieber allein sein und dich ausweinen?«, hatte sie vorgeschlagen, um das Mädchen behutsam ins richtige Fahrwasser zu bugsieren.

»Würde das was helfen?«, hatte Susanne gefragt.

Ihrer Rektorin hätte es auf jeden Fall geholfen.

»Hast du denn auch wirklich begriffen, was ich dir gerade gesagt habe?«, war ihre ratlose Reaktion darauf gewesen.

Susanne hatte nur an die Decke gestarrt, wie in die Lösung einer komplizierten algebraischen Gleichung vertieft. »Das kommt schon noch.«

Als hätte sie längst Bescheid gewusst und den Verlust sogar schon verarbeitet. Fräulein Steiß hatte das Kollegium gebeten, ein Auge auf das Kind zu haben. Worauf sie zur Antwort bekam, das sei leichter gesagt als getan, weil …

Es klopfte an der Tür des Rektorats, so zaghaft, als wollte der Besuch am liebsten gar nicht gehört werden.

Fräulein Steiß kehrte in die Gegenwart zurück.

»Herein«, sagte sie.

Die Tür schwang auf.

Susanne machte nie ein Geräusch. Das ganze Kollegium redete darüber. Die Lehrerinnen fanden es unheimlich. Immer tauchte sie gerade dann vor einem auf, wenn man es am wenigsten erwartete.

»Ah, Susanne«, sagte Fräulein Steiß. Ein angespanntes Lächeln huschte über ihre Züge wie ein nervöses Zucken über ein ängstliches Schaf. »Bitte, nimm doch Platz.«

»Ja, Fräulein Steiß.«

Die Rektorin klappte den Ordner zu.

»Susanne …«

»Ja, Fräulein Steiß?«

»So leid es mir tut, aber du hast anscheinend wieder im Unterricht gefehlt.«

»Das verstehe ich nicht, Fräulein Steiß.«

Die Rektorin beugte sich vor. Sie ärgerte sich ein wenig über sich selbst, aber … irgendwie wurde sie mit dem Kind einfach nicht warm. Natürlich glänzte Susanne in allen Fächern, die sie interessierten, aber genau da lag auch der Hase im Pfeffer: Sie glänzte auf die gleiche Weise wie ein Diamant – scharfkantig und kalt.

»Hast du wieder … damit angefangen?«, fragte sie. »Du hattest doch versprochen, diesen Unfug zu unterlassen.«

»Fräulein Steiß?«

»Du hast dich wieder unsichtbar gemacht, nicht wahr?«

Susanne wurde rot. Genau wie Fräulein Steiß, wobei deren Gesichtsfarbe nicht ganz so rosig ausfiel. Das ist doch lächerlich, dachte die Rektorin. Es widerspricht jeder Vernunft. Es ist – ach, nein …

Sie wandte den Kopf ab und schloss die Augen.

»Ja, Fräulein Steiß?«, sagte Susanne, bevor Fräulein Steiß »Susanne?« sagen konnte.

Die Pensionatsleiterin überlief ein kalter Schauer. Auch das erzählte man sich im Kollegium. Dass Susanne manchmal eine Frage schon beantwortete, bevor sie ihr gestellt wurde …

Sie riss sich am Riemen.

»Du sitzt noch vor mir?«

»Aber gewiss, Fräulein Steiß.«

Lächerlich.

Außerdem war »unsichtbar« der falsche Begriff. Auffällig unauffällig traf es schon besser.

Die Rektorin nahm ihre Gedanken zusammen. Um genau für diesen Fall gewappnet zu sein, hatte sie sich einen kleinen Merkzettel an ihre Unterlagen geheftet.

Sie las:

Du stellst Susanne Sto Helit zur Rede. Vergiss das bloß nicht!

»Susanne?« In ihrer Frage schwang ein zweifelnder Unterton mit.

»Ja, Fräulein Steiß?«

Wenn sie sich konzentrierte, sah sie Susanne vor sich sitzen. Wenn sie die Ohren spitzte, konnte sie ihre Stimme hören. Sie musste nur gegen die immer übermächtiger werdende Überzeugung ankämpfen, allein zu sein.

»Von Fräulein Sperrig und Fräulein Merk hat es Klagen gegeben«, krächzte sie.

»Aber ich nehme immer am Unterricht teil, Fräulein Steiß.«

»Das glaube ich dir gern. Die Kolleginnen Verräter und Stampfer bestätigen, dass sie dich in ihren Stunden vor Augen haben.« Worüber es im Lehrerzimmer eine ziemlich heftige Diskussion gegeben hatte. »Ob es wohl damit zu tun haben könnte, dass dir Logik und Mathematik liegen und du für Sprache und Geschichte nichts übrighast?«

Sie zögerte. Das Kind konnte das Rektorat unmöglich verlassen haben. Sie musste ihren Verstand bis zum Äußersten strapazieren, um andeutungsweise eine Antwort zu erhaschen: »Weiß ich auch nicht, Fräulein Steiß.«

»Susanne, es stört wirklich ungemein, wenn du …«

Fräulein Steiß brach ab. Ihr Blick wanderte im Büro umher und blieb zuletzt an einem Zettel hängen, der an den vor ihr liegenden Ordner geheftet war. Sie las ihn – zumindest hatte es den Anschein –, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Anschließend griff sie zu einem Stift, starrte einen Augenblick reglos geradeaus und nahm sich dann die Buchführung für die Schule vor.

Nachdem Susanne noch eine Weile höflich gewartet hatte, stand sie auf und ging so geräuschlos wie möglich hinaus.

Manche Dinge müssen vor anderen Dingen geschehen. Die Götter spielen mit den Schicksalen der Menschen. Aber erst nachdem sie die Figuren aufs Brett gestellt und überall nach den Würfeln gesucht haben.

In Llamedos regnete es. In dem kleinen gebirgigen Land regnete es immer. Der Regen war sein wichtigster Exportartikel. Er wurde sogar in Bergwerken abgebaut.

Unter dem Laubdach eines immergrünen Baums hockte der Barde Imp – eher aus Gewohnheit als in der begründeten Hoffnung, Schutz vor dem Regen zu finden. Das Wasser tropfte zwischen den stacheligen Blättern einfach hindurch und strömte in Bächen von den Zweigen wie durch einen Regenkonzentrator. Hin und wieder klatschte es dem Barden regelrecht in Klumpen auf den Kopf.

Er war achtzehn, hochbegabt und litt an akutem Weltschmerz.

Imp stimmte seine Harfe, seine wunderbare neue Harfe, und blickte wehmütig in den Regen hinaus. Die Tränen, die ihm über das Gesicht liefen, mischten sich mit den Tropfen.

Ein Mensch, wie ihn die Götter lieben.

Es heißt, dass die Götter den, den sie zu vernichten trachten, zunächst mit Wahnsinn schlagen. Doch in Wahrheit drücken sie ihm als Allererstes das Äquivalent einer Stange Dynamit mit brennender Lunte in die Hand. Das ist spannender und geht schneller.

Susanne schlurfte durch die nach Desinfektionsmittel riechenden Korridore. Es kümmerte sie nicht sonderlich, was Fräulein Steiß von ihr denken mochte. Auf die Meinung anderer hatte sie noch nie viel gegeben. Sie wusste nicht, warum die Leute sie einfach vergaßen, wenn es ihr in den Kram passte. Und hinterher war es ihnen peinlich, sie darauf anzusprechen.

Mitunter hatten die Lehrerinnen Schwierigkeiten, sie zu sehen. Das war Susanne ganz recht. Während sich ihre Mitschülerinnen mit den Ausfuhrerzeugnissen von Klatsch herumschlagen mussten, schmökerte sie gemütlich in einem Buch, das sie sich in den Unterricht mitgebracht hatte.

Es war wirklich eine wunderbare Harfe, keine Frage. Ein Instrument von solcher Vollkommenheit zu erschaffen, dass nicht mehr das Geringste daran zu verbessern ist, gelingt fast nie. Auf Verzierungen hatte der Harfenbauer gänzlich verzichtet. Sie wären einem Sakrileg gleichgekommen.

Und neu war die Harfe auch – eine Seltenheit für Llamedos. Dort fanden sich fast nur alte Exemplare. Sie gingen so gut wie nie kaputt. Obwohl man gelegentlich den Rahmen, die Säule oder die Saiten ersetzen musste, blieb die Harfe stets die gleiche. Die alten Barden behaupteten, dass die Instrumente mit dem Alter immer besser wurden. Was alte Männer eben so reden, auch wenn die Erfahrung sie tagtäglich eines Besseren belehrt.

Imp zupfte eine Saite. Der Ton schwebte einen Augenblick in der Luft und verhallte. So neu und jung die Harfe auch noch war, besaß sie doch schon einen glockenhellen Klang. Unvorstellbar, wie sie sich erst in hundert Jahren anhören würde.

Sein Vater hatte ihn als verrückten Spinner bezeichnet. Die Zukunft sei in Stein gemeißelt, nicht in Noten. So hatte der Streit angefangen.

Ein Wort gab das andere, und dann war die Welt plötzlich nicht mehr dieselbe, weil man Gesagtes nun einmal nicht zurücknehmen kann.

Imp hatte geantwortet: »Was weißt du denn schon? Du bist doch bloß ein dummer alter Mann! Aber ich habe mein Leben der Musik verschrieben! Eines Tages – und zwar schon bald – werden alle sagen, dass ich der größte Musiker der Welt bin!«

Was für ein Unsinn. Als ob ein Barde sich um die Meinung der Leute scherte – höchstens um die anderer Barden, die ihr Gehör für Musik ein Leben lang geschult hatten.

Unsinn oder nicht, die Worte waren gefallen. Spricht man sie inbrünstig genug aus, wenn die Götter gerade die Langeweile plagt, kann es passieren, dass das Universum um sie herum eine neue Form annimmt. Worte besitzen von jeher die Macht, die Welt zu verändern.

Vorsicht also bei Wünschen, die man laut ausspricht! Man weiß nie, wer zuhört.

Beziehungsweise was.

Wenn etwas ziellos von Universum zu Universum streunt, reichen schon wenige Worte vom falschen Menschen zur richtigen Zeit, um es auf einen anderen Kurs zu bringen …

Weit entfernt, in der geschäftigen Metropole Ankh-Morpork, huschten Funken über eine nackte Wand und dann …

… war dort ein Laden. Eine alte Musikalienhandlung. Niemand wunderte sich über ihr plötzliches Erscheinen. Als hätte es sie an dieser Stelle schon immer gegeben.

Das Knochenkinn in die Hände gestützt, starrte Tod ins Leere.

Albert kam vorsichtigen Schrittes näher.

In selbstvergessenen Momenten wie diesem beschäftigte Tod sich schon lange mit der Frage, warum sein Diener stets denselben Weg nahm.

DAS ZIMMER IST DOCH WIRKLICH GROSS GENUG, dachte er.

Es erstreckte sich bis ins Unendliche – oder doch zumindest so weit ins Unendliche, dass es auch schon gehupft wie gesprungen war. Etwa eine Meile weit. Was für ein Zimmer nun nicht gerade klein ist. Wogegen die Unendlichkeit größer ist, als das Auge reicht.

Tod war mit dem Bau des Hauses leicht überfordert gewesen. Zeit und Raum bog man sich zurecht, man unterwarf sich ihnen nicht. Dementsprechend waren die inneren Dimensionen ein bisschen großzügig ausgefallen – und er hatte auch nicht daran gedacht, das Draußen größer als das Drinnen zu machen. Mit dem Garten war es das Gleiche. Erst als er sich selbst etwas mehr für solche Dinge zu interessieren begann, erkannte er, wie viel Bedeutung die Menschen beispielsweise der Farbe beimessen – etwa bei Rosen. Aber bei Tod waren die Rosen schwarz. Er hatte eine Vorliebe für Schwarz. Über kurz oder lang passte es zu allem.

Die Menschen, die er näher kannte, reagierten merkwürdig auf die unendlichen Weiten des Zimmers. Sie ignorierten sie.

Albert war das beste Beispiel dafür. Die große Tür hatte sich geöffnet, er war, die Tasse auf dem Unterteller balancierend, hereingekommen …

… und stand im nächsten Augenblick schon mitten im Zimmer, an der Kante des relativ kleinen Teppichgevierts, das Tods Schreibtisch umrandete. Tod brauchte sich nicht länger den Schädel darüber zu zerbrechen, auf welche Weise sein Diener den Raum zwischen Tür und Teppich durchquerte. Für Albert existierte er einfach nicht.

»Ich bringe Euch ein Tässchen Kamillentee, Herr«, sagte Albert.

HM?

»Herr?«

ENTSCHULDIGUNG. ICHWARINGEDANKEN. WASHASTDUGESAGT?

»Kamillentee?«

KAMILLE? MACHTMANDARAUSNICHTSEIFE?

»Man kann sie in die Seife oder in den Tee tun, Herr«, sagte Albert. Er war beunruhigt. Wie immer, wenn Tod anfing, sich Gedanken zu machen. Für jemanden in seiner Stellung gehörte sich das nicht. Außerdem machte er sich auch noch die falschen Gedanken.

WIEÜBERAUSNÜTZLICH. FÜRDIEREINIGUNGVONINNENUNDAUSSEN.

Tod stützte erneut das Kinn in die Hände.

»Herr?«, sagte Albert nach einer Weile.

HM?

»Der Tee wird kalt.«

ALBERT?

»Ja, Herr?«

ICHFRAGEMICH …

»Herr?«

LIEGTEINSINNDARIN? ISTNICHTLETZTENENDESALLESVERGEBLICH?

»Ach so. Äh. Da bin ich überfragt, Herr.«

ICHWOLLTEESNICHTTUN, ALBERT. DASWEISSTDU. JETZTBEGREIFEICH, WASSIEGEMEINTHAT. NICHTNURDASMITDENKNIEN.

»Sie? Wer, Herr?«

Er bekam keine Antwort.

Bevor Albert zur Tür hinausging, drehte er sich noch einmal um. Tod starrte wieder ins Leere. Und niemand konnte starren wie er.

Dass man sie übersah, war nicht weiter tragisch. Jedenfalls nicht halb so schlimm wie das, was sie selbst sah.

Beispielsweise, wenn sie träumte. Natürlich hatten Träume nicht viel zu bedeuten, das wusste Susanne. Laut den neuesten Erkenntnissen waren sie bloß Bilder, die vom Gehirn erzeugt wurden, während es die Ereignisse des Tages sortierte. Wesentlich überzeugender hätte sie diese Theorie allerdings gefunden, wenn sie tagsüber tatsächlich mit fliegenden Schimmeln, riesengroßen dunklen Zimmern und Unmengen von Totenschädeln zu tun gehabt hätte.

Aber das waren wenigstens nur Träume. Doch sie sah noch ganz andere Dinge. Zum Beispiel die seltsame Frau im Schlafsaal, von der sie niemandem erzählt hatte. In der Nacht, als Rebekka Kregel einen Zahn unter ihr Kopfkissen gelegt hatte, war sie durch das offene Fenster gestiegen und an ihr Bett getreten. Sie sah fast wie ein Milchmädchen aus, alles andere als unheimlich – obwohl sie durch die Möbel hindurchgehen konnte. Münzen klimperten. Am nächsten Morgen war der Zahn weg und Rebekka um fünfzig Pennys reicher.

So etwas konnte Susanne auf den Tod nicht ausstehen. Nur weil geistig labile Menschen den Kindern von der Zahnfee erzählten, hatte sie deshalb noch lange nicht zu existieren. Das widersprach jeder Logik. Wirre Gedankengänge waren Susanne ein Graus und unter Fräulein Steiß’ strammem Regiment ohnehin streng verpönt.

Insgesamt war an diesem Regiment nichts auszusetzen. Eulalie Steiß und ihre Kollegin Fräulein Breitkreuz hatten sich bei der Gründung des Pensionats von der verblüffend neuen Idee leiten lassen, dass Mädchen doch genauso gut etwas lernen konnten, während sie die Zeit totschlugen, bis sie unter die Haube kamen.

Die vielen Schulen, die es auf der Scheibenwelt gab, wurden entweder von Kirchen oder Gilden betrieben. Als Verfechterin der Logik hielt Fräulein Steiß generell nichts von Kirchen, und sie fand es höchst bedauerlich, dass überhaupt nur zwei Gilden auch Mädchen in den Genuss einer Ausbildung kommen ließen: die Diebe und die Näherinnen. Aber die Welt war groß und gefährlich, und deshalb konnte es keinesfalls schaden, ihr mit umfassenden Geometrie- und Astronomiekenntnissen unter dem Mieder entgegenzutreten. Fräulein Steiß war nämlich der ehrlichen Meinung, dass es zwischen Jungs und Mädels kaum einen Unterschied gab.

Jedenfalls keinen, der der Rede wert gewesen wäre.

Und definitiv keinen, über den sie selbst geredet hätte.

Darum förderte sie bei ihren halbwüchsigen Schützlingen das logische Denken und den Wissensdurst nach Kräften. Ein ehrgeiziges Unterfangen – und ungefähr genauso klug, wie in einem Boot aus Pappe während der Schiffbruchsaison auf Alligatorenjagd zu gehen.

Hielt sie zum Beispiel mit bebendem Spitzkinn einen Vortrag über die Gefahren der Großstadt, nahmen sich dreihundert wissensdurstige Mädchen eifrig vor, diese bei nächstbester Gelegenheit genauer zu erforschen. Gleichzeitig kam auch das logische Denken zum Einsatz, da die Schülerinnen angeregt hin und her überlegten, woher Fräulein Steiß solche Sachen überhaupt wusste. Auch stellten die mit Eisenspitzen bewehrten hohen Internatsmauern für jemanden, dessen hellwacher Verstand von Trigonometrie nur so strotzte und dessen Körper durch Degenfechten, gesunde Freiübungen und kalte Vollbäder abgehärtet war, keineswegs ein unüberwindliches Hindernis dar. Aus dem Mund von Fräulein Steiß klangen die Gefahren richtig spannend.

So viel zu der mitternächtlichen Besucherin. Nach einer Weile kam Susanne zu dem Schluss, dass sie sich die Sache eingebildet haben musste. Das war die einzig logische Erklärung. Und in Logik war Susanne ein As.

Wie heißt es doch so schön? Jeder Mensch ist auf der Suche.

Imp war auf der Suche nach einem Ziel.

Das Pferdefuhrwerk, das ihn bis hierher mitgenommen hatte, rumpelte zwischen den Feldern davon.

Der eine Arm des Wegweisers zeigte nach Quirm, der andere nach Ankh-Morpork. Imp wusste nicht viel von der Welt, aber immerhin doch so viel, dass Ankh-Morpork eine große Stadt war und auf Lehm gebaut und deshalb für die Druiden in seiner Familie nicht von Interesse. Er besaß drei Dollar und eine Handvoll Kleingeld. Womit man in Ankh-Morpork wahrscheinlich nicht sehr weit kam.

Über Quirm wusste er gar nichts, außer dass es am Meer lag. Die Straße dorthin schien wenig befahren zu sein, im Gegensatz zu der nach Ankh-Morpork, die tiefe Spurrillen aufwies.

Es wäre am vernünftigsten gewesen, nach Quirm zu gehen, um sich langsam an das Leben in einer Stadt zu gewöhnen und herauszufinden, wie ihre Bewohner tickten, bevor er sich nach Ankh-Morpork wagte, in die wohl größte Stadt der Welt. Genauso vernünftig, wie sich in Quirm eine Arbeit zu suchen und ein bisschen Geld zusammenzusparen, um gewissermaßen erst mal laufen zu lernen, bevor er große Sprünge machte.

Das alles sagte Imp der gesunde Menschenverstand, und deshalb schlug er festen Schrittes den Weg nach Ankh-Morpork ein.

Vom Aussehen her erinnerte Susanne ein wenig an eine Pusteblume kurz vor dem Verblasenwerden. Die Schuluniform bestand aus einem weiten marineblauen Wollkittel, der vom Hals bis fast zu den Fußknöcheln reichte – praktisch, bequem und schick wie ein Brett. Die Taille hing irgendwo auf Höhe der Knie. Susanne füllte den Kittel in letzter Zeit etwas besser aus, in Übereinstimmung mit den uralten Regeln, die Fräulein Breitkreuz den Mädchen in Biologie und Körperpflege zögernd und bruchstückhaft vermittelte. Die Schülerinnen nahmen aus ihrem Unterricht das unbestimmte Gefühl mit, eines Tages ein Kaninchen heiraten zu müssen. (Susanne verließ den Biologiesaal unter dem Eindruck, dass das Pappskelett in der Ecke sie an jemanden erinnerte, den sie von früher kannte.)

Dass sich die Leute nach ihr umdrehten, lag an ihren Haaren, die bis auf eine schwarze Strähne schlohweiß waren. Die einzelnen Stränge der von der Schulordnung vorgeschriebenen geflochtenen Zöpfe hatten bei ihr zudem die Angewohnheit, sich selbstständig zu machen und ihr wild vom Kopf abzustehen wie die Schlangen der Medusa2.

Und sie hatte ein Geburtsmal – falls es sich denn tatsächlich um eines handelte. Es zeigte sich nur, wenn sie errötete. Dann bildeten sich drei helle Striemen auf ihrer Wange, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst. Wurde sie wütend – was nicht gerade selten vorkam, weil die Dummheit der Welt sie mit schöner Regelmäßigkeit in Rage versetzte –, stachen sie leuchtend weiß hervor.

Theoretisch hatte sie gerade Literatur, ein Fach, das sie nicht ausstehen konnte. Ein gutes Buch war ihr wesentlich lieber. Deshalb schmökerte sie auch, das Kinn in die Hände gestützt, inLogik und Paradoxonvon Wold, das aufgeschlagen vor ihr lag.

Mit halbem Ohr verfolgte sie, was im Unterricht behandelt wurde. Ein Gedicht über Osterglocken. Der Dichter hatte sie anscheinend sehr gemocht.

Susanne bewahrte eine recht stoische Gelassenheit in solchen Dingen. Schließlich lebten sie in einem freien Land, in dem jeder Mensch das Recht hatte, Osterglocken zu mögen. Allerdings nicht, so Susannes sehr entschiedene Meinung, wenn er für sein blumiges Liebesbekenntnis mehr als eine Seite benötigte.

Sie konzentrierte sich wieder auf ihren privaten Bildungserwerb, bei dem ihr die Schule nur hinderlich war.

Um sie herum wurde die Vision des Dichters mit Hilfe untauglicher Instrumente laienhaft in kleine Stücke zerpflückt.

Die Küche hatte die gleichen gigantischen Dimensionen wie der Rest des Hauses. Eine ganze Armee von Köchen hätte sich darin verlaufen können. Die hinteren Wände verloren sich im Dunkel, und das Ofenrohr, das in unregelmäßigen Abständen von rußigen Ketten und fettigen Seilen gehalten wurde, verschwand eine Viertelmeile über dem Fußboden im Dämmerlicht. Zumindest für das Auge eines Fremden.

Albert nutzte lediglich eine geflieste quadratische Fläche, die für Anrichte, Tisch und Herd – und für einen Schaukelstuhl – gerade groß genug war.

»Wenn ein Mensch nach dem Sinn sucht und fragt: ›Ist nicht letzten Endes alles vergeblich?‹, heißt es, dass er mies drauf ist«, sagte er, während er sich eine Zigarette drehte. »Aber was bedeutet es bei ihm? Ist wohl mal wieder eine von seinen Marotten.«

Sein Gegenüber nickte. Es hatte den Mund voll.

»Genau wie das Getue um seine Tochter«, fuhr Albert fort. »Tochter? Dass ich nicht lache. Und kaum hört er, dass es so was wie Lehrlinge gibt, muss er natürlich sofort einen anheuern. Billiger ging’s nicht. Ha! Und was hat es gebracht? Nichts als Scherereien. Wenn ich’s mir recht überlege, bist du eigentlich auch bloß eine von seinen Marotten. Nichts für ungut«, setzte er hastig hinzu, als ihm wieder einfiel, wen er vor sich hatte. »Du hast dich bewährt. Du verstehst dich auf dein Handwerk.«

Noch ein Nicken.

»Er haut immer daneben«, sagte Albert. »Das ist das Problem. Weißt du noch, wie er vom Swinvaterfest erfahren hat? Wir mussten es mit allem Drumherum feiern: Eiche im Topf, Papierwürste, Schweinebraten. Und er saß da, mit einem kleinen Papierhütchen auf dem Schädel, und sagte immer nur: ISTDASNICHTLUSTIG? Ich hab ihm was für seinen Schreibtisch gebastelt, und er hat mir einen Backstein geschenkt.«

Albert schob sich die Zigarette zwischen die Lippen. Sie war fachmännisch gerollt. Nur ein Fachmann bekam eine selbstgedrehte so dünn und gleichzeitig so matschig hin.

»Zugegeben, es war ein guter Backstein. Ich muss ihn hier noch irgendwo rumfliegen haben.«

QUIEK, sagte der Rattentod.

»Da legst du den Finger in die offene Wunde«, antwortete Albert. »Jedenfalls, wenn du Finger hättest. Er begreift einfach nicht, worauf es ankommt. Er nimmt alles viel zu ernst. Weil er nicht vergessen kann.«

Er saugte an dem missglückten Glimmstängel, bis ihm die Augen tränten.

»›Liegt ein Sinn darin? Ist nicht letzten Endes alles vergeblich?‹«, zitierte er. »Ich bitte dich!«

Albert warf einen Blick auf die Küchenuhr, aber nur aus einem allzu menschlichen Impuls. Nachdem er sie gekauft hatte, war sie stehengeblieben.

»Normalerweise ist er um diese Zeit wieder zu Hause«, sagte er. »Ich mache ihm lieber sein Tablett fertig. Keine Ahnung, wo er so lange steckt.«

Der heilige Mann saß mit den Händen auf den Knien im Schneidersitz unter einem heiligen Baum. Er hielt die Augen geschlossen, um sich besser auf die Unendlichkeit konzentrieren zu können, und trug – um seine Verachtung gegenüber allem Scheibenweltlichen zum Ausdruck zu bringen – nichts außer einem Lendenschurz.

Vor ihm stand eine Schale aus Holz.

Nach einer Weile hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er klappte ein Auge auf.

Ein paar Schritte vor ihm stand eine verschwommene Gestalt. Später war er sich sicher, dass es die Gestalt eines … Jemands gewesen war. Wie genau diese ausgesehen hatte, wusste er nicht mehr, aber dass der Jemand eine Gestalt gehabt haben musste, lag auf der Hand. Er war ungefähr … so groß gewesen … und irgendwie …

ENTSCHULDIGUNG.

Der Heilige schlug das andere Auge auf. »Ja, mein Sohn?« Er legte die Stirn in Falten. »Du bist doch männlichen Geschlechts, nicht wahr?«, fügte er zweifelnd hinzu.

ICHMUSSTELANGENACHDIRSUCHEN. ABERJETZTHABEICHDICHGEFUNDEN. FRÜHERODERSPÄTERFINDEICHJEDEN.

»Ja?«

MANSAGT, DASSDUALLESWEISST.

Nun öffnete der Heilige auch das dritte Auge.

»Das Geheimnis der Existenz besteht darin, irdische Bande zu verschmähen, nicht der Chimäre materieller Werte nachzujagen und das Einssein mit dem Universum anzustreben«, sagte er. »Und wehe, du vergreifst dich an meinem Bettelnapf!«

Der Anblick des Bittstellers bereitete ihm einiges Kopfzerbrechen.

ICHHABEDIEUNENDLICHKEITGESEHEN, sagte der Fremde. SIEMACHTNICHTVIELHER.

Der Heilige blickte sich verstohlen um.

»Red kein Blech«, raunzte er. »Man kann die Unendlichkeit nicht sehen. Und warum nicht? Weil sie unendlich ist.«

ICHKANNES.

»Ach ja? Und wie sieht sie aus?«

SIEISTBLAU.

Der Heilige rutschte unruhig im Staub hin und her. Normalerweise liefen diese Gespräche etwas anders ab. Ein unsanfter Wink mit der Unendlichkeit, ein bedeutungsschwangerer Rippenstoß in Richtung Bettelnapf – und damit hatte es sich.

»Sie ist schwarz«, murmelte er.

ISTSIENICHT, gab der Fremde zurück. NICHT, WENNMANSIEVONAUSSENBETRACHTET. DERNACHTHIMMELISTTATSÄCHLICHSCHWARZ: ABERDASISTNURDERWELTRAUM. DIEUNENDLICHKEITSELBSTISTBLAU.

»Dann weißt du wohl auch, wie sich das Klatschen mit einer Hand anhört, ja?«, stichelte der Heilige.

JAWOHL: KLA.DIEANDEREHANDMACHTTSCH.

»Nein, da bist du auf dem Holzweg«, sagte der Heilige, der plötzlich Morgenluft witterte. Er wedelte mit einer ausgemergelten Hand durch die Luft. »Siehst du? Kein Geräusch.«

DASWARKEINKLATSCHEN. DASWARNUREINWINKEN.

»Das war ein Klatschen. Bloß nicht mit beiden Händen. Was für ein Blau, wenn man fragen darf?«

DUHASTBLOSSGEWINKT. NICHTEBENSEHRPHILOSOPHISCH. ENTENEIBLAU.

Der Heilige blickte von seinem Berg hinunter. Mehrere Menschen stiegen herauf. Sie hatten Blumen im Haar und trugen, wie es aussah, eine Schale mit Reis.

ODERVIELLEICHTAUCHEAU-DE-NIL.

»Hör mal, mein Sohn.« Plötzlich hatte es der Heilige eilig. »Was willst du eigentlich von mir? Ich habe nicht ewig Zeit.«

DOCH, DIEHASTDU. DASDARFSTDUMIRGLAUBEN.

»Aber was willst du?«

WARUMMÜSSENDIEDINGESOSEIN, WIESIESIND?

»Äh …«

DUWEISSTESAUCHNICHT, ODER?

»Nicht genau, nein. Weil es doch ein Geheimnis sein soll, verstehst du?«

Der Fremde starrte ihn so lange an, bis der Heilige das Gefühl hatte, sein Kopf wäre durchsichtig geworden.

DANNSTELLEICHDIREINEEINFACHEREFRAGE: WIEGELINGTESDENMENSCHENZUVERGESSEN?

»Vergessen? Was denn?«

ALLES.

»Das … äh … geht automatisch.« Die angehenden Jünger bogen um die letzte Windung der Serpentine. Der Heilige bewaffnete sich hastig mit seinem Bettelnapf.

»Nehmen wir mal an, dieser Napf wäre dein Gedächtnis.« Er schwenkte das Gefäß. »Er kann nur eine begrenzte Menge aufnehmen, ja? Wenn also zu viel Neues reinkommt, quillt es über …«

NEIN, ICHERINNEREMICHANALLES. ANALLES. TÜRKNÄUFE. SONNENSTRAHLENIMHAAR. GELÄCHTER. SCHRITTE. ANJEDENOCHSOKLEINEEINZELHEIT. ALSWÄREESERSTGESTERNGESCHEHEN. ALSWÄREESERSTMORGENGESCHEHEN. ANALLES. VERSTEHSTDU?

Der Heilige kratzte sich die glänzende Glatze.

»Der Tradition zufolge«, sagte er, »findet man das Vergessen bei der Klatschianischen Fremdenlegion, im Wasser eines magischen Flusses, von dem niemand weiß, wo er fließt, und im Genuss von Unmengen Alkohol.«

AH, JA.

»Aber Alkohol schwächt den Körper und ist Gift für die Seele.«

KLINGTGUT.

»Meister?«

Der Heilige blickte sich gereizt um. Die Jünger waren eingetroffen.

»Augenblick noch, ich unterhalte mich gerade mit …«

Als er sich umdrehte, war der Fremde fort.

»Oh, Meister, wir sind viele Meilen gewandert, über …«

»Würdest du mal eine Sekunde die Klappe halten?«

Der Heilige streckte die Hand aus, mit den Fingerspitzen nach oben, und fuhr damit ein paarmal hin und her. Er grummelte halblaut vor sich hin.

Die Jünger wechselten erstaunte Blicke. Mit einem solchen Empfang hatten sie nicht gerechnet. Schließlich kratzte ihr Anführer eine kleine Prise Mut zusammen.

»Meister …«

Der Heilige wirbelte herum und verpasste ihm versehentlich eine Ohrfeige – mit einem eindeutigen Klatsch!

»Ha! Jetzt hab ich’s!«, rief er begeistert. »Nun denn, was wünscht ihr von …«

Er brach ab. Sein Verstand hatte endlich sein Gehör eingeholt.

»Die Menschen? Was hat er damit gemeint?«

Nachdenklich wanderte Tod zurück zu der Stelle, wo sein großer Schimmel friedlich die Aussicht genoss.

LAUF.

Das Pferd beäugte ihn misstrauisch. Es war um einiges klüger als die meisten seiner Artgenossen. Was natürlich nicht viel heißen will. Es schien zu spüren, dass seinen Herrn etwas bedrückte.

ESKÖNNTELÄNGERDAUERN, sagte Tod.

Und er machte sich auf den Weg.

Zu Imps großem Erstaunen regnete es in Ankh-Morpork nicht.

Ebenso erstaunlich fand er es, wie schnell ihm hier das Geld durch die Finger rann. Drei Dollar und siebenundzwanzig Pennys waren bereits futsch.

Sie waren deshalb futsch, weil er beim Harfespielen eine Schale mit den Münzen vor sich hingestellt hatte, so wie ein Jäger Lockenten ausbringt. Als er das nächste Mal nach unten sah, war sie weg.

Die Menschen kamen nach Ankh-Morpork, um ihr Glück zu machen. Andere fackelten nicht lange und machten krumme Finger.

Auch schien man in der Stadt als Barde unerwünscht zu sein, sogar wenn man auf dem großen Eisteddfod in Llamedos den Mistelpreis und die Jahrhundertharfe errungen hatte.

Imp hatte sich zum Spielen einen belebten Platz ausgesucht, die Harfe gestimmt und losgelegt. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung, es sei denn, um ihn im Vorbeihasten aus dem Weg zu schubsen oder ihm seine Schale zu klauen. Als gerade die ersten Zweifel an ihm nagten, ob er sich nicht vielleicht doch für das falsche Ziel entschieden hatte, kamen zwei Wächter herbeigeschlendert.

»Was der da spielt, ist eine Harfe, Nobby«, erklärte der eine, nachdem sie Imp eine Weile zugesehen hatten.

»Ach, die alte Leier.«

»Nein, das ist eine neue Harfe …« Der dicke Wächter runzelte die Stirn.

»Den Spruch wolltest du bestimmt schon dein Leben lang loswerden, was, Nobby?«, meinte er. »Wahrscheinlich lauerst du schon seit deiner Geburt darauf, dass mal irgendwann einer zu dir sagt: ›Das ist eine Harfe‹, damit du dieses wahnsinnig witzige Wortspiel anbringen kannst. Also gut: Ha, ha.«

Imp hörte auf zu spielen. Unter diesen Umständen hatte es ja sowieso keinen Sinn.

»Es ist tatsächllich eine Harfe«, warf er ein. »Und neu ist sie auch. Ich hab sie gewonnen, beim großen …«

»Du kommst doch bestimmt aus Llamedos, was?«, sagte der dicke Wächter. »Das merkt man an deinem Akzent. Ein sehr musikalisches Völkchen, die Llamedosianer.«

»Für mich hört sich das so an, wie wenn einer mit Kies gurgelt«, meinte sein Kollege Nobby. »Hast du eine Lizenz?«

»Eine Llizenz?«, wiederholte Imp.

»Mit denen von der Musikergilde ist nicht zu spaßen«, sagte Nobby. »Wenn sie dich dabei erwischen, wie du ohne Lizenz musizierst, nehmen sie dir dein Instrument ab und schieben es dir in …«

»Na, na«, fiel ihm der Dicke ins Wort. »Nun mach dem Jungen mal keine Angst.«

»Für einen Pikkolospieler gibt es jedenfalls was Angenehmeres«, erklärte Nobby.

»Aber Musik kostet doch nichts. Sie ist frei wie die Lluft und der Himmell«, wandte Imp ein.

»Bei uns nicht. Lass dir das gesagt sein, mein Junge.«

»Von einer Musikergillde hab ich noch nie etwas gehört.«

»Du findest sie in der Blechdeckelgasse«, sagte Nobby. »Wer Musiker sein will, muss Gildenmitglied werden.«

Imp war so erzogen, sich an Vorschriften zu halten. Die Llamedosianer waren auch ein sehr gesetzestreues Völkchen. »Dann mach ich mich llieber glleich auf die Socken.«

Die Wächter sahen ihm nach.

»Er hat ein Nachthemd an«, sagte Korporal Nobbs.

»Das ist eine Bardenkutte«, sagte Feldwebel Colon. Sie schlenderten gemächlich weiter. »Ein sehr bardisches Völkchen, die Llamedosianer.«

»Wie viele Tage gibst du ihm?«

Colon unterstrich seine Antwort, eine wohlfundierte Mutmaßung, mit einer abwägenden Handbewegung. »Zwei, höchstens drei.«

Sie bogen um den mächtigen Bau der Unsichtbaren Universität und gelangten in eine staubige kleine Straße, die meist wie ausgestorben dalag und genau deswegen bei den Männern der Stadtwache äußerst beliebt war. Dort konnten sie bei einer Selbstgedrehten ungestört die Zeit totschlagen und wunderbar innere Einkehr halten.

»Du kennst doch Lachse«, sagte Nobby.

»Das müssten Fische sein.«

»Und Lachs kann man aufgeschnitten in Dosen kaufen.«

»Das soll wohl so sein, ja.«

»Ich frag mich bloß, wie es kommt, dass die Dosen alle gleich groß sind. Wo die Lachse doch vorne und hinten spitz zulaufen.«

»Interessante Frage, Nobby. Ich glaube …«

Colon blieb stehen und starrte auf die andere Straßenseite. Korporal Nobbs folgte seinem Blick.

»Der Laden da«, sagte der Feldwebel. »Der Laden, war der gestern auch schon da?«

Nobby besah sich die abgeblätterte Wandfarbe, das dreckverkrustete kleine Fenster, die windschiefe Tür.

»’türlich«, antwortete er. »Der war schon immer da. Seit einer Ewigkeit.«

Colon ging hinüber und rieb ein Guckloch in die Schmutzschicht. Im Dämmerlicht hinter der Scheibe waren dunkle Objekte auszumachen.

»Ja, sicher«, murmelte er. »Ich meine … ich dachte nur … war der gestern auch schon seit einer Ewigkeit da?«

»Geht’s dir nicht gut?«

»Komm weiter, Nobby.« Der Feldwebel stapfte zügig drauflos.

»Und wohin?«

»Nichts wie weg.«

Ein Aufatmen ging durch die Warenberge, als die Wachen das Weite suchten.

Nachdem Imp die Gebäude der anderen Gilden bewundert hatte – die majestätische Fassade der Assassinen, die prächtigen Säulen der Diebesgilde, den qualmenden, aber nichtsdestoweniger beeindruckenden Krater, wo bis gestern noch die Alchemisten residiert hatten –, fiel seine Enttäuschung umso größer aus, als er die Musikergilde nach langer Suche endlich gefunden hatte. Sie besaß nicht einmal ein eigenes Haus, sondern lediglich ein paar mickrige Räume über einem Barbiergeschäft.

Er setzte sich in das braun gestrichene Vorzimmer und wartete. An der Wand gegenüber hing ein Schild: »Aus Gründen der Sauberkeyth und Gesundheyth ist RAUCHENVERBOTHEN.« Imp hatte noch nie geraucht. In Llamedos war es dafür einfach zu nass. Aber plötzlich hatte er nicht übel Lust, sich eine anzustecken.

Mit ihm warteten ein Troll und ein Zwerg. Imp fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut, so neugierig starrten die beiden ihn an.

Schließlich fragte der Zwerg: »Bist du ’n Elf?«

»Ich? Nein!«

»Du hast so ’ne elfische Haartolle.«

»Ehrllich nicht. Ich bin kein Ellf.«

»Und wo kommste her?«, fragte der Troll.

»Aus Llamedos.« Imp kniff vorsichtshalber schon mal die Augen zu. Von dem, was Trolle und Zwerge traditionellerweise mit Leuten machten, die im Verdacht standen, Elfen zu sein, konnte sich die Musikergilde noch eine Scheibe abschneiden.

»Was haste denn da?«, fragte der Troll. Er trug zwei viereckige dunkle Glasscheiben vor den Augen. Die Drahtbügel, mit denen sie verbunden waren, klemmten hinter seinen Ohren.

»Das ist eine Harfe.«

»Und da spielste drauf?«

»Ja.«

»Dann biste wohl ’n Druide, was?«

»Nein!«

Der Troll sortierte seine Gedanken.

»Siehst aber aus wie ’n Druide, in deinem Nachthemd«, rumpelte er geraume Zeit später.

Der Zwerg, der Imp auf der anderen Seite flankierte, lachte.

Für Druiden hatten Trolle ebenfalls nichts übrig. Kein vernunftbegabtes Wesen, das gern länger in einer felsenähnlichen Haltung verharrt, hält besonders viel von einer anderen Spezies, die es ungefragt auf Rundstämmen sechzig Meilen durch die Gegend rollt, um es anschließend, bis zu den Knien eingegraben, in einem Steinkreis aufzustellen. So jemand glaubt, sich Ressentiments erlauben zu dürfen.

»In Llamedos ziehen wir uns alllle so an«, antwortete Imp. »Aber ich bin Barde! Kein Druide. Ich stehe nicht auf Geröllll!«

»Autsch«, machte der Zwerg leise.

Der Troll musterte Imp seelenruhig von oben bis unten. Dann fragte er ohne einen besonders bedrohlichen Unterton in der Stimme: »Biste neu in der Stadt?«

»Gerade erst angekommen.« Ich schaff’s noch nicht mall bis zur Tür, dachte Imp. Der haut mich zu Brei.

»Jetzt kriegste ’nen kostenlosen Ratschlag von mir. Kostenlos, gratis und für lau. In Ankh-Morpork ist ›Geröll‹ ein Wort für Troll. Ein böses Wort von dummen Menschen. Wennste zu ’nem Troll Geröll sagst, kannste dich da draufgefasst machen, dasste in der nächsten Zeit erst mal deinen Kopf suchen musst. Vor allem, wennste um die Augen rum auch noch ’n bisschen elfisch aussiehst. Den Rat kriegste umsonst, weil du ’n Barde bist und Musik machst, genau wie ich.«

»Verstehe! Danke sehr!«, krächzte Imp, hörbar erleichtert.

Er zupfte ein paar Töne auf der Harfe, und die Spannung verflog. Dass Elfen unmusikalisch waren, wusste schließlich jeder.

»Lias Blaustein«, sagte der Troll und streckte ihm eine Gesteinsformation mit Fingern hin.

»Imp y Celyn«, sagte Imp. »Und ich habe wirkllich nichts mit Steinen zu tun!«

Eine kleine, etwas knubbeligere Hand reckte sich ihm von der anderen Seite entgegen. Imps Blick wanderte an dem dazugehörigen Arm entlang. Dessen Besitzer war klein, sogar für einen Zwerg. Auf seinem Schoß lag ein großes Horn aus Bronze.

»Glod Glodson«, stellte er sich vor. »Spielst du noch was außer Harfe?«

»Alles, was Saiten hat«, antwortete Imp. »Aber die Harfe ist die Königin der Instrumente.«

»Ich kann alles blasen«, sagte Glod.

»Ist ja tolll.« Höflich fügte er hinzu: »Dann bist du sicher wahnsinnig belliebt.«

Der Troll hob einen schweren Ledersack hoch.

»Und das spiel ich«, sagte er und kippte ein paar große runde Steine auf den Boden. Lias hob einen auf und schnipste mit dem Finger dagegen. Es machte bämm.

»Musik aus Steinbrocken?«, staunte Imp. »Wie nennt man die?«

»Wir sagen Ggruuhauga dazu«, antwortete Lias. »Das heißt ›Musik aus Brocken‹.«

Die Steine waren von unterschiedlicher Größe und mit eingemeißelten Kerben sorgfältig gestimmt.

»Darf ich auch mall?«, fragte Imp.

»Klaro.«

Imp suchte sich einen kleinen Stein aus und schnipste ihn an. Er machte bop. Ein noch kleinerer machte bing.

»Und wie spiellt man die?«, fragte er.

»Ich knallse zusammen.«

»Und dann?«

»Wie, dann?«

»Was machst du, nachdem du sie zusammengeknallllt hast?«

»Dann knall ichse noch mal zusammen«, sagte Lias, der geborene Trommler.

Die Bürotür ging auf, und ein spitznasiger Mann schaute heraus.

»Gehört ihr zusammen?«, blaffte er.

2 Eine noch kaum untersuchte Frage ist die, wo genau Medusa die Schlangenhaare eigentlich wuchsen. Achselhaare sind ein noch sehr viel peinlicheres Problem, wenn sie versuchen, in die Spraydose mit dem Deo zu beißen.

Es gab, so erzählte es die Legende, tatsächlich einen Fluss des Vergessens. Ein einziger Tropfen genügte, um das Gedächtnis eines Menschen komplett auszulöschen.

Manch einer dachte dabei an den Fluss Ankh, dessen Wasser man trinken, aber auch kleinschneiden und kauen kann. Ein Trank aus dem Ankh reichte vermutlich aus, um einem Menschen die Erinnerung zu rauben – oder ihn zumindest Dinge tun zu lassen, an die er sich hinterher keinesfalls mehr erinnern möchte.

Doch diesen anderen Fluss gab es auch. Die Sache hatte allerdings einen Haken. Denn niemand wusste, wo er lag, nachdem alle, die ihn je gefunden hatten, erst einmal ihren Durst löschen mussten.

Tod musste sich etwas anderes überlegen.

»Fünfundsiebzig Dollllar?«, sagte Imp. »Blloß fürs Musikmachen?«

»Die Summe beinhaltet fünfundzwanzig Dollar Aufnahmegebühr, fünfunddreißig Dollar Mitgliedsbeitrag und die jährliche freiwillige Zwangsabgabe an die Pensionskasse in Höhe von fünfzehn Dollar«, antwortete Herr Kleta.

»Aber so viel Gelld haben wir nicht!«

Mit einem beredten Schulterzucken gab ihnen der Sekretär der Gilde zu verstehen, dass es auf der Welt zwar viele Probleme gab, sie ihm aber mit diesem speziellen den Buckel runterrutschen konnten.

»Viellleicht könnten wir die Summe aufbringen, wenn wir etwas verdient haben«, fuhr Imp kläglich fort. »Sie müssten sich blloß ein, zwei Wochen gedullden.«

»Wenn ihr nicht in der Gilde seid, kann ich euch nicht spielen lassen«, sagte Herr Kleta.

»Aber solange wir nicht spielen dürfen, können wir auch nicht eintreten«, wandte Glod ein.

»Eben.« Herr Kleta gackerte: »Hätt. Hätt. Hätt.«

Er hatte eine seltsame Lache, freudlos und irgendwie vogelartig. Sie besaß große Ähnlichkeit mit ihrem Besitzer, der aussah, als hätte man aus einem in Bernstein gefangenen Insekt fossiles Erbgut gewonnen und in einen Anzug gesteckt.

Lord Vetinari hatte die Gilden schon immer gefördert. Sie waren die großen Räder, die das Uhrwerk einer wohlgeordneten Stadt am Laufen hielten. Ein Tröpfchen Öl hier, eine Prise Sand ins Getriebe dort … aber im Großen und Ganzen schnurrte der Apparat anstandslos vor sich hin.

Wie in einem Misthaufen die Würmer, so gedieh in diesem Uhrwerk Herr Kleta. Er war kein schlechter Mensch, jedenfalls nicht im landläufigen Sprachgebrauch. Genauso wenig wie eine Ratte, die den Pesterreger in sich trägt, unvoreingenommen betrachtet, ein schlechtes Tier ist.

Herr Kleta arbeitete sich auf zum Wohle seiner Mitbürger. Dieser Aufgabe hatte er sich mit Haut und Haaren verschrieben. Da es auf der Welt viele Dinge gibt, die erledigt werden müssen und für die sich kein Freiwilliger findet, waren die Menschen Herrn Kleta dankbar dafür, dass er sie ihnen abnahm. Protokoll führen, zum Beispiel. Dafür sorgen, dass das Mitgliederverzeichnis stets auf dem neuesten Stand war. Ablage machen. Organisieren.

Einst war er für die Diebesgilde tätig gewesen, obwohl er kein Dieb war – allenfalls im übertragenen Sinne des Wortes. Später war in der Narrengilde eine etwas attraktivere Stelle frei geworden, und Herr Kleta war auch kein Narr. Zuletzt hatte er sich dann um den Posten als Sekretär der Musikergilde beworben.

Eigentlich hätte er dafür ein Instrument beherrschen müssen. Also kaufte er sich einen Kamm und ein Blatt Butterbrotpapier. Weil die Gilde bis dahin von echten Musikern geleitet worden war, litt sie unter chronischem Mitgliederschwund: Kaum jemand bezahlte seine Beiträge. Und da sie deshalb bei dem Troll Chrysopras, der Wucherzinsen verlangte, mit mehreren tausend Dollar in der Kreide stand, brauchte Herr Kleta nicht einmal vorzuspielen.

Als er den ersten zerfledderten Aktenordner aufschlug, überkam ihm beim Anblick des chaotischen Durcheinanders ein Gefühl tiefster Genugtuung, und er hatte nie wieder zurückgeblickt. Sondern erst einmal nur sehr lange nach unten. Und obwohl die Gilde einen Präsidenten und einen Vorstand hatte, hatte sie nun auch Herrn Kleta, der Protokoll führte und, leise in sich hineinschmunzelnd, dafür sorgte, dass alles wie am Schnürchen lief. Es ist eine seltsame, aber erwiesene Tatsache, dass – wann immer die Menschen das Joch der Tyrannei abwerfen, um ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen – aus dem Bodensatz der Fremdbestimmung ein Herr Kleta sprießt wie nach einem Regenguss die Pilze aus dem Boden.

Hätt. Hätt. Hätt. Herr Kleta lachte umgekehrt proportional zum tatsächlichen Witz der Situation.

»Aber das ist doch der helle Wahnsinn!«

»Willkommen in der wunderbaren Welt der Gildenwirtschaft«, sagte Herr Kleta. »Hätt. Hätt. Hätt.«

»Und was passiert, wenn wir spiellen, ohne dass wir zur Gillde gehören?«, fragte Imp. »Konfiszieren Sie dann unsere Instrumente?«

»Das ist nur der Anfang«, antwortete der Sekretär. »Danach bekommt ihr sie nämlich wieder zurück, gewissermaßen. Hätt. Hätt. Hätt. Apropos … du bist doch nicht etwa ein Elf, oder?«

»Fünfundsiebzig Dollllar, das ist kriminellll«, schimpfte Imp, während sie durch die abendlichen Straßen stapften.

ENDE DER LESEPROBE