Rollkofferterroristen - Jens Brambusch - E-Book

Rollkofferterroristen E-Book

Jens Brambusch

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Beschreibung

Mit den E-Books der DuMont Welt - Menschen – Reisen sparen Sie Gewicht im Reisegepäck und können viele praktische Zusatzfunktionen nutzen!

Das E-Book basiert auf: 1. Auflage 2021, Dumont Reiseverlag

Jens Brambusch vermietet seine Berliner Wohnung – bei Airbnb. Ein spontaner Einfall, der mit Bestbewertungen und einem prall gefüllten Konto belohnt wird. Alles ist perfekt! Doch schon bald kommen erste Zweifel auf. Der Autor erlebt hautnah mit, wie die Gäste den Hausfrieden stören: durch Rollkoffer-Geklapper, Partylärm und die Kapitulation vor der Mülltrennung. Dann kündigt sich Besuch aus Finnland an: Niko und seine sieben Freunde fallen wie eine Horde brandschatzender Wikinger in die Wohnung ein. Und ehe sich der Autor versieht, befindet er sich auf einer waghalsigen Flucht durch Berlin – vor seinen eigenen Gästen.
Skurrile Anekdoten und ein schonungslos ehrlicher Blick hinter die perfekte Fassade des Airbnb-Gastergebertums.

Tipp: Setzen Sie Ihre persönlichen Lesezeichen an den interessanten Stellen und machen Sie sich Notizen… und durchsuchen Sie das E-Book mit der praktischen Volltextsuche!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 303

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  Alle Anekdoten haben sich so zugetragen. Allerdings habe ich die Namen und die Wohnorte der Gäste verändert. Na ja, bei fast allen. Nicht bei Niko aus Finnland. Er hat es nicht anders verdient.

1. Auflage 2021

© 2021 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas

Umschlagfotos: Shutterstock.com/Madredus (Wand), Adobe Stock/viperagp (Sixpack), Adobe Stock/Pavel Losevsky (Fellkoffer), iStock.com/LightFieldStudios (Reisender), Shutterstock.com/pirtuss (Wikingerhelm vorn und hinten), Shutterstock.com/Luis Alonso Cardenas (Schlüsselbund), Shutterstock.com/Jiri Hera (Bierdose), Maximilian Virgili (Autorenfoto)

Fotos Bildstrecke innen: Jens Brambusch; mit folgenden Ausnahmen: Maximilian Virgili (Autorenfoto S. 6), picture-alliance/Franziska Koark (Graffito S. 8), Shutterstock.com/Madredus (Wand)

E-BOOK Produktmanagement: Lena Hausinger

www.dumontreise.de

INHALT

SAULUS

Berlin, Berlin

Die kleine Kneipe

Elbe oder Spree

Luftmatratze mit Frühstück

Die perfekte Wohnung

Meine ersten Gäste

Fenster zum Hof

Krieg der Sterne

Küchenschlacht

Buenos días, Argentina

PAULUS 

Niko und die starken Männer

Matrix

Besuch der alten Damen

Abort des Grauens

Junger Mann zum Mitmachen gesucht

Pantomime gegen Promille

Easy-Jet-Set

Zauber von Oz

Ade Airbnb!

Danksagung

TEIL 1

Und dann ist er da, der Tag, vor dem ich mich die letzten Monate immer gefürchtet habe. Ich habe geahnt, dass er irgendwann kommen wird. Ich habe gebetet, dass die Angst unbegründet ist. Aber die Gebete blieben ungehört. Es ist der Dienstag nach Ostern, und ich bereue es bitter, meine Wohnung über Airbnb vermietet zu haben. Gentrifatius, der Schutzpatron des gewissenlosen Strukturwandels, muss sich von mir abgewendet haben. Die Vendetta der Entmieteten erwartet mich. Und so laufe ich durch die regennassen Straßen Berlins. Das Herz schlägt mir im Hals. Ich keuche, ich stolpere. Die Straßenbahnschienen glänzen kalt im matten Laternenlicht. Ich muss aufpassen, dass ich auf dem feuchten Pflaster nicht ausrutsche. Ich bin auf der Flucht.

Die glatten Sohlen meiner Schuhe fühlen sich auf dem nassen Pflaster an wie Slicks auf Eis. Ich schliddere mehr, als dass ich durch die Straßen meiner Nachbarschaft renne. Vor dem Späti, an dem ich eigentlich Kippen kaufen wollte, steht die türkische Besitzerin in der offenen Tür, pafft und schaut verträumt den Tropfen zu, die Ringe in Pfützen werfen und den Bürgersteig mit kleinen Tsunamis immer weiter fluten. Hinter ihr krächzt türkischer Pop aus einem kleinen Kofferradio. Alles ist wie immer.

Als sie mich erkennt, wie ich auf ihren Laden zustürme, rollt sie genervt mit den Augen, wirft ihre erst zur Hälfte gerauchte Kippe in die Pfütze, die unter zischendem Protest erlischt. Sie lächelt gequält dieses Lächeln, wie jedes Mal, wenn sie beim Rauchen gestört wird.

Auch an diesem Abend nach Ostern zieht Melek mit jedem Meter, den ich auf den Späti zulaufe, ihre Lippen weiter nach oben und rümpft dabei ihre Nase. Nachdem sie missmutig ihre Kippe ertränkt hat und gerade an ihren angestammten Platz hinter dem Tresen schleichen will, bleibt sie abrupt stehen. Sie muss bemerkt haben, dass etwas nicht stimmt. Sie dreht sich zu mir um, sieht, wie ich an dem Späti vorbeirenne. Ich hebe nur kurz die Hand zum Gruß. Irritiert grüßt sie zurück. Ich sehe in ihren Augen, dass sie in meinen Panik entdeckt haben muss.

Immer wieder drehe ich mich im Laufen hektisch um, versuche meine Verfolger zu entdecken, kann sie aber nicht finden. Da ist kein Mob zu sehen, der mir folgt. Dafür glimmt an der Späti-Tür wieder eine Kippe wie ein einsames Glühwürmchen, das sich in die Großstadt verirrt hat.

Die Straßen in Friedrichshain sind wie leer gefegt. Nur vereinzelt klammern sich Personen an ihren Regenschirmen fest, huschen aus der Straßenbahn in eines der vielen Restaurants oder gehen schnurstracks nach Hause. Hier und da kauern Raucher vor Cafés oder Bars an den Mauern, auf der Suche nach Schutz vor Wind und Wetter, bibbern in der Kälte, inhalieren hektisch den blauen Qualm in der schwarzen Nacht, ehe sie wieder zurück ins Warme flüchten. Ich laufe weiter, immer weiter, Richtung Boxhagener Platz. Ein letztes Mal drehe ich mich an der nächsten Kreuzung um, ehe ich abbiege und mich langsam beruhige. Noch sind meine Verfolger nicht zu sehen. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es kurz vor zwanzig Uhr ist. Vor ziemlich genau vierundzwanzig Stunden bin ich aus meinem Osterwochenende von der Nordsee zurückgekommen. Meine kleine heile Welt war noch intakt, der Inbegriff von Horror für mich lediglich eine verstopfte A24 zwischen dem Autobahnkreuz Wittstock/Dosse und dem Speckgürtel von Berlin. Gefühlt die halbe Republik rollte über die Autobahnen. Und das begann bereits, da schmeckte ich noch das Salz des Meeres in der Luft. Stoßstange an Stoßstange, 430 Kilometer. Über sieben Stunden dauerte die Fahrt. Und jeder Stau killte einen Tag Erholung. Als ich Berlin endlich erreichte, war ich bereits wieder urlaubsreif. Und hundemüde. Aber in dieser Nacht sollte ich kein Auge zubekommen. Dafür würden die Finnen sorgen, die meine Ferienwohnung für einige Tage gemietet hatten.

BERLIN, BERLIN

In einer Großstadt wie Berlin kann es schon mal passieren, dass man zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist. Das zumindest vermittelt der tägliche Blick in die Boulevardpresse: »Mitten in Tempelhof: Streit unter Autofahrern – Mann (22) ins Bein geschossen«. Oder: »Drama in Pankow: Frau (30) schwer verletzt im Treppenhaus gefunden«. Und etwas kleiner: »30 Personen beteiligt: Großfamilie liefert sich Schlägerei in Berliner Krankenhaus«. Zu dem Potpourri aus tagesaktuellen Nachrichten gesellt sich ein Kommentar, der zeitlos erscheint. »Ist Berlin so herzlos geworden?«, fragt darin die Autorin. Das Fazit des Kommentars lautet verkürzt übrigens: »Ja!«

Bei solchen Meldungen macht der Start in den Tag richtig Laune. Ein schiefer Blick, ein unbedachtes Wort, ein Pöbler in der S-Bahn, ein aggressiver Alki am Abend, ein verkaterter Trinker am Morgen, ein durchgeknallter Junkie auf Trip oder schlimmer noch auf der Jagd nach dem nächsten Schuss. Dazu der Kleinkrieg auf Berlins Straßen. Auto nimmt Radfahrer die Vorfahrt. Radfahrer schlägt mit flacher Hand an der nächsten Ampel auf das Dach des Wagens. Prügelei. Auto parkt auf Straßenbahnschiene, Verkehr kommt im Hupkonzert zum Erliegen. Rollerfahrer schleicht im Schneckentempo am Stau vorbei. Autofahrer öffnet Tür, um den Roller auszubremsen. Lkw fährt bei Gelb noch auf die Kreuzung, er hat ja lange genug gewartet, und versperrt damit die Kreuzung für die nächsten vier Ampelphasen. Autofahrer sind genervt und fahren nun ebenfalls auf die Kreuzung. Chaos. Lautstarke Auseinandersetzungen, oft auch mit Fäusten ausgetragen, sind nicht ausgeschlossen. Möglichkeiten, sich Ärger einzufangen, gibt es eben viele in Berlin. Dass ich aber einmal mit Mitte vierzig durch die Straßen Berlins wetze, weil ich befürchten muss, einem Mob stark alkoholisierter Finnen zum Opfer zu fallen, die ich zuvor aus meiner Ferienwohnung geworfen habe, damit hätte ich nicht gerechnet.

Ich wohne in Friedrichshain. Berliner Osten. Berghain. Boxi. Ein sogenannter Szenekiez, Epizentrum des Partytourismus. Lonely Planet, die Bibel aller Backpacker und Individualtouristen, verspricht »Berlins aufregendstes und wildestes Nachtleben mit einer Flut an Clubs und Bars«. Ein bisschen Ballermann, ein bisschen Silicon Valley. Dabei war der Zwillingsstadtteil von Kreuzberg jenseits der Spree in den Neunzigerjahren noch Schauplatz von Straßenkämpfen zwischen Hausbesetzern und der Polizei. Von der Randale übrig geblieben ist als Relikt alter Tage ein besetztes Haus in der Rigaer Straße, dessen Bewohner die Nachbarschaft tyrannisieren und Hundertschaften an Polizisten beschäftigen.

Statt der linksautonomen Hausbesetzer prägt Friedrichshain mittlerweile eine andere Spezies: die Hipster, deren Bärte genauso geölt sind wie die Dielen in den Altbauwohnungen, aus denen die Hausbesetzer einst vertrieben wurden. In dem ehemaligen DDR-Arbeiterbezirk haben sich Unternehmen mit klangvollen Namen angesiedelt. Die Musiksender MTV und VIVA thronten jahrelang in einem alten Speicher am Spreeufer zwischen der Deutschlandzentrale von Coca-Cola und dem Plattengiganten Universal Records. Mittlerweile ist MTV ein paar hundert Meter weitergezogen, mitten ins Herz von Friedrichshain, an die Boxhagener Straße. Zalandos Hauptquartier liegt vis-à-vis zur East Side Gallery, dem längsten erhaltenen Stück Berliner Mauer mit den bunten Graffiti, das bekannteste davon der innige Bruderkuss zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew, vor dem sich gut gelaunte Gruppen aus Fernost Kämpfe mit ihren Selfie-Sticks liefern, die an Gefechtsszenen aus dem Film Der letzte Samurai erinnern. Neben Zalando liegt glitzernd und leuchtend die Mercedes-Benz-Arena, jenseits der Oberbaumbrücke mit ihren markanten Türmchen tüfteln Start-ups in den alten Hallen und dunklen Hinterhöfen der ehemaligen Narva Glühlampenfabrik am nächsten großen Ding und hoffen, dass ihnen bald ein Licht aufgeht. Und immer mehr SUVs quetschen sich über das holperige Kopfsteinpflaster der Seitenstraßen, auf der Suche nach einem Parkplatz vor dem Bio-Bäcker.

Friedrichshain ist der Prenzlauer Berg von morgen. Nur ein bisschen internationaler und mit einer noch höheren Tattoo-Dichte. Dafür wird weniger Schwäbisch geschwätzt.

Ein Spaziergang durch die Straßen des Kiezes erinnert bisweilen an den Turmbau zu Babel. Zum einen lärmen überall Baustellen, wachsen aus Brachen protzige Bauten und komfortable Komplexe mit kosmopolitischen Namen wie »Pure Living«, »Pandion Midtown« oder »The Wave«. »Quartier 18« oder »Revaler Spitze« klingen dagegen fast schon so altbacken wie die Schrippe von letztem Sonntag, die beim Späti noch am Dienstag in der Auslage liegt. Zum anderen prasseln etliche Sprachen aufeinander ein: Spanisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Japanisch, Hebräisch, Russisch oder auch Vietnamesisch. In einigen Bars ist der Besucher bereits beim Bestellen aufgeschmissen, wenn er kein Englisch beherrscht. Was allerdings nur wenige stört, weil es den weltstädtischen Charakter der Hauptstadt unterstreicht. Außer natürlich, man stammt aus dem westlichen Münsterland und ist Gesundheitsminister, dann ist der deutschunkundige Kellner schon mal einen Tweet inklusive Shitstorm wert.

Seit ich allerdings einmal als gealtertes Marco-Reus-Lookalike den Friseur mit schmissiger Fußballerfrisur verlassen habe, hört meine Toleranz auf. Bisweilen ähnelt der Besuch beim Meister mit den Scherenhänden einem Behördengang – auch wenn er zum Glück nicht ganz so lange dauert. In manchen hippen Läden entscheidet eine gezogene Wartenummer darüber, welcher Friseur einem erst den Kopf wäscht und dann frisiert. Und dabei sollte man ganz sicher sein, dass die Wünsche zumindest ansatzweise verstanden werden, zumindest dann, wenn man nicht möchte, dass der elektrische Rasierer eine Schneise bis zum Haaransatz fräst. Denn selbst wenn der Friseur noch so selbstsicher und verständnisvoll nickt, heißt das nicht, dass er den Ausführungen folgen kann. Auch als der freundliche Mann aus Fernost pantomimisch nach dem Einsatz des elektrischen Rasierers fragte, indem er mit dem Gerät herumwedelte, hätte ich gedacht, dass mein erhobener Zeigefinger, der wie der Zeiger eines Metronoms von links nach rechts wanderte, eine internationale verneinende Geste sei. Doch in einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit fraß sich das surrende Ungetüm bereits durch meine Nackenhaare wie ein Schneepflug durch einen Alpenpass im Winter.

Wahrscheinlich gibt es kaum eine Stadt auf dem Globus, die derzeit so angesagt ist wie Berlin. Glücksritter aus aller Herren Länder suchen hier nach Arbeit, Bleibe und Lebensgefühl. Clubs und Kunst ziehen zudem das internationale Partyvolk für einen Kurzurlaub an. Die Invasion der Touristen wird von der Marschmusik der Rollkoffer auf dem holperigen Pflaster intoniert. Der Strom der Besucher reißt nie ab, orchestriert von easyJet und Ryanair. 13,5 Millionen waren es im Jahr 2018, vier Prozent mehr als im Vorjahr. Dem Ur-Berliner, einer fast ausgestorbenen Spezies, bleibt nicht mehr, als fassungslos dem Treiben der Touristenhorden zuzuschauen. Und dann sind da noch die, die mit Sack und Pack an die Spree ziehen. Seit fünfzehn Jahren wächst Berlin jedes Jahr, zuletzt um die Anzahl der Bewohner einer mittelgroßen Stadt wie Coburg oder Stralsund. Und die meisten Zugezogenen wollen natürlich nicht im Speckgürtel der Hauptstadt wohnen, sondern da, wo das Leben tobt. Mitten in der City. Zumindest noch mitten im S-Bahn-Ring, der wie eine innere Stadtmauer die teuren von den etwas weniger teuren Wohnlagen trennt.

Der Wohnraum ist mittlerweile knapp geworden, die Mieten steigen, auch wenn Berlin immer noch »billig« ist, verglichen mit den anderen Metropolen der Republik und erst recht mit denen der großen weiten Welt. Für die gebürtigen Berliner bleibt da kaum noch Platz. Vertrieben von den frisch Zugezogenen beäugen sie daher jeden Neuankömmling, der sich in ihrer Nachbarschaft breitmacht, mit Groll, zumindest aber mit Skepsis. Selbst die, die kein Schwäbisch schwätzen. Solche wie mich.

DIE KLEINE KNEIPE

Es ist ein Freitagabend, Mitte Juni. Vor wenigen Tagen bin ich nach Berlin gezogen. Zumindest so halb. Ich bin einer dieser Pendler, die am Montagmorgen in die Hauptstadt fahren und spätestens am Freitag wieder den Zug zurück ins Wochenende nehmen. In meinem Fall: nach Hamburg. Während sich die Hansestadt noch am Frühling festklammert, hat die erste Wärmeperiode des Jahres die Hauptstadt bereits im Würgegriff. In den Häuserschluchten steht noch die schwülstige Hitze des späten Nachmittags. Zeit für ein kühles Bier.

Tagsüber ist die unscheinbare Kneipe im Vorderhaus geschlossen, ein graues Rollo mit Schmierereien von wenig begabten Sprayern, die die gesamte Nachbarschaft mit ihren Graffiti und Tags überziehen, verdeckt die große Scheibe neben der kleinen Tür. Erst abends kommt Leben in die Bude. Schon mehrmals habe ich einen Blick durch die beschlagene Scheibe der gemütlichen Kneipe im Vorderhaus erhascht, und das, was ich sah, gefiel mir. Hinter dem Tresen stand immer eine junge Frau in bunten, wallenden Kleidern, die wahrscheinlich die Pächterin der Kneipe ist. Nun scheint mir der geeignete Zeitpunkt gekommen zu sein, der Kneipe einen ersten Besuch abzustatten.

Schon als ich die Straße entlangschlendere, glaube ich Uschi zu erkennen, die Barfrau, von der meine Nachbarn bereits sprachen. »Das ist vielleicht eine Marke«, hatten sie gesagt. Uschi thront wie eine Matrone auf dem Trottoir, in einem Sessel mit rotem Cordbezug und dunklen Brandlöchern. Sie dreht sich eine Zigarette und genießt sichtlich den einsetzenden Schatten, den die Zinnen der Altbauten auf der gegenüberliegenden Seite der Straße spenden. Die Sonne verkriecht sich langsam zur verdienten Nachtruhe. Auf dem kleinen Tisch neben Uschi liegt ein Buch, in das sie zuvor vertieft war – Fifty Shades of Grey. Uschi ist ihr einziger Gast.

»Halt«, befiehlt sie im Tonfall eines DDR-Vopos, als ich nett grüßend an ihr vorbei in das miefige Halbdunkel der Kneipe treten will. Verdattert stoppe ich und schaue sie mit großen Augen an.

»Ja?«, fragte ich etwas irritiert.

»Wat is’n da drin?« Sie zeigt auf die Tüte in meiner Hand.

»Äh, mein Einkauf«, sage ich, und öffne pflichtschuldig den Beutel für die Inspektion in Erinnerung an die Grenzkontrollen auf der Transitstrecke Ende der Achtzigerjahre. Damals hätte man auch nicht eine Diskussion über die Beweggründe der Fragerunde gestartet. Und so zähle ich auf: »Brot, Kaffee, Milch, Gemüse, Bananen …«

»Keen Fleisch?«, fragt Uschi ungläubig und nennt gleich den Grund für ihr Interesse: »Ick hab nämlich Hunger.«

Doch ich muss Uschi enttäuschen, ich habe »keen Fleisch«. Sie atmet schwer ein und aus. Ein Hauch von Verzweiflung füllt die Straße. »Wat bist denn du für eener?«, pampt Uschi mich an.

»Ich?«, frage ich und schüttelte abwehrend den Kopf. »Meine Freundin ist Vegetarierin«, rechtfertige ich meinen Einkauf. Sogleich schießt es mir durch den Kopf: Wieso erzählst du das eigentlich? Warum rechtfertigst du dich überhaupt? Während ich noch darüber nachdenke, brabbele ich aber schon weiter: Meine Freundin käme zu Besuch. Das sei der Wochenendeinkauf. Auch den latenten Vorwurf, ich sei wohl ebenfalls Vegetarier, räume ich sofort aus, schiebe alles auf meine Freundin. Was sogar der Wahrheit entspricht. Sie isst seit Jahren kein Fleisch. Ich sehr wohl. Das will ich gleich klarstellen. Nicht, dass ich es mit der offensichtlich karnivoren Nachbarschaft gleich zu Beginn verscherze.

Uschi – blond, jung, beliebt und beleibt – hat sich anscheinend damit abgefunden, dass nichts abzustauben ist, was ihre Gelüste befriedigen könnte. Trotzdem quält sie sich gönnerhaft aus dem Sessel, den sie für ihr Sonnenbad auf die Straße gewuchtet hat. Sie zuppelt am Ausschnitt ihres wallenden Gewands und fächelt sich Luft in das Kleid. »Ick schwitze«, sagt sie und gibt mir einen gönnerhaften Wink, der mir signalisiert, dass ich Hochwohlgeboren folgen dürfe.

Während sie hinter dem Tresen verschwindet, um mein Bier zu zapfen, lasse ich mich auf einem der wackeligen Barhocker nieder. Und lächele debil. Was anderes fällt mir nicht ein. Die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen, mustert Uschi mich skeptisch von oben bis zum Bauchnabel. Der Rest meines Körpers ist vom Tresen verdeckt. Dann geht das Verhör in die nächste Runde.

»Wo kommste denn her?«, will sie wissen.

»Aus Hamburg«, sage ich.

»Na, da kannste ja nix für«, ist ihre Antwort. »Und was machste hier?«

Ich wedele mit dem Daumen Richtung Hinterhaus wie ein Anhalter an einer Autobahnraststätte. »Ich wohne jetzt hier. Zumindest unter der Woche.«

Wie ein prall gefüllter Luftballon, der beim Verknoten aus den Fingern flutscht, zischt mein erhoffter Berlin-Bonus laut flatulierend durch die Kneipe und verendet platt auf dem Boden. Uschi hat mich durchschaut. »Aaaach, biste eener, der gekooft hat, wa?«, sagt sie scharfsinnig. Es klingt wie bei Sherlock Holmes: »Kombiniere …« Dabei ist die Schlussfolgerung gar nicht so schwer. Das ganze Haus wird nach und nach entmietet, um die Wohnungen teuer zu verkaufen. Auch der Kneipe droht das gleiche Schicksal. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hier nach dem Wochenendeinkauf ein Bier zu trinken, denke ich.

Uschi mustert mich immer noch, als überlege sie, was sie wohl in meine Stasi-Akte eintragen müsse. Immerhin zapft sie weiter das Bier.

Dass ich einmal in Berlin leben würde, war in meiner persönlichen Lebensplanung nicht unbedingt vorgesehen. Schon gar nicht gewollt. Die Stadt faszinierte mich zwar irgendwie, aber nur, wenn ich zu Besuch war. Den Impuls, dort leben zu wollen, verspürte ich nie. Zu groß und unnahbar erschien mir der Moloch. Aber dann verlor ich meinen Job, die Redaktion in Hamburg wurde dichtgemacht. Nach etlichen Jahren mit tiefroten Zahlen zog der Verlag des lachsrosa Blättchens den Stecker. Das Zeitungssterben hatte sein erstes prominentes Opfer. Die Financial Times Deutschland war Geschichte. Meine sollte weitergehen, aber an einem anderen Ort: in Berlin.

Gepäppelt mit einer Abfindung für knapp zehn Jahre Loyalität und gelockt von einem Angebot, das größtmögliche Kontinuität versprach, brach ich auf gen Osten. Mein neues Zuhause für die Zeit von Montag bis Freitag fand ich in Friedrichshain. Ich mochte die kleinen Bars, Cafés und Restaurants, das leicht Versiffte, das Individuelle, den morbiden Charme der abgerockten Straßenzüge, die im Laufe der Zeit aber immer weniger wurden. Irgendwie erinnerte mich Friedrichshain an St. Pauli und die Schanze in Hamburg. Und wenn ich schon in den Osten der Republik ziehen würde, dann sicher nicht in den langweiligen Westen der Stadt. Zudem hatte ich bereits fast überall in Deutschland gewohnt: im Norden wie im Süden, und auch im tiefen Westen. Von daher schien es absehbar, dass das Schicksal mich eines Tages in den Osten verschlagen würde. So führte kein Weg an Ost-Berlin vorbei.

Hamburg aufzugeben kam für mich nicht in Frage. Dafür ist Berlin zu weit von der Küste entfernt, an der ich viele Wochenenden im Jahr verbringe. Zudem war die Altbauwohnung mit dem imposanten Stuck in einer Seitenstraße der Reeperbahn, in der ich zuletzt mit meiner Freundin lebte, groß und relativ günstig. Und wegen meines alten Mietvertrags aus Zeiten vor Beginn des Immobilienwahnsinns würde sie das auch bleiben. Ich fühlte mich wohl auf St. Pauli, selbst wenn die Straßen an den Wochenenden manchmal rochen wie das Pissoir einer Hafenspelunke. Zudem war meine Freundin gerade dabei, die ersten Schritte in Richtung Unternehmensgründung zu tun. Auch sie hatte zuvor ihren Job verloren. Wir waren Kollegen.

Schon in Hamburg hatte ich damit geliebäugelt, eine Wohnung zu kaufen. Doch als die Preise noch erschwinglich waren, konnte ich mich nicht entscheiden. Jedes Mal fand ich irgendwelche kleinen Makel und glaubte, die eigene Immobilie müsse perfekt sein. Schließlich, so hatten mir meine Eltern eingebläut, würde man sich nur einmal im Leben eine Wohnung kaufen. Ein gut gemeinter Tipp, nur stellte der sich als falsch heraus. Zum einen gilt er nur für Menschen, die ihr Leben lang am gleichen Ort leben – was in der heutigen Arbeitswelt aber immer seltener der Fall ist. Zum anderen stiegen mit jeder Woche und Besichtigung die Preise, bis ich die Suche aufgab, weil Immobilien in Hamburg binnen kurzer Zeit selbst für Besserverdienende unerschwinglich geworden waren. Dieser Fehler sollte mir nicht noch einmal passieren.

Berlin hinkte Hamburg in der Entwicklung der Immobilienpreise um zehn Jahre hinterher. Ich bekam also eine zweite Chance. Das Angebot an Eigentumswohnungen war noch groß, die Preise entsprechend niedrig. Nach mehreren Besichtigungen und überdrüssig der geschniegelten Makler mit ihren geleckten Schuhen, die aber ansonsten nur durch Ahnungslosigkeit glänzten, entschied ich mich schnell für eine Zweiraumwohnung, wie man so schön im Osten sagt. Altbau, Hinterhaus, knarzende Dielen, hohe Decken, knapp achtzig Quadratmeter. Eigentlich hätten sechzig gereicht, aber die Wohnung gefiel mir. So schlug ich zu, gerade noch rechtzeitig, bevor die Preise auch in der Hauptstadt explodierten. Nur etwas mehr als ein Jahr sollte ich aber in dieser Wohnung leben. Dann würde ich sie bei Airbnb als Ferienwohnung inserieren, dort ausziehen, um ein Stockwerk höher wieder einzuziehen.

Uschis Kneipe wird schnell zu meinem zweiten Wohnzimmer. Es ist eine Art Spielzimmer für große Jungs mit Kicker, Tresen und einem niemals endenden Quell an frisch Gezapftem. Was will man mehr? Und so werde ich erst zum Stammgast, dann zu so etwas wie Inventar.

Die Kneipe besteht aus zwei Räumen im Halbdunkel, die neben einer Schwingtür auch der Mief aus Bierresten und Zigarettenqualm verbindet. Im hinteren Teil steht der Kicker, für mich ein Miniaturstadion weniger glorreicher Erfolge und vieler schmachvoller Niederlagen, im vorderen Teil nimmt der Tresen den halben Raum ein. Kerzenschein und gedimmtes Licht statt Glanz und Glamour. Dafür haben die Gäste oft die Lampen an. Nach ein paar Drinks glühen ihre Köpfe wie ein Hochofen. Der Name der Kneipe ist ebenso schlicht wie die Einrichtung. Die Kneipe heißt »Kneipe«. »Kann man sich doch gut merken«, lautet Uschis pragmatische Begründung. Eine Tatsache, die nur schwer zu widerlegen ist.

Die »Kneipe« ist keiner dieser hippen Läden, die in Friedrichshain allerorten aus dem Boden sprießen und die Heerscharen an Touristen aufnehmen, abfüllen und wieder ausspucken. Unser Haus liegt in »der Dirschauer«, einer kleinen, meist ruhigen Parallelstraße zur berüchtigten Simon-Dach-Straße, in der sich Lokal an Bar an Café an Imbiss reiht und in der abends die Horden auf ihrem Weg zum Partygelände RAW durchziehen.

Uschi hat es lieber ruhig in ihrem kleinen Reich mit den alten Sesseln und wackeligen Stühlen aus Haushaltsauflösungen und vom Sperrmüll, dem selbst gezimmerten Tresen aus Bodendielen und dem schummrigen Licht. Die meisten Gäste kennt sie mit Namen, Fremde, die zu Freunden wurden, die auf ein schnelles Bier nach Feierabend vorbeischauen und für viele langsame bleiben. Die Kneipe ist ein eigener Mikrokosmos, ein Sammelbecken für die Nachbarschaft. Für Schulle und Burschi aus dem Abbruchhaus am Ende der Straße, die im Winter Holzpaletten aus den Schuttcontainern der Baustellen ziehen, um damit ihre Wohnung zu heizen. Für Monique, deren Name schon verrät, dass sie noch eines der seltenen Ost-Gewächse im Kiez ist, und die gerne mal nach der letzten Gassi-Runde mit ihrem herzensguten Boxer Kiwi, der wegen eines enormen Unterbisses ein wenig debil aussieht, noch auf einen Rotwein vorbeischaut. Und für all die anderen Nachbarn – Studenten, Lehrer, Grafiker oder auch Anwälte. Und natürlich die, die was mit Medien machen. Also alle anderen. In der Kneipe treffen sich die, die es mal nach Friedrichshain verschlagen hat – und die dann geblieben sind. Und die, die noch nicht vertrieben wurden. Das sind aber nicht mehr viele. In unserem Haus mit fünfundzwanzig Wohnungen über und hinter der Kneipe lebt nicht mehr ein einziger gebürtiger Berliner. Dafür Wessis aus der halben Republik, dazu Iren, Franzosen, Schweizer, Italiener, Griechen und Briten. Und ich glaube, der Techno-Liebhaber aus dem Vorderhaus ist Spanier.

Uschi ist wie ein Blockwart, nichts bleibt ihr verborgen. Sie ist wie ein Schwamm, der alle Informationen aufsaugt. Und was ihr nicht zugetragen wird, erzwingt sie in ihren inquisitorischen Verhören. Mit Bier und Wein macht sie die Informanten gefügig. Selbst die Härtesten klopft sie weich, auch wenn sie dafür in den Giftschrank greifen muss, zu der laubfroschgrünen Flasche, deren Inhalt an verdünntes Palmolive erinnert, aber nach Minze riecht: Pfeffi! Jener süßliche Likör, der erst den Rachen verklebt und dann die Sinne vernebelt. Eines der wenigen Ostprodukte, das die Wende überlebt hat. Ein DDR-Relikt aus dem Ostharz, das Rache zu nehmen scheint an allem, was aus dem Westen kommt. Gefügig gemacht mit dem Pfefferminz-Schluck, quetscht Uschi ihre Kunden am Tresen aus. Sie hat keine Scheu, die privatesten Fragen zu stellen. Da jeder Bewohner und Besucher unseres Hauses an ihrer Kneipe vorbeigehen muss, bleibt ihr nichts verborgen. Sie weiß, wer gerade Stress in der Beziehung hat, wer seinen Partner betrügt, wer ein- und ausgeht. Oder sich spät nachts hinausschleicht.

Natürlich muss auch ich mir an meinem ersten Abend in der Kneipe die Daumenschrauben anlegen lassen. Ich will gerade den wackeligen Barhocker unter meinem Hintern zurechtruckeln und es mir am Tresen bequem machen, da raunt Uschi: »Nee, nee. Komm mal mit raus, ick hab da noch ’n paar Fragen.« Neben ihrem Sessel steht ein kleiner Tisch mit vier klapprigen Stühlen auf dem Gehsteig; Uschi deutet auf einen von ihnen. Sie selbst thront wieder in ihrem roten Sessel, die Zigarette ist ihr Zepter. Widerstand ist zwecklos. »So, haste die Wohnung also gekooft?«, lässt sie nicht locker. »Wat hast’n bezahlt?«

Ihre Berliner Schnauze ist für Hamburger Verhältnisse vergleichsweise ungewöhnlich. Baff ob der direkten Frage, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. Ausflüchte, daran besteht kein Zweifel, hätten ohnehin keine Chance. Und Lügen bei einer Audienz der Königin der Kneipe wäre nichts weniger als Majestätsbeleidigung, die wahrscheinlich nicht unbestraft bleiben würde. Und wer würde schon sein nächstes Bier riskieren?

Ich nenne also untertänig den Quadratmeterpreis von 2400 Euro, der mir im Vergleich zu Immobilien auf St. Pauli geradezu lächerlich erschienen ist, und erwarte wahre Begeisterungsstürme ob des Schnäppchens. Uschi nimmt noch einen Zug an ihrer selbst gedrehten Zigarette, bläst den Rauch theatralisch in den Abendhimmel über Berlin und drückt den Stummel im halb vollen Aschenbecher aus. Rechnet sie im Kopf den Gesamtpreis aus?, frage ich mich. Dann endlich schaut sie mich an: »Na, da ham se dich aber schön über’n Tisch gezogen«, sagt sie süffisant und lächelt. »Vor einem Jahr war das noch ’n Tausender weniger. Aber kannste dir ja anscheinend leisten.« Und so geht das Verhör weiter: »Wat machste denn beruflich? Wie alt biste überhaupt? Haste ’ne Alte? Kinder? Wat, keene? Na, dat wird dann wohl auch nix mehr.«

Das Verhör endet zwei gezapfte Biere später, als meine Freundin in Sichtweite der Kneipe unser Auto in einer kleinen Parklücke einlocht. Ein, zwei Anläufe braucht sie, vor, zurück, vor, zurück, dann verstummt der Motor. Freudestrahlend erblickt sie uns, wie wir vor der Kneipe sitzen, winkt und kommt mit einer Sporttasche über der Schulter auf uns zu.

»Gott, bist du jung«, sagt Uschi zur Begrüßung, als meine Freundin uns erreicht hat. »Einparken tust du aber wie ’ne Alte. Setz dich erst mal. Wat willste trinken? Und vor allem: Was willste überhaupt mit dem alten Knacker?« Sie zeigt auf mich. Dann lacht Uschi dreckig.

ELBE ODER SPREE

Die ersten Monate in Berlin sind großartig. Von Montag bis Freitag lebe ich an der Spree, an den Wochenenden an der Elbe. Zwei Wohnungen in zwei Metropolen. Kann es etwas Besseres geben? Zu Wochenbeginn nehme ich den ICE in Hamburg, der mich nach einer Stunde und vierzig Minuten am Berliner Hauptbahnhof wieder ausspuckt. Sofern er pünktlich abfährt. Aber entgegen allen Spöttern tut er das meistens. Keine zehn Minuten nach meiner Ankunft in Berlin bin ich in der Redaktion zwischen Potsdamer Platz und dem Tiergarten.

Unter der Woche führe ich eine Art Singleleben. Es vergeht fast kein Abend, an dem ich nicht zum Kickern in der Kneipe vorbeischaue. Um neunzehn Uhr schließt Uschi den Laden auf. Bin ich bis zwanzig Uhr nicht aufgetaucht, schreibt sie eine WhatsApp: »Wo bleibste? Will kickern!« Natürlich gehorche ich. Wie selbstverständlich greife ich mittlerweile in der Kneipe in den Kühlschrank, wenn es mich dürstet. Uschi ist das ganz recht. Dann kann sie sitzen bleiben, weiter quatschen und quarzen, ein Buch lesen oder eben einen der Gäste am Kicker blamieren. Spätestens am Freitagnachmittag reihe ich mich wieder ein in den Tross der Pendler, der zum Hauptbahnhof pilgert und für das Wochenende in alle Teile der Republik entschwindet.

Doch mit zunehmender Dauer nervt die Pendelei. Statt in zwei Städten zu leben, hetze ich zwischen ihnen hin und her. Das, was die Woche über in Hamburg liegen geblieben ist, muss am Wochenende nachgeholt werden. Das, was ich in Berlin brauche, liegt im Schrank in Hamburg. Oder umgekehrt. Ruhige Wochenenden gehören der Vergangenheit an. Immer ist etwas zu erledigen. In Hamburg fühlen sich Freundin und Freundeskreis vernachlässigt, Einladungen an Wochenenden in Berlin muss ich absagen. Ich bin ja in Hamburg.

Schon bald wird klar, dass zwei Wohnsitze auf Dauer kein Privileg, sondern eine Pein sind. Ganz abgesehen von den doppelten Kosten. Eine Entscheidung muss her. Elbe oder Spree? Und es sieht alles danach aus, dass überraschend Berlin das Rennen machen wird. Der neue Job scheint halbwegs krisensicher, sofern man davon im Journalismus noch sprechen kann. Doch würde die aktuelle Zweitwohnung groß genug sein, wenn die Freundin mit einzieht? Ein bisschen größer wäre schon schön, zumal die Wohnung in Hamburg knapp hundert Quadratmeter misst. Und wo überhaupt soll das Klavier stehen, das meine Freundin anschleppte, beziehungsweise von vier kräftigen Männern anschleppen ließ, kurz nachdem sie erfolgreich meinen Kicker, ein Relikt aus Junggesellentagen, aus dem Wohnzimmer verbannt hatte. Klavier statt Kicker, Beethoven statt Gebolze. Es fühlte sich an wie eine Kastration, auch wenn die Nachbarn es ihr sicherlich gedankt haben.

Die Lösung für das vermeintliche Platzproblem in Berlin kommt per E-Mail. Absender ist die dänische Immobiliengesellschaft mit dem sympathisch klingenden Namen und der aggressiven Geschäftspolitik. Ganze Straßenzüge hat das Unternehmen, das in einem Kreuzberger Loft logiert, erst aufgekauft, um dann nach und nach die Mieter an die Berliner Luft zu setzen. Die porösen Altbauwände verwandelten die Dänen in Betongold, verkauften die Wohnungen, als sich der Preis verdoppelt hatte. Wie in unserem Haus.

Diesmal muss das nette Pärchen in der Wohnung über mir weichen. Ein Fotograf mit seiner Freundin, einer Schneiderin. Die beiden nutzen das Wohnzimmer wahlweise als Fotostudio oder Modeatelier. Ob ich nicht Interesse an der Wohnung im vierten Stock hätte?, fragt der nette Verkäufer des Immobilienmoguls in seiner Mail. Und er weiß, wie er mich ködern kann. Die Teilungserklärung sehe vor, dass Wohnungen, die überoder nebeneinanderliegen, verbunden werden können, schreibt er. Er spricht von einer »einmaligen Gelegenheit«, eine wunderschöne große Maisonette zu schaffen. Eine »Rarität« auf dem Markt, merkt er noch an. Wie ein Drogendealer vor dem Pausenhof weiß er, seine Klientel zu locken. In diesem Fall mich. Und gierig schnappe ich zu. Die Idee einer Wohnung auf zwei Ebenen hat mich angefixt. Selbst das Klavier hätte dann einen Platz und vielleicht sogar wieder ein Kicker.

Das Angebot scheint mir ein Wink des Schicksals zu sein. Im Kopf reiße ich bereits Mauern ein, durchbreche Wände, überlege, wo der beste Platz für die Wendeltreppe ist und in welchem Stockwerk die offene Küche eingerichtet wird. Ich sehe ein großzügiges Badezimmer mit Wasserfalldusche und frei stehender Wanne vor mir. Auch wenn ich mich noch nicht entscheiden kann, ob eine Wanne auf diesen verschnörkelten Füßchen besser aussehen würde als eine schlichte mit gerade Linien. Ein Blick auf das Konto verrät, dass sogar genügend Reserven vorhanden sind, um eine kleine Anzahlung auf die Wohnung zu leisten. Den Rest muss eben die Bank übernehmen. Schließlich habe ich ja bereits die erste Wohnung als weitere Sicherheit. Noch ist zwar nicht absehbar, wann wir Hamburg als Wohnsitz aufgeben werden, aber so eine Gelegenheit, da hat der Verkäufer vollkommen recht, die muss man einfach nutzen.

Dass das, was die Teilungserklärung hergibt, nicht ansatzweise ausreicht, um eine Baugenehmigung für die Zusammenlegung zweier Wohnungen in einem sogenannten Milieuschutzgebiet wie Friedrichshain zu erhalten, ist mir zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht bewusst. Und wer fragt schon seinen Dealer nach den Nebenwirkungen seines Stoffs, wenn er angefixt ist? Natürlich hat der charmante Verkäufer auch vorsichtshalber nichts dergleichen erwähnt. Noch glaube ich, mit meinem Eigentum machen zu können, was ich will. Aber die Realität holt mich schon bald ein. Sie hat sich hinter einem mysteriösen Code aus Buchstaben und Zahlen versteckt: »§ 246 Abs. 2 BauGB, § 30 AGBauGB«. Oder weniger kryptisch ausgedrückt, dafür genauso unverständlich: Milieuschutzverordnung.

Der Grundgedanke hinter dem sperrigen Wort ist durchaus nachvollziehbar. Die Milieuschutzverordnung hat übrigens nichts mit dem Rotlichtmilieu zu tun, vielmehr soll sie verhindern, dass »die Zusammensetzung der Gebietsbevölkerung völlig verändert wird und insbesondere die wenig durchsetzungsfähigen Bevölkerungsgruppen aus dem Gebiet verdrängt werden, weil dies zu städtebaulichen Problemen sowohl im Gebiet als auch in anderen Gebieten führen kann«. Soll heißen: Durch bauliche Auflagen soll verhindert werden, dass ganze Kieze luxussaniert und die langjährigen Bewohner – eben das Milieu – vertrieben werden, weil sie sich die teureren Mieten nicht mehr leisten können. So weit, so nachvollziehbar.

Aber typisch Berlin eben, ist der plausible Grundgedanke nicht zu Ende gedacht. Die Verordnung trifft vor allem die, die sich ihr Eigenheim teuer erspart haben. Denn die Regeln gelten nur für bestehende Immobilien, nicht aber für die luxuriösen Neubauten, die raffgierige Immobilienkonzerne auf den Gräbern der Altbauten planen, die angeblich nicht mehr zu retten gewesen waren, nachdem man sie hat jahrelang vorsätzlich verrotten lassen.

Konkret bedeutet die Verordnung für mich: Wollte ich beispielsweise in mein Badezimmer ein Doppelwaschbecken einbauen, würde ich gegen die Verordnung verstoßen. Ein Doppelwaschbecken ist nämlich bereits Luxus in den Augen der Behörden und damit der Tod auf Raten für das Milieu. Zum Glück ist mein Badezimmer zu klein, um mich mit der Waschbeckenauslastung zu belasten. Aber es gibt noch weitere Vorschriften. Falls ich meine eigenen vier Wände einmal aufhübschen wollte, schreibt mir die Verordnung vor, was erlaubt ist und was nicht. Bleiben wir im Badezimmer: Auch eine von der Badewanne getrennte Dusche ist ein Tabu, und wer eine Gästetoilette einbauen will, riskiert quasi einen SEK-Einsatz. In der Küche darf zwar weiterhin gebrutzelt werden, aber nicht in einer Einbauküche. Die ist verboten. Ebenso wie der »Einbau von Elektrogeräten wie Geschirrspüler, Kühlschrank und Waschmaschine«. Eine Klimaanlage kommt ebenfalls nicht in Frage, der Innenkamin schon gar nicht. Sollte die Wohnung keinen Balkon haben, darf der geplante Anbau nicht größer als fünf Quadratmeter sein. Eine Terrasse? Verboten! Eine Loggia sowieso und ein Wintergarten erst recht. Wer gern auf Socken oder barfuß durch seine Wohnung tänzeln möchte, sollte nicht kälteempfindlich sein, denn auch einer Fußbodenheizung wird nicht zugestimmt. Auf der No-Go-Liste stehen ebenso »großzügige Grundrisse« – was immer das bedeuten soll. Und natürlich ist das Zusammenlegen von Wohnungen zu Maisonette-Einheiten nicht gestattet. So will es die Verordnung. Willkommen in der Berliner Bürokratie.

In der Realität sieht das jedoch anders aus. Ich kenne etliche Wohnungen, die nachträglich zusammengelegt wurden, habe Bäder mit den sprichwörtlich goldenen Wasserhähnen gesehen, Altbauten mit veränderten Grundrissen, die, so vermute ich, in den Augen der Beamten als »großzügig« eingestuft werden dürften und in denen bis auf die tragenden Wände keine Mauern stehen geblieben sind. Küchen wanderten durch die halbe Wohnung, um dann offen ans Wohnzimmer angedockt zu werden. Alle diese Wohnungen haben eines gemeinsam: Sie sind ohne Genehmigung umgebaut worden. Und noch niemand hat deswegen Ärger bekommen. Wie auch, wenn die Bürgerämter chronisch überlastet sind, sodass man auf einen Termin zur Wohnungsanmeldung bereits zwei bis drei Monate warten muss, obwohl der Gesetzgeber eine Frist von vierzehn Tagen vorschreibt. Und wer in Berlin um einen Termin zur Trauung bittet, muss fast so lange warten, wie die Durchschnittsehe bis zur Scheidung hält.

Mein Entschluss, die zweite Wohnung zu kaufen, ist aber gefallen. Bleibt bloß noch die Frage: Was mache ich mit ihr? Finanziell ist es unmöglich, zwei Wohnungen in Berlin abzustottern und zudem die Miete in Hamburg zu berappen. Vermieten? Denkbar, aber unpraktisch angesichts des Gedankens, die Wohnungen irgendwann vielleicht doch zusammenlegen zu wollen – ob mit oder ohne Genehmigung. Ich brauche also eine Zwischenlösung.

Die beste Idee für den Übergang scheint zu sein, die Wohnung möbliert auf Zeit zu vermieten. Der Vorteil: eine höhere Miete, schnelle Verfügbarkeit bei Eigenbedarf und eine geringere Gefahr, Opfer von Mietnomaden zu werden, da oftmals Unternehmen die Unterkunft für ihre Mitarbeiter anmieten. Ich schiebe die Kugeln am Abakus von links nach rechts und wieder zurück. Ein mulmiges Gefühl bleibt. Was ist, wenn sich kein Mieter auf Zeit finden lässt? Wie lange kann die Wohnung leer stehen, bis sie ein irreparables Loch ins Portemonnaie frisst? Zudem sind die Provisionen auf den einschlägigen Plattformen für möbliertes Wohnen ziemlich happig.

»Warum vermietest du die Wohnung nicht über Airbnb?«, fragt eine Freundin, als ich ihr meine Misere schildere.

Erst bin ich skeptisch. Doch dann gefällt mir der Gedanke. Schon mehrmals habe ich selbst über die Plattform gebucht. Auf Dienstreisen, aber auch im Urlaub. In Kiew, New York, Helsinki und in einem kleinen Kaff an der belgischen Nordseeküste. Einen Versuch, beschließe ich, ist es auf jeden Fall wert. Was habe ich schon zu verlieren?