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Kurz bevor sich Polizeiobermeister Thies Detlefsen aus dem nordfriesischen Fredenbüll zu Tode langweilt, kommt wieder (kriminelles) Leben ins Örtchen. Die Ereignisse überstürzen sich: Im Nachbarort Schlütthorn wird die Raiffeisenbank überfallen, Oma Ahlbeck als Geisel genommen und ein ordentlicher Batzen Geld gestohlen. Die Täter flüchten nach Fredenbüll, kommen aber nicht weit. Denn auf einmal geschehen seltsame Dinge im Dorf. Und der große Showdown findet ausgerechnet im Fredenbüller EDEKA-Markt statt!
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Seitenzahl: 257
Krischan Koch
Rollmopskommando
Ein Küsten-Krimi
Deutscher Taschenbuch Verlag
Für Clara
»Wer schießen will, soll schießen und nicht quatschen.«
Sergio Leone, ›Zwei glorreiche Halunken‹
»Rollmops to go« steht handgeschrieben auf dem Klappschild vor »De Hidde Kist«. In diesem Sommer hat Antje in ihrem kleinen Stehimbiss an der Fredenbüller Dorfstraße die moderne Fischküche eingeführt. Die Rollmops-Burger mit der sauer-scharfen Spezialsoße nach Antjes Geheimrezept sind der Renner der Saison. Vor der Abfahrt der Fähren zu den Nordseeinseln stehen die Durchreisenden regelmäßig vor »De Hidde Kist« Schlange. Kürzlich war Antje mit ihrer Imbisskreation sogar in der Zeitung, im ›Nordfriesland Boten‹ und in der ›Landlust‹. Selbst der Imbisshund, Schäfermischling Susi, seit einer üblen Wurstvergiftung eigentlich überzeugter Vegetarier, hat kürzlich einen liegen gebliebenen Rollmops-Burger verputzt. Und neuerdings ordert Piet Paulsen, normalerweise auf »Putenschaschlik Hawaii« abonniert, zwischendurch mal die neue Spezialität.
»Antje, denn mach mir noch mal einen von deine Rollmöpse ›a gogo‹, oder wie die Dinger heißen.«
»Mensch, Piet …!« Postbote Klaas schüttelt den Kopf, stellt seine Briefträgertasche ab und zieht die Postjacke aus. »… to go!«
»Ja, ja«, krächzt Piet Paulsen, Landmaschinenvertreter im Ruhestand und einer der drei Stammgäste in »De Hidde Kist«. »Für mich is dat ’ne reine Modeerscheinung.« Er wischt sich den Schaum seines ersten Bierchens von der Oberlippe und bleckt dabei die zu groß geratenen dritten Zähne.
»Läuft aber wie verrückt«, verkündet die vollschlanke Imbisswirtin enthusiastisch und zieht energisch den Frittierkorb mit einer Portion Pommes aus dem heißen Fett.
»Antje muss auch mit der Zeit gehen«, gibt Klaas zu bedenken.
»Ich weiß nich recht«, kräht Paulsen, »wat soll ich mit Kaffeebecher und Brötchen draußen rumlaufen, wenn ich hier ganz gemütlich mein Bier an Stehtisch Zwei trinken kann.«
»Hast auch wieder recht, Piet.« Die Imbisswirtin serviert Paulsen sein Rollmops-Brötchen auf einem Teller, den sie auf den Glastresen stellt. »Und für dich Klaas, wie immer? Ladde Macchiato mit wenig Milch?«
Klaas nickt und hängt die Postjacke an den Garderobenhaken. Von der Straße dringt ein lautes Motorengeräusch in den kleinen Imbiss. Der satt dröhnende Motorsound bringt die Scheiben der Imbissstube zum Wackeln. Schäfermischling Susi stellt die Ohren auf. Ein Saugnapf-Schild mit der Aufschrift »Sauerfleisch. Hausgemacht. 3.80 €« rutscht halb von der Scheibe und hängt jetzt nur noch an einem Saugnapf. Antje, Klaas, Piet Paulsen und Hündin Susi starren gebannt auf die Dorfstraße. Ein zerbeulter leerer Coffee-to-go-Becher wird von einer müden Nordseebrise klöternd über den Asphalt geweht. Die gläserne Eingangstür klappert im Rahmen. Das Motorengeräusch wird immer lauter, bis es sogar das Brutzeln der Fritteuse übertönt.
Ein riesiger zerbeulter alter Ford Granada stampft grollend die neblige Dorfstraße an dem Imbiss vorüber. Das Auto hat eine currygelbe Lackierung und ist mit rostigen Beulen übersät. Der Fahrer trägt Cowboyhut und eine Spiegelsonnenbrille. Auf der Rückbank sitzen zwei Indianer.
Piet Paulsen rutscht seine Gleitsichtbrille von der Nase. Klaas stiert mit offenem Mund nach draußen. Und Antje starrt, den fetttropfenden Frittierkorb in der Rechten, dem Auto hinterher.
»Wat sind dat denn für Pappnasen?«, krächzt Paulsen.
»D-d-dat waren Indianer«, stammelt Antje.
»Halloween, oder wat?« Klaas wischt sich ein paar Schweißperlen von der Stirn.
»Eigentlich ’n büschen früh«, überlegt die Imbisswirtin. »Und Karneval ham wir in Fredenbüll auch nich. Bisher.«
Das Sauerfleisch-Saugnapfschild pendelt noch einmal hin und her, dann fällt es scheppernd zu Boden. Susi jault kurz auf. Der große Minutenzeiger der Uhr mit dem altmodischen runden roten Sinalco-Logo, die schon immer über der Eingangstür hängt, springt auf fünf vor zwölf. Piet Paulsen schiebt die schwere Brille auf die Nase zurück. Danach verliert sich das Motordonnern hinter dem Ortsausgang Richtung Schlütthörn.
Bounty traut seinen Augen nicht. Neben einem satten Placken getrockneter Schafscheiße mitten in einem üppigen Büschel Spitzkegeliger Kahlköpfe lugt ein Stück Leder oder Plastik hervor. Was ist das? Es sieht aus wie der Griff einer Aktentasche oder eines Koffers, der hier am Rande der großen Weide des Biohofes unter dem Deich vergraben ist.
Zuerst hatte Bounty nur die Pilze entdeckt. Er muss diese Prachtexemplare des Spitzkegeligen Kahlkopfs, diesen kleinen Pilzdschungel nur sehen, schon schießt ihm ein in den schönsten Farben leuchtender Regenbogen durch den Kopf. Wenn die Tage schon wieder etwas kürzer werden und bei Sonnenaufgang der Nebel über den weiten Marschwiesen und Deichen liegt, macht sich der Fredenbüller Althippie regelmäßig auf Pilzsuche. Dabei hat Bounty keine Wiesenchampignons im Blick, die nimmt er sozusagen als Beifang für eine abendliche Pilzpfanne mit. Der einzig übrig gebliebene Bewohner der früheren Landkommune ist auf der Suche nach dem Spitzkegeligen Kahlkopf, dessen halluzinogene Eigenschaften ihm mit einigen bunten Abenden über den bevorstehenden grauen Herbst helfen sollen.
Auf der großen Schafweide des Biohofs Brodersen gedeiht der Zauberpilz besonders üppig. Der Kahlkopf mag keine Gülle, er liebt natürliche Dungablagerungen und das salzige Klima. Ein echter Nordfriese, sagt Bounty immer, und vor allem hundert Prozent Bio. Irgendwie findet er sich in dem champignonartigen, langstieligen Pilz mit dem fingernagelgroßen ockerfarbigen Hut wieder. Der Althippie und Leadgitarrist der Fredenbüller Band »Stormy Weather« hat sich über die Jahre zum echten Pilzexperten entwickelt.
Man muss schon aufpassen, dass man den »Spitzkegeligen Kahlkopf« nicht mit dem »Kegeligen Düngerling« oder dem »Halbkugeligen Träuschling« verwechselt. Die seidig glänzende Hutoberfläche und der flockig genatterte faserschuppige Stiel sind ähnlich. In der Wirkung allerdings gibt es dann doch unverkennbare Unterschiede. Während der Träuschling bestenfalls für eine zünftige Magenverstimmung taugt, sorgt der Kahlkopf dank der enthaltenen Wirkstoffe Psilocybin und Baecocystin bei geringer Dosis für Rauschzustände, bei mittlerer für Halluzinationen und bei hoher Dosis für verzerrte Wahrnehmung, Gleichgewichtsprobleme und Orientierungslosigkeit. Bereits in den späten Siebzigern hatte Charly Krotke, Bountys WG-Genosse aus der Landkommune, nach einer ausgiebigen Pilzparty gleich alles auf einmal erlebt. Vom Deich aus hatte er Störtebeker zusammen mit Jimi Hendrix auf einem Dreimaster die Nordseeküste vor Neutönninger Siel vorbeisegeln sehen, ›The Wind Cries Mary‹ intonierend. Danach war er statt in seinem Bett versehentlich in der damals neuen Waschanlage der Schlütthörner Tankstelle gelandet, hatte dort das Gleichgewicht verloren und war in die meterhohen blau leuchtenden Bürsten gesackt.
Die Vorgänge in der berüchtigten Landkommune in der alten Kate mit dem hohen Heuboden waren damals von der einheimischen Dorfbevölkerung mit wachem Interesse verfolgt worden. Allerdings hatte sich die Kommune schon nach kurzer Zeit wieder aufgelöst, und die einzelnen Mitglieder zerstreuten sich in alle Winde. Sie waren Lehrer, Heilpraktiker oder Verwaltungsangestellte geworden, was ehemalige Hippies eben so werden. Nur Bounty ist übrig geblieben. Das Haar ist inzwischen dünner geworden und gibt nur noch einen mickrigen grauen Pferdeschwanz her. Aber er trägt noch immer eine blau-weiß gestreifte Latzhose. Er lebt zufrieden mit seiner Ziege Jimi, benannt nach seinem musikalischen Vorbild Jimi Hendrix, in der alten Kate und ist inzwischen in die Fredenbüller Dorfgemeinschaft integriert. Regelmäßig holt er sich in der »Hidden Kist« die von ihm heiß geliebten Schokoriegel mit Kokosfüllung oder guckt mit der Stammbesetzung an Stehtisch Zwei am Samstag Bundesliga.
»Geil«, summt Bounty vor sich hin und durchtrennt mit dem mitgebrachten Küchenmesser die ganze Pilzkolonie an den cremefarbenen Stielen direkt über dem feuchten Boden. Er schüttelt einen Rest getrockneter Schafscheiße aus den Pilzen und lässt sie in einem alten Stoffbeutel verschwinden. Dabei fällt sein Blick wieder auf diesen seltsamen Griff, der aus dem Boden herausschaut. Er kratzt ein bisschen an ihm herum, aber mit dem schmalen Küchenmesser bekommt er den feuchten schweren Marschboden kaum gelockert. Kein Zweifel, hier ist etwas vergraben worden. Nicht erst kürzlich, sondern vor langer Zeit. In Bounty erwacht der Schatzsucher. Immer hektischer sticht er mit dem Messer in die Erde. Dann nimmt er die Hände zu Hilfe und versucht, die feste Erde wegzukratzen. Der Griff liegt jetzt frei, und darunter kommt silbernes Metall zum Vorschein. Es sieht aus wie ein Alukoffer. Ein fetter Regenwurm räkelt sich müde über das Aluminium. Bounty zieht und zerrt an dem Griff, aber der Koffer ist wie festgebacken in der klebrigen Erde. Er hält kurz inne. Was macht er hier eigentlich? Was soll schon in dem Koffer sein? Aber er kann nicht anders, er muss weitergraben. Wie ein Hund scharrt er in der Erde. Die feuchte körnige Erde drückt sich unter seine Fingernägel.
Der Nebel liegt immer noch milchig über den Wiesen. An einem hellen Fleck lässt sich die Sonne nur erahnen. Aus der Ferne durchschneidet das lang gezogene Signal der Nord-Ostsee-Bahn die Stille. Mehrere müde über den Deich trottende Schafe ragen aus den Nebelschwaden heraus. Sonst ist weit und breit niemand in Sicht. Bounty überlegt kurz, ob er schnell einen Spaten holen soll. Aber dann gräbt er mit Händen und Küchenmesser weiter. Er hat keine Ahnung, wie lange er hier schon buddelt, er hat jedes Zeitgefühl verloren. Und dann lässt sich der Koffer auf einmal ein bisschen bewegen. Bounty zieht mit aller Kraft an dem Koffergriff, bis es plötzlich keinen Widerstand mehr gibt. Mit dem Koffer in der Hand fliegt er rücklings in die feuchte Wiese. Zwei Eiderenten ziehen schnatternd über ihn hinweg Richtung Inseln.
Mühsam rappelt Bounty sich wieder auf und betrachtet seine über und über mit Erde verschmierte Beute. Er wischt den gröbsten Dreck vom Metall und kratzt die beiden Kofferschlösser mit dem Messer frei. Das erste Schloss springt dabei wie von selbst auf, das zweite lässt sich erst nach einer Weile knirschend öffnen. Er stellt den Metallkoffer ins Gras und klappt ihn auf. Zwei prall gefüllte Plastiktüten kommen zum Vorschein, deren Inhalt deutlich zu erkennen ist. Bounty schießt das Blut in den Kopf. Ihm ist, als hätte er bereits eine gute Dosis Spitzkegeligen Kahlkopf intus. Der Alukoffer ist randvoll mit Banknoten gefüllt.
Bounty zieht eine der Plastiktüten aus dem Koffer. Mit zittrigen Fingern nimmt er ein Geldbündel aus der Tüte. Es sind 50-Dollar-Noten. Mit seinem erdverschmierten Daumen blättert er einmal durch die Scheine. Er fummelt ein zweites Geldbündel aus der Tüte und hält jetzt 100-Dollar-Scheine in der Hand, die auf der Vorderseite einen Typ mit Stirnglatze und langen Haaren zeigen. »Is ja geil«, murmelt Bounty. Er hat so einen Schein zwar noch nie gesehen, und diesen Typen mit der Matte auch nicht. Lincoln oder Washington sind das nicht, aber irgendein Präsident wird es schon sein.
Die Banknoten in der zweiten Tüte sind eindeutig keine Dollar, überhaupt keine Währung, die er kennt. Auf den grünen Scheinen steht eine dicke Fünfzig und daneben das Bild eines Waldschrats, auf der Rückseite eine Eule und Sterne. Die Nebelschwaden ziehen über die Wiese. Von der Bundesstraße ist ganz plötzlich ein auffälliges Motorengeräusch zu hören. Ein satter hämmernder Sound. Kein Trecker. Es klingt eher wie ein amerikanischer Straßenkreuzer. Das ist kein Auto aus Fredenbüll. Verschwommen sieht der Althippie einen currygelben Riesenschlitten durch den Nebel schimmern. Er meint unverbrannntes Benzin riechen zu können. Dann verliert sich das unheimliche Grollen hinter dem Deich Richtung Nordsee.
Ohne sich die Scheine näher anzusehen, verstaut Bounty beide Tüten wieder in dem Koffer und verschließt ihn. Ihm wird schwindelig, doch dann hat er sich sofort wieder gefangen. Er überlegt kurz, ob er den Koffer gleich wieder vergraben soll. Oder soll er in der Wache bei Thies Detlefsen vorbeifahren und den Koffer bei dem Fredenbüller Dorfpolizisten abgeben? Aber dann entscheidet er sich anders. Detlefsen trinkt um diese Uhrzeit vermutlich sowieso grad seinen Kaffee in »De Hidde Kist«. Und im Imbiss kann er mit dem Geldkoffer ja schlecht aufkreuzen. So ein Koffer voller Banknoten fordert ein gewisses Maß an Diskretion. So schlurft Bounty mit dem Beutel voller Pilze und dem dreckigen Koffer über die Biowiese zu seiner alten Zündapp-Zweigang. Er schnallt den Koffer auf seinen Gepäckträger, tritt das Moped an und fährt nach Hause. Nur ganz kurz durchfährt ihn dabei der Gedanke, dass dies möglicherweise ein Fehler sein könnte.
Thies Detlefsen sitzt am Schreibtisch in seiner kleinen Wache in dem Backsteinbau neben der Freiwilligen Feuerwehr. Nach dem nebligen Morgen verspricht es noch mal ein sonniger, warmer Spätsommertag zu werden. Die Mittagssonne bringt die bereits leicht verfärbten Blätter der Kastanien an der Dorfstraße zum Leuchten. In den Vorgärten strahlen rot und violett die ersten Herbstastern. Eben war Postbote Klaas mit noch prall gefüllter Posttasche wie immer um diese Zeit in Richtung »Hidde Kist« geradelt und hatte zu ihm herübergegrüßt. Oma Ahlbeck, die Mutter des Supermarktbesitzers und Fredenbüller Bürgermeisters, hat gerade den Friseursalon »Alexandra« verlassen und besteigt mit neuer Betondauerwelle und einem Einkaufstrolley den Postbus ins benachbarte Schlütthörn.
Auch Polizeiobermeister Thies Detlefsen ist voller Tatendrang. Nur das Problem ist: Es gibt nichts zu tun. Thies wartet mal wieder verzweifelt auf neue Straftaten. Der Schreibtisch ist penibel aufgeräumt. Auf der abgestoßenen grünen Linoleumplatte liegt keine einzige Akte, nur ein amtliches Schreiben mit der neuesten, äußerst dürftigen Kriminalitätsstatistik von Fredenbüll. Daneben stehen die alte Schreibmaschine Marke »Olympia« und ein mehrfarbiges Kugelschreiberset der Nordfriesischen Raiffeisenbank.
Traurig blickt Thies auf das verblichene Fahndungsplakat der drei flüchtigen Bankräuber Besnik Sinsic, Hans-Rüdiger Zaczyk und Torben Voss, die nun schon seit Jahren höhnisch von der Wand grinsen. Das Trio hatte vor längerer Zeit mit einer Serie von Überfällen mit Geiselnahme und mehreren Toten eine blutige Spur durch die hessische Provinz gelegt. Die Hoffnung, dass Sinsic und seine Komplizen noch den Weg nach Nordfriesland finden, hat Thies längst aufgegeben. Das alte Fahndungsplakat kann ich langsam mal abhängen, denkt sich Thies.
In Fredenbüll ist wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt. Leider! Die spektakulären Mordfälle, die das kleine nordfriesische Örtchen in Aufruhr versetzt hatten, sind über zwei Jahre her, und dass der tote Bauunternehmer Pohlmann an der Badestelle in Neutönninger Siel angespült wurde, ist auch fast vergessen. Die kleine Zelle mit der schmalen Liege aus der Zeit, als Thies’ Kollege Knut Boyksen noch Revierleiter war und Kiel noch Geld hatte, war über die Jahre ungenutzt geblieben. Alles ist immer noch wie neu. Nur die Klospülung tropft inzwischen.
Mit sorgenvoller Miene studiert Thies zum wiederholten Mal die Kriminalitätsstatistik. Die Zahlen des letzten Jahres sind wirklich alarmierend. Thies hatte lediglich einen Fahrradunfall mit Beteiligung eines Bioschafes auf dem neuen Radweg nach Neutönninger Siel vorzuweisen, jede Menge Strafmandate wegen Falschparkens am Deich und natürlich die obligatorischen Geschwindigkeitsüberschreitungen auf der Bundesstraße nach Schlütthörn: Nordseeurlauber und ein paarmal der Schimmelreiter, der wie bei Theodor Storm ebenfalls Hauke heißt und nachts in seinem perlmuttmetallicweißen Ford Mustang, Baujahr 1978, den Deich am Koog entlangfegt. Doch bei Straftaten herrscht absolute Ebbe. Was ist nur los mit den Fredenbüllern? Hundertprozentiger Rückgang bei den Tötungsdelikten. Dass es bei den Körperverletzungen lediglich achtzig Prozent sind, ist nur einer kleinen Rempelei beim letzten Schützenfest zu verdanken. Den Diebstahl einer Großpackung Grillkohle aus dem Edeka-Markt durch zwei Jugendliche aus dem Ort hatte Filialleiter und Bürgermeister Hans-Jürgen Ahlbeck leider gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Treckerlärm vom Biohof und Jauchemief aus der Geflügelhalle zählten auch nicht zu den Offizialdelikten. Die wiederholten Beschwerden des Eppendorfer HNO-Professors Müller-Siemsen und seiner Gattin, die außerhalb von Fredenbüll ein proper renoviertes historisches Reetdachhaus besitzen, finden in keiner Statistik ihren Niederschlag. Und auch das Lieblingsprojekt von Bürgermeister Hans-Jürgen Ahlbeck – »Fredenbüll soll Luftkurort werden« – verspricht keinen Aufschwung der Kriminalität. Kürzlich hatte Thies Besuch von einem Beamten der Polizeidirektion Flensburg bekommen. Der arrogante Schlaumeier aus der Stadt hatte da schon wieder so verdächtige Äußerungen gemacht. Flensburg erwäge eine Schließung der Polizeinebenstelle in Fredenbüll, und Thies solle sich schon mal auf eine mögliche Versetzung einstellen. Die Vorstellung, nach Bredstedt oder sogar ins anonyme Husum versetzt zu werden, ist für ihn der blanke Horror.
In Thies’ sorgenvollen Blick mischt sich Panik, und er bekommt seinen Kuhblick. Thies sieht ja eigentlich gut aus in seiner knapp sitzenden Polizeiuniform, besonders seit er die neue Frisur aus dem Salon »Alexandra« hat. Nach der tragischen Verletzung seines Lieblingsspielers vor der letzten WM hat ihm Friseurmeisterin Alexandra, assistiert von Lehrling Janine, statt des kleinen blonden Strubbelspoilers vorne jetzt eine Marco-Reus-Bürste verpasst, als Akt mitfühlender Solidarität sozusagen. Ein großes Foto der Frisur hängt seit einem halben Jahr auch im Schaufenster des Salons. Auf den Grillfesten kommt der neue Schnitt bei der Fredenbüller Damenwelt bestens an. »Irgendwie schnittig«, findet sogar Thies’ Frau Heike. Aber wenn Thies panisch wird oder ein Bierchen zu viel intus hat, bekommt er eben immer diesen leichten Kuhblick, der nicht so recht zu der modernen neuen Frisur passt.
Thies’ düstere Gedanken werden plötzlich von einem dumpf grollenden Motorengeräusch unterbrochen. Und das während der Mittagsruhe, denkt sich Thies empört. Wahrscheinlich wieder der Schimmelreiter. Aber der Motor klingt irgendwie tiefer, bedrohlicher. Das Grollen wird lauter.
In der Filiale der Nordfriesischen Raiffeisenbank im Nachbarort Schlütthörn herrscht Hochbetrieb. Zwei Kunden befinden sich im Schalterraum. Kurz vor der Mittagspause will die frisch frisierte Oma Ahlbeck ihre Rente abholen. Außerdem wartet die Bredstedter Zahnärztin Ute Butz-Christensen auf ein Anlageberatungsgespräch mit Filialleiter Heiko Thormählen, der in einem Hinterzimmer residiert.
Die junge Kassiererin Wencke Petersen hat im Moment alle Hände voll zu tun.
Die gebürtige Fredenbüllerin hat nach einer Banklehre im fernen Schleswig eine Anstellung als Kassiererin in der kleinen Filiale gefunden. In ihrem dunklen Hosenanzug, mit dem strengen Pferdeschwanz und der akkuraten pink schillernden Fielmann-Brille sieht Wencke Petersen tatsächlich wie ein Bankfräulein aus. Aber am Wochenende trägt sie regelmäßig ihr Haar offen, dreht sich gern mal Locken rein und zwitschert ab ins pulsierende Bredstedt. Dann wird Wencke zur Disco-Queen.
Heute Morgen ist davon nichts zu merken. Wencke Petersen hilft Frau Ahlbeck am Automaten beim Ausdrucken der Kontoauszüge. Ihre Handtasche hält die korpulente Frau Ahlbeck in der Rechten, ihren Hackenporsche hat sie vor einem Ständer mit Broschüren zur Altersvorsorge der Raiffeisenkassen geparkt. Zahnärztin Ute Butz-Christensen wartet auf einer Sitzgelegenheit zwischen zwei Hydrokulturen und blättert mit sorgenvollem Blick in einem Ordner mit Depotauszügen.
»Ich bin mit Herrn Thormählen verabredet«, drängelt die Zahnärztin ärgerlich an die junge Kassiererin gewandt und sieht auf ihre Uhr. »Meine Patienten warten. Ich hab nicht ewig Zeit.«
»Ich frag gleich mal nach, Frau Doktor«, antwortet Jungbankerin Wencke beflissen, während sie Frau Ahlbecks Kontoauszüge aus dem Drucker zieht.
»Ich kann mir schon vorstellen, dass Ihr Herr Thormählen sich am liebsten drücken möchte. Aber ich habe mit dem Herrn Filialleiter dringend etwas zu besprechen.« Sie knallt geräuschvoll den Aktenordner zu.
»Wahrscheinlich wieder fix am Rechnen, der Heiko«, schreit die schwerhörige Frau Ahlbeck durch den überschaubaren Schalterraum.
»Nur, dass er sich bei mir leider fix ver-rechnet hat«, erwidert Ute Butz-Christensen gallig.
»Is sowieso gleich Mittag«, gibt Oma Ahlbeck zu bedenken. Der Zahnmedizinerin steigt Zornesröte ins Gesicht.
In dem Moment wird der Schalterraum ganz plötzlich in gelbes Licht getaucht. Currygelb. Auf dem Fußweg direkt vor der Filiale hat sich ein riesengroßer zerbeulter alter Ford Granada vor den Eingang geschoben. Das satte Motorengeräusch ist sogar durch die neuen Sicherheitsfenster der Bankfiliale zu hören. Zwei Männer mit Indianermasken hechten aus dem Fond, der Fahrer, der Cowboyhut und Spiegelsonnenbrille trägt und sich außerdem ein schwarzes Tuch vor Mund und Nase gebunden hat, schält sich etwas langsamer aus dem verrosteten Oldtimer. Der Wagen steht so nahe an der Eingangstür, dass er kaum aussteigen kann. Die beiden Indianer sind mit abgesägten Schrotflinten bewaffnet, der Cowboy trägt einen Colt und hat einen großen Plastikmüllsack dabei.
Die drei stürmen dicht hintereinander in die Bank. Mit ihnen zusammen weht ein Duftgemisch aus Auspuffgasen und nicht verbranntem Benzin durch die weit aufgestoßene Eingangstür in den Schalterraum. Einer der beiden Indianer gibt mit der doppelläufigen Schrotflinte eine Salve in die Decke ab. Eine Neonröhre zersplittert knallend und zischelnd. Putz und Teile der Deckenverkleidung rieseln herab.
»Das ist ein Überfall!«, schreit der kleinere der beiden Indianer und hält die Waffe demonstrativ in die Luft. Er trägt einen hellblauen Trainingsanzug, der nicht recht zu der Maske passt. »Schön ruhig bleiben!«, brüllt er warnend. Die Maske mit Kriegsbemalung und heruntergezogenen Mundwinkeln blickt grimmig.
Kassiererin Wencke stößt einen spitzen Schrei aus, und Frau Butz-Christensen umklammert erschrocken mit beiden Armen ihren Aktenordner. Nur Oma Ahlbeck blickt mehr interessiert als ängstlich.
»Wer-r-r hier ist zuständig?«, will der Cowboy mit slawischem Akzent wissen. Die Anwesenden sehen ihn mit großen Augen an, worauf der grimmige Indianer eine zweite Salve in die Hydrokultur neben der Zahnärztin abfeuert. Eine ganze Ladung brauner Granulatkügelchen stäubt auf und ergießt sich kullernd über den Boden. Frau Butz-Christensen verkriecht sich hinter ihrem Aktenordner.
»Wer-r ist Filialleiter?«, brummt der Cowboy wieder.
»Alle stumm hier, oder wat?«, schaltet sich jetzt auch der andere Indianer ein, der einen Kopf größer als sein Stammesbruder ist. Er spricht mit unverkennbar norddeutschem Dialekt. Seine Indianermaske blickt noch grimmiger. Sie hat eine auffällige Kriegsbemalung und einen angestaubten Federschmuck. Irgendwie durchschauen die Bankräuber noch nicht, wer hier Bankangestellter und wer Kunde ist. Der jungen Wencke Petersen ist das ganz recht.
»Dat ist doch sicher fürs Fernsehen, oder?«, verkennt Oma Ahlbeck den Ernst der Lage und wedelt fröhlich mit den gerade ausgedruckten Kontoauszügen in der Hand.
»Fernsehen? Von wegen, Oma. Wir sind echt.« Der kleinere Indianer im Trainingsanzug, der nur ein Stirnband trägt, wird richtiggehend sauer und hält Frau Ahlbeck die Schrotflinte vor die Nase.
»Vorsichtig, junger Mann«, warnt Oma Ahlbeck und schiebt den Lauf der Flinte beiseite. »Ich war grad beim Friseur.« Frau Ahlbeck fasst sich prüfend in ihre bläulich getönte Betondauerwelle.
Auch der slawische Cowboy, der wie der Bandenchef wirkt, wird ungeduldig »Ist denn hier-r-r niemand der-r-r Chef?«
»Gute Frage«, traut sich Ute Butz-Christensen vorlaut, aber mit dünner Stimme hinter ihrem Leitzordner hervor. »Der Herr Filialleiter hat sich in seinem Hinterzimmer verkrochen und lässt das hier alles seine Frau Petersen machen.«
Wencke Petersen fühlt sich ertappt. Ihr ist sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Auf solch eine Situation ist sie in ihrer Banklehre eigentlich nie richtig vorbereitet worden. Das Wort Deeskalation fällt ihr ein und die taktische Maßnahme, die ihnen damals empfohlen wurde: »Persönlichen Kontakt zum Täter herstellen«. Wencke weiß nicht recht.
»Ich kenn dat doch. Wie heißt dat? Versteckte Kamera?« Oma Ahlbeck sieht erwartungsvoll zu dem größeren Indianer mit Stirnband auf.
»Nee, nee, Frau Ahlbeck«, raunt die bleiche Wencke ihr zu.
»Langsam hab ich die Faxen dicke«, schreit der Indianer im Trainingsanzug. »Und Oma, du hältst mal deinen Rand.«
»Nun werden Sie mal nicht frech, junger Mann.«
»Wir bleiben alle ganz ruhig«, vermittelt der andere in breitem Norddeutsch und betrachtet sich dabei in dem Spiegel zwischen Hydrokultur und Garderobenhaken. Sorgfältig zieht er sich seine Indianermaske zurecht.
Der Cowboy hat währenddessen das Hinterzimmer geentert. Mit vorgehaltener Waffe schubst er jetzt Filialleiter Heiko Thormählen vor sich her in den Schalterraum.
»Wir sind nur eine kleine Filiale«, stammelt der Filialleiter in einem kornblumenblauen Anzug. »Wir haben hier ganz wenig Bargeld in der Bank.« Heiko Thormählen hat Schweißperlen auf der Stirn. »Bargeldloser Verkehr, Sie verstehen? Und wir sind hier auf dem Land.« Er gackert verschreckt auf.
»Dat wolln wir doch erst mal sehen!« Der norddeutsche Indianer wirkt nicht überzeugt.
»Und was ist mit meiner Rente?«, will Oma Ahlbeck besorgt wissen.
»Kann nich ma einer die Oma abstellen!«, schreit der Kleine.
»Mein Gott, Thormählen, tun Sie, was diese Leute sagen«, fordert die Zahnärztin den Filialleiter energisch auf und blickt verärgert hinter ihrem Aktenordner hervor.
Der kleine Indianer feuert eine weitere Salve in die Hydrokultur, die Substratkügelchen fliegen durch den Raum, Zimmerpalme und Zahnärztin zittern um die Wette.
»Vorsicht, die schönen Pflanzen!«, sorgt sich Oma Ahlbeck und tapert in Richtung Einkaufstrolley.
»Verdammte Scheiße, schaff Omma hier weg!«, schimpft der Bandenchef. »Wo ist Klo?«
»Toilette, ja natürlich«, piepst Jungbankerin Wencke und blickt verschreckt.
Der Jugo rückt ihr auf die Pelle. Die Kassiererin spiegelt sich in seiner Sonnenbrille. »Und, wo?«, blafft er sie an.
»Ach s-s-so … im Keller«, stottert Wencke.
Der Cowboy deutet dem kleineren Indianer mit seinem Revolver erst auf die Frauen, dann Richtung Kellertreppe. Der Indianer zieht ein Plastikband aus der Tasche seines Trainingsanzugs und fesselt erst Rentnerin Ahlbeck und dann die Bankangestellte an den Händen hinterm Rücken.
»Was machen Sie denn jetzt?«, protestiert Oma Ahlbeck, die gar nicht weiß, wie ihr geschieht. »Auuu … das tut weh, Sie schnüren mir ja die Hände ab.«
Wencke Petersen blinkert hektisch. »Euch passiert schon nix«, raunt ihr der große Indianer in beruhigendem Norddeutsch zu. Er hebt beschwichtigend die Hände. Dann betrachtet er sich noch mal im Spiegel und streicht sich eine blonde Haarsträhne hinter die Maske. Da kann Wencke kurz den Teil eines Tattoos auf seinem Unterarm sehen. Es sieht auch aus wie Federn eines Indianerkopfschmucks und darunter stehen die Buchstaben Z Y H O R S E. Damit kann Wencke im Augenblick wenig anfangen.
Der Cowboy zeigt derweil mit seiner Waffe auf Ute Butz-Christensen. »Du ruhig sitzen bleiben.« Dann wendet er sich an Filialleiter Thormählen. »So, Kollegge, und wir gehen an Kasse.« Er drückt ihm den Plastiksack in die Hand und hält die Waffe an seinen Kopf.
Währenddessen schubst der kleine Indianer die beiden Frauen die Kellertreppe hinunter. »Ja, vamos, die Damen, aber ’n bisschen hopp.« Er drückt Wencke den Lauf seiner Schrotflinte in den Rücken. Im Untergeschoss drängt er die beiden in die enge Toilette, zieht den Schlüssel an der Innenseite der Tür ab, knallt die Tür zu und schließt von außen ab.
Wencke Petersen drängt sich mit Frau Ahlbeck in der kleinen Kabine.
»Das ist ja eine Frechheit«, ereifert sich die Mutter des Bürgermeisters. »Und ich denk noch, die sind vom Fernsehen.«
Wencke Petersen fehlen die Worte.
»Ganz schön eng hier, nä, Wencke?«, schreit Oma Ahlbeck. Mit ihrem stattlichen Busen drückt sie die Kassiererin an die Toilettenwand. In der Kniekehle spürt Wencke die Klopapierrolle. Im Gesicht kitzelt Frau Ahlbecks neue Dauerwelle, der Duft des Haarsprays beißt ihr in der Nase.
»Setzen Sie sich doch hin, Frau Ahlbeck«, bietet Wencke ihr an.
»Setzen is gut, wohin denn?«
»Ja … na ja … aufs Klo.« Oma Ahlbeck setzt sich ächzend auf den Klodeckel, so gut das mit auf dem Rücken gefesselten Händen geht. Trotz allem ist sie froh, fürs Erste aus der direkten Schusslinie zu sein. Die Kassiererin lehnt erschöpft und blass an der Wand und lauscht angestrengt nach oben. Im Schalterraum scheinen die Bankräuber dabei zu sein, die Kasse auszuräumen. Es entsteht eine Unruhe. »Das soll alles sein? Das ist nicht wahr-r-r!«, hört sie den Anführer schreien.
»Wie gesagt …«, winselt Filialleiter Thormählen. Den Rest können die beiden Damen im Kellerklo nicht verstehen, nur eine Kanonade von Kraftausdrücken. Dann hören sie Schritte auf der Treppe ins Untergeschoss. Die Stimmen werden lauter.
»Von weggen, hier gebben es keine Tresor! Und was ist das hier?«, poltert der jugoslawische Cowboy.
»Ach so, d-d-den hier, das ist nur … also …«
»Nix redden, aufmachen.«
»Keine Faxen, Meister!«, motzt einer der Indianer. Der andere hält wahrscheinlich oben die Zahnärztin in Schach, denkt sich Wencke. In der Toilette wäre auch kein Platz für eine dritte Person. Sie lauscht weiter.
»Los, aufmachen die Kiste. Wir haben keine Zeit«, schnaubt der Indianer.
Wencke meint das Ticken des drehbaren Zahlenknopfes auf dem Tresor zu hören.
»Nicht dat die mir mit meiner Rente übern Deich gehen.« Oma Ahlbeck blickt sorgenvoll von ihrem Toilettensitz hoch.
»Keine Sorge, ich hab Ihnen ja noch nichts ausbezahlt«, raunt Wencke Petersen.
»Was sagst du, Wencke?«, schreit Frau Ahlbeck.
Die Bankangestellte hält sich den Finger vor den Mund.
»Ich hab Ihnen die Rente ja noch nicht ausbezahlt«, flüstert sie eindringlicher.
»Das ist es ja«, gibt Oma Ahlbeck lautstark zu bedenken. »Du glaubst doch wohl nich, min Deern, dat diese Wildwest-Gauner hier auch nur einen Cent liegen lassen.«
Da erhebt sich wieder die Stimme des Ausländers im benachbarten Tresorraum. »Ich nicht glaube, was ich sehe.« Dann hört man das metallene Geklapper von Geldkassetten.
»Ich glaub, ich werd verrückt!«, meldet sich der andere Bankräuber zu Wort. Auf einmal scheint es ein Gerangel zu geben, gefolgt von einem Schmerzensschrei des Filialleiters.
»Die sind ganz schön brutal, nä, Wencke.« Oma Ahlbeck verzieht das Gesicht. »Besonders der lütte Indianer.«
»Der große Indianer dagegen is ’n büschen freundlicher«, findet das Bankfräulein.
Die beiden hören, wie etwas dumpf gegen eine Tür knallt, ein Stuhl fällt scheppernd um, Thormählen stöhnt. Jemand rennt die Treppe hinauf. Wencke und Frau Ahlbeck horchen. Sind jetzt alle wieder oben im Schalterraum? Plötzlich hört man einen Schuss und kurz darauf einen startenden Motor und das Summen durchdrehender Reifen.
»Wencke!«, schreit Oma Ahlbeck und zeigt auf die Toilette. »Ich müsste wohl tatsächlich mal.«
Dann fällt noch ein Schuss.
Rosa-violett getuschte, in der Abendsonne schimmernde Wolkenbilder ziehen von der See über das grüne Deichvorland hinweg. Angelica Müller-Siemsen hat sofort den Salzgeschmack in der Nase, den eine laue Spätsommerbrise von der Nordsee herüberweht und an der Frontscheibe ihres schwarzen Audi-Cabriolets vorbeistreichen lässt. In ihrer schicken giftgrünen Steppjacke von Joop, die sie kürzlich in einer Pöseldorfer Boutique erstanden hat, lässt es sich im offenen Wagen aushalten. Sie schlägt den Kragen aus Bisonfell hoch. Der Fahrtwind fährt ihr in die blond gefärbten Haare, die in den letzten Jahren deutlich dünner geworden sind. Aus der Musikanlage des Autos perlt Sades Smooth-Jazz, der früher auch irgendwie cooler klang.
Angelica hat diese Fahrten immer genossen. Doch das Hochgefühl, das sie sonst immer erfasst, sobald sie die hohe Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal überquert und die kleinen, graden Nebenstraßen am Sönke-Nissen-Koog durch die weite Landschaft fliegt, will sich heute nicht einstellen. Angelica Müller-Siemsen ist immer noch aufgewühlt. Dass ihr Ehemann, der Eppendorfer HNO-Professor Ulrich Müller-Siemsen, immer mal wieder kleine – wie sie es nennt – Techtelmechtel mit jungen Kolleginnen, Studentinnen und Schwestern pflegt, damit hatte sie sich inzwischen fast abgefunden. Das hatte nie wirklich eine Bedeutung gehabt. Ulrich und sie hatten ihr gemeinsames Leben in ihrem Eppendorfer Freundeskreis, mit ihren Konzertbesuchen, Malkursen und Essenseinladungen mit französischem Käse vom Isemarkt. Auf den Dinnerpartys war Angelica, mit C statt K, worauf sie großen Wert legt, immer noch der Mittelpunkt.
Vor allem haben sie ihr historisches altes Reetdachhaus an der Nordseeküste. Jahrelang hatten sie an dem baufälligen Haus herumrenoviert, aber stets streng nach historischen Vorbildern. Sie hatten den Kampf mit den Holzwürmern im Fachwerk aufgenommen, hatten alte Steinböden freilegen lassen, sie selbst hatte alte Bauernschränke mit nach Originalrezepturen selbst hergestellten Naturfarben restauriert. Auf einem extra erworbenen Wiesenstück hatte Ulrich sich mit einer Bienenzucht versucht, allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. Die Honigausbeute war bescheiden, die Schwellungen im Gesicht des Hobbyimkers nach einer Attacke des Bienenvolkes dagegen waren beachtlich gewesen. Zuerst hatten sich die Fredenbüller über den verschrobenen Hamburger Professor, der mit Strohhut und Bienenkorb auf dem Gepäckträger seines alten Hollandrads durchs Dorf schaukelte, noch lustig gemacht. Aber seit er regelmäßig in »De Hidde Kist« einkehrt oder sich bei Antje die von ihm geliebte Rote Grütze holt, ist er in die Dorfgemeinschaft integriert. Außerdem unterstützt er Huberta von Rissen bei der Organisation ihrer legendären Kammerkonzerte auf dem Gut. Und wenn er auf dem Fest der Freiwilligen Feuerwehr mit der rassigen Friseurmeisterin Alexandra flirtet, dann sieht Angelica großzügig darüber hinweg, meist geht sie gar nicht erst mit auf die Festivität. Ulrich liebt eben nicht nur die Kammermusik, sondern auch das Volksvergnügen. Den Spaß lässt sie ihm.
Es ist noch ein warmer Spätsommertag. Aber die Sonne kommt nicht mehr richtig durch. Jetzt in der Dämmerung liegt Nebel über den Wiesen. Eine Gruppe Schafe mit neonfarben auf das Fell gesprayten Zahlen sieht dem vorbeirasenden Cabrio hinterher. Angelica Müller-Siemsen tritt wütend aufs Gaspedal. In einer der wenigen Kurven kommt der Wagen fast von der Straße ab und droht in den Graben zu rutschen. Ihr ist das in dem Moment egal.