Rom und der Orient - Christian Marek - E-Book

Rom und der Orient E-Book

Christian Marek

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Beschreibung

«Den Römern setze ich weder räumliche noch zeitliche Grenzen, ein Reich ohne Ende habe ich ihnen gegeben.» Mit diesen Worten verheißt Göttervater Jupiter in Vergils Aeneis seinem «auserwählten Volk» eine glänzende Zukunft in einem grenzenlosen Imperium. Welche Naturräume die Römer bei der Eroberung ihres Weltreichs im Orient durchmessen haben, welchen Völkern, Reichen und Herrschern sie gegenübertraten, welchen zum Teil uralten Religionen und Kulturen sie begegneten und was sie ihnen verdanken – davon erzählt faktenreich und anschaulich dieses Buch. Mit Christian Marek legt ein international renommierter Fachmann für die Alte Geschichte der Kulturen östlich des Mittelmeerraums eine meisterhafte, große, reich bebilderte Synthese seiner jahrzehntelangen Forschungen in Kleinasien, Syrien und Arabien vor. Er erzählt die Vorgeschichte dieser Weltgegenden von den frühen Hochkulturen des Orients bis zur Ausbreitung des Hellenismus, beschreibt die Konflikte Roms mit Potentaten wie Mithradates VI. und Völkern wie Persern und Juden. Er erläutert die Institutionen und Techniken römischer Herrschaft sowie die Integration der östlichen Kulturen in einer römischen Weltordnung. Schließlich verfolgt er den Aufstieg und Sieg des Christentums über andere neue Religionen in der Osthälfte des Imperium Romanum bis zum Vorabend des Islams. Eine Besonderheit seiner Darstellungsweise liegt darin, die historischen Vorgänge und Verhältnisse aus orientalischer Perspektive zu beschreiben. Er richtet den Fokus auf die lokalen und regionalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die geistigen und religiösen Bewegungen, die Interessen und Konflikte der Akteure in den orientalischen Klientelreichen und Provinzen. Damit eröffnet der Autor einen anderen Blick auf die römische Geschichte und führt in eine weniger bekannte Welt ein. In jedem Falle legt er damit ein Buch über ein Thema vor, das so nocht nicht beschrieben wurde!

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CHRISTIAN MAREK

ROM UND DERORIENT

REICHE ▪ GÖTTER ▪ KÖNIGE

C.H.BECK

Zum Buch

Mit Christian Marek legt ein international renommierter Fachmann für die Alte Geschichte der Kulturen östlich des Mittelmeerraums eine meisterhafte, große, reich bebilderte Synthese seiner jahrzehntelangen Forschungen in Kleinasien, Syrien und Arabien vor. Er erzählt die Vorgeschichte dieser Weltgegenden von den frühen Hochkulturen des Orients bis zur Ausbreitung des Hellenismus, beschreibt die Konflikte Roms mit Potentaten wie Mithradates VI. und Völkern wie Persern und Juden. Er erläutert die Institutionen und Techniken römischer Herrschaft sowie die Integration der östlichen Kulturen in einer römischen Weltordnung. Schließlich verfolgt er den Aufstieg und Sieg des Christentums über andere neue Religionen in der Osthälfte des Imperium Romanum bis zum Vorabend des Islams.

Eine Besonderheit seiner Darstellungsweise liegt darin, die historischen Vorgänge und Verhältnisse aus orientalischer Perspektive zu beschreiben. Er richtet den Fokus auf die lokalen und regionalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die geistigen und religiösen Bewegungen, die Interessen und Konflikte der Akteure in den orientalischen Klientelreichen und Provinzen. Damit eröffnet der Autor einen anderen Blick auf die römische Geschichte und führt in eine weniger bekannte Welt ein. In jedem Falle legt er damit ein Buch über ein Thema vor, das so noch nicht beschrieben wurde!

Über den Autor

Christian Marek ist Professor em. für Alte Geschichte an der Universität Zürich. Im Verlag C.H.Beck ist von demselben Autor lieferbar: Geschichte Kleinasiens in der Antike (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung, 32017); Die Inschriften von Kaunos (VESTIGIA 55, 2006).

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Vom Alten Orient bis zur Pax Augusta

1. Die Grundlagen – Sprachen, Völker, Reiche, Götter und Kulturen Vorderasiens, Ägyptens und Arabiens

2. Landnahme und Hellenisierung – Alexander, Diadochen, Epigonen – hellenistische Weltkultur

3. Morgendämmerung eines Imperiums – Die Ostmittelmeerwelt als Magnet römischer Interventionen

4. Der Osten schlägt zurück – Mithradates VI. Eupator und Tigranes der Große, Könige von Pontos und Armenien

5. Ordnung und Umbruch – Von Pompeius Magnus zum west-östlichen Bürgerkrieg

II. Diesseits und jenseits des Flusses

1. Zwischen pax und bellum – Friedenssehnsucht, Parther und augusteische Provinzen

Exkurs: Auf den Wegen der Expedition des Aelius Gallus nach Südarabien

2. Hammaschiah – Vorspiel einer Weltreligion

3. Schmelztiegel, Kornkammer und Tor nach Indien – Alexandreia und Ägypten in der frühen und hohen Kaiserzeit

4. Unruhe und Krieg – Iudaea und Anatolien von Tiberius bis Nero

5. Kidusch Haschem – Der Jüdische Krieg

6. «Wir werden gehorsame Untertanen des Reiches sein» – Das flavische Grenzsystem

7. Bellicosissimus princeps – Traian, die Provinz Arabia und der Partherkrieg

8. Prosperität und Widerstand – Der Orient unter Hadrian

9. «Ich besitze eine sehr kleine und ehrenwerte Stadt» – Grenzkriege, Bürgerkriege und Grenzstädte von Marcus bis Severus

10. Der Gott vom Berge – Der Orient in Rom: Elagabal

11. Progonikon ktema – Zusammenbrüche und Rückeroberungen

III. Oriens Romanus

1. Regierung und Verwaltung

2. Militär

3. Bevölkerung

4. Spectacula

5. Ex oriente: Philosophie, Sophistik, Literatur und Wissenschaft

6. Orientalische Bildkunst

7. Menschenliebe und Glaubenskämpfe

IV. Kreuz gegen Feueraltar

1. Homoios oder homoousios – Streit um die Natur Christi

2. Der Orient bis zum Frieden Jovians – Nachkonstantinische Provinzordnung und Sasanidenkriege

3. «Das ist die Kirche meiner Sasimier!» – Ein Land und seine Kirchenväter: Kappadokien

4. Sweti Zchoweli – Etschmiadsin – Sohn des Ares und Sklave Christi – Christliche Reiche zwischen den Welten: Lazika, Iberia, Armenia, Aethiopia

5. Fanatiker auf Kaiser- und Bischofsthron – Die theodosianische Dynastie und die Teilung des Reiches

6. «a most impudent school-mistress of Alexandreia» – Spätantikes Ägypten

7. «Jesus-Kriege» – Kirchenspaltung und Ostmission

8. Land der Säulensteher – Spätantikes Syrien

9. Showdown der Großreiche – Anastasios und Justinian gegen Kavadh und Chosrau

10. Raḥmānān – Christlicher Schlussakkord auf der Arabischen Halbinsel: König ʾAbraha

11. «Deus adiuta Romanis» – Letzte Sasanidenkriege und der Verlust des römischen Orients

Schluss

ANHANG

Anmerkungen

Einleitung

I. Vom Alten Orient bis zur Pax Augusta

II. Diesseits und jenseits des Flusses

III. Oriens Romanus

IV. Kreuz gegen Feueraltar

Schluss

Abbildungs- und Kartennachweis

Abkürzungen

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der zitierten Quellen

1. Keilschriftliche Quellen

2. Griechische, lateinische, mittelpersische, nabatäische, sabäische und syrische Inschriften, Münzen

3. Papyri

4. Literarische Quellen

a. Chinesisch

b. Armenisch und Syrisch

c. Griechisch und Lateinisch (einschließlich Altes Testament)

Register

Für Sebastian

Vorwort

«Mehr ist ein Halbes als das Ganze», sagt der Dichter Hesiod (erg. 40). Dies ist kein Buch über die Hälfte eines Weltreiches, das schon oft beschrieben worden ist: Republik, Kaiserzeit und Spätantike, Prinzipat und Dominat, Kaiser und Senat, Hauptstadt und Hof, Reich und Provinzen, Politik, Verwaltung, Recht, Gesellschaft und Wirtschaft, Religion, Aufstieg und Niedergang. Rom und der Orient geht den Spuren einer eigenartigen Entwicklung nach, die der landläufigen Vorstellung von ‹römisch› nicht entspricht, sondern aus Wurzeln im ‹Alten Orient› stammend mit einer griechischen Universalkultur verschmolz, in den lateinischen Westen ausstrahlte und, längst vor der Reichsteilung in Ostrom und Westrom reif und spät geworden, in das christliche wie das islamische Mittelalter eindrang.

Der ‹Alte Orient›, dessen Schriften zu entziffern, dessen Sprachen zu verstehen die Wissenschaft erst des 19. und 20. Jahrhunderts gelernt hat, bleibt für die breite gebildete Allgemeinheit noch immer ein unbegehbares, dunkles Terrain, das an unseren Universitäten ‹Orchideenfächer› besetzen. Die Bibel war lange Zeit das einzige Fenster, durch das wir hinein- und hinabblicken. Keilschrift oder Hieroglyphen, Akkadisch, Hethitisch oder Luwisch verschlüsseln für die meisten von uns den immensen Quellenreichtum einer Geschichte von Jahrtausenden, die mit jener ‹europäischen› Antike des Imperium Romanum aere perennius verwachsen ist. Von ihrer ‹römischen› Epoche wollen die folgenden Seiten manches erzählen.

Die Zeiten, in denen das römische Weltreich eine Domäne der Klassischen Altertumswissenschaft war, sind längst vorbei. Die moderne Forschung ist, wie jeder Fachvertreter weiß, multidisziplinär und nahezu unüberschaubar. Griechisch und Latein machen zwar den mit Abstand umfangreichsten Bestand unserer Quellen aus, doch ist je nach Fragestellung eine ganze Anzahl weiterer alter Sprachen einzubeziehen. Es bleibt daher für einen einzelnen Historiker ein riskanter Versuch, Ergebnisse aus vielen Forschungsfeldern mit verschiedensprachiger Überlieferung und verschiedenen Methoden in eine Zusammenschau zu tragen, die so noch nicht existiert.

Zwei Motive haben mich zu dem Wagnis gereizt. Das erste ist der Wunsch, aus langjähriger akademischer Lehr- und Forschungstätigkeit das herauszuholen und zu verbinden, was eine breite Leserschaft an dem Gegenstand zu interessieren vermag oder, um gelehrt zu reden, protreptisch wirkt. Dabei habe ich mich entschieden, vornehmlich zu erzählen und zu beschreiben, weniger zu analysieren. Die alten Quellen lasse ich möglichst oft selbst sprechen, weil komplexe Zusammenhänge aus den Tiefen einer fremden Vergangenheit durch nichts klarer hervorscheinen als durch die in Text geronnene Rede der ihrerzeit Lebendigen; den mit dem Fach nicht vertrauten Leserinnen und Lesern sind die Texte eines Periplus Maris Erythraei, Mara bar Sarapion, Galenos, Bardaiṣan, Synesios von Kyrene oder Theodoret von Kyrrhos weniger leicht zur Hand als ein Herodot, Platon oder Tacitus.

Das zweite Motiv ist eine persönliche Erfahrung des Orients, die ich in den vergangenen 40 Jahren mit dem Besuch historischer Landschaften, Stätten und Museen in der Türkei, Syrien, Israel, Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien, Jemen, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Iran gemacht habe. Berichte über diese Reisen, die heute teils schwerer, teils unmöglich durchzuführen wären, könnten ein eigenes Buch füllen. Exemplarisch wird eine Autofahrt 1986 in den Jemen geschildert, die den Spuren des Aelius-Gallus-Feldzuges nach Südarabien 25 v. Chr. folgte. Ich habe mich bemüht, wenigstens ein paar Illustrationen, zumeist von mir selbst angefertigte Photographien, beizugeben. Allgemein ist die Anschauung der Länder und Orte scheinbar versunkener Geschichte für mich stets Quell reicherer Erkenntnis gewesen, als sie allein die Bücher vermitteln.

Geschichte ist nie tot. Längst überwunden Geglaubtes wird in neuer Form gegenwärtig. Was ich mir in den Anfängen meiner Forschungen in den 1980ern nicht hätte träumen lassen, ist die deprimierende Abwärtsentwicklung in mehreren Ländern, die heute einer jungen Generation den Zugang zu den Kulturschätzen von Landstrichen erschwert oder verwehrt, wo Fanatismus, Feindschaft und Krieg wieder auferstanden sind.

Meiner Universität Zürich und dem Historischen Seminar verdanke ich Jahre großzügiger Unterstützung meiner Forschung und Lehre auch über die Emeritierung hinaus. Sehr dankbar bin ich Alexander Michael Speidel, einem herausragenden Experten auf dem Gebiet des römischen Orients, für seine Bereitschaft, den Entwurf durchzulesen und wertvolle Korrekturen und Beiträge beizusteuern. Auch die Zürcher Freunde und collegae Christoph Riedweg und Wolfgang Behr sowie mein aus alten Marburger Tagen treuer Freund und Lehrer rerum orientalium Norbert Nebes haben viele Hinweise beigesteuert, desgleichen mein Kieler Kollege Andreas Luther, wofür ich ihnen meinen Dank ausspreche. Bei Frau Maria Schmitt bedanke ich mich für die Mitarbeit am Verzeichnis der zitierten Quellen.

Nicht zum ersten Mal erfahre ich dankbar die Sorgfalt, Fachkenntnis und Präzision, mit der Stefan von der Lahr, Andrea Morgan, Cornelia Horn und Peter Palm im Verlag C.H.Beck ein dorniges Typoskript in ein Buch verwandeln. Ein solches Lektorat ist schon heute legendär.

Zürich, im August 2023Christian Marek

Einleitung

«und ich schlug meinen Reiseweg ein, zu kommen zum Licht unseres Landes, des Ostens»[1]

Die Zitadelle von Dura Europos (as-Salihiya, Abb. 1) thront einen Steinwurf weit über dem breit dahinströmenden Euphrat, 30 Kilometer flussaufwärts von der syrisch-irakischen Grenzstation, rund 250 Kilometer Luftline durch die Steppe von der Karawanenstadt Palmyra entfernt, weitere hundert Kilometer von der Ostküste des Mittelmeeres im heutigen Libanon. An diesem Fluss endete vor beinahe zwei Jahrtausenden ein Reichsgebiet. Es war das Reich der Römer. Seine vielsprachigen Bewohner zwischen Schottland und Ägypten, zwischen Georgien und Marokko empfanden dieses Reich rings um das Mittelmeer für Jahrhunderte als «die Welt», orbis terrarum, in dessen Zentrum sich «die Stadt» befand, urbs, von der alles ausging, wie heute noch in einem fernen und schwachen Echo der Segen an die Christenheit rund um den Erdball: urbi et orbi.

Abb. 1: Dura Europos, Syrien, Zitadelle

Dem Blick nach Osten erscheint nichts, das an eine mediterrane Landschaft denken ließe. Die blaue, grüngesäumte Ader ist eingebettet in wüstes Land. Der italienstämmige Legionär der Legio IV Scythica, der den Fuß an diese Stelle gesetzt haben mag, muss von einer Ahnung der Grenzenlosigkeit Asiens ergriffen worden sein. Über den Ruinen und dem Strom liegt in der Nachmittagshitze eine tiefe Stille. An den drei Stadttoren im Ring der noch hoch aufragenden Lehmziegelmauern mündeten zur Römerzeit die Hauptstraßen zwischen Unter- und Obermesopotamien. Die Trümmer der Gebäude im Innern bargen einzigartige Reste einer antiken Mischkultur: die älteste christliche Hauskirche; eine mit kostbaren Fresken ausgemalte Synagoge; Schriftzeugnisse auf Stein, Leder und Papyrus in sieben verschiedenen Sprachen: Griechisch, Lateinisch, Parthisch, Aramäisch, Palmyrenisch, Syrisch und Hebräisch; schriftliche und materielle Zeugnisse für eine vielfältige Religionslandschaft, in der neben dem christlichen und jüdischen Gott ein palmyrenischer Iarhibol, ein kommagenischer Iupiter Optimus Maximus Dolichenus und ein persischer Deus Sol Invictus Mithras Platz nahmen.[2]

Geschichte wird für die Gegenwart geschrieben. Mehr als siebzehneinhalb Jahrhunderte später überlagern sich an derselben Stelle die Interessen der heutigen Hegemonialmächte und befeuern die Konflikte ihrer regionalen Stellvertreter, wo unter den Schlägen von Terrormilizen, Soldaten und Söldnern staatliche Ordnungen von kaum einem Jahrhundert Dauer zu zerbrechen drohen: Am Hindukusch kollabierte 2021 ein zwei Jahrzehnte andauerndes Experiment des nation building fremder Besatzer in kopfloser Flucht. In der Zone angespannter Gegnerschaft von sunnitischen und schiitischen Bevölkerungen zwischen Mittelmeer und Golf nimmt der von den USA dominierte Westen den Iran als seinen Hauptfeind ins Visier und rüstet dessen Feind, das wahabitische Königreich Saudi-Arabien, mit modernsten Waffen auf. Saudi-Arabien sieht sich von einem expansiven Iran bedroht, der Glaubensbrüder und Milizen im Jemen, am Mittelmeer und in Mesopotamien mobilisiert und fähig ist, die saudischen Ölfelder in Brand stecken zu lassen – und der sich im Russland-Ukraine-Krieg an der Seite Russlands positioniert hat. Arabiens Nachbar, der Golfstaat Katar, unterhält zu Iran gute Beziehungen. Der Irak, dessen Norden ein faktisch eigenständiges Kurdengebiet einnimmt, war zeitweise im Chaos des neuen Kalifats «Islamischer Staat» zerschlagen. Obgleich mehrheitlich schiitisch, versucht Bagdad sich aus iranischer Bevormundung herauszuwinden. Am Mittelmeer, in jener fruchtbaren Zone, wo einst die blühenden römischen Provinzen lagen, versinkt ein politisch desolater Libanon in wirtschaftlicher Depression. Das diktatorische Regime der alawitischen Minderheit in Syrien, seit 2011 von innen und außen angegriffen, wurde in äußerster Bedrängnis von seinem alten Verbündeten Russland gerade noch gestützt. Doch liegt Syrien nach Jahren des Krieges zerrissen und in Trümmern, Zigtausende sind geflohen, die meisten ins Nachbarland Türkei. Zwischen Libanon, syrischem Golan, der Westbank und dem Gazastreifen der Palästinenser, dem haschemitischen Königreich Jordanien und dem ägyptischen Sinai liegt der nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg gegründete Staat der Juden, Israel, um dessen Existenz und Verhältnis zur arabischen Bevölkerung die hartnäckigste aller Auseinandersetzungen wieder und wieder aufbricht, als ‹Nahostkonflikt› schlechthin bezeichnet. Nördlich des ‹Fruchtbaren Halbmondes›, zwischen Schwarzem und Mittelmeer, erstreckt sich auf der anatolischen Landbrücke die Türkei weit nach Westen bis aufs europäische Ufer – seit ihrem Gründer Mustafa Kemal als laizistische Republik verfasst, ein alter Kandidat für den Beitritt zur Europäischen Union. Doch droht dieser einst erhoffte Stabilitätsanker Europa nach und nach zu entgleiten: Zu osmanischer Größe zurück strebend, interveniert die mehrheitlich sunnitische Türkei am Kaukasus im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg Karabach, führt einen Dauerkrieg gegen die Kurden in den südlichen und südöstlichen Grenzregionen zu Syrien und Irak und streitet in der Ägäis mit dem Nato-Nachbarn Griechenland um Hoheits- und Einflusszonen.

Diese latent andauernde Unordnung ist im Wesentlichen die Spätfolge des Auflösungsprozesses von Imperien, in denen eine Vielzahl von Völkern, Sprachen, Religionen und Kulturen zusammenlebte: Napoleonisches Frankreich, British Empire, Osmanisches Reich, Österreich-Ungarn. Wir bezeichnen diesen Europa benachbarten geopolitischen Großraum als ‹Orient›, ‹Near East›, ‹Proche Orient› und nehmen damit eine in der Geschichte tief verwurzelte Perspektive ein, die den Betrachter in einem antipodischen ‹Westen› verortet.

‹Westen› hat verschiedene, paradoxe Konnotationen. Eine Geschichte des Westens von dem deutschen Historiker Heinrich August Winkler thematisiert keine geographisch definierte Weltregion, sondern ein normatives Projekt, das in der Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im europäischen Hochmittelalter wurzelt, in der europäischen Aufklärung und der amerikanischen Verfassung sich herausbildet und über den ganzen Globus fortschreitend sich zu verwirklichen verspricht.[3] Im Kalten Krieg stand der Westen – Fernost mit Japan, dem Land der aufgehenden Sonne, den Philippinen, Australien und Neuseeland eingeschlossen – gegen den Weltkommunismus unter der Hegemonie der Sowjetunion. Das Sowjetimperium war der ‹Osten›. Wanderer zwischen diesen Welten fehlten nicht: Iran beharrte auf: «No East, no West». Nach Auflösung der Sowjetunion verschob sich die Konfrontationslinie. Der Historiker Ian Morris will in seinem Buch: Why the West Rules – For Now die gesamte Geschichte auf eine Bipolarität zwischen Amerika und China hinauslaufen lassen, mit offenem Ausgang.[4] Ein Rezensent fragt in der Times: «Who will win the next phase of our East-West horse race, the United States or China?»[5]

Oriens heißt Osten. Doch unser heutiger Begriff Orient meint etwas anderes als jenen ‹Osten› des Kalten Krieges. Der Orient liegt, von Europa aus gesehen, gar nicht im Osten. Es kommt vor, dass Marokko, Tunesien, Libyen, Ägypten als orientalische Länder bezeichnet werden. Bei «Orient» denken wir an ebenjene Region, die – nicht etwa Europa, sondern dem Mittelmeer benachbart – Länder Nordafrikas und des südlichen Kontinents Asien bis nach Indien umfaßt. Russland gehört nicht dazu: Europäisches Denken bleibt der antiken Vorstellung bis ins 19. Jahrhundert verhaftet. Voltaire nannte Katharina II. eine Semiramis des Nordens, nicht des Orients, obgleich von Paris aus gesehen Russland zweifellos im Osten liegt. Die Blickrichtung des römisch-byzantinischen Abendlandes geht von Konstantinopel aus, und der gebildete Literat des 18. Jahrhunderts nimmt selbstverständlich diese Perspektive ein. Beim West-Östlichen Diwan «wird kein Zeitgenosse an slavische Länder gedacht haben».[6] Noch im 19. Jahrhundert galt Polen als das Frankreich des Nordens.[7]

Mit Orient oder Morgenland wird etwas in der Menschheitsgeschichte Besonderes assoziiert. Aus dem Halbdunkel ältester Überlieferungen glüht die Faszination des Ursprünglichen: Wo das Licht herkommt, ex oriente, von da kommt die Geschichte, die Religion, die Kultur.[8] Der Horizont, wo die Sonne aufgeht, gibt Orientierung. Bibel und Babel, Paradies und Hölle, Abraham, Christus und Mohammed, Seidenstraße und Märchen von Tausendundeiner Nacht sind orientalisch. Diese Welt beginnt am Bosporus, mit sternenklarer Überfahrt vom Goldenen Horn nach Üsküdar.

Die Einheit des landläufig Orient genannten, geopolitischen Raums ist seit dem Mittelalter wesentlich von der Ausbreitung verschiedener Glaubensrichtungen des Islam konstituiert. Zwei in nahezu derselben Gegend entstandene, symbiotisch verschwisterte und zugleich antipodisch widerstreitende Religionen besiedelten zwei mit «Abendland» und «Morgenland» beschriebene und unterschiedene Kulturwelten. Seit dem Zeitalter der Aufklärung blühte in Europa eine Wissenschaft vom Orient auf, die in der Entzifferung der Hieroglyphen- und Keilschriften sowie in der Linguistik und Philologie Durchbrüche zu bis dahin verschlossenen historischen Quellen erzielte. Wissen ist Macht, und «Orientalism» drückt nach Ansicht des vieldiskutierten amerikanischen Literaturwissenschaftlers Edward Said eine koloniale Außenperspektive insbesondere der englischen und französischen Wissenschaft aus, die aus westlicher Überheblichkeit und Bevormundung erwächst.[9] Im modernen clash der beiden Kulturen, der christlichen und der islamischen, sah Samuel Huntington den globalen Gegensatz schlechthin.[10]

Feindselige Distanz, Unter- und Überlegenheitsdenken reichen tief in die Vergangenheit zurück. Wir finden sie erstmals bei den Griechen. Der von den Griechen geprägte Begriff Barbaren steht für die Fremden, die nicht Griechisch sprechen, und findet unterschiedslos Anwendung auf Asiaten wie Europäer und Afrikaner, bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. auch auf die Makedonen und bis an die Schwelle der Kaiserzeit selbst auf die Römer.[11] Die älteste Bezeugung in Homers Ilias (2,867), barbarophon (bar-bar-klingend), ist noch gar nicht herabsetzend. Das Wort gilt hier den Karern (ihre Heimat war der heutige Südwesten der Türkei), die mindestens so zivilisiert waren wie die Griechen selbst. Pejorativ wurde das Wort später auf zwei verschiedenen Bedeutungsebenen gebraucht. Die eine, allgemeinere, reflektiert die Überlegenheit des im klimatisch begünstigten Teil der Oikumene wohnenden Zivilisierten über den an den kalten oder heißen Rändern herumstreifenden Wilden.[12] Auf die innerasiatischen Völker nördlich des Schwarzen Meeres, unter denen die Skythen die bekanntesten sind, werden typische Merkmale der Wildheit projiziert: tierisches Verhalten, Rollenumkehr von Mann und Frau, Kannibalismus, die Sitte, die Leichen der Eltern zu verspeisen, Bluttrinken, rituelle Tötung der Dienerschaft eines verstorbenen Herrschers, das Hautabziehen, insbesondere Skalpieren der Feinde, aus deren Kopfhäuten sogar Kleider gefertigt werden, aus den Schädeln Trinkschalen.

Doch den Bildern von dieser Art Barbarei korrespondieren – auf dieselben Völker bezogen – die einer märchenhaften Gegenwelt des noble savage, von Klugheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Überfluss, Reichtum. Einer, der am weitesten nach Norden, bis zu den Hyperboreern, vorgedrungen sein soll, war der Grieche Aristeas von Prokonnesos. Er soll im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt und ein Gedicht in Hexametern mit dem Titel Arimaspeia verfasst haben, eine Erzählung über die Völker des Nordens: Issedonen, Arimaspier, Hyperboreer. Er selbst habe die Fähigkeit besessen, seinen Körper zu verlassen, sei auf wundersame Weise von Phoibos entrückt worden und mit der Kunde aus der fernen Region zurückgekehrt.[13]

Auf der südlichen Gegenseite sind es die Nomaden Arabiens, skenitai, die in Zelten wohnen. Aber noch weiter weg gibt es die reichen Bewohner des «Glücklichen Arabien». In der Komödie des Aristophanes wird zwei auswanderungswilligen Athenern geraten, zu den Vögeln zu gehen, und der zu Rate gezogene Wiedehopf schlägt als Erstes die «Glückliche Stadt» am Roten Meer vor (Av. 143 f.). Eudaimon Arabia ist der griechische Name der Stadt Aden an der Küste des – von den Griechen ebenfalls Rotes Meer genannten – Indischen Ozeans. Die südarabischen Sabäer im heutigen Jemen lebten nach Strabon in verschwenderischem Luxus, Türen und Wände ihrer Häuser seien mit Elfenbein, Gold, Silber und Edelsteinen geschmückt. Dieselbe Sitte wie bei den Nordvölkern gebe es hier: «Eine Frau ist für alle da. Wer zuerst eintritt, hat zuerst Sex mit ihr, nachdem er einen Stock vor der Tür platziert hat» (16,4,25). Eine Königstochter, die der zahlreichen Männerbesuche überdrüssig war, ließ die Stöcke der Liebhaber nachschnitzen und blockierte damit die Tür.

Die andere Bedeutungsebene des pejorativen Wortgebrauchs von «barbarisch» beinhaltet Variationen einer ideologisch-politischen Polarisierung, die an der Wurzel ihres Entstehens mit den Antipoden Hellenen und Barbaren Europa und Asien, den Okzident und den Orient, feindselig gegeneinander stellt. Wir finden sie am Anfang des um 430 v. Chr. verfassten Geschichtswerkes des Griechen Herodot. Herodots eigentliches Thema ist der große Krieg zwischen Persern und Griechen, der knapp fünfzig Jahre vor seiner Zeit mit dem Zusammenbruch und Rückzug der persischen Invasionsarmee aus Griechenland kulminierte. Dieser völlig unerwartete Sieg einer griechischen Not-Allianz gegen die ganz Asien und Ägypten beherrschende Supermacht der damaligen Welt hatte schon vor seiner Zeit die besten Köpfe dazu angeregt, das Ereignis zu erklären. Für den Tragödiendichter Aischylos, der in der gewaltigen Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. selbst dabei war, frevelte der Perserkönig Xerxes: «Dass den Hellespont, den heilgen, er durch Ketten zu bändgen hofft’ im Strömen, ihn, den Bosporos, des Gottes Strom, dass des Meersunds Lauf er störte und, mit Fesseln erzgeschweißt ihn umwindend, die gewaltge Straße schuf gewaltgem Heer! Er – ein Mensch – die Götter alle glaubt’ er voller Unverstand, selbst Poseidon zu beherrschen» (Pers. 745–750, übers. Werner).

Die Überschreitung der Wasserstraße symbolisiert die Hybris, die Xerxes zum Verhängnis wird. Freilich spricht Aischylos noch nicht von Asien und Europa, sondern von Asien und Hellas. Und doch findet sich später die Interpretation des Kampfes als Konfrontation zweier Weltteile.[14] Sie habe bereits damit begonnen, dass Dareios, Herrscher über praktisch ganz Asien, begehrte, Europa zu unterwerfen.[15] Herodot (1,1–5) spricht von Hellenen und Barbaren und will erforschen, aus welchem Grund sie gegeneinander Krieg führten. Diese Debatte wurde zu seiner Zeit auf beiden Seiten geführt, indem man tief in die Vergangenheit zurückgriff und sich wechselseitig verschiedener Raubzüge beschuldigte – Frauenraub, hüben wie drüben, darunter jener berühmteste der schönen Helena, der dem Grundtext abendländischer Kultur, Homers Ilias, den Erzählstoff gab. Jedenfalls hätten die Perser, schreibt der Historiker (1,4), seither stets, was hellenisch ist, als feindlich betrachtet. Sie sähen ganz Asien als ihr Vaterland und alle Barbarenvölker, die es bewohnen, als ihre Verwandten an. Europa aber und das Land der Hellenen gelte ihnen als fremdes Land.

Als die griechischen Staaten, große und kleine, in der Folgezeit permanent gegeneinander Krieg führten, beschworen Politiker und Intellektuelle die Eintracht, indem sie die alte Feindschaft verklärten und zu einem neuen gemeinsamen Krieg der Hellenen gegen die Barbaren aufriefen. Das persische Vielvölkerreich repräsentierte den Antipoden schlechthin. In dem auf Gesetzen und Volksbeschlüssen basierenden Gemeindestaat der Griechen manifestiere sich die naturgemäße Überlegenheit über die asiatische Monarchie, Freiheit über Versklavung. Diese perspektivisch wertende Teilung der Welt wurde von den wissenschaftlich begabtesten Köpfen mit derselben Selbstverständlichkeit vertreten, wie wir heute die Länder des Globus in Demokratien und Autokratien oder Diktaturen einteilen. In der politischen Rhetorik des Intellektuellen Isokrates werden die Perser mitsamt den Völkern Asiens wie folgt beschrieben (panegyrikos 150–153):

«Der größte Teil ihrer Bevölkerung ist ein Mob ohne Disziplin und Erfahrung von Gefahren, zum Kriege völlig untauglich, zur Sklaverei aber besser erzogen als bei uns die Haussklaven. Diejenigen aber, die bei ihnen in höchstem Ansehen stehen, haben niemals im Sinne des Ganzen, der Gemeinschaft und des Staates gelebt, sondern durchgängig nach unten tretend und nach oben buckelnd, eine Lebensart, die wie keine andere den Menschen verdirbt. Weil sie reich sind, mästen sie ihre Körper, während sie an ihren Seelen auf Grund der Monarchie unterwürfig und ängstlich sind, sich an Palästen zur Musterung einfinden und fußfällig werden und in jeder Weise um Demut bestrebt sind, vor einem Sterblichen auf die Knie fallend und ihn als göttlich anbetend, die Götter aber mehr als die Menschen verachtend.»

Man muss beachten, dass der Sprecher ein Athener und seine Sicht nicht repräsentativ für alle Griechen war. Die Griechen Asiens, die im 4. Jahrhundert wieder Untertanen der Satrapen des Großkönigs wurden, wussten sicher zu schätzen, dass ihre Tributzahlungen niedriger waren als die ihnen zuvor von den verwandten Athenern auferlegten. Eine griechisch-persische Koexistenz in Asien verlief friedfertig bis zur Ankunft Alexanders.

Der ideologisch-politischen Gegenüberstellung von Hellenen und Barbaren in verschiedenen Weltteilen des klassischen Zeitalters folgt in der Vielvölkerwelt der Königreiche des Hellenismus (4.–1. Jahrhundert v. Chr.) und im römischen Reich der Kaiserzeit (1.–4. Jahrhundert n. Chr.) eine vertikale Rangordnung der Reichs- und Provinzbewohner: Die hellenisierten, das heißt der griechischen Sprache mächtigen, griechisch gebildeten und urbaner Lebensweise zugewandten Polisbürger stehen über den als inferior angesehenen Bevölkerungen nichtgriechischer Sprache und Kultur, die großenteils auf dem Lande wohnten. In der römischen Sozialordnung der östlichen Provinzen schließlich führte ohne griechische Bildung kein Weg nach ganz oben.[16]

Den alten geopolitischen Gegensatz zwischen Hellas/Europa auf der einen und Asien auf der anderen Seite haben die Ostexpansionen des Alexanderreiches, der hellenistischen Königreiche und des Imperium Romanum aufgehoben. Zwar verlängern die antiken Schriftsteller die alte Teilung der Welt in eine neue, in der die Perser der historischen Achaimeniden als Perser unter den Arsakiden und den Sasaniden die extremen Antipoden der römischen Ordnung darstellen. In der Zone der Nachbarschaft beider Großreiche, an Euphrat und Tigris, finden in einer ansonsten als Pax Romana apostrophierten Epoche die meisten Kriege statt. Zugleich war in ihrem Verlauf die zivile und militärische Infrastruktur der Orientprovinzen so weit nach Osten vorgeschoben worden, dass Rom nicht mehr als mediterranes, sondern darüber hinaus als ein Vorderasien umfassendes und integrierendes Weltreich begriffen werden kann.

Das Klischee von den Provinzen als einer Art Sibirien, wo in klimatischen Extremen exotische Sitten herrschen und sich ein Bürger Roms nur in die Verbannung begibt, erstreckt sich von der antiken Literatur bis in Bücher und Filme unserer Zeit: In dem Hollywood-Klassiker Ben Hur (William Wyler 1959) kommt eine Szene vor, wo der von dem Römer Quintus Arrius adoptierte Juda im Kaiserpalast in Rom Pontius Pilatus begegnet. Dieser erkundigt sich nach den Verhältnissen in dem orientalischen Land: «Ist es tatsächlich so schwer, in dem Klima dort zu leben?» und erhält die Antwort: «Nicht für uns Juden!» Zu seinem Freund Quintus Arrius gewandt erklärt Pilatus, er sei verzweifelt; der Kaiser wolle ihn zum Statthalter von Iudaea ernennen, wogegen er lieber nach Alexandreia ginge. Offenbar aber wolle man seine Fähigkeiten der Wüste angedeihen lassen, Propheten und Skorpione scheinen ohne ihn nicht auskommen zu können. Arrius beruhigt ihn: «Denk nicht an den Staub von Iudaea – wenigstens nicht heute Abend!»

Im gesamten Reich hießen Menschen verschiedenster Herkunft, Hautfarben, Muttersprachen, Religionen und Wohnorte «Römer», keineswegs nur Einwohner der Stadt Rom oder des Stammlandes Italien. In der diachronen Perspektive sehen wir die Bezeichnung Anfang des 3. Jahrhunderts übergehen von einer mittlerweile weltweit verstreuten privilegierten Schicht der Inhaber römischen Bürgerrechtes auf alle erwachsenen Einwohner des Reiches. Sie verschwindet weder noch verliert sie ihren Sinn, als mehr als ein Jahrhundert später Konstantinopel Reichshauptstadt wurde, auch nicht, als im theodosianischen Zeitalter ein separates Ostreich entstand und das Westreich noch lange Zeit überlebte. Die Byzantiner heißen in den antiken Quellen wie selbstverständlich «Römer» (manchmal auch «Griechen»). Der «römische» Orient hört mit dem Beginn «byzantinischer» Geschichte nicht auf. Er geht über in eine neue, nichtrömische Welt nach der muslimischen Eroberung im 7. Jahrhundert n. Chr. Erst an dieser Stelle setzen wir unsere Zäsur.

Der römische Orient spielt in vielen Büchern eine Rolle im Kontext der römischen Orientpolitik der Republik- und Kaisergeschichte.[17] Unser Versuch, die Vorgänge und Verhältnisse im Folgenden aus orientalischer Perspektive darzustellen, das heißt, sie auf die lokalen und regionalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die geistigen und religiösen Bewegungen, die Interessen und Konflikte der Akteure in den orientalischen Klientelreichen und Provinzen zu fokussieren, soll einen anderen Blick auf römische Geschichte öffnen und in eine weniger bekannte Welt einführen. Die Darstellung ist grundsätzlich chronologisch, allein im Vorspann über die Kulturen des Alten Orients (Kap. I 1) folgt diese einem regionalen Gliederungsprinzip. Gelegentlich wird auf der diachronen Achse um der thematischen Kohärenz willen zurück- beziehungsweise vorausgeblendet. Kapitelweise fokussiere ich auf Regionen wie Kaukasus, Kappadokien, Ägypten, Syrien, Äthiopien. Eingeblendet sind ‹Miniaturen›: Analysen und Zitate herausragender literarischer Zeugnisse, Biographien und Beschreibungen komplexer archäologischer Relikte. Ich habe mich bemüht, auf der Zeitachse die wesentlichen politischen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Aspekte zu integrieren. Der Akzent liegt auf ‹wesentlich›; eine erschöpfende Darstellung aller diesbezüglichen Themen war im gegebenen Rahmen nicht möglich.

I. Vom Alten Orient bis zur Pax Augusta

1. Die Grundlagen

Sprachen, Völker, Reiche, Götter und Kulturen Vorderasiens, Ägyptens und Arabiens

Für die Darstellung des alten Orients bis hin zu den Römern ist ein kurzer Ausflug in die Geschichte des antiken Weltbildes unumgänglich.[1] Europa und Asien sind uns von den Griechen überlieferte Namen. In den älteren, hieroglyphen-, keil- und linearschriftlichen Zeugnissen kommen sie nicht vor. Aus welchen Sprachen die Wörter stammen, ist unsicher. In der ältesten griechischen Literatur, Hesiods Theogonie und Homers Ilias, ist Europa ein Frauenname.[2] Auch Asie ist ein Frauenname in der Mythologie: So hieß die Frau des Prometheus (Hdt. 4,45). In der frühgriechischen Dichtung kommen Ortsnamen vor: «asiatische Erde» (Hes. Fr. 165 Z. 11 Merkelbach – West), die «asiatische Wiese» (Il. 2,461) oder das «schafenährende Asien» (Archil. Fr. 227 West). Doch findet man bei diesen Autoren noch keine Konzeption von verschiedenen Erdteilen.

Erst der Schriftsteller Hekataios von Milet, der in der zweiten Hälfte des 6. und im frühen 5. Jahrhundert gelebt und eine Erdbeschreibung mit Karte verfasst hat, unterschied zwei große Kontinente, Europa und Asien.[3] Der Begriff Asien hat sich zu dieser Zeit jedoch nur auf den Hellas gegenüberliegenden Teil Vorderasiens bezogen, im Wesentlichen also auf das Festland jenseits der Ägäis, und darüber hinaus auf Syrien, Mesopotamien und Persien. Der Zweiteilung folgte die Dreiteilung, seitdem einige Griechen das im Süden gelegene Libyen als eigenen, nicht zu Europa gehörenden Erdteil auffassten. Schon der im frühen 5. Jahrhundert schreibende Lyriker Pindar aus Boiotien scheint diese Auffassung zu teilen, wenn er die Kyrenaika als «des Festlands dritte Wurzel» bezeichnet (P. 9,10).

Herodot führt die Theorie dreier Erdteile auf «Ionier» zurück, er selbst steht ihr skeptisch gegenüber. Ob Ägypten Libyen oder Asien zugehört, war Gegenstand der Auseinandersetzung, desgleichen die Frage, ob Asien auf der gesamten Länge zwischen Nord- und Südmeer von Europa und Libyen getrennt ist, nämlich durch das Wasser der Ströme Tanais (Don) und Nil, der Meere Maiotis (Asowsches Meer), Pontos (Schwarzes Meer), Ägäis und Mittelmeer mit den Meerengen Hellespont und Bosporus (Hdt. 2,15–17; 4,42). Eine genauere Erkundung des westasiatischen Südrandes zwischen ca. 519 und 512 v. Chr. geht auf die Initiative des Perserkönigs Dareios I. zurück: Der Karer Skylax von Karyanda fuhr von der Indusmündung entlang den arabischen Süd- und afrikanischen Ostküsten bis zum heutigen Suez (Hdt. 4,44).

Die Beziehungen Innerafrikas zur antiken Mittelmeerwelt sind bis heute wenig erforscht. Kurz nach 600 v. Chr. umsegelten Phoinikier im Auftrag des ägyptischen Pharaos Necho II. zwar den afrikanischen Kontinent (Hdt. 4,42–43), man muss sich aber vergegenwärtigen, dass mit Ausnahme von Ägypten und nilaufwärts Teilen des Sudans und Äthiopiens sowie den nördlich der Sahara gelegenen Küstenregionen bis zur Straße von Gibraltar der binnenländische Kontinent – trotz gelegentlicher Sub-Sahara-Expeditionen der Römer – die gesamte Antike, das Mittelalter und die Neuzeit hindurch bis ins 19. Jahrhundert für Europäer nahezu Terra incognita geblieben ist.[4]

Eine geistige Großtat, die Kugelgeographie der Erde, wird dem Eleaten Parmenides des späten 6. und frühen 5. Jahrhunderts zugeschrieben, setzte sich aber erst gut ein Jahrhundert später mit Platon und Aristoteles durch.[5] Die Kontinente wurden seit Eudoxos von Knidos (4. Jh. v. Chr.) auf eine in Zonen unterteilte Erdkugel projiziert.[6] Im Zeitalter des Hellenismus erreichte die Wissenschaft der Geographie bei den Griechen ihr höchstes Niveau. Erhebliche Erweiterung der Kenntnis Asiens war dem Eroberungszug des Makedonen Alexander zu verdanken. Die Flottenfahrt des Admirals Nearchos den Indus flussabwärts in den Ozean und entlang der Südküste Belutschistans bis in den Golf von Persien hatte erstmals Klarheit über die Gestalt Arabiens als Halbinsel gebracht. Für die an der Schule von Alexandreia forschenden Wissenschaftler gewann der indische Subkontinent mit den Flusssystemen Indus und Ganges schärfere Konturen. Doch jenseits der Indike hörte nach allgemeiner Auffassung die bewohnte Welt auf. Von hier bis zu den Säulen des Herakles (an der Straße von Gibraltar) bedeckte die Rückseite der Erdkugel der Ozean.[7]

Die einzige erhaltene Erdbeschreibung aus der Antike verdanken wir dem zu Beginn der Kaiserzeit schreibenden Kleinasiaten Strabon von Amaseia. Sie repräsentiert den Wissensstand der römischen Weltbeherrscher seiner Epoche. Damals war an der porticus Vipsania in Rom eine Karte der bewohnten Welt angebracht.[8] Im 11. Buch beginnt Strabon seine Darstellung Asiens, das er – Eratosthenes folgend – in zwei große Teile untergliedert: einen nördlichen und einen südlichen. Die beiden Teile trennt das Tauros genannte Gebirge, das nach heutigen Begriffen mehrere aufeinander folgende Gebirgszüge in grob westöstlicher Streichrichtung umfasst: den lykischen und kilikischen Tauros in Kleinasien, das kurdische Hochland, den iranischen Zagros und den Hindukusch. Die wahren Dimensionen des Kontinents gegenüber Europa, wie sie Paul Valéry mit einem berühmten Satz in seinem Essay von 1924 zum Ausdruck brachte – «Qu’est-ce donc que cette Europe? C’est une sorte de cap du vieux continent, un appendice occidental de l’Asie.»[9] –, blieben Griechen wie Römern in der Antike unbekannt.

In der lateinischen Nomenklatur Asia haben wir es mit drei verschiedenen Bedeutungen zu tun: Die Römer haben den Namen zwar ebenfalls auf den ganzen bis dahin bekannten Kontinent bezogen. Doch verwenden sie ihn zugleich für die provincia, die früheste auf asiatischem Boden, die weite Teile Westanatoliens umfasste. Hinzu kommt, erstmals bei Strabon, die Unterscheidung der Halbinsel, die einen Teil der heutigen Türkei ausmacht, vom ganzen übrigen Kontinent. Seit Klaudios Ptolemaios, dem Mathematiker und Geographen des 2. Jahrhunderts n. Chr., wird diese Halbinsel dann Klein-Asien genannt.[10]

Den griechischen Ausdruck für ‹Osten›: «von den Aufgängen [der Sonne]» (Hdt 4,8: ap’ anatolon [heliou]), der im Matthäusevangelium 2,1 vorkommt: μάγοι ἀπὸ ἀνατολῶν παρεγένοντο εἰς Ἱεροσόλυμα, übersetzte Luther: «da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem». Ebenso verfuhr er mit dem hebräischen קדם in Gen. 25,6: «nach Osten hin ins Morgenland». Lateinisch Oriens als geographischer Begriff ist zu Beginn der Kaiserzeit in Gebrauch, schon in den res gestae des Augustus (27): «Alle Provinzen, die sich von der Adria aus nach Osten erstrecken […] habe ich wiedergewonnen» (Provincias omnis, quae trans Hadrianum mare vergunt ad orientem […] reciperavi).[11] Schon früh ging er in den Sprachgebrauch der römischen Herrschaft ein, zum Beispiel bei Sueton (Cal. 1), der von Germanicus’ Auftrag berichtet, «Ruhe und Ordnung im Orient wiederherzustellen».[12]

Aus einer Neuordnung der Provinzen in der Spätantike unter den Kaisern Diokletian und Konstantin erwächst schließlich der spezifische lateinische Terminus Oriens. Er definiert eine als Diözese bezeichnete administrative Einheit, die Thrakien, ganz Kleinasien, Syrien, Palästina und Ägypten umfasste (siehe unten S. 305–307). Ebendiese spätantike Konglomeration (mit Ausnahme von Thrakien) liegt unserem Konzept Orient zugrunde. Griechenland gehört nicht dazu, ebenso wenig das Afrika nördlich der Sahara, wohl aber Ägypten.[13] Die Ostgrenze wird je nach Konfliktlage verschoben und verlief, wie wir sehen werden, im Laufe der römischen Kaiserzeit erheblich weiter östlich als die Grenze der Diözese Oriens.

Im Gegensatz zur römischen Geschichte Italiens, Nordafrikas, Spaniens und Galliens beinhaltet die Erzählung über Roms Herrschaft im Orient einen ungleich größer dimensionierten historischen Unterbau. Schriftliche Überlieferungen verschiedener Arten und Sprachen gehen tief in die vorrömische Vergangenheit zurück und öffnen Perspektiven auf Traditionen, deren Erbe noch Jahrhunderte später in den östlichen Provinzen der Römer weiterlebt. Wir wollen in diesem Vorspann keine Abhandlung über den Alten Orient schreiben, sondern nur das Lot in möglichst jeden der Räume dieses Unterbaus senken, um den römischen Orient besser zu verstehen. Dabei kommen vorrangig kulturelle Aspekte zur Sprache.[14]

Erzählbare Geschichte beginnt auf dem Globus in Mesopotamien – etwa dem heutigen Irak.[15] Die Schriftzeugnisse belegen für das 3. Jahrtausend eine sumerisch-semitische Mischkultur. Sumerer und Semiten sind eingewandert, bewohnten in historischer Zeit das Land gemeinsam, sind indes an ihren Sprachen klar zu unterscheiden.[16] Die Sumerer sind ein nichtindogermanisches Volk unbekannter Herkunft.[17] Allem Anschein nach hat dieses Volk die Schrift erfunden.[18] Vorstufen sind Zählmarken und abstrakte Symbole ohne Lautwerte, ein System der Informationsspeicherung in offenkundig wirtschaftlich-administrativen Kontexten.[19] Die lautliche Wiedergabe von Sprache war demgegenüber zunächst sekundär. Die mit keilförmigen Abdrücken im weichen Ton wiedergegebenen Zeichen der entwickelten Keilschrift können drei je verschiedenartige Botschaften signalisieren: Sie können, erstens, ein ganzes Wort ausdrücken, zweitens einen Silbenlaut, drittens Hinweise oder Bestimmungen geben. Die Zeichen dieser dritten Klasse – sogenannte Determinative – tragen keinen Lautwert und dienen nur dazu, bestimmte Wörter, denen sie vorangestellt sind, näher zu erklären: zum Beispiel indem einem Ländernamen das Determinativum für «Land» zugesetzt wird. Die Keilschrift ist ein im Zweistromland noch bis in das hellenistische Zeitalter gebrauchtes Schriftsystem.[20] In römischer Zeit spielt sie, obgleich vereinzelt bis in das 1. Jahrhundert n. Chr. vorkommend, keine Rolle mehr. Wir werden jedoch sehen, dass keilschriftlich verfasste Inhalte bis in die spätantike Literatur hineinwirken.

Seit ältester Zeit herrschten Monarchen. Das von Stadt zu Stadt wandernde Königtum wird in eine mythische Vergangenheit zurückprojiziert und schriftlich fixiert, die sogenannte Sumerische Königsliste. Sie besteht aus zwei großen Abschnitten, einem vor der Sintflut, beginnend mit der Stadt Eridu, und einem nach der Flut, beginnend mit der Stadt Kisch, gefolgt von Uruk usw.[21]

Architektur weist religiöse, politische und wirtschaftliche Zentren aus. Paläste sind weit mehr als Wohnbauten eines Herrschers. Sie sind im abstrakten Sinn als wirtschaftliches und administratives System zu verstehen, und zwar weit über die Epoche des alten Orients hinaus. Erträge aus den Ressourcen des beherrschten Landes ebenso wie aus dem von hier aus organisierten Handel werden gehortet, verwaltet und wieder verteilt. Der verbreitete Typ des Tempels ist die Zikkurat (babylonisch: «hoch aufragend»): Auf einer Lehmterrasse steht ein großer Raum mit Altar, an den sich zu beiden Seiten Komplexe kleinerer Räume anlehnen. Die Zikkurat von Ur wurde von einem König namens Ur-Namma erbaut und misst in der Grundfläche 60 × 45 Meter.[22]

Zwischen 2290 und 2200 v. Chr. setzte sich im südlichen Mesopotamien erstmals eine überregionale Herrschaft durch. Ein König Scharrukin – der Name wird später im Alten Testament als Sargon wiedergegeben – unternahm Kriegszüge zu weiter entfernten Städten, die geplündert und zerstört wurden.[23] Seine Nachfolger zogen nicht wieder ab, sondern kontrollierten das Gebiet, bauten Festungen und Tempel, setzten Verwalter ein, sorgten für die Konzentration von Arbeitskräften auf königlichen Domänen wie für den Ausbau von Bewässerungs- und Verkehrssystemen und führten eine Besteuerung von bis zu 70 Prozent ein. Die mit Abstand wichtigste Stadt hieß Akkade. Ausgerechnet ihre Lage ist unbekannt. Nach Akkade werden die semitischen Sprachen und Kulturen des gesamten Zweistromlandes, Süden wie Norden, als Akkadisch bezeichnet. Das Akkadische gliedert sich in zwei Untergruppen: Assyrisch im Norden, benannt nach der Stadt Assur, und Babylonisch im Süden, benannt nach der Stadt Babylon.[24]

Vom Akkadischen zu trennen sind weitere semitische Sprachgruppen, die man westlich des Zweistromlandes verbreitet findet. Dazu gehört zum einen das Eblaitische, ein Idiom, das erst mit der Entdeckung eines Keilschriftarchivs aus der Zeit um 2400 v. Chr. im Jahr 1975 bekannt geworden ist, und zwar in der Stadt Ebla in Nordsyrien.[25] Zum anderen sind mehrere als Nordwestsemitisch bezeichnete Idiome im syrisch-palästinischen Raum beheimatet: Babylonische Texte des zweiten Jahrtausends nennen «Leute aus dem Westen» (Amurru). Es sind die Ahnen der späteren, biblisch als Kanaanäer bezeichneten Stämme des alten Israel, deren Sprachen untereinander verwandt sind. Ein Sonderfall ist das am weitesten nördlich beheimatete Ugaritisch, benannt nach der Stadt Ugarit.[26] Schließlich kommen, seit etwa 1000 v. Chr., die aus der Arabischen Halbinsel nach Norden wandernden Aramäer hinzu, deren Sprache im Laufe der folgenden Jahrhunderte nicht nur das Akkadische, sondern auch die kanaanäischen Sprachen einschließlich des Hebräischen zurückdrängte, sich schon um 700 v. Chr. zumindest bei schreibkundigen Eliten bis nach Aserbaidschan ausbreitete. Die Perser haben es als Reichssprache verwendet, die noch in Teilen des römischen Orients gesprochen und geschrieben wurde. Die Muttersprache Christi war Aramäisch.[27]

In der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends herrschten die mächtigsten Dynasten im Süden des Zweistromlandes. Sie nannten sich «Könige von Sumer und Akkade». Unter ihnen ragt ein König von Babylon hervor, der uns einen in Stein gemeißelten Gesetzestext überliefert hat – beinahe drei Jahrtausende, bevor die römischen Juristen Grundlagen unseres Rechts geschaffen haben: den berühmten Codex von Hammurapi. Man kann ihn im Louvre in Paris besichtigen. Auf der 2,25 Meter hohen Stele befindet sich oben eine Bildszene mit Hammurapi in Gebetshaltung vor dem sitzenden Sonnengott Schamasch von Sippar, dem Gott des Rechts. Der Keilschrifttext bringt insgesamt 280 Entscheidungen verschiedener Rechtsfälle zur Sprache, von Mord und Totschlag bis hin zu Darlehens- und Zinsgeschäften, Erbschaft und Mitgift. Was das Strafrecht betrifft, so fällt auf, dass die Sanktionen sich an Härte gegenüber einer älteren Satzung wie der des Dāduša von Ešnunna (um 1735 v. Chr.) gesteigert haben. Hammurapi scheint das weniger harte, herkömmliche Strafrecht mit seltenerer Anwendung der Todesstrafe für nicht ausreichend erachtet zu haben. Die Gesellschaft ist geschichtet nach verschiedenen Merkmalen. Sklaven werden mit dem Wort wardum bezeichnet. Über ihnen stehen die Normalbürger. Abgehoben war eine dritte Schicht, deren Angehörige sich als «jemand von Familie» wiedergeben.[28]

In der Zeit Hammurapis beginnt eine reichere Überlieferung sumerisch-akkadischer Literatur.[29] Sie verdankt sich der Abschrifttätigkeit weit verzweigter Schreiberschulen,[30] in denen wesentlich ältere, bis weit ins 3. Jahrtausend hinaufreichende Texte kopiert wurden. Urkundlichen Charakter haben etwa Briefe, Texte rechtlichen Inhalts und vor allem Königsinschriften, in denen sich der Herrscher als Stifter eines Bauwerks oder eines Weihgeschenks äußert. Umfangreich ist die religiöse Literatur, insbesondere die mit der Mantik verbundene,[31] und eine eigentümliche, ebenfalls große Gattung wird als lexikalische oder Listenliteratur bezeichnet: themenspezifische Wortlisten in Sumerisch oder Wortentsprechungen in Sumerisch und Akkadisch.[32] Intellektuelle Spielereien durchziehen die Gattung der Rangstreitdichtungen, wo Kontrahenten wie Sommer und Winter, Dattelpalme und Tamariske oder Hacke und Pflug wortreich miteinander streiten. Was man griechisch Epik nennen würde, ist reich vertreten: Erzählungen über die Entstehung der Welt, von Göttern, Helden und normalen Menschen.[33]

In diesem Kontext steht ein berühmtes Gedicht, das man geradezu als ältestes literarisches Meisterwerk in der Menschheitsgeschichte bezeichnen kann: das Gilgameschepos.[34] Seine Überlieferung ist kompliziert. Altbabylonische und sumerische Bruchstücke auf Tontafeln gehen bis in die Zeit um 1700 v. Chr. zurück. Sie verweisen auf noch ältere sumerische Erzählungen, die von einem legendären König von Uruk handeln, dem Erbauer einer über 9 Kilometer langen Stadtmauer in der Zeit zwischen 2750 und 2600. Um 1100 v. Chr. schuf ein einzelner Dichter ein geschlossenes Epos, das als «Zwölftafelepos» bekannt ist. In diesen etwas mehr als 3000 Versen werden in plastischer Menschlichkeit einfache Individuen wie eine Prostituierte oder eine Schenkin ebenso wie die von Lust, Furcht, Zorn, Dankbarkeit und Freundschaft getriebenen Haupthelden Gilgamesch und Enkidu dargestellt, die das Problem der eigenen Sterblichkeit erfahren und erleiden. Homerkenner und -kennerinnen finden schlagende Parallelen. So hat Gilgamesch manche Ähnlichkeit mit Achilleus, und auch die Nähe von Enkidu zu dem Busenfreund Achills, Patroklos, ist unabweisbar.[35] Wir wissen allerdings nicht, auf welchen Wegen und durch welche Medien dieser ‹Klassiker› einem Homer ganz oder teilweise bekannt geworden ist. Ohne Homer wiederum ist römische Literatur, ja die Literatur orientalisch-abendländischer Traditionen schlechthin nicht zu denken. Da der Stoff der Ilias ebenso wie der der Bibel auf die Urgeschichte der menschlichen Gattung rekurriert, fanden Schriftsteller auch anderer Völker bei ihm die eigenen Ahnen. Der Römer Vergil dichtete ein Epos, das von der Zerstörung Trojas bis in die Vorgeschichte der Gründung Roms mündete, indem es das Schicksal des Trojaners Aeneas schildert. Der Mutter dieses Helden, der Göttin Venus, hatte Jupiter einst prophezeit: His ego nec metas rerum nec tempora pono/imperium sine fine dedi – «Ihnen [den Römern] setze ich weder räumliche noch zeitliche Grenzen, ein Reich ohne Ende habe ich ihnen gegeben!» In der Göttin Venus sah der Römer die Urmutter der Stadtgründer, in Troja die Urheimat des eigenen zur Weltherrschaft bestimmten Volkes.

In der Mittelbabylonischen Epoche, als die meisten der bekannten Könige dem Fremdvolk der Kassiten angehörten (ihre Herkunft ist nicht klar),[36] wird die babylonische Variante des Akkadischen geradezu zu einer Weltsprache des Vorderen Orients, ein «ältestes Beispiel für eine ‹lingua franca›»,[37] und zugleich das dominante Medium von Wissenschaft und Literatur.

Im Norden des Zweistromlandes, am Tigrisufer, lag die Stadt Assur. Man unterscheidet eine Altassyrische von einer Mittel- und einer Neuassyrischen Epoche. Entsprechend der Sumerischen gibt es eine ‹Assyrische Königsliste›, deren frühe Teile ebenfalls fiktiv sind. Die Altassyrische Epoche der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends hat uns eines der bedeutendsten Wirtschaftsarchive der Geschichte überliefert.[38] Um 2000 v. Chr. kam es zu Niederlassungen assyrischer Kaufleute in Ostanatolien. Hauptfundplatz der in akkadischer Sprache und in Keilschrift verfassten über 20.000 Dokumente ist der Ort Kültepe bei Kayseri. Auf einem Hügel lag die Stadt der Einheimischen namens Kaneš, während das Quartier der assyrischen Kaufleute namens Kārum (assyrisch «Kai», «Hafen», «Handelsplatz») sich in der Ebene ausdehnte.[39] Die Texte gewähren Einblicke in das wirtschaftliche Geschehen sowie in die politischen, rechtlichen, sozialen, kulturellen und ethnischen Verhältnisse. Die am Einkauf von Edelmetallen interessierten Assyrer verkehrten nicht allein mit Kültepe-Kaneš, sondern mit weiteren Orten in Anatolien, die allerdings keine so reiche Dokumentation hinterlassen haben. Der Ort bei Kayseri hat seine besondere Bedeutung auch daher, dass hier die frühesten Zeugnisse eines Volkes zu finden sind, das später über große Teile Anatoliens herrschen sollte: Es sind die Hethiter.[40]

Bevor wir uns der Kultur und dem Reich der Hethiter zuwenden, soll die der mesopotamischen vergleichbar frühe Hochkultur am Nil zur Sprache kommen. Nahezu gleichzeitig, gegen Ende des 4. Jahrtausends, kommt auch dort Schriftlichkeit auf. Diese Schrift bewahrt von allen antiken Schriften am stärksten einen ursprünglichen Bildcharakter. Von den Griechen stammt die Bezeichnung «heilige Zeichen»: Hieroglyphen. Die Zeichen repräsentieren ganze Wörter oder einfache bis komplexe konsonantische Lautwerte sowie Determinative. Wie im Zweistromland war auch in Ägypten die Beherrschung der Schrift im Wesentlichen auf professionelle Schreiberschulen beschränkt, mussten doch mehrere Hundert, zum Teil graphisch sehr komplizierte Zeichen erlernt werden.[41] Wahrscheinlich ist auf der Grundlage dieses Systems eine der revolutionärsten Erfindungen des Altertums gelungen: die Alphabetschrift.

Die nach der semitischen Namenfolge Aleph, Beth, Gimel, Dalath etc. als Alphabet bezeichnete Schrift haben etwa im 9. oder frühen 8. Jahrhundert Griechen gelernt, die – vermutlich in Nordsyrien – in Kontakt mit Semiten standen. Von einem griechischen Uralphabet aus dem Orient verbreiteten sich über den Seeverkehr in großer Geschwindigkeit Regionalalphabete weit in den Westen bis zu den Griechen Italiens. Eines von ihnen gelangte über die Etrusker zu den Römern und ist der Urahn unserer auf dem Globus verbreiteten, ja dominanten Schrift. Dieser Vorgang hat einer raumgreifenden Ausdehnung griechischer Kultur einen ersten Boden bereitet.[44] Und diese Kultur sollte die den gesamten römischen Orient beherrschende werden, bis hin zur islamischen Eroberung im 7. und darüber hinaus bis zum Fall Konstantinopels im 15. Jahrhundert.

Ägypten ist ein gewaltiges Thema.[45] Die alten Ägypter gehören der semitischen Sprachfamilie an, ihre Sprache ist jedoch mit afrikanischen Elementen durchmischt und wird als «semito-hamitisch» bezeichnet.[46] Es ist kaum zufällig, dass die Hochkultur dieses Volkes auf dem afrikanischen Kontinent wie im benachbarten Mesopotamien in einem von großen Strömen durchflossenen Land entstand, in dem die Bewässerung für den Feldbau günstige Voraussetzungen besaß. Das zwischen zwei Wüsten sich nicht sehr weit hinbreitende Niltal nördlich des ersten Katarakts zeichnet sich durch außergewöhnliche Fruchtbarkeit aus, was noch der römischen Provinz Aegyptus ihre erstrangige wirtschaftliche Bedeutung sicherte.[47]

Eigentliche Geschichte beginnt auch hier mit schriftlich überlieferten, teils mythischen, Königsnamen. Die Untergliederung in Altes, Mittleres, Neues Reich mit Zwischenperioden ist modern. Die Rekonstruktion der Namen und Regierungsdaten der Pharaonen aus unterschiedlichen Quellen ist ein komplexes Forschungsfeld. Im 3. Jahrhundert v. Chr. verfasste ein ägyptischer Priester namens Manetho von Sebennytos eine Geschichte Ägyptens mit zahlreichen Herrschernamen, die er in Dynastien einteilte, 31 an der Zahl bis auf Alexander den Großen.[48] Die beiden frühesten Dynastien fallen in die Zeit ca. 3100–2700 v. Chr., erster Pharao war der Legende nach Meni oder, wie Herodot (2,99) ihn nennt, Min. Ihm gelang angeblich die Vereinigung von Ober- und Unterägypten. Er soll nach über 60 Regierungsjahren von einem Nilpferd geschnappt worden und so umgekommen sein.[49] Sein Name ist mit keinem der sonst bezeugten acht Herrschernamen der ersten Dynastie identisch. Die Gräber dieser Herrscher befinden sich in This bei Abydos. Die Könige der zweiten Dynastie (mit Ausnahme der beiden letzten) sind in Saqqara bei Memphis bestattet. Mit der dritten Dynastie lässt man das Alte Reich beginnen (2700–2150), auch die Pyramidenzeit genannt, in der nacheinander in Saqqara, Dahschur und Gizeh die großen Grabmonumente der frühen Pharaonen errichtet wurden.[50]

In dem zentralistischen Herrschaftssystem entsteht eine komplexe Verwaltung mit verschiedenen Ressorts und Schreiberschulen. Das Reich wird in 42 abgabepflichtige Gaue unterteilt. Es ist eine wirtschaftliche Blütezeit, in der militärische Kampagnen bis nach Nubien vorstoßen. Doch Herrschaften einzelner Gaufürsten schwächen die Monarchie. Am Ende kommt es zum Zerfall der Zentralmacht, und eine Zwischenperiode, die 7.–11. Dynastie (2150–1980), ist durch zahlreiche unabhängige Kleinstaaten gekennzeichnet. Schließlich konkurrieren zwei Machtzentren, Herakleopolis und Theben, Letzteres obsiegt. Daraufhin gelingt es einem Mentuhotep II. das Reich wieder zu vereinen.[51]

Mit der Wiederherstellung eines geordneten Staatswesens am Beginn des Mittleren Reiches verbindet man den Namen des Amenemhet I., der die Hauptstadt von Theben nach Itj-Tawy (bei El-Lisht) verlegte. Es entstanden neue Königspyramiden, daneben Gräber für Familienangehörige und hohe Beamte sowie Felsgräber der Gaufürsten. Zur gleichen Zeit blühten Literatur und Kunst, und die ägyptische Kultur strahlte aus auf Libyen im Westen, Nubien im Süden und Syrien-Palästina im Norden.[52] Erneut jedoch bereiten asiatische Invasoren dieser Blüte ein Ende, und in der 14.–17. Dynastie, zwischen ca. 1660 und 1540, wird das nördliche Nilland zu großen Teilen von Fremden beherrscht, die bei Manetho Hyksos heißen. Ihre Residenz lag im östlichen Nildelta bei Tell el-Dabʾa. Nur im oberen (südlichen) Land herrschten weiterhin ägyptische Könige.

Nach Vertreibung der Hyksos beginnt das Neue Reich mit der 18.–20. Dynastie (1540–1077).[53] Das in mehreren Feldzügen wiedergewonnene Gebiet erstreckt sich vom Sudan bis an den Euphrat in Syrien. Ägypten steigt zur eigentlichen Großmacht des Orients auf, dem insbesondere hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Ressourcen keine andere ebenbürtig ist. Gegner im Norden sind die Hethiter, deren Reichszentrum im zentralen Anatolien lag. Felsgräber der Pharaonen entstehen in Mittelägypten im «Tal der Könige», darunter das 1922 von Howard Carter entdeckte, noch ungestörte Grab des Tutanchamun. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts besetzt eine Frau den Königsthron von Ober- und Unterägypten: Hatschepsut. Die Residenzen wechseln von Theben nach Amarna und Per-Ramses ins östliche Nildelta.

Die herausragende Figur der Amarnazeit ist Amenophis IV. oder Echnaton (1353–1336). Er hat die neue Residenz in Amarna gegründet und dem von ihm favorisierten Sonnengott geweiht. Verheiratet war er mit jener durch ihr Porträt berühmten Nofretete, deren Name «die Schöne ist gekommen» bedeutet.[54] In Amarna wurde ein großes Archiv der Korrespondenz mit auswärtigen Herrschern gefunden, mit Königen der Hethiter, des Zweistromlandes und Syrien-Palästinas. Ein Pharao schreibt an den Stadtkönig von Gezer im südlichen Palästina, er sende zu ihm seinen «Aufseher der Ställe und Truppen» mit dem Auftrag, 40 schöne Frauen als Mundschenkinnen zu schicken.[55] Die Briefe auf Tontafeln sind in der damaligen Lingua franca, dem Akkadischen, und in Keilschrift verfasst. Nur zwei der Briefe sind in Hethitisch, einer in Hurritisch geschrieben.[56]

Zu einem weiteren epochalen Herrscher stieg 1292 ein Offizier namens Ramses auf, der erste von elf Königen dieses Namens. Die Ägyptologie spricht von der Ramessidenzeit. Schon zur Zeit Echnatons hatte der erfolgreiche Feldzug des Hethiterkönigs Šuppiluliuma gegen das Mitanni-Reich in Nordsyrien eine neue Lage geschaffen.[57] Als Ramses II. Pharao war (1279–1213),[58] standen die Hethiter den Ägyptern als den Beherrschern des Südens in Syrien direkt gegenüber. Die geopolitische Bedeutung Syriens als Scharnier zwischen Vorderasien und Mittelmeer begann, die Geschichte antiker Großreiche zu bestimmen: Später sollten in dieser Zone Assyrer, Perser und Makedonen, Seleukiden und Ptolemaier, Römer, Parther, Sasaniden und Sarazenen um Herrschaft ringen. Eine Schlacht bei der Stadt Qadeš in der Gegend des heutigen Homs im 5. Jahr von Ramses II. (Mai 1274), die offenbar mit einem Sieg der Hethiter endete, brachte keine Veränderung. Nordsyrien blieb in der Hand der Hethiter, der Süden ägyptisch. Im November 1259 schloss man einen Friedensvertrag, den ältesten der Weltgeschichte, dessen Wortlaut in Hieroglyphen auf Tempelwänden in Ägypten und in babylonischer Sprache aus dem Archiv der hethitischen Hauptstadt bei Boğazköy (in der Türkei) erhalten ist. Eine Kopie schmückt die Eingangshalle der Vereinten Nationen in New York.[59]

Unter dem dritten Herrscher des Namens Ramses (1184–1153) wird vom Einfall der Seevölker berichtet, die von den Ägyptern gestoppt und nach Palästina zurückgedrängt werden können.[60] Doch von da an geht es auch in Ägypten bergab. Eine weitere Zwischenperiode mit der 21.–25. Dynastie (1076–723) bringt eine erneute Spaltung des Landes, wo im Nildelta Könige und in Theben Priester herrschen. Landfremde aus Libyen etablieren sich in Bubastis, weitere Kleinkönige in Sais und Herakleopolis, aus dem Süden fallen afrikanische Kushiten ein und dringen bis nach Memphis vor.[61]

Eine ausgesprochene Zäsur ist die Invasion der Assyrer im Jahr 664, die in der Plünderung von Theben gipfelt. Nach dem Abzug der Assyrer etabliert sich in Sais ein Lokalherrscher namens Psammetichos und gründet eine neue Dynastie. Er regiert von 664 bis 610. Seine militärische Macht stützt sich auf zahlreiche ausländische Söldner, Griechen und Karer aus dem Südwesten Kleinasiens.[62] Das Nilland wird 525 v. Chr. von dem Perser Kambyses erobert und für mehr als ein Jahrhundert von persischen Satrapen regiert.[63] Zwischen 404 und 343 vermag es sich von der persischen Oberhoheit zu lösen, die erneuerte persische Satrapie endet im Jahr 332 mit der Invasion des Makedonen Alexander.

Die welthistorische Bedeutung der altägyptischen Kultur liegt auf vielen Gebieten, besonders aber in der Religionsgeschichte begründet. Die Religion der Ägypter hat weder einen Stifter noch ein Buch. Sie kennt viele menschen- und tiergestaltige Götter – für den römischen Satiriker Juvenal (1. Jahrhundert n. Chr.), der Ägypten aus eigener Anschauung kannte, eine fremde, abstoßende Welt (Iuv. 15,1–13, übers. Adamietz):

«Wer weiß nicht, Volusius Bithynicus, welche Ungeheuer Ägypten in seinem Wahn verehrt? Das Krokodil betet diese Gegend an, jene erbebt vor dem mit Schlangen gesättigten Ibis. Golden erglänzt das Bildnis des heiligen geschwänzten Affen […]. Dort verehren ganze Städte die Katzen, hier einen Flussfisch, dort den Hund, niemand Diana.

Lauch und Zwiebel zu entweihen und mit den Zähnen zu kauen ist Sünde: welch religiöses Volk, dem diese Götter in den Gärten wachsen! Der wolltragenden Tiere enthält sich jeder Tisch, Sünde ist es dort, das Junge einer Ziege zu schlachten: Menschenfleisch zu essen ist erlaubt.»[64]

Im 14. Jahrhundert tritt mit Amenophis IV. (Echnaton) erstmals der Versuch auf, einen einzigen Gott zum alleinigen zu erheben.[65] In der benachbarten Kultur der Israeliten setzt sich später die Vorstellung der Alleinherrschaft eines einzigen Gottes – zunächst freilich nur eines Gottes Israels – endgültig durch und mündet in die monotheistischen Weltreligionen des Christentums und des Islam. Die im Jahreszyklus mit dem Sothisgestirn gleichzeitige, den Boden bewässernde Nilschwelle hat bei den Ägyptern den solaren Kalender von 365 plus ein Viertel Tage etabliert, den später Caesar zur Grundlage seiner am 1. Januar 45 v. Chr. eingeführten Kalenderreform machte (julianischer Kalender).

Die Griechen hielten die Ägypter für das älteste Volk. Antike Schriftsteller von Herodot bis zu den Kirchenvätern befassten sich eingehend mit dieser Kultur.[66] Im Gegensatz zu den Schriftquellen der mesopotamischen und anatolischen Orientalistik verfügt die moderne Ägyptologie neben Steininschriften über ein reiches Repertorium an Texten auf Papyrus, einem Beschreibstoff, der vorwiegend aus einer in Ägypten beheimateten Pflanze gewonnen wurde und sich fast nur in dessen Klima gehalten hat. Religion, Pyramiden, Tempel, der Reichtum der Bildkunst faszinieren bis heute und locken Millionen von Besuchern nach Ägypten und in die großen Sammlungen des Louvre und des British Museum. Noch lange nach den Dynastien der Pharaonen besteht unter den nachfolgenden Fremdherrschaften eine ausgeprägte religiöse und kulturelle Eigenart des Landes weiter. Sie wird auch unser Bild der römischen Provinz Aegyptus kennzeichnen, und sie bleibt wahrnehmbar bis in die Zeit der arabischen Eroberung und darüber hinaus.[67]

Hethitische Geschichte[68] ist eine Entdeckung der Neuzeit, die sich auf Textfunde von Tontafeln und Steininschriften gründet; eine der bedeutendsten und am besten erhaltenen Urkunden wurde in eine Bronzetafel eingraviert gefunden (Abb. 2). Man hat diese Inschriften erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts lesen und verstehen können. Die uns aus der literarischen Überlieferung bekannten antiken Schriftsteller wussten von den Hethitern nichts. Der Volksname wurde nach dem Untergang des Großreiches noch im frühen ersten Jahrtausend auf Bewohner der Taurosregion und Nordsyriens übertragen, und auf diese bezieht sich die Namensform Hethiter im Alten Testament. Ausdehnung und Komplexität aber der althethitischen Kultur fast ganz Anatoliens kommen erst mit den immer zahlreicheren Ausgrabungen ans Licht. Die wichtigsten Tontafelarchive befinden sich in der Hauptstadt Ḫattuša bei dem heutigen Dorf Boğazköy, etwa 160 Kilometer östlich von Ankara. Kleinere Archive hat man bisher auch an anderen Stellen des Reiches gefunden. Quellen zur hethitischen Geschichte sind auch außerhalb Kleinasiens zutage getreten, vor allem in Ägypten, aber auch in Nordsyrien und Mesopotamien.

Die Schriftfunde von Ḫattuša beinhalten sieben verschiedene Sprachen: außer Hethitisch und den schon erwähnten Sprachen des Zweistromlandes, Akkadisch und Sumerisch, vier weitere. Hattisch sprach das Volk der Hatti, der älteren Einwohner des Landes um Ḫattuša. Ihr Name ging auf die Hethiter über, die man fortan als die «Leute von Hatti» bezeichnete. Mit Hethitisch verwandt sind das Palaische, das im Nordwesten beheimatet, und das Luwische, das in Südkleinasien verbreitet war. Man klassifiziert diese Idiome als asianische oder anatolische Familie des Indogermanischen. Außerhalb dieser Familie steht die Sprache der Hurriter. Ihre mutmaßliche Heimat war Ostanatolien, das armenische Bergland. Von dort drangen die Hurriter gegen Süden und Südwesten vor und begründeten im 16./15. Jahrhundert verschiedene Reiche in Nordmesopotamien und Nordsyrien.

Abb. 2:  Bronzetafel mit Staatsvertrag zwischen Tudḫaliya IV. und Kurunta von Tarḫuntassa, Museum für anatolische Kulturen, Ankara. Die Tafel ist zur Zeit in dem Museum im neuen Flughafen von Istanbul ausgestellt.

Auch die hethitische Geschichte wird nach dem Vorbild der ägyptischen in drei Perioden des Alten, des Mittleren und des Neuen Reiches eingeteilt. Die ältesten Spuren von Hethitern führen uns, wie oben erwähnt, nach Kārum Kaneš. Es soll von einem gewissen Pitḫana erobert worden sein. Als ursprüngliche Heimat frühester Stammväter werden eine Stadt Zalpa am Schwarzen Meer und eine Stadt Kussara genannt. Die moderne Forschung geht vor allem auf Grund sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse von einer Einwanderung aus Asien aus.

Die Anfänge des nordanatolischen Reichszentrums von Ḫattuša reichen ins 18. Jahrhundert zurück: Diese Stadt der Hatti war in der Kārum-Zeit ebenfalls ein assyrischer Handelsplatz, wo neuerdings auch ein Quartier mit großen Vorratsräumen, Pithoi, Kupferbarren, Siegeln und einem altassyrischen Brief gefunden wurde.[69] Um 1730 v. Chr. hat ein gewisser Anitta sie erobert und zerstört. Sie ist aber gleich darauf weiter besiedelt worden. Später machte ein Herrscher mit dem Namen Labarna den Ort zur Hauptstadt und nannte sich selbst Ḫattusili, «der Mann von Ḫattuša». Sein Nachfolger Mursili I. eroberte in Nordsyrien Ḫalab (Aleppo), und es gelang diesem sogar für kurze Zeit, das gut anderthalbtausend Kilometer entfernte Babylon einzunehmen. Der Vorstoß in ein von den eigenen Gebieten weit entferntes, durch Steppe und Wüste getrenntes Zweistromland überdehnte die militärischen Kräfte ebenso wie mehr als anderthalb Jahrtausende später die Expeditionen des römischen Feldherrn Crassus oder der Kaiser Traian und Julian. Der Landgewinn kollabierte nach einem schwierigen Rückzug.

Das Mittlere Reich, im Wesentlichen die Zeit des 15. und des beginnenden 14. Jahrhunderts, ist eine dunkle Periode. Während im Südosten die Hegemonie der Mitanni bis nach Kizzuwatna (Kilikien) ausstrahlte, trat im Südwesten Kleinasiens als konkurrierende Großmacht das Reich von Arzawa auf, das diplomatische Beziehungen zu Ägypten unterhielt. Noch weiter im Westen waren Auseinandersetzungen mit feindlichen Lokalmächten zu bestehen. Zu ihnen gehörten die Aḫḫijawa, vielleicht Griechen der mykenischen Epoche. Denn der Name Aḫḫijawa scheint dieselben Leute zu meinen, die bei Homer Achaioi heißen.[70] Zwar konnte ein König Tudḫaliya I. im Südosten wie im Westen diplomatische Erfolge und militärische Gebietsgewinne erzielen, doch Einfälle eines räuberischen Nordvolkes namens Kaškäer stürzten das Reich erneut ins Chaos.

Eine dauerhafte Konsolidierung erfolgte im Neuen Reich, um die Mitte des 14. Jahrhunderts, auch Großreichszeit genannt. Ein Herrscher namens Šuppiluliuma gewann die Kontrolle über weite Teile Anatoliens zurück und fand erneut den Weg nach Nordsyrien, wo die Kämpfe den Untergang des hurritischen Mitannireichs einleiteten. Die Hethiter traten damit in den Kreis der Großmächte ein und gerieten, wie oben geschildert, in Konflikt mit Ägypten. Die Hauptstadt Ḫattuša erreichte den Höhepunkt ihrer Ausdehnung und baulichen Ausstattung mit Palast, Tempeln, Depots, Befestigungen mit Toren und Türmen.[71]

Auf Šuppiluliuma I. folgten noch acht Könige, bis der letzte, Šuppiluliuma II., in einer in ihren einzelnen Abläufen undurchsichtigen ‹Götterdämmerung› unterging. Das Ende des hethitischen Großreiches ereignete sich an mehreren Orten um 1200. Ḫattuša wurde zerstört. Als im engeren Sinne verantwortlich scheint jene Völkerbewegung zu sein, die sich vom Balkan her nach Osten bewegte, der sogenannte Seevölkersturm.[72