Rory Shy, der schüchterne Detektiv - Das Verschwinden der Amanda Kent (Rory Shy, der schüchterne Detektiv, Bd. 4) - Oliver Schlick - E-Book

Rory Shy, der schüchterne Detektiv - Das Verschwinden der Amanda Kent (Rory Shy, der schüchterne Detektiv, Bd. 4) E-Book

Oliver Schlick

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Beschreibung

Originell, spannend, witzig: Band 4 der etwas anderen Krimireihe für Mädchen und Jungen ab 10 - prallvoll mit feinem intelligentem Humor Der berühmte schüchterne Detektiv Rory Shy wird beauftragt, das Verschwinden einer bekannten Krimi-Autorin zu untersuchen. Sehr zur Aufregung seiner 12-jährigen Assistentin Matilda, die ein großer Fan von Amanda Kents Büchern ist. Doch was steckt hinter dem Fall? Hat der Verleger Bodo Kiesewind seine Finger im Spiel, in dessen Landhaus Amanda Kent sich zum Zeitpunkt ihres Verschwindens aufhielt? Unterstützt werden Rory und Matilda bei ihren Ermittlungen wie immer von dem hasenfüßigen Cockerspaniel Dr. Herkenrath. Ein herrlich witziger und wunderbar schüchterner Krimi - unterhaltsam und bezaubernd

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Über das Buch

Der berühmte schüchterne Detektiv Rory Shy wird beauftragt, das Verschwinden einer bekannten Krimi-Autorin zu untersuchen. Sehr zur Aufregung seiner 12-jährigen Assistentin Matilda, die ein großer Fan von Amanda Kents Büchern ist. Doch was steckt hinter dem Fall? Hat der Verleger Bodo Kiesewind seine Finger im Spiel, in dessen Landhaus Amanda Kent sich zum Zeitpunkt ihres Verschwindens aufhielt? Unterstützt werden Rory und Matilda bei ihren Ermittlungen wie immer von dem hasenfüßigen Cockerspaniel Dr. Herkenrath.

Ein herrlich witziger und wunderbar schüchterner Krimi!

Ode an die schüchterne Schöne

Du gehst stets auf Zehenspitzen,

das Haupt gesenkt, mit scheuem Blick.

Wo rohe Zeitgenossen lärmen,

ziehst du dich bald verschämt zurück.

Ein Flüstern nur ist deine Stimme,

so zart ist deiner Wangen Rot.

Wenn du sprichst, tust du es lächelnd,

denn Höflichkeit ist dir Gebot.

Voller Sanftmut ist dein Wesen,

voll wunderschöner Schüchternheit.

Du singst deine Weise leise

und ohne jede Eitelkeit.

Oh, schüchterne Schöne, wie du mich verzauberst.

Oh, schüchterne Schöne, wie du mich betörst.

Doch nie wirst du davon erfahren,

ich schweige still, mein Mund bleibt zu.

Ich kann dir nicht davon erzählen,

weil ich so schüchtern bin wie du.

Johann-Christian Rotwerd

Schüchterner Dichter der deutschen Romantik,

den es vielleicht gegeben hat.

Vielleicht aber auch nicht.

Inhalt

Ein Armbruch

Pssst!

Eine Autorin verschwindet

Herbsterheck

Hauen und Stechen

Eine seltsame Bemerkung

Eine Demonstration detektivischer Kunst

Brutus

Der einsame Wolf

Bunte Pillen und ein Angebot

Zwei Ausrutscher

Zu Hause bei Inspector Joyce

Fleischwurstverbot

Eine neue Strategie

Mangeln und Quetschen

Wüste zu Wasser

Ob Lug, ob Trug, ob Gaunerei

Tee und Gurkensandwiches

Ballade vom schüchternen Jägersmann

1

Ein Armbruch

Frau Gleine-Wanz hat doch nicht mehr alle Blätter am Baum! Da kommt die Frau in der letzten Schulstunde vor den Herbstferien allen Ernstes mit einem unangekündigten Mathe-Test um die Ecke! Wer rechnet denn mit so was, einen Tag vor den Ferien? Ich war völlig unvorbereitet und habe gerade mal die Hälfte der Aufgaben geschafft. Das wird bestenfalls und mit ganz viel unverschämtem Glück eine knappe Vier.

Als ich durch das Schultor stapfe und den Nachhauseweg antrete, bin ich auf hundertachtzig. Ich schimpfe laut vor mich hin und stoße üble Verwünschungen gegen meine Mathelehrerin aus. Ein älteres Paar, das mir auf der Straße entgegenkommt, betrachtet mich mit befremdeten Blicken, und mir wird klar, dass ich mich aufführe wie ein wildgewordenes Rumpelstilzchen.

Krieg dich mal wieder ein, Matilda!, sage ich mir und beschließe, einen kleinen Umweg durch den Flora-Park zu machen. Frische Luft soll ja eine beruhigende Wirkung aufs Gemüt haben.

Während ich über die laubbedeckten Wege des Parks spaziere, gelingt es mir, mich halbwegs abzuregen. Und als ich wieder klar denken kann, muss ich mir eingestehen, dass ich nicht so sehr auf Frau Gleine-Wanz, sondern vor allem auf mich selbst sauer sein sollte. Hätte ich gestern, statt in einem Krimi zu schmökern, ein bisschen was für die Schule getan, müsste ich jetzt keinen Frust schieben.

Nach und nach verraucht mein Ärger, stattdessen überkommt mich beim Anblick der rot und gelb gefärbten Blätter ein Hauch von herbstlicher Schwermut.

Ich bin mehr der Sommertyp und mag es knackig warm. Wenn die Blätter bunt werden, das Freibad schließt und die Tische und Stühle von der Terrasse des Café Puderzucker verschwinden, stimmt mich das immer wehmütig. Weil ich dann weiß, dass es mit den Picknicks im Grünen, den langen Abenden im Garten und dem Barfußlaufen für dieses Jahr vorbei ist. Andererseits ist der Herbst die perfekte Jahreszeit, um sich gemütlich unter eine Wolldecke zu kuscheln, ein Buch zu lesen und dabei gelegentlich an einem Kakao mit Sahne zu nippen, während der Regen gegen die Scheiben prasselt. Das hat auch was. Man könnte sagen, ich bin, was meine Meinung zum Herbst angeht, zwiegespalten.

Frau Zeigler, unsere Haushaltshilfe, hat eine eindeutige Meinung zum Herbst. Sie kann ihn nicht ausstehen.

»Ständig dieses feuchte Dreckswetter, bei dem die ganze Welt erkältet ist. Ein einziges Gerotze und Geschniefe. Und überall liegen Blätter unnütz in der Gegend rum. Letztes Jahr ist mein Raimund auf nassem Laub ausgerutscht, hat sich den Knöchel gebrochen und war acht Wochen außer Gefecht. Und während der Herr bequem auf dem Sofa lag – wer durfte da jeden Morgen mit dem Laubbläser ran? Ich! Als hätte ich nichts Besseres zu tun gehabt. Der Herbst kann mir gestohlen bleiben!«

Würde man hingegen einen Schüchternen nach dem Herbst fragen, würde er sich vor (stiller) Begeisterung gar nicht mehr einkriegen. Der Herbst ist die Lieblings-Jahreszeit aller Schüchternen. Vermutlich deswegen, weil er im Vergleich zum mürrischen Winter ausgesprochen höflich und im Gegensatz zu Frühling und Sommer reichlich zurückhaltend daherkommt.

Ich verfüge über eine lebhafte Fantasie und kann mir anschaulich vorstellen, was Jahreszeiten sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Der Winter würde schlecht gelaunt knurren: »Gehen Sie weiter, bevor Sie sich Frostbeulen holen. Hier gibt es nichts zu sehen.« Der Frühling würde fanfarengleich frohlocken: »Gleich geht es los, Leute!« Und der Sommer würde wie ein durchgeknallter Größenwahnsinniger durch die Gegend brüllen: »Ich bin da! Lassen wir es krachen, Freunde!«

Und der Herbst? Knurrt nicht und frohlockt nicht und brüllt nicht, sondern haucht schüchtern und höflich: »Das, äh, war es dann für dieses Jahr. Wir bedanken uns für Ihr, räusper, Interesse und hoffen sehr, dass es Ihnen gefallen hat. Als kleines Dankeschön für Ihre Aufmerksamkeit erlaube ich mir, Sie noch eine kleine Weile mit ein paar unaufdringlichen Sonnenstrahlen und, ähm, bunten Blättern zu erfreuen. Genießen Sie es. Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

Abgesehen davon, dass Schüchterne eine Seelenverwandtschaft zum Herbst empfinden, gibt es auch ganz praktische Gründe, warum diese Jahreszeit bei ihnen beliebt ist: Laub bedeckt die Gehsteige und dämpft das Geräusch allzu lauter Schritte, und sowohl der herbstliche Morgennebel als auch die früh einsetzende Abenddämmerung verbergen schüchterne Spaziergänger vor den neugierigen Blicken anderer Menschen.

Und wieso kann ich mit so viel Fachwissen über Schüchterne glänzen? Ganz einfach. Weil ich vor einem dreiviertel Jahr Rory Shy, den berühmten schüchternen Detektiv, und seine nicht minder schüchterne Freundin Charlotte Sprudel kennengelernt habe. Dank dieser Bekanntschaft hatte ich ausreichend Gelegenheit, Schüchterne und ihr schüchternes Verhalten zu studieren.

Kleine Auswahl gefällig?

Wenn ein Schüchterner samstags oder sonntags in einem Fahrstuhl stecken bleibt, wartet er bis Montagmorgen, bevor er den Alarmknopf drückt. Weil er es als unhöflich und aufdringlich empfände, den Fahrstuhl-Mechaniker am Wochenende zu stören.

Steht bei Schüchternen der Dachstuhl in Flammen, fragen sie sich erst mal, ob das wirklich ein ausreichender Grund ist, die Feuerwehr zu rufen. Und wenn sie sich dann doch dazu durchringen, klingt das in etwa so: »Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich befürchte, bei mir brennt es. Also … nur ein bisschen. Ist wahrscheinlich gar nicht so schlimm. Aber könnten Sie sich die Sache vielleicht mal ansehen? Nur, falls es keine Umstände macht. Obwohl … vielleicht geht das Feuer ja auch von selbst aus, wenn ich noch ein bisschen warte. Dann, ähm, müssten Sie sich gar nicht erst bemühen.«

Schüchterne sind zu schüchtern, um sich zu beschweren, wenn der Ober im Restaurant zu wenig Wechselgeld herausgibt. Sie schlürfen mit Vorliebe ein Gebräu, das bei mir nur schüchterner Kaffee heißt, weil es so dünn ist, dass man durchsehen kann. Und wenn man zwei schüchterne Menschen bei einem Gespräch beobachtet, tut das beinah körperlich weh. Weil Unterhaltungen zwischen Schüchternen vor allem aus nicht beendeten Sätzen, verlegenem Räuspern und verschämtem Schweigen bestehen.

Ich bin das Gegenteil von schüchtern, hätte keinerlei Skrupel, einen Fahrstuhl-Mechaniker am Wochenende aufzuscheuchen, trinke Kaffee, durch den man nicht durchsehen kann, spreche viel und schnell und bin, wenn ich erst mal Fahrt aufgenommen habe, in meinem Redefluss kaum zu stoppen.

Was sogar Frau Zeigler, die selbst ein starkes Mitteilungsbedürfnis hat, mitunter entnervt stöhnen lässt: »Herrgott, Matilda! Gibt es bei dir irgendwo einen Knopf zum Ausschalten?«

Vielleicht ist es aber gerade die Kombination von unschüchterner Amateurdetektivin und schüchternem Profidetektiv, die Rory und mich als Ermittler-Duo so erfolgreich macht. Richtig gehört: Ermittler-Duo. Seit ich dem schüchternen Detektiv zum ersten Mal begegnet bin (und ihm aus einer üblen Klemme geholfen habe), arbeiten wir zusammen. Gemeinsam haben wir bereits drei Fälle aufgeklärt.

Als minderjährige Nachwuchsdetektivin habe ich natürlich mit einem ganz speziellen Problem zu kämpfen: Erziehungsberechtigte sehen es in der Regel nicht gerne, wenn ihre zwölfjährige Tochter Dieben, Erpressern oder sonstigen Kriminellen hinterherspioniert. Weswegen ich immer darauf bedacht sein muss, dass Papa und Mama von meiner Detektivarbeit nichts mitbekommen. Dabei spielt mir ein glücklicher Umstand in die Hände: Meine Eltern, Thomas und Kristina Bond, sind Tierfilmer. Ein Beruf, der es mit sich bringt, dass sie häufig unterwegs sind. Während der Abwesenheit von Papa und Mama ist es so geregelt, dass Frau Zeigler, die eigentlich nur zweimal die Woche kommt, bei uns einzieht und auf mich aufpasst.

Die Frau ist ein Phänomen: einerseits so misstrauisch, dass sie jede Spinatpackung nachwiegt, um sicherzugehen, dass sie auch exakt zweihundert Gramm Rahmspinat enthält. Auf der anderen Seite so leichtgläubig, dass es kaum zu fassen ist.

Um mit dem schüchternen Detektiv arbeiten zu können, habe ich ihr in der Vergangenheit die abwegigsten Geschichten erzählt: dass ich bei einem Passionsspiel mitwirken, Krokodile im Aqua-Zoo füttern oder als Aushilfe im Café Puderzucker jobben würde. Frau Zeigler hat alle meine Ausreden geschluckt. Was – wenn ich das mal so unbescheiden sagen darf – nicht ausschließlich an ihrer Leichtgläubigkeit lag, sondern auch daran, dass ich ein ausgesprochenes Talent für frei erfundene, aber logisch klingende Erzählungen habe.

So war es mir möglich, in den vergangenen Weihnachts-, Oster- und Sommerferien mit dem schüchternen Detektiv auf Verbrecherjagd zu gehen. Und natürlich habe ich gehofft, dass wir diese schöne Tradition auch in den Herbstferien fortsetzen würden.

Daraus wird aber nichts. Weil meine Eltern diesmal während der Ferien zu Hause sein werden.

Momentan befinden sie sich noch auf den Färöer-Inseln. Dort sind sie schon seit drei Wochen, um eine Dokumentation über die Vogelwelt der Färöer zu drehen und Sturmschwalben, Trottellummen und Papageientaucher zu filmen. Während dieser Zeit hat Frau Zeigler mal wieder die Stellung gehalten – aber am Sonntag werden meine Eltern zurückkommen, um mit mir die Herbstferien zu verbringen.

Was ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehe. Wenn man Eltern hat, die häufig abwesend sind, freut man sich natürlich über jede Minute, die man gemeinsam mit ihnen verbringen kann. Auf der anderen Seite bedeutet es, dass ich bedauerlicherweise nicht mit dem schüchternen Detektiv ermitteln kann und meine kriminalistische Tätigkeit ruhen lassen muss.

Das ist jedenfalls Stand der Dinge, als ich unser Grundstück erreiche, den Vorgarten durchquere und die Haustür aufschließe.

Aber erstens kommt es immer anders und zweitens als man meistens denkt.

Ich bin noch nicht richtig in der Diele, als mir Doktor Herkenrath auch schon freudig hechelnd und mit einem aufgeregten Guck mal, was ich kann-Blick entgegengelaufen kommt. Er dreht sich dreimal um sich selbst, hüpft nach rechts, hüpft nach links, vollführt erneut eine Drehung, macht zwei ungelenke Luftsprünge, versucht auf den Hinterbeinen zu laufen – was wie immer schiefgeht – und legt eine Bruchlandung auf den Dielen hin. Dort bleibt er für fünf Sekunden dramatisch hingestreckt liegen, bis er sich erhebt, kurz schüttelt und mich anschielt, als würde er auf Applaus warten.

»Gaaanz toll, Doktor Herkenrath«, lobe ich ihn, obwohl ich die Nummer schon mindestens zwanzigmal gesehen habe. Seit Anfang September erfreut mich mein Cockerspaniel jedes Mal, wenn ich aus der Schule komme, mit seinem etwas hüftsteifen Tanz.

Ich tue aber ganz begeistert und kraule ihm die Ohren. Das ist gut für sein Selbstbewusstsein. Doktor Herkenrath ist der wohl furchtsamste Cockerspaniel der Welt. Er hat eine Höllenangst vor Eichhörnchen, Katzen, Schmetterlingen und allem anderen, das läuft, schwimmt, kriecht, fliegt oder sich sonst wie bewegt. Manchmal auch vor etwas, das sich nicht bewegt: vor unserem Wäschetrockner beispielsweise. Oder vor Frau Zeiglers Thermomix, dessen Anblick Doktor Herkenrath dermaßen in Panik versetzt, dass er sich auf den Rücken wirft, die Beine in die Luft streckt und sich totstellt.

Wer eine so furchtsame Persönlichkeit hat, kann jede Form von Lob und Aufmunterung gebrauchen. Außerdem bin ich nicht ganz unschuldig daran, dass er mich jeden Mittag mit diesem verunglückten Tanz empfängt. Weil ich diejenige bin, die ihm den Unfug beigebracht hat. Wenn auch nur gezwungenermaßen. Weil ich mich dummerweise in meinem eigenen Netz aus Schwindel und Flunkerei verfangen hatte.

Ohne die Sache noch mal in allen Einzelheiten durchzukauen: In den Sommerferien habe ich mit Rory in einem Cold Case ermittelt. Damit niemand etwas davon mitbekam, war ich gezwungen, nicht nur Frau Zeigler, sondern auch Doro Puderzucker einen Schwindel aufzutischen. Doro ist Mamas beste Freundin und Besitzerin des Café Puderzucker. Während ich Frau Zeigler erzählte, ich würde im Café Puderzucker aushelfen, habe ich Doro gegenüber behauptet, sie wäre mein Alibi, damit ich heimlich mit Doktor Herkenrath an einem Dog-dancing-Kurs teilnehmen kann – als Überraschung für Mamas Geburtstag im September: Hundetanz statt Geburtstagsständchen! Unglücklicherweise hat Doro das in einem Gespräch mit Mama ausgeplaudert, die ganz gerührt von meinem Vorhaben war. Weswegen ich nicht umhinkam, tatsächlich einen Hundetanz mit meinem ängstlichen Cockerspaniel einzustudieren. Zu Crocodile Rock von Elton John. Doktor Herkenrath, der ansonsten stiften geht, sobald Musik ertönt, hat unerwartet Gefallen am Hundetanz gefunden und tanzt seither bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ob mit oder ohne Musik.

Ich streichle ihm anerkennend übers Fell, stelle meine Schultasche ab – und registriere erst in diesem Moment, dass Frau Zeigler in der Küchentür steht und mich mit einem mitleidsvollen Blick betrachtet. Frau Zeigler ist nicht so schnell aus der Fassung zu bringen. Umso mehr beunruhigt es mich, als ich sehe, dass ihre Augen feucht schimmern. Unvermittelt macht sie einen Schritt auf mich zu, nimmt mich in die Arme, streicht mir tröstend über den Kopf und murmelt: »Armes Kind. Armes, armes, Kind.«

Ich bin völlig perplex, und während ich mich noch frage, warum ich ein armes Kind bin, klingelt mein Handy.

»Das ist deine Mutter«, sagt Frau Zeigler mit weinerlicher Stimme. »Ich habe gerade eben auch schon mit ihr gesprochen. Nicht erschrecken!«

Nicht erschrecken?

Nichts erschreckt einen mehr, als wenn einem jemand sagt: »Nicht erschrecken!«

Was in drei Gottes Namen ist hier los?, frage ich mich mit angstvoll klopfendem Herzen, nehme den Videoanruf entgegen – und kriege den Schock meines Lebens: Papa und Mama sitzen mit ernsten Gesichtern vor der Kamera. Mama sieht so aus wie immer, aber Papas Gesicht ist voller Schrammen, über dem rechten Auge klebt ein breites Pflaster und sein linker Unterarm ist eingegipst.

»Nicht erschrecken!«, begrüßt er mich. »Ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Was … was ist passiert?«, stammle ich völlig aufgelöst.

»Wir haben eine Kolonie von Papageientauchern gefilmt«, erklärt Mama. »Von einem Geröllhang aus. Und plötzlich geriet das Geröll ins Rutschen und …«

»Und ich geriet ebenfalls ins Rutschen«, führt Papa aus und lächelt tapfer. »Habe versucht, die Kamera vor Schaden zu bewahren, und bin dabei unglücklich auf den Arm gefallen. Ist ein glatter Bruch. Nichts Kompliziertes. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Das Problem ist nur …« Papa verstummt und sieht Hilfe suchend zu Mama.

»Das Problem ist, dass Papa mit dem Gips nicht fliegen darf«, eröffnet sie mir mit trauriger Stimme.

»Wieso das denn nicht?«, frage ich erstaunt.

»Das hat mit den besonderen Druckverhältnissen im Flugzeug zu tun«, erklärt sie. »Die führen dazu, dass der Gips zu eng anliegt, und das kann wiederum zu Durchblutungsstörungen führen. Deswegen ist es nicht erlaubt. Was leider bedeutet, dass wir noch eine Weile hierbleiben müssen.«

»Es tut mir so leid, Matilda«, nuschelt Papa und guckt ganz geknickt. »Wegen meiner Ungeschicklichkeit können wir die Ferien nicht gemeinsam verbringen.«

»Dir muss überhaupt nichts leidtun, Papa«, entgegne ich und versuche, ihm Mut zu machen: »Wichtig ist nur, dass du schnell wieder gesund wirst.«

»Ich habe mit Frau Zeigler schon alles besprochen«, lässt Mama mich wissen. »Sie bleibt netterweise noch so lange bei dir, bis wir zurück sind.«

»Ist doch selbstverständlich«, höre ich Frau Zeigler hinter mir murmeln.

»Wir … müssen dann auch mal los«, merkt Papa verlegen an. »Zum Arzt. Der Gips muss kontrolliert werden.«

»Ja. Ja, sicher. Meldet euch bald wieder. Alles, alles Gute, Papa. Gute Besserung!«

Mama winkt zum Abschied in die Kamera, dann wird das Display dunkel und ihre Gesichter sind verschwunden.

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und lasse mich auf einen Küchenstuhl fallen. So was muss man erst mal verdauen.

Zum Glück kennt Frau Zeigler ein Allheilmittel, das ihrer Meinung nach gegen jede Art von Kummer, Angst und Sorgen hilft: Zimt-Pfannkuchen. Weswegen sie sich umgehend daranmacht, dem armen Kind einen zu backen.

Während ich den Pfannkuchen verputze, betrachtet sie mich mit einem mütterlichen Blick und verkündet: »Mein Raimund hatte den linken Arm schon zweimal gebrochen. Und den rechten sogar dreimal.«

Was nicht wirklich ein Trost ist. Und auch keine besondere Überraschung. Raimund, Frau Zeiglers Gatte, ist ein Unglücksvogel. Er muss nicht mal auf einen Geröllhang klettern, um sich zu verletzen. Raimund rutscht alle naselang in der Badewanne aus, schlägt sich den Kopf regelmäßig an Hängelampen an, stolpert über alles, was im Weg steht, und hat es sogar mal geschafft, sich von einem Iltis beißen zu lassen.

»Eine Sache wäre da noch«, sagt Frau Zeigler und fixiert mich mit einem bedeutungsschweren Blick. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich kommende Woche auch noch hier sein würde. Am Donnerstag wird meine Schwester Hetty sechzig. Da werden eine Menge Gratulanten kommen. Was bedeutet, dass es im Vorfeld einiges zu tun gibt: Das Haus muss geputzt und auf Vordermann gebracht werden und natürlich muss man Schnittchen und Snacks für die Gäste vorbereiten. Ich habe Hetty versprochen, sie von Montag bis Mittwoch bei den Vorbereitungen zu unterstützen. Und natürlich kann ich sie jetzt nicht hängen lassen. Das heißt, ich bin in dieser Zeit tagsüber bei ihr und komme erst abends hierher. Den Tag über wärst du alleine. Ich denke, das kriegst du hin, oder? Du bist schließlich zwölf. Mit deiner Mutter habe ich das schon geklärt. Sie ist damit einverstanden.«

»Na klar. Ist kein Problem«, versichere ich – und begreife im gleichen Moment, dass mir diese Regelung ganz unverhoffte Möglichkeiten eröffnet …

2

Pssst!

Den Nachmittag verbringe ich in Gesellschaft von Doktor Herkenrath auf meinem Zimmer.

Der arme Papa tut mir natürlich unendlich leid. Und dass wir durch den Unfall die Ferien nun doch nicht gemeinsam verbringen werden, ist ein eindeutiger Fall von blöd gelaufen. Aber leider nicht zu ändern. Wenn ich zwei Wochen lang Trübsal blase, macht das Papas Arm auch nicht schneller heil.

Also sollte ich das Naheliegende tun: den schüchternen Detektiv anrufen und ihm die frohe Kunde überbringen, dass ich in den nächsten Tagen doch mit ihm ermitteln kann. So bedauerlich die Geschichte mit Papas Armbruch auch ist – bei dem Gedanken, als Detektivin tätig werden zu können, spüre ich ein aufregendes Kribbeln. Außerdem waren die Umstände noch nie so günstig wie diesmal. Dadurch, dass Frau Zeigler bei ihrer Schwester ist, kann ich tagsüber tun und lassen, was ich will, und muss mir noch nicht mal irgendwelche falschen Alibis zusammenflunkern.

Mehrmals versuche ich, Rory auf dem Festnetzanschluss in der Agentur zu erreichen. (Ein Handy besitzt er nicht; Schüchterne mögen es nicht, ständig verfügbar zu sein.) Aber jedes Mal meldet sich nur der Anrufbeantworter: »Guten Tag, Sie sind, hüstel, hüstel, verbunden mit der, öhm, Detektivagentur Shy. Es ist mir wirklich sehr, äh, unangenehm, dass ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegennehmen kann. Sollten Sie das als unhöflich empfinden und darüber erbost sein, habe ich volles Verständnis. Scheuen Sie sich nicht, Ihrer Verärgerung nach dem Signalton Luft zu machen. Sie haben aber auch die Möglichkeit, einfach eine, öhm, ganz sachliche Nachricht zu hinterlassen. Natürlich nur, falls es keine Umstände macht. Ich, räusper, bedanke mich für Ihren Anruf und wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute.«

Wenn man den Detektiv nicht an die Strippe kriegt, kann das dreierlei bedeuten: Er ist gerade zu schüchtern, um ans Telefon zu gehen, er ist wegen eines Falls unterwegs oder er ist bei Charlotte Sprudel, seiner Freundin.

Die beiden sind zusammen, seit sie sich bei Rorys Ermittlung im Fall der verschwundenen Sprudel-Perle kennengelernt haben, in dem Charlotte die Hauptverdächtige war. Sie ist ähnlich schüchtern wie Rory. Hätte ich nicht ein bisschen Amor gespielt, hätten sie sich ihre Zuneigung bis heute nicht gestanden.

Ich wähle Charlottes Nummer und stelle mich auf eine längere Wartezeit ein. Charlotte mag auch keine Handys und verfügt, wie der Detektiv, nur über einen Festnetzanschluss. Zusätzlich kompliziert wird die Sache bei ihr dadurch, dass sie eine Milliardenerbin ist und in einer riesigen, schlossähnlichen Villa lebt – in der es nur einen einzigen Telefonapparat gibt. Und der steht in der Eingangshalle. Es kann schon mal zwei bis drei Minuten dauern, bis sie den Hörer abnimmt.

Nach ungefähr hundert Freizeichen (ich will gerade auflegen) meldet sie sich und klingt dabei ein wenig außer Atem. »Charlotte, ähm, Sprudel. Wer, öhm, ist da bitte?«

»Hallo, Charlotte, hier ist Matilda«, begrüße ich sie und komme umgehend zur Sache. Bei Telefonaten mit Schüchternen empfiehlt es sich, direkt zur Sache zu kommen, denn sie werden es garantiert nicht tun. »Ich konnte Rory in der Agentur nicht erreichen. Ist er vielleicht bei dir?«

»Ähm, nein«, wispert sie schüchtern. »Er ist auf dem Weg ins Fernsehstudio.«

»Fernsehstudio?«, entfährt es mir verdattert.

»Ja. Er ist als Gast bei Pssst! eingeladen. Du weißt doch, die Talkshow für Schüchterne.«

Natürlich kenne ich Psst!. Die Sendung ist ganz auf schüchterne Zuschauer zugeschnitten und die einzige, die sich Rory regelmäßig ansieht. Weil dort nicht viel gesprochen, dafür aber viel geschwiegen, sich verschämt geräuspert und verlegen gehüstelt wird.

»Eigentlich war er zu schüchtern, um hinzugehen«, sagt Charlotte. »Aber er hätte es als unhöflich empfunden, die Einladung auszuschlagen. Worum geht es denn, Matilda? Kann ich ihm was ausrichten?«

»Ja, das wäre nett«, entgegne ich und erzähle ihr von Papas Missgeschick. »Sag Rory bitte, dass ich ihn nun doch ab Montag unterstützen kann.«

»Oh«, macht Charlotte und klingt dabei noch verlegener als üblich – was kein gutes Zeichen ist.

»Was heißt Oh?«, bohre ich nach.

»Also, es, ähm, es ist so, Matilda«, stottert sie. »Rory und ich werden in der kommenden Woche gar nicht da sein. Wir haben eine Wanderung geplant. Du weißt ja, Schüchterne sind im Herbst gerne draußen, weil da nicht so viele Menschen unterwegs sind.«

»Aha?«, mache ich und versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Wir wandern auf dem Rotwerd-Pfad«, führt Charlotte aus. »Benannt nach Johann-Christian Rotwerd, einem Dichter der deutschen Romantik. Bekannt für seine schüchternen Balladen. Hast du schon mal von ihm gehört?«

»Nicht, dass ich mich erinnern könnte.«

»Man erzählt sich, dass er in eine junge Frau verliebt war, die ein paar Kilometer entfernt in einem Nachbardorf lebte«, erklärt mir Rorys Freundin. »Er wollte um ihre Hand anhalten. Aber weil er schüchtern war, brauchte er etwas Zeit, um genug Mut für seinen Antrag zu fassen. Deswegen ist er nicht auf direktem Weg zu ihr gegangen, sondern hat einen Umweg von hundertfünfzig Kilometern gemacht. Und diese Strecke ist heute der Rotwerd-Wanderweg. Ist das nicht eine wunderbar romantische Geschichte?«

»Ganz zauberhaft«, beteuere ich und rolle dabei mit den Augen.

»Tut mir leid, dass es diesmal nichts wird mit eurer Ermittlung«, sagt Charlotte in bedauerndem Ton. »Aber wenn es dich tröstet: Rory hat im Moment sowieso keinen aktuellen Fall.«

»Na ja, kann man nichts machen«, seufze ich geknickt, bin aber höflich genug, hinzuzufügen: »Dann wünsche ich euch viel Spaß bei eurer Wanderung. Wann genau geht es denn los?«

»Wir haben geplant, am Montagmorgen, so gegen zehn, aufzubrechen. Weißt du was, Matilda? Komm doch einfach vorher in der Agentur vorbei. Dann frühstücken wir drei gemeinsam. Und Doktor Herkenrath ist natürlich auch eingeladen.«

»Okay«, sage ich. »Ich bringe ein paar Rosinenmürbchen mit, damit ihr euch vor dem Aufbruch stärken könnt.«

»Oh, das wäre schön, Matilda.«

»Bis dann, Charlotte. Ach und – wann wird die Pssst!-Sendung denn ausgestrahlt?«

»Heute Abend um neun. Ich bin schon ganz aufgeregt«, haucht Charlotte und fügt kichernd hinzu: »Rory hat sich extra eine neue Krawatte gekauft. Mit schüchternem Muster.«

»Was für ein Gefühls-Slalom«, sage ich zu Doktor Herkenrath und lasse traurig den Kopf hängen. »Erst finde ich mich damit ab, dass ich in den Herbstferien nicht mit Rory ermitteln kann, dann sieht die Sache plötzlich ganz anders aus, und jetzt ist es doch wieder Essig mit der Detektivarbeit.«

Mein Cockerspaniel legt den Kopf schief und fiept mitfühlend.

Was fange ich mit so viel freier Zeit an? Da fallen mir vor allem zwei Dinge ein: lange Herbstspaziergänge mit Doktor Herkenrath und Krimi-Lektüre.

Mama und ich stehen auf Kriminalromane. Die Krimis, die ihr besonders gut gefallen, gibt sie immer an mich weiter. Vor ihrer Abreise auf die Färöer-Inseln hat sie einen kleinen Bücherstapel auf meinem Nachttisch abgelegt. Darunter mehrere Bände der Inspector Joyce-Reihe von Amanda Kent, ihrer Lieblingsautorin.

Der knurrige Inspector Joyce ermittelt in der erfundenen englischen Grafschaft Moss-on-Trees in Fällen um erdolchte Chorleiter und vergiftete Vikare. Die Fälle sind nicht gerade superspannend, aber ich mag die Bücher, weil sie so ein heimeliges Gefühl vermitteln: grüne Auen, idyllische Dörfchen, kleine Landkirchen, gemütliche Pubs und Schäfchen auf der Weide. Und immer prasselt irgendwo ein Kaminfeuer, wird ein Tee geschlürft oder eine Pastete in den Ofen geschoben. Die Verbrechen sind da beinah Nebensache.

Ich ziehe eines der Bücher aus dem Stapel: Inspector Joyce, Band 19: Ein Küster hing am Glockenseil.

Klingt vielversprechend. Während sich Doktor Herkenrath auf dem Boden ausstreckt, setze ich mich im Schneidersitz auf mein Bett, schlage das Buch auf und beginne zu lesen:

Das sonntägliche Frühstück mit seiner Gattin Winifred war Inspector Hannibal Joyce heilig. Doch kaum hatte er den ersten Schluck Tee genommen und sich Rührei und Frühstückswürstchen auf den Teller geladen, als sein Handy klingelte.

»Die Arbeit. Da muss ich rangehen«, sagte er zu seiner Frau, tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab und knurrte in den Hörer: »Ja? Joyce?«

»Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich Sie am Sonntag störe, Sir«, tönte ihm die Stimme von Constable Vikram Singh entgegen. »Aber die Zentrale hat einen Anruf bekommen. Aus Ivy Village. Ein kleines Dorf, zwanzig Kilometer nördlich von hier. Der Pfarrer hat sich heute Morgen gewundert, dass die Kirchenglocken nicht läuteten. Und als er nachgesehen hat, fand er den Küster. Tot. Der Mann hing am Glockenseil.«

»Gottverdammt!«, entfuhr es Inspector Joyce, worauf ihn seine Gattin mit einem tadelnden Blick bedachte.

Winifred missbilligte es, wenn er fluchte. Besonders am Sonntag.

»Holen Sie mich mit dem Wagen ab«, befahl er Constable Singh. »Aber geben Sie mir zehn Minuten, damit ich noch was in den Magen bekomme.« Er legte auf, wandte sich seiner Frau zu und brummte: »Ich muss nach Ivy Village. Da hängt ein Küster am Glockenseil.«

»Hach«, seufzte Winifred. »Und das ausgerechnet am Sonntag. Ich packe dir ein paar Gurkensandwiches ein.«

In den folgenden Stunden widme ich mich ganz dem Fall des toten Küsters und den dunklen Geheimnissen von Ivy Village – bis Frau Zeigler zum Abendessen ruft.

»Können wir gleich Pssst! – Die Talkshow für Schüchterne gucken?«, frage ich, während ich eine Brotscheibe mit Käse belege.

»Um Gottes willen«, sagt Frau Zeigler und zieht skeptisch die Augenbrauen hoch. »Willst du dir das wirklich antun? Dieses Gestammel und Gehüstel. Dabei kriegt man doch Zustände.«

»Ich habe gehört, dass Rory Shy heute zu Gast ist.«

»Ach, wirklich?«, fragt Frau Zeigler und wird ein wenig rot. Wie bereits erwähnt, hat sie keine Ahnung davon, dass ich mit dem Detektiv zusammenarbeite. Aber Frau Zeigler liest jeden Zeitungsartikel und sieht sich jeden Fernsehbericht an, in dem es um Rory und seine Fälle geht. Ich habe den leisen Verdacht, dass sie ein ganz klein bisschen für ihn schwärmt. Auch weil sie immer wieder erwähnt, was für ein höflicher und gepflegter junger Mann er doch wäre.

Da würden ihr die meisten Menschen zustimmen: Rory ist nicht nur höflich, sondern überhöflich. So überhöflich, dass er manchmal zwei Stunden an der Supermarktkasse steht, weil er jeden vorlässt, der ihn fragt. Und gepflegt ist er auch. Der Detektiv ist eine große, dürre Erscheinung mit lockigem Haar, trägt immer Anzug, Krawatte, auf Hochglanz polierte Schuhe und hat penibel manikürte Fingernägel.

»Was ist denn jetzt?«, frage ich Frau Zeigler, die mit sehnsuchtsvollem Blick vor sich hin stiert. »Sehen wir uns die Talkshow an oder nicht?«

»Ja, also, wenn Rory Shy dabei ist …«, sagt sie und fährt sich verlegen mit der Hand durchs Haar. »Dann können wir ja mal reinschauen.«

Um neun Uhr sitzen wir auf der Couch. Doktor Herkenrath hat sich zu meinen Füßen niedergelassen. Frau Zeigler kaut hingebungsvoll auf einer Nusspraline rum, während wir gespannt auf den Fernseher blicken.

Der Pssst!-Schriftzug wird eingeblendet, eine leise Titelmelodie erklingt und im nächsten Moment erscheint eine verschämt lächelnde Dame mit kurz geschnittenem Pony auf dem Bildschirm.

»Guten, ähm, Abend und willkommen bei Pssst! – Die Talkshow für Schüchterne. Mein Name ist, öhm, Marlene Flüstermann und ich freue mich sehr, auch heute Abend wieder drei Gäste zum Thema Schüchternheit im Studio zu begrüßen. Da wäre zunächst Herr Enrico Timido, der den meisten von Ihnen ein Begriff sein dürfte: der Operntenor, der so schüchtern ist, dass er mit dem Rücken zum Publikum singt.«

Die Kamera schwenkt auf besagten Herrn Timido, von dem leider nur der Hinterkopf zu bewundern ist. Er ist nicht nur auf der Opernbühne, sondern auch im Fernsehstudio so schüchtern, dass er sich mit dem Rücken zur Kamera gesetzt hat. »Guten Abend«, nuschelt er kaum hörbar.

»Außerdem darf ich Ihnen Frau, ähm, Almut Hurtig vorstellen«, erklärt die Moderatorin. »Frau Hurtig ist selbst nicht schüchtern, betreibt aber eine Partnervermittlungsagentur für Schüchterne und wird uns von ihrer Arbeit berichten.«

Frau Hurtig, eine blonde Frau im Hosenanzug, lächelt selbstbewusst in die Kamera und sagt: »Ich grüße Sie.«

»Und natürlich freue ich mich, dass Rory Shy, der berühmte schüchterne Detektiv, heute Abend bei uns ist«, wispert Marlene Flüstermann und errötet etwas.

»Äh, ja, ähm, gerne. Keine, öhm, Ursache«, stottert Rory und zupft nervös an seinem Ohrläppchen.

Ich beuge mich vor, kneife die Augen zusammen, betrachte seinen Schlips und mir wird klar, was Charlotte vorhin meinte, als sie von einem schüchternen Muster gesprochen hat. Die Krawatte ist mit kleinen Mimosen bedruckt, der inoffiziellen Wappenblume aller Schüchternen.

»Beginnen wir aber doch mit Ihnen, Herr Timido«, sagt die Moderatorin scheu lächelnd und wendet sich dem Opernsänger zu. Beziehungsweise seinem Hinterkopf. »Ist Schüchternheit für einen Sänger nicht ein extremes, ähm, Handicap?«

»Also … ja. Irgendwie schon«, murmelt Enrico Timido.

»Warum haben Sie sich dann ausgerechnet für diesen Beruf entschieden? Wenn ich, räusper, räusper, das mal so direkt fragen darf?«

»Na ja, weil ich … weil ich die Oper liebe. Nur die, ähm, die Lautstärke hat mich immer gestört. Als Sänger muss man gegen ein ganzes Orchester anbrüllen. Was für ein furchtbarer Krach. Wo doch für schüchterne Sänger der, öhm, Grundsatz gilt: Sing die Weise leise auf eine leise Weise.«

»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich unseren Zuschauern verrate, dass Sie aus dieser Not eine Tugend gemacht haben«, sagt die Moderatorin. »Sie sind selbst als Komponist tätig geworden und haben eine Oper für Schüchterne geschrieben.«

»Ja, das ist, öhm, richtig. Da gibt es kein großes Orchester. Nur Harfe und Triangel. Und die Sänger singen alle mit dem Rücken zum Publikum. Und auch nur ganz leise.«

»Möchten Sie uns etwas über die, hüstel, Handlung verraten?«

»Äh, nein. Das wäre mir unangenehm«, flüstert der Sänger, bevor er vollends verstummt.

Es folgt eine Werbeunterbrechung.

Frau Zeigler erhebt sich vom Sofa und verkündet kopfschüttelnd: »Mann, Mann, Mann! Ist ja kaum auszuhalten. Hoffentlich kommt bald der schüchterne Detektiv an die Reihe. Ich geh mal aufs Klo!«

Nach der Werbepause wird aber nicht Rory, sondern Frau Hurtig interviewt, die erzählt, dass ihr die Idee zu ihrer Partnervermittlung für Schüchterne kam, als sie in einem Restaurant war und am Nebentisch ein schüchternes Paar sah, das sich den ganzen Abend lang verlegen anschwieg.

»Da wurde mir klar, dass diesen Menschen geholfen werden muss.«

Also hat sie flugs die Agentur Scheue Liebe gegründet und ein spezielles Konzept entwickelt, um Schüchterne zusammenzubringen.

»Wir nennen es Betreutes Dating«, erklärt sie. »Bei den ersten Treffen der Paare sind entweder ich oder eine unschüchterne Mitarbeiterin dabei. Wir haben immer eine Auswahl an Gesprächsthemen vorbereitet: Wetter, Politik, Sport, Filme, Musik … Und wenn das Gespräch ins Stocken gerät – was recht häufig passiert –, stupsen wir die Unterhaltung wieder an.«

Als die Moderatorin danach fragt, wie viele schüchterne Paare sie denn schon zusammengeführt hat, wird sogar die selbstbewusste Frau Hurtig verlegen und antwortet knapp: »Das ist ein Geschäftsgeheimnis.«

Was in mir die Vermutung weckt, dass ihre Erfolgsquote eher gering ist.

Dann richtet sich die Kamera auf den schüchternen Detektiv.

»Rory, ich hoffe, Sie finden die Frage nicht distanzlos«, sagt Marlene Flüstermann. »Aber natürlich interessiert unsere Zuschauer, wie Sie alle Ihre Fälle aufklären, obwohl Sie bekanntermaßen viel zu schüchtern sind, um Zeugen zu befragen, und viel zu höflich, um Verdächtige zu verhören. Ich gebe nichts auf, öhm, Gerüchte, aber es gibt das Gerücht, dass Sie über eine, ähm, geheime Methode verfügen, die es Ihnen ermöglicht, die Fälle auch ohne Befragungen zu lösen. Mögen Sie dieses Gerücht bestätigen?«

»Öhm, nein. Eigentlich, ähm, nicht«, wispert Rory verschämt und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Das ist bedauerlich«, flüstert die Moderatorin.

»Ja«, bestätigt der Detektiv und senkt verlegen den Blick.

»Dann kommen wir doch zu unserer Rubrik Unschüchtern nachgefragt, bei der unsere Zuschauer telefonisch Fragen stellen können. Ich höre von der Regie, dass wir bereits eine Anruferin in der, öhm, Leitung haben. Und deren Frage geht ebenfalls an Sie, Rory.«

»Hallo! Hier ist die Gundula«, plärrt eine Stimme so laut durchs Studio, dass Rory erschrocken zusammenfährt und die Hände auf die Ohren presst. »Meine Frage an den Detektiv lautet: Gibt es eigentlich, kicher, kicher, jemanden an Ihrer Seite? Einen Lebenspartner? Oder eine Lebenspartnerin?«

Der schüchterne Detektiv reißt erschrocken die Augen auf, seine Hände umklammern krampfartig die Stuhllehnen und er macht ein Gesicht, als hätte ihn jemand schockgefrostet.

Nichts fürchten Rory und Charlotte mehr, als dass ihre Liebesbeziehung bekannt werden könnte. Außer mir sind nur noch zwei Menschen eingeweiht: Charlottes Chauffeur Amadeus und eine Freundin von Charlotte, die sie schon seit Schulzeiten kennt und der sie blind vertraut.

Der Detektiv und seine Liebste treten nie gemeinsam in der Öffentlichkeit auf und tun alles, um ihre Liebe geheim zu halten. Weil sie keine Lust haben, in der Klatschpresse Schlagzeilen über sich zu lesen, wie Der schüchterne Detektiv und die scheue Milliardärin – Läuft da was? oder Rory Shy und Charlotte Sprudel – Schüchterner Liebes-Urlaub auf Helgoland? Und erst recht nicht Lag es an ihrer Schüchternheit? Liebes-Aus für das schüchterne Paar!

Rory sitzt da wie erstarrt und gibt keinen Mucks von sich. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass ihm jemand diese Frage stellt. Ständig wollen irgendwelche naseweisen Journalisten wissen, wie es um seine Herzensangelegenheiten bestellt ist. Weswegen ich ihm eine passende Antwort eingebimst habe, die jede Nachfrage im Keim erstickt.

Komm schon!, denke ich. Was haben wir eingeübt? Was sollst du in so einem Fall sagen?

Rory fährt sich nervös mit der Zunge über die Lippen und stottert: »Ich, öhm, habe keine Beziehung für eine Arbeit. Ich bin mit meiner Zeit verheiratet.«

»Was?«, kreischt die forsche Gundula.

»Öhm, andersrum«, stammelt der Detektiv aufgelöst. »Ich, äh, habe keine Zeit für eine Beziehung. Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet.« Dann sinkt er ermattet in sich zusammen.