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Band 6 der mit dem Glauser-Preis ausgezeichneten Krimireihe: clever, lustig und mit wunderbar ausgefallenen Figuren! Ein neuer Fall für den berühmten schüchternen Detektiv und seine 13-jährige Assistentin Matilda: Während der Musical-Aufführung von "Mörderische Ehefrauen" wird Matilda Zeugin eines Verbrechens, als eine Darstellerin von der Bühne entführt wird. Die Schauspielerin entpuppt sich als Tochter des Millionärs Gisbert König – auch genannt der "Soßen-König" –, der mit dem Verkauf von Fertigsoßen reich wurde. Wer steckt hinter der Entführung? Unterstützt werden Rory und Matilda wie immer von dem hasenfüßigen Cockerspaniel Dr. Herkenrath. Ein herrlich witziger und wunderbar schüchterner Krimi ab 10 Jahren!
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Seitenzahl: 293
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Ein neuer Fall für den berühmten schüchternen Detektiv und seine 13-jährige Assistentin Matilda: Während der Musical-Aufführung von »Mörderische Ehefrauen« wird Matilda Zeugin eines Verbrechens, als eine Darstellerin von der Bühne entführt wird. Die Schauspielerin entpuppt sich als Tochter des Millionärs Gisbert König – auch genannt der »Soßen-König« –, der mit dem Verkauf von Fertigsoßen reich wurde. Wer steckt hinter der Entführung? Unterstützt werden Rory und Matilda wie immer von dem hasenfüßigen Cockerspaniel Dr. Herkenrath.
Ein herrlich witziger und wunderbar schüchterner Krimi!
aus
Mörderische Ehefrauen – Das Musical
Planst du den Ehemann zu meucheln,
lass allergrößte Sorgfalt walten:
Keine Zeugen, keine Spuren,
kein verdächtiges Verhalten.
Entsorg die Waffe still und leise,
vernichte sämtliche Beweise.
Den kalten Körper deines Gatten
solltest du im Moor bestatten.
Drei Meter tief in feuchtem Grund,
dann gibt es keinen Leichenfund.
Erzähl der Polizei ein Märchen.
Sag: Mein Gemahl ist durchgebrannt.
Und seine neue Adresse
ist mir leider nicht bekannt.
Du solltest dabei etwas weinen,
um unverdächtig zu erscheinen.
Tu so, als sei dein Herz gebrochen,
dann wirst du letztlich freigesprochen.
Nur einer weiß von deiner Tat.
Doch der liegt tief im Moor verscharrt.
Doch der liegt tief im Moor verscharrt.
Gute Vorsätze
Kein Date
Vor aller Augen
Bewachen und Überwachen
Der Soßen-König
Hunde-Schluckauf und ein Hinweis
Theater
Gattenmörderin und Geiger
Das Cello-Problem
Schusswunden und Zimt-Pfannkuchen
Lecker, lecker, Lotti
Der Name der Soße
Halunken in Spelunken
Auf dem Friedhof
Königliches Familiendrama
Der Vorhang hebt sich
In letzter Sekunde
Nur ein schüchterner Detektiv
Der Jahreswechsel ist traditionell die Zeit der guten Vorsätze.
Frau Zeigler, unsere Haushaltshilfe, hat an Silvester auch einen gefasst und in entschlossenem Tonfall verkündet: »Ich habe ein paar Pfündchen zu viel auf den Hüften, Kind. Im nächsten Jahr werde ich keine Nusspralinen mehr schnabulieren. Damit ist jetzt Schluss! Und auf das Plunderteilchen zum Nachmittagskaffee verzichte ich in Zukunft auch.«
Gute Vorsätze fürs neue Jahr halten in der Regel bis zum zweiten Januar. Auch im Fall von Frau Zeigler.
An Neujahr hat sie tatsächlich keinerlei Süßkram angerührt. Aber als sie es sich gestern Abend vor dem Fernseher gemütlich gemacht hat, um die Mörderischen Ehefrauen anzuschauen, hat sie sich klammheimlich und in der Hoffnung, ich würde es nicht mitkriegen, eine Nusspraline in den Mund geschoben.
»Wollten Sie nicht damit aufhören?«, habe ich gefragt und sie mit einem vorwurfsvollen Blick bedacht.
Woraufhin die Gute sofort eingeschnappt war. »Krieg dich mal wieder ein, Matilda. Ich werde schon nicht rückfällig«, hat sie beleidigt geknurrt. »Nur ein einziges kleines Pralinchen. Dann ist Schluss.«
Als die Mörderischen Ehefrauen vorbei waren, war es mit den Nusspralinen auch vorbei. Frau Zeigler hatte die Schachtel ratzeputz leer gefuttert. Weswegen sie den restlichen Abend über wie das fleischgewordene schlechte Gewissen durchs Haus geschlichen ist.
Natürlich hätte ich auch ein paar gute Vorsätze fürs neue Jahr fassen können: Weniger zu reden, zum Beispiel. Oder Frau Zeigler nicht mehr so häufig anzuflunkern. Aber da ich realistisch genug bin, um zu wissen, dass das sowieso nicht passieren wird, habe ich mir jeglichen guten Vorsatz gespart. Um nicht ebenfalls am zweiten Januar grandios zu scheitern und von einem schlechten Gewissen gequält zu werden.
Als wäre der Januar nicht schon trostlos genug: Der feierliche Festtagsglanz aus dem Dezember ist dahin, die Weihnachtsdekoration in Kartons auf dem Speicher verstaut, und auf den Bürgersteigen liegen nadellose Christbaumgerippe und warten darauf, abgeholt und zu Kleinholz zerhäckselt zu werden. Es ist kalt, grau und trist und man fremdelt mit dem neuen Jahr, weil man noch nicht so richtig weiß, was von ihm zu halten ist.
Und dann sieht man am zweiten Januar auch noch überall unglückliche Gesichter. Lauter Menschen, die von Gewissensbissen geplagt werden. Weil sie sich die für das neue Jahr fest vorgenommene morgendliche Joggingrunde gespart und doch lieber ausgeschlafen haben. Oder weil sie sich anstelle des gesunden Salats, der auf ihrem Guter-Vorsatz-Speiseplan stand, schon wieder eine Currywurst mit Pommes reingezogen haben.
Ich finde, es wäre eine Überlegung wert, den zweiten Januar auch zu einem Feiertag zu machen: dem Tag des schlechten Gewissens. Das wäre natürlich ein Feiertag der besinnlichen Sorte. Wie Karfreitag oder Totensonntag. Aber so wüsste man ganz offiziell, woran man wäre, und das Feiertagsprogramm stünde auch fest: Silvester (Bleigießen, Feuerwerk und gute Vorsätze), Neujahr (Neujahrskonzert im Fernsehen schauen und stolz darauf sein, die guten Vorsätze einzuhalten) und der Tag des schlechten Gewissens (Reste vom Neujahrsessen aufwärmen und deprimiert sein, weil man seinen Vorsätzen untreu geworden ist).
Und wenn man schon mal dabei wäre, könnte man den dritten Januar gleich auch noch zum Feiertag erheben: zum Ach-was-soll-es-Tag. Der würde sich zum Tag des schlechten Gewissens stimmungsmäßig in etwa so verhalten wie der Ostersonntag zum Karfreitag.
Am dritten Januar ist es bei den allermeisten nämlich nicht nur mit den guten Vorsätzen, sondern auch mit dem schlechten Gewissen schon wieder vorbei. Das ist der Tag, an dem sie sich sagen »Ach, was soll es?«, ihre guten Vorsätze in den Wind schießen und einfach da weitermachen, wo sie im letzten Jahr aufgehört haben.
»Auch ein Plunderteilchen, Matilda?«, fragt Frau Zeigler, als ich am Nachmittag des dritten Januars in die Küche komme und sie dabei ertappe, wie sie eine Puddingbrezel vertilgt. Ohne jede Spur von Gewissensbissen.
»Ja, gerne.« Ich verkneife mir einen spöttischen Kommentar, setze mich an den Tisch und nehme mir eine Marzipanrolle.
Doktor Herkenrath, der es gerne warm und behaglich mag, lässt sich vor dem Heizkörper nieder und gähnt herzhaft.
Ich weiß nicht, ob Cockerspaniels gute Vorsätze fürs neue Jahr fassen. Sollte sich Doktor Herkenrath vorgenommen haben, weniger ängstlich zu sein, hat er auch nicht lange durchgehalten. Als ich heute Morgen mit ihm im Flora-Park spazieren war, hat er in einem Baum ein Eichhörnchen erspäht, ist sofort panisch geworden, hat sich flach auf den Boden geworfen und gewinselt, als wäre das Ende der Welt angebrochen. Woraufhin ihm das Eichhörnchen kurz entschlossen eine Walnuss auf die Nase gedonnert hat. Doktor Herkenrath war so perplex, dass er das Winseln schlagartig eingestellt und reichlich dumm in der Gegend rumgeglotzt hat.
»Haben deine Eltern sich schon gemeldet?«, will Frau Zeigler wissen, während sie genussvoll auf der Puddingbrezel herumkaut.
»Noch nicht«, sage ich und ergänze mit einem Blick auf die Küchenuhr: »Mama hat versprochen, anzurufen, sobald sie in Malmö angekommen sind.«
Papa und Mama sind Tierfilmer und reisen ständig durch die Weltgeschichte. Gestern Nachmittag sind sie nach Südschweden aufgebrochen, um im Auftrag eines Fernsehsenders eine Dokumentation über Elche zu drehen.
Und wie immer, wenn sie beruflich unterwegs sind, ist Frau Zeigler bei uns eingezogen und passt auf mich auf.
Ob das wirklich nötig ist, sei mal dahingestellt. Schließlich bin ich kein Kind mehr. Vor vier Wochen war mein dreizehnter Geburtstag. Wobei ich sagen muss, dass es sich merkwürdig anfühlt, dreizehn zu sein. Ich fremdele noch ein bisschen damit, so wie mit dem neuen Jahr. Dreizehn ist ein komisches Alter.
Dem allgemeinen Verständnis nach ist man mit zwölf noch ein Kind. Mit vierzehn gilt man als Jugendliche und damit auch schon als ein ganz klein bisschen erwachsen. Und mit dreizehn? Mit dreizehn ist man kein Kind mehr, Jugendliche ist man aber auch noch nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Dreizehn ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Oder, wie Frau Zeigler sagen würde: »Nicht Fisch und nicht Fleisch.«
Neben Weihnachten, Silvester und meinem dreizehnten Geburtstag habe ich im Dezember noch einen weiteren Feiertag begangen: mein einjähriges Detektivinnen-Jubiläum.
Am siebenundzwanzigsten Dezember war es genau ein Jahr her, dass ich Rory Shy, dem berühmten schüchternen Detektiv, begegnet bin. Und weil ich ihm bei der Gelegenheit aus einer etwas peinlichen Situation geholfen habe und zudem mein detektivisches Talent unter Beweis stellen konnte, hat er mir angeboten, ihn fortan bei seiner Arbeit zu unterstützen.
Seither haben wir schon fünf Fälle gemeinsam geknackt.
Ich habe während unserer einjährigen Zusammenarbeit zahlreiche detektivische Tricks und Kniffe von Rory gelernt und konnte ganz nebenbei auch noch hochinteressante Einblicke in das Leben von Schüchternen gewinnen.
Ich selbst bin das Gegenteil von schüchtern und kann reden wie ein Wasserfall, aber durch die Bekanntschaft mit dem Detektiv weiß ich mittlerweile sehr genau, wie schüchterne Zeitgenossen ticken.
Um es mal an zwei kleinen Beispielen zu illustrieren: Bestellt ein Unschüchterner beim Pizza-Lieferdienst eine Pizza mit Paprika und Pilzen, bekommt aber aus Versehen eine mit Kapern und Oliven gebracht, ruft er natürlich sofort beim Pizzadienst an, beschwert sich und verlangt, dass er eine neue Lieferung mit dem richtigen Belag erhält.
Einem Schüchternen hingegen wäre es so unangenehm, die Pizzeria auf ihren Fehler hinzuweisen, dass er die Pizza mit Kapern und Oliven ohne viel Aufhebens essen würde. Außer er fände Kapern und Oliven extrem eklig. Beschweren würde er sich aber auch dann nicht, sondern die falschen Zutaten schicksalsergeben vom Teig klauben und die Pizza ohne Belag verzehren. (Wobei dieses Beispiel zugegebenermaßen nicht so wirklich aus dem Leben gegriffen ist. Die meisten Schüchternen sind viel zu schüchtern, um eine Bestellung beim Pizza-Dienst aufzugeben.)
Latscht mir in einem Gedränge jemand auf den Fuß, bekommt er so was in der Richtung zu hören wie: »Autsch! Sie sind mir auf den Fuß getreten. Können Sie nicht aufpassen?«
Was schüchterne Menschen als extrem unhöflich empfänden. Rory würde bei so einer Gelegenheit verschämt wispern: »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so forsch anspreche, obwohl wir uns überhaupt nicht kennen. Wahrscheinlich haben Sie es nicht bemerkt, aber Sie stehen auf meinem Fuß. Bitte, fassen Sie das nicht als Vorwurf auf. Ich nehme an, es ist meine Schuld. Mein Fuß muss sich irgendwie unter Ihren geschoben haben. Aber es ist doch recht, ähm, schmerzvoll. Würde es Ihnen große Umstände machen, einen winzigen Schritt zur Seite zu treten? Das wäre reizend. Aber natürlich nur, wenn es für Sie nicht völlig, öhm, unzumutbar ist.«
Ich hoffe, der Detektiv gerät nie in Gefahr, zu ertrinken. Statt einfach »Hilfe!« zu rufen, würde er selbst dann noch »Nur, ähm, wenn es keine Umstände macht« hauchen, wenn er mit dem Kopf unter Wasser geriete.
Die Ähms und Öhms sind typisch für Schüchterne. Sie leiten ihre Sätze gerne mit einem verschämten Räuspern oder Hüsteln ein und verzieren sie dann mit unzähligen Verlegenheits-Füllseln. Im Laufe des vergangenen Jahres habe ich mich so sehr daran gewöhnt, dass ich Rorys Ähms und Öhms kaum noch wahrnehme.
Wir ergänzen uns als Ermittler-Duo ziemlich gut: Der schüchterne Detektiv ist unschlagbar, wenn es darum geht, zu kombinieren und kriminalistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Aufgrund seiner Schüchternheit ist es ihm jedoch höchst unangenehm, Zeugen und Verdächtige mit Fragen zu belästigen. Weswegen ich für alles zuständig bin, was mit Reden zu tun hat. Insbesondere für Befragungen und Vernehmungen. Oder Mangeln und Quetschen, wie ich es nenne.
Natürlich dürfen meine Eltern nichts von meiner detektivischen Tätigkeit erfahren. Sie wären nicht amüsiert, wenn sie wüssten, dass ich Kriminellen nachjage. Deshalb arbeite ich nur dann mit Rory, wenn sie sich auf Reisen befinden.
Momentan wäre die Gelegenheit günstig: Papa und Mama sind bei den Elchen in Schweden und ich habe noch vier Tage Weihnachtsferien.
Aber der schüchterne Detektiv ist im Urlaub. Er und seine ebenso schüchterne Freundin Charlotte Sprudel sind über die Feiertage weggefahren und kommen erst morgen früh zurück. Charlotte hat eine Hütte in den Bergen gemietet. Wobei die Hütte nicht wirklich eine Hütte ist. Ich habe Bilder der schicken Ferienunterkunft gesehen: Ein massives zweistöckiges Holzhaus mit neun Zimmern, drei Badezimmern, mehreren offenen Kaminen und allem möglichen Komfort.
Charlotte kann es sich leisten. Sie ist Erbin eines Milliardenvermögens. Allerdings gehört sie nicht zu denen, die mit ihrem Reichtum protzen. (So was finden Schüchterne peinlich.) Rorys Freundin hat von ihren Eltern ein schlossähnliches Anwesen geerbt, hält sich aber viel lieber in der kleinen Dreizimmerwohnung des Detektivs auf. Sie behängt sich nicht mit teurem Schmuck, trägt Klamotten aus zweiter Hand und lebt auch ansonsten recht bescheiden. Der kostspielige Trip in die Berge bildet da so was wie eine Ausnahme. Er war ihr Weihnachtsgeschenk an den schüchternen Detektiv. »Rory gönnt sich ja sonst nichts«, hat sie verlegen gewispert, als sie mir von dem geplanten Urlaub erzählt hat.
Es fällt mir allerdings schwer, mir den Detektiv beim Wintersport vorzustellen. Das einzige Bild, das ich dabei vor Augen habe, ist, wie er auf der Piste die Kontrolle über seine Skier verliert, auf eine Gruppe anderer Skifahrer zurast und panisch stammelt: »Ähm, Vorsicht! Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, zur Seite zu treten? Ich, öhm, befürchte, dass es ansonsten zu einem von mir verschuldeten Zusammenstoß kommt.«
Frau Zeigler hat ihr Teilchen bis auf den letzten Krümel verputzt. Sie betrachtet Doktor Herkenrath mit einem fürsorglichen Blick, watschelt zum Kühlschrank, nimmt ein Stückchen Fleischwurst heraus, füttert ihn damit und brummt in mütterlichem Ton: »Sollst ja nicht leben wie ein armer Hund.«
Ehrlich gesagt, lebt Doktor Herkenrath nur selten wie ein armer Hund. Weil Frau Zeigler ihn jeden Tag kiloweise mit Fleischwurst versorgt.
»Oh, schon fünf Uhr«, sagt sie und räumt ihren Teller in die Spülmaschine. »Zeit für die Mörderischen Ehefrauen, Kind.«
Die Mörderischen Ehefrauen sind eine True-Crime-Serie, die zeigt, wie Gattinnen ihre Ehemänner um die Ecke bringen. Weil die Herren wahlweise egoistisch, aufbrausend, gefühlskalt, geizig, untreu oder einfach nur nervig sind.
Ich schüttele den Kopf und lasse Frau Zeigler wissen: »Nein, kein Interesse. Ich werde lieber ein bisschen lesen.«
Unsere Haushaltshilfe hält wie vom Donner gerührt in der Bewegung inne und blickt mich so fassungslos an, als hätte ich behauptet, die Sonne würde sich um die Erde drehen.
»Kein Interesse?«, wiederholt sie ungläubig und stammelt: »Aber … wir schauen die Mörderischen Ehefrauen immer zusammen. Das ist doch Tradition. Wieso denn jetzt auf einmal nicht mehr?«
»Hab einfach keine Lust drauf«, entgegne ich schulterzuckend.
Frau Zeigler legt die Stirn in Falten, bedenkt mich mit einem sorgenvollen Blick und murmelt: »Seit du dreizehn bist, bist du komisch, Kind.«
Möglicherweise hat sie da sogar recht. Aber dass ich keine Lust auf die Mörderischen Ehefrauen habe, hat rein gar nichts mit meinem Alter zu tun, sondern damit, dass ich die mordenden Gattinnen einfach satthabe.
Mit Lieblingsserien verhält es sich ähnlich wie mit Lieblingsspeisen. Eine Lieblingsspeise bleibt nur dann eine Lieblingsspeise, wenn man sie nicht andauernd auf dem Teller hat. Für Frau Zeiglers Waldmeisterpudding, zum Beispiel, könnte ich sterben. Den gibt es aber nur zu besonderen Gelegenheiten. Und das ist auch gut so. Bekäme ich jeden Morgen ein Schälchen Waldmeisterpudding zum Frühstück, eins zum Mittagessen und zum krönenden Abschluss auch noch eins zum Abendessen, könnte ich nach spätestens einer Woche keinen Waldmeisterpudding mehr sehen und würde schon beim Gedanken daran würgen.
Was für Waldmeisterpudding gilt, gilt auch für mörderische Ehefrauen.
Am Anfang war es so, dass jeden Nachmittag um fünf eine Doppelfolge ausgestrahlt wurde. Zu der Zeit bin ich zu einem Riesen-Fan der Serie geworden. Und war damit nicht die Einzige: Die Mörderischen Ehefrauen kamen bei den Zuschauern und vor allem bei den Zuschauerinnen spitzenmäßig gut an.
Weshalb sich die Produzenten beeilten, so schnell wie möglich weitere Episoden abzudrehen, damit es zwischen sechs und sieben Uhr eine zweite Doppelfolge geben konnte. Außerdem ist irgendjemand beim Sender auf die glorreiche Idee gekommen, alte Folgen der Serie in Endlosschleife zu wiederholen.
Da ist bei mir dann doch eine gewisse Sättigung eingetreten und meine Begeisterung hat stark nachgelassen.
Endgültig zu viel wurde es, als sich andere Fernsehsender an den Erfolg der Serie dranhängen wollten und begonnen haben, eigene True-Crime-Formate zu produzieren, in denen es ebenfalls um mordende Ehefrauen geht. Nur, dass sie anders heißen. Neben den Mörderischen Ehefrauen gibt es mittlerweile auch die Gefährlichen Gattinnen, die Heimtückischen Hausfrauen und eine Serie mit dem fragwürdigen Titel Wütende Weiber.
Wenn man will (und ansonsten nichts zu tun hat), kann man von morgens um elf bis abends um zehn Frauen dabei zusehen, wie sie ihre Gatten abmurksen.
Ein eindeutiger Fall von Überfütterung.
Das Schlimmste ist aber, dass man den Mörderischen Ehefrauen und ihren schlechten Kopien überhaupt nicht mehr entkommen kann. Selbst dann nicht, wenn man den Fernseher auslässt. Sie sind auf Instagram, Facebook und YouTube, es gibt Bücher, Hörbücher, einen Mörderische Ehefrauen-Soundtrack und ein Computerspiel zur Serie. Dazu natürlich allen möglichen Fanartikel-Nippes: das Mörderische Ehefrauen-Tranchiermesser-Set, den Mörderische Ehefrauen-Küchenhäcksler und Mörderische Ehefrauen-Bettwäsche mit aufgedrucktem Blutspritzer-Muster. Ich frage mich, was als Nächstes kommt. Wahrscheinlich eine Mörderische Ehefrauen-Tiefkühltruhe mit extra großem Fassungsvermögen.
Zu viel ist einfach zu viel. Ich bin, was die Killer-Gattinnen angeht, pappsatt.
Frau Zeigler hingegen hat noch lange nicht genug. Ich höre, wie sie sich im Wohnzimmer ächzend auf die Couch sinken lässt, den Fernseher einschaltet und die Klarsichtfolie von der Pralinenpackung reißt.
Das war es dann wohl endgültig mit den guten Vorsätzen.
Zu Geburtstag und Weihnachten habe ich einen ganzen Stapel Kriminalromane geschenkt bekommen. Meine aktuelle Lektüre ist Das Rätsel um Stiff Upper Lip von Amanda Kent.
Ich steige die Treppe zu meinem Zimmer hoch, setze mich mit gekreuzten Beinen aufs Bett, nehme das Lesezeichen aus dem Buch und vertiefe mich in die Geschichte, während Doktor Herkenrath sich auf dem Bettvorleger ausstreckt und leise hechelt.
Gerade als ich zu der Stelle komme, an der sich der erste Mord ereignet, klingelt mein Smartphone. Es ist Mama, die berichtet, dass sie und Papa mit einiger Verspätung in Malmö angekommen sind. Jetzt sind sie todmüde und wollen nur noch ins Bett, bevor es morgen in die Wildnis zu den Elchen geht.
»Schlaft gut!«, verabschiede ich mich von ihr. »Und schickt mir ein Foto von einem Elch, sobald euch einer vor die Linse läuft.«
Ich lege auf und widme mich wieder meinem Krimi – da geht ein weiterer Anruf ein. Als ich den Namen auf dem Display sehe, durchfährt mich ein kurzer Hitzestoß: Danny Bekono!
Danny ist ein Jahr älter als ich. Ein schlaksiger Junge mit Rastazöpfen und auffallend ebenmäßigen, blendend weißen Zähnen. Ich habe ihn im vergangenen Sommer kennengelernt, als Rory und ich im noblen Internat Schloss Eichhorn ermittelt haben, wo Danny zur Schule geht. Seine Eltern (der Vater ist Kameruner, die Mutter Deutsche) besitzen eine Firma, die Rucksäcke aus extrem leichtem Material herstellt. Er ist begeisterter Skater, der schnellste Sprinter im Leichtathletik-Team von Schloss Eichhorn und außerdem Redakteur bei der Schülerzeitung des Internats.
Wir haben damals unsere Nummern ausgetauscht und seitdem schreiben wir uns gelegentlich. Meistens so was in der Richtung wie Alles klar bei dir?, Geht es gut? oder Was macht die Detektivarbeit?. Zweimal haben wir auch miteinander telefoniert – und beide Male musste ich an mir die rasante Persönlichkeitsveränderung beobachten, die mich jedes Mal ereilt, wenn ich mit Danny spreche: Wie bereits erwähnt, bin ich normalerweise kein bisschen schüchtern oder auf den Mund gefallen. Aber in Dannys Gegenwart überkommen mich aus irgendeinem unerklärlichen Grund heftigste Schüchternheits-Attacken. Jedes Mal, wenn ich mit ihm spreche, löst sich meine Schlagfertigkeit in Luft auf, ich komme ins Stottern und Stammeln, kichere wie eine alberne Vierjährige und bin mit einem Mal so schüchtern, als wäre ich ein Kind von Rory und Charlotte.
Woran auch immer das liegen mag. Bisher habe ich es vermieden, genauer darüber nachzudenken.
Es klingelt noch immer. Ich atme einmal tief durch, dann nehme ich das Gespräch entgegen, räuspere mich verlegen und hauche: »Öhm, hallo?«
»Hallo, Matilda«, schallt Dannys Stimme aus dem Hörer. »Mann, du lässt dir aber Zeit, bevor du rangehst. Ich störe dich doch nicht bei irgendwas?«
»Stören? Ich, ähm, nein … ich wollte nur … ich bin bloß, öhm … nein.«
»Erst mal: Ein frohes neues Jahr!«, wünscht Danny.
»Danke. Dir, ähm, auch.«
»Ich falle einfach mal mit der Tür ins Haus«, sagt er gut gelaunt. »Der Grund für meinen Anruf ist der: Ich habe ein verspätetes Geburtstagsgeschenk für dich, Matilda.«
»Geburtstagsgeschenk? Für mich?«, nuschele ich verdattert. »Aber, das wäre doch nicht … Das hätte doch nicht …«
»Ich verrate noch nicht, was es ist. Wird eine Überraschung«, sagt Danny in geheimnistuerischem Ton und fragt: »Hast du morgen Nachmittag schon was vor?«
»Ich, öhm, ich … ich glaube, nicht«, stottere ich überrumpelt.
»Sehr gut. Dann würde ich vorschlagen, dass wir uns um halb zwei in dem Café treffen, von dem du mir erzählt hast. Dem Puderzucker. Da erfährst du dann mehr.«
»In, öhm, Ordnung. Also, ich meine … ja, gerne«, wispere ich, während ich mich fieberhaft frage, was das für eine Überraschung sein könnte. »Doktor Herkenrath und ich werden um halb zwei da sein.«
»Also, was Doktor Herkenrath angeht: Er kann leider nicht mitkommen«, sagt Danny in bedauerndem Ton. »Das wirst du verstehen, sobald du weißt, um was es sich bei der Überraschung handelt.«
»Aha?«, mache ich verdutzt. »Dann, ähm, dann muss ich unsere Haushaltshilfe fragen, ob sie solange auf ihn aufpasst. Aber ich denke, das geht klar.«
»Super! Toll, dass es klappt. Ich freue mich auf morgen. Du wirst echt Augen machen. Bis dann, Matilda.«
»Ja, ähm, bis morgen«, murmele ich und will schon auflegen, als mir ein erschreckender Gedanke durch den Kopf schießt. Hastig sage ich: »Das ist jetzt aber kein, öhm … Wir haben jetzt nicht so was wie ein, räusper, Date? Oder?«
Danny kichert belustigt. »Keine Sorge. Es geht nur um ein Geburtstagsgeschenk von einem Freund an eine Freundin. Kein Date.«
»Dann ist ja gut«, entgegne ich erleichtert. »Bis, öhm, morgen. Ich freue mich.«
Ich lege das Handy auf dem Nachttisch ab, fächele mir mit den Händen Frischluft zu und sage zu Doktor Herkenrath: »Ist plötzlich ganz schön warm hier drin. Oder meine ich das nur? Ich drehe die Heizung mal ein bisschen runter.«
Fairerweise sollte man erwähnen, dass das, was ich vorhin über den Januar behauptet habe, nicht uneingeschränkt gilt. Die meisten Januartage sind tatsächlich grau und trostlos. Aber wenn man Glück hat, gibt es zwischendurch auch den ein oder anderen Tag, an dem der Himmel blau und die Luft so frisch ist, dass man dem vergangenen Jahr nicht mehr nachtrauert, sondern von dem verheißungsvollen Gefühl ergriffen wird, an einem Neubeginn zu stehen, und erwartungsvoll und optimistisch in die Zukunft blickt.
Der vierte Januar ist so ein Tag. Es ist knackig kalt und auf den Dächern liegt Raureif, aber am Himmel steht kein einziges Wölkchen und die Wintersonne kitzelt meine Nasenspitze, als ich nach dem Aufstehen aus dem Fenster blicke. Der klare Himmel und die Tatsache, dass mich noch eine verspätete Geburtstagsüberraschung erwartet, bewirken, dass ich schon am frühen Morgen bester Laune bin.
»Ich bin heute Nachmittag unterwegs«, eröffne ich Frau Zeigler während des Frühstücks.
»So? Und was hast du vor, Kind?«, murmelt sie abwesend und ohne den Blick von ihrer Zeitung zu heben.
»Bin verabredet.«
»Mit wem denn?«, fragt sie und legt eine argwöhnische Miene auf. »Doch hoffentlich nicht mit dieser Cheyenne Sommer? Ich finde, das Mädchen ist kein guter Umgang.«
Cheyenne und ich gehen in dieselbe Klasse. Seit sie mich mal besucht und mit dem Hinweis, sie und ihre Eltern seien Veganer, einen Speckpfannkuchen von Frau Zeigler abgelehnt hat, ist sie bei ihr unten durch.
»Nein. Mit Danny«, entgegne ich. »Einem Freund.«
»Ein Junge?« Frau Zeigler lässt die Zeitung sinken und sieht mich an, als hätte ich ihr offenbart, dass ich mit dem Yeti verabredet wäre. »Und woher kennst du ihn?«, bohrt sie nach. »Aus der Schule?«
»Ja«, bestätige ich nickend. Gelogen ist das nicht. Auch wenn ich ihn nicht aus meiner Schule kenne. Sondern vom Internat Schloss Eichhorn. Aber das muss Frau Zeigler ja nicht wissen.
Unsere Haushaltshilfe legt den Kopf schief und betrachtet mich mit einem versonnenen Blick.
»Was ist?«, frage ich.
Frau Zeigler stößt einen wehmütigen Seufzer aus. »Hach, wie schnell die Zeit vergeht, Kind. Eben warst du noch fünf und bist auf einem Hüpfball durch den Garten gehüpft. Und dann, schwuppdiwupp, bist du ganz plötzlich dreizehn. Und hast ein Rendezvous.«
»Ein was?«, frage ich verdattert.
»Ach, natürlich: Rendezvous sagt ja keiner mehr«, befindet Frau Zeigler. »Wie heißt das heutzutage? Ein Date, oder? Das wollte ich damit sagen: Du hast ein Date.«
»Es ist kein Date!«, stelle ich nachdrücklich klar.
»Ja, ja«, brummt sie. »Aber ob Date oder nicht: Spätestens um acht bist du zu Hause!«
»Versteht sich von selbst«, sage ich und frage vorsichtig an: »Könnten Sie in der Zeit vielleicht auf Doktor Herkenrath aufpassen?«
»Tut mir leid, Kind, aber heute Nachmittag bin ich auch unterwegs. Bin bei Hilde Mommsen zum Nachbarschaftskaffee eingeladen. Dahin kann ich den Hund nicht mitnehmen.« Sie wirft einen Seitenblick auf meinen ängstlichen Cockerspaniel und flüstert: »Hilde hat drei Katzen. Da wäre schön was los.«
»Hmm«, mache ich und zupfe nachdenklich an einer Haarsträhne herum. »Dann werde ich mir wohl was anderes einfallen lassen müssen.«
Ich warte bis elf Uhr, dann rufe ich – in der Hoffnung, dass Rory mittlerweile aus dem Urlaub zurück ist – in der Detektivagentur an.
Nach dem fünften Freizeichen wird abgenommen und mir tönt ein verschämtes Räuspern entgegen: »Detektivagentur, öhm, Shy.«
»Morgen, Rory. Ich wünsche Ihnen und Charlotte ein frohes neues Jahr!«
»Ähm, äh, ebenso, Matilda«, wispert der Detektiv, und ich höre Charlotte aus dem Hintergrund rufen:
»Dir auch ein frohes Neues, Matilda!«
»Und? Wie war Ihr Urlaub in den Bergen?«, erkundige ich mich.
Woraufhin ein verlegenes Schweigen eintritt, bevor Rory schüchtern stammelt: »Öhm, schön. Es war sehr, ähm, räusper, schön.«
Ein Unschüchterner würde an diesem Punkt des Gesprächs beginnen, seine Urlaubserlebnisse in den buntesten Farben zu schildern. Schüchterne hingegen haben die Befürchtung, ihr Gegenüber durch ausführliche Urlaubs-Erzählungen zu langweilen, und verzichten aus Gründen der Höflichkeit darauf. Da ist ein »Öhm, schön.« offenbar schon das Höchste der Gefühle.
Also wechsle ich das Thema und frage: »Steht eine neue Ermittlung an?«
»Ähm, äh, nein. Momentan leider nicht.«
»In dem Fall hätte ich eine kleine Bitte an Sie«, komme ich zum eigentlichen Anliegen meines Anrufs. »Ich habe heute Nachmittag was vor, zu dem ich Doktor Herkenrath nicht mitnehmen kann. Würden Sie und Charlotte derweil auf ihn aufpassen?«
»Ähm, natürlich. Gerne.«
»Wunderbar. Dann bringe ich ihn gegen halb eins bei Ihnen vorbei.«
Von meiner Tante Vera habe ich zu Weihnachten eine Baskenmütze geschenkt bekommen. Das Tolle an der Kopfbedeckung ist, dass sie vielfältige modische Möglichkeiten bietet: Eine Baskenmütze kann man auf ungefähr hundertzwanzig verschiedene Arten tragen. Nach einigem Hin und Her vor dem Spiegel entscheide ich mich dafür, sie leicht schräg auf den Hinterkopf zu setzen.
»Oder sollte ich sie doch besser ein bisschen weiter nach vorne ziehen?«, frage ich Doktor Herkenrath.
Leider ist er keine große Hilfe. Weil er selbst gerade stark mit seinem Aussehen beschäftigt ist. Er hockt vor dem Spiegel, dreht den Kopf von rechts nach links und betrachtet sein Ebenbild kritisch. Dann beginnt er, sich übers Fell zu lecken, in der Hoffnung, ihm dadurch besonders seidigen Glanz zu verleihen.
Dieses eitle Getue zeigt mein Cockerspaniel jedes Mal, wenn es zu Rory und Charlotte geht. Weil er hoffnungslos verknallt ist, in die Freundin des Detektivs, und sie mit seinem seidig glänzenden Fell beeindrucken will. Immer wenn er Charlotte begegnet, schmachtet er sie mit sehnsuchtsvollem Schiele-Blick an und ist schwer bemüht, sich von seiner allerbesten (und natürlich auch allerschönsten) Seite zu zeigen.
»Komm schon«, sage ich ungeduldig. »Du bist hübsch genug. Außerdem passt Charlotte nur auf dich auf. Ihr habt kein Date.«
Nach einer halbstündigen Fahrt mit der Straßenbahn kommen mein Cockerspaniel und ich in der Detektivagentur in der Sailenzer Straße an.
Das schüchternste aller Paare sitzt in der Küche, knabbert an Rosinenmürbchen (dem Lieblings-Gebäck scheuer und zurückhaltender Menschen) und trinkt dünnen Kaffee. Äußerlich könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Der dürre, groß gewachsene Rory ist stets korrekt gescheitelt und trägt Anzug, Hemd und Krawatte. Charlotte hat eine ungebändigte Lockenmähne und bevorzugt einen entspannten Gammel-Look.
»Ahm, äh, hallo, Matilda«, begrüßt mich der Detektiv mit einem verlegenen Lächeln.
Doktor Herkenrath springt schnurstracks auf Charlotte zu, präsentiert ihr stolz sein Seidenglanz-Fell und hechelt glückselig, als sie ihm zur Begrüßung die Ohren krault.
Ich deute auf einen Koffer, der neben ihrem Stuhl steht, und frage: »Noch nicht zum Auspacken gekommen?«
»Ähm, doch«, wispert Charlotte schüchtern. »Ich habe ausgepackt und schon wieder neu gepackt. Ich bin auf dem Sprung. In einer Stunde reise ich nach Amsterdam. Zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung.«
Irgendwie scheint Doktor Herkenrath die betrübliche Botschaft verstanden zu haben. Er lässt die Ohren hängen, schielt traurig und winselt herzerweichend.
Rory beugt sich zu ihm herunter und sagt in mitfühlendem Ton: »Du wirst heute Nachmittag mit, öhm, mir vorliebnehmen müssen.«
Den Blick, den mein Cockerspaniel daraufhin auflegt, kenne ich: So guckt er ansonsten, wenn er von Frau Zeigler anstelle der erhofften Fleischwurst nur eine Handvoll Trockenfutter bekommt.
Aber auch wenn Doktor Herkenrath auf Charlottes Gegenwart verzichten muss – ich bin sicher, dass er und Rory bestens miteinander klarkommen werden. Seit er dem Detektiv bei unserer letzten Ermittlung das Leben gerettet hat, haben die beiden ein sehr inniges Verhältnis.
»Und? Wie war es im Urlaub?«, frage ich Charlotte in der Hoffnung, dass sie diesbezüglich etwas gesprächiger ist als Rory. »Habt ihr die Ski-Piste unsicher gemacht?«
Der Detektiv und seine Freundin tauschen einen kurzen Blick, bevor Charlotte verschämt flüstert: »Eigentlich, öhm, weniger. Genaugenommen, äh, gar nicht.«
»Nicht?«, sage ich überrascht. »Was stand denn dann auf dem Programm? Spaziergänge im Schnee? Fahrten mit dem Pferdeschlitten? Eisstockschießen?«
»Äh, nein«, nuschelt Rory und blickt dabei auf seine Schuhspitzen. »Die meiste Zeit über waren wir in der, öhm, Hütte.«
»Wer fährt in die Berge, um dann die ganze Zeit in einer Hütte zu verbringen?«, entfährt es mir ungläubig. »Ist doch todlangweilig.«
Wieder wechseln die beiden einen verstohlenen Blick.
»Ach, nein. Das war eigentlich auch sehr, ähm, schön«, murmelt Charlotte mit einem verlegenen Lächeln und hat es plötzlich eilig, das Thema zu wechseln: »Was hast du denn gleich vor, Matilda? Und wieso kann Doktor Herkenrath nicht dabei sein?«
»Ich bin mit einem Freund verabredet«, erkläre ich und ergänze in Richtung Rory: »Mit Danny Bekono. Wir sind ihm auf Schloss Eichhorn begegnet. Erinnern Sie sich?«
Der Detektiv nickt bestätigend, während Charlotte mich mit einem interessierten Blick betrachtet. »Sieh mal einer an«, sagt sie. »Du hast ein Date!«
»Es ist kein Date!«, stelle ich zum zweiten Mal an diesem Tag klar. »Außerdem muss ich jetzt los. Wir sind um halb zwei im Puderzucker verabredet. Dir viel Spaß in Amsterdam, Charlotte.« Ich ermahne meinen Cockerspaniel, sich zu benehmen, und verabschiede mich von Rory mit den Worten: »Vielen Dank fürs Aufpassen! Ich hole Doktor Herkenrath gegen Abend ab.«
Während ich an ausrangierten Christbäumen vorbei zum Café Puderzucker spaziere, zerbreche ich mir unentwegt den Kopf darüber, wie die Überraschung aussehen könnte, die Danny für mich geplant hat. Auf jeden Fall ist es irgendwas, zu dem man keinen Hund mitnehmen kann. Was kommt da infrage?
Will er mich vielleicht zum Schlittschuhlaufen einladen? Ich hoffe nicht, denn ich bin, was Eislaufen angeht, eine absolute Vollniete und lege mich alle drei Meter auf die Nase. Die Blamage würde ich mir gerne ersparen. Auch ein Museumsbesuch könnte peinlich werden. Sobald Menschen ein Museum betreten, werden sie immer ganz andächtig und sprechen nur noch im Flüsterton. Was so gar nicht mein Ding ist. Ich gebe wortreiche und weithin hörbare Kommentare zu den Ausstellungsstücken ab – und ziehe damit regelmäßig den Unmut anderer Besucher auf mich.
Was könnte es noch sein?
Oh, Gott – hoffentlich kein Cello-Konzert!, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe Danny gegenüber mal erwähnt, dass ich Cello-Musik mag. Wobei mögen nicht die ganze Wahrheit ist. Genaugenommen rührt mich der Klang eines Cellos so sehr, dass ich jedes Mal in Tränen ausbreche, wenn ich eins höre. Es passiert einfach so, ohne dass ich was dagegen tun kann. Der arme Danny wäre wahrscheinlich schwer verstört: Er glaubt, mir eine schöne Überraschung zu bereiten – und ich heule neben ihm los wie ein Schlosshund. Cello-Konzert geht gar nicht.
Dann doch lieber Schlittschuhlaufen.
Das Puderzucker ist bekannt für seine leckeren Windbeutel, bietet bis siebzehn Uhr Frühstück für Langschläfer an und ist das gemütlichste Café, das ich kenne. Es gibt kein einheitliches Mobiliar, wie es in anderen Cafés üblich ist, sondern einen kunterbunten Mix verschiedenster Tische, Stühle, Sessel und Sofas. Die Decke ist mit farbigen Stoffbahnen dekoriert, vor den Fenstern hängen dicke Samtvorhänge, kleine Tischlampen sorgen für eine wunderbar schummerige Atmosphäre.
Benannt ist das Café nach seiner Besitzerin: Doro Puderzucker, die zudem Mamas beste Freundin ist.
Um halb zwei ist es im Puderzucker immer proppenvoll. Die eine Hälfte der Gäste ist beim späten Frühstück, die andere Hälfte beim frühen Kaffeeklatsch. Auf den Stufen vor der Eingangstür überprüfe ich noch einmal den Sitz meiner Baskenmütze, nehme einen tiefen Atemzug und trete ein.
»Hallo, Matilda. Schön, dich zu sehen«, begrüßt mich Doro und schüttelt ihre roten Dreadlocks. »Was führt dich hierher? Heißhunger auf einen Windbeutel?«
»Ich bin hier verabredet«, lasse ich sie wissen, schaue mich suchend um und entdecke Danny an einem Tisch am Fenster. Er hebt die Hand und winkt mir zu.
»Oh, du hast ein Date«, sagt Doro belustigt.
»Es ist kein Date«, widerspreche ich und frage im nächsten Atemzug: »Wie findest du das mit der Baskenmütze? Sieht das gut aus? Oder meinst du, ich sollte sie lieber …«
»Keine Sorge, Süße. Alles bestens. Und du bist dir ganz sicher, dass du nicht doch ein Date hast?« Doro kichert amüsiert und begibt sich hinter die Theke. »Ich mache euch beiden Hübschen mal zwei Milchkaffee.«
Gebe ich Danny zur Begrüßung die Hand? Das wäre ein bisschen sehr förmlich. Aber kennen wir uns für eine Umarmung gut genug?, frage ich mich, als er auch schon aus seinem Sessel aufspringt und mich freudig in die Arme schließt.
»Schön, dass du da bist, Matilda! Und – tolle Baskenmütze. Steht dir super!«
»Äh, danke. Ich, ähm, freue mich auch, dich zu sehen«, keuche ich verlegen, ziehe meinen Mantel aus, lege den Schal ab und setze mich. Normalerweise ist das der Moment, in dem ich die Redemaschine anwerfe und anfange, mein Gegenüber vollzulabern. Aber das Einzige, was ich zustande kriege, ist ein verschämtes Hüsteln.
Zum Glück bringt Danny die Unterhaltung ins Laufen, erzählt, wie es ihm seit dem Sommer ergangen ist und was es Neues auf Schloss Eichhorn gibt – bis er von Doro unterbrochen wird, die uns den Kaffee serviert.
Sie hat es sich nicht nehmen lassen, ihn mit kleinen Herzchen aus Milchschaum zu verzieren, und zwinkert mir verschwörerisch zu, als sie die Tassen vor uns abstellt.
Sehr witzig, Doro.
Nachdem sie sich wieder hinter die Kuchentheke verzogen hat, druckst Danny ein wenig herum, bevor er mir erklärt: »Tja, und dann gibt es noch eine Neuigkeit, von der ich dir erzählen wollte.« Plötzlich wirkt er auch etwas verlegen.
»Ähm, was denn?«, frage ich.
»Also, ich … ich werde für ein Jahr als Austauschschüler nach Frankreich gehen.«
»Echt?«, entfährt es mir überrascht und ich blicke ihn forschend an. »Und wann, äh … wann geht es los?«
»Ich fahre schon morgen früh.«
»Oh«, mache ich und gucke wahrscheinlich so verdattert, als hätte mir ein Eichhörnchen eine Walnuss auf die Nase gedonnert.
»Aber ich bin ja nicht aus der Welt«, sagt Danny. »Wir bleiben weiterhin in Kontakt und schreiben uns. Oder?«
»Öhm, natürlich«, nuschele ich.
»Jedenfalls wollte ich dich vorher gerne noch mal sehen«, fährt er fort. »Und ich dachte, das wäre auch die Gelegenheit, um dir ein verspätetes Geburtstagsgeschenk zu machen. Achtung: Überraschung!«, verkündet er, zieht zwei Eintrittskarten aus seiner Jackentasche hervor und überreicht mir eine davon.
Fassungslos stiere ich auf das Ticket und kann nicht glauben, was ich lese:
Savoy-Theater
präsentiert
Mörderische Ehefrauen – Das Musical
04.01.15:00Reihe 2 / Platz 25
Ach du Scheiße!, durchfährt es mich und ich stottere perplex: »Es gibt ein ›Mörderische Ehefrauen‹-Musical?«
»Super, oder?« Danny strahlt mich frohgemut an. »Als ich davon gehört habe, wusste ich sofort, dass das genau das Richtige für dich ist. Wo du mir doch im letzten Sommer so begeistert von den Mörderischen Ehefrauen erzählt hast.«