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Bis heute ist das Erbe Rosa Luxemburgs umkämpft. Auf der einen Seite stehen jene Strömungen, die sich in der Tradition der sozialistischen Revolutionen in Russland 1917 und Deutschland 1918 sehen. Sie kämpfen mit Luxemburg gegen die Anbiederung an bürgerliche Kräfte, gegen die Aufgabe eines sozialistischen Programms, gegen eine Abkehr vom revolutionären Kern des Marxismus. Auf der anderen Seite wird Luxemburg in akademischen Kreisen gelesen und diskutiert bis hin zu Richtungen, die mit Luxemburg gegen die Politik der Bolschewiki und die Machteroberung der Arbeiter*innenklasse durch einen Umsturz argumentieren. Dieser Prozess begann unmittelbar nach ihrem Tod, als Paul Levi nach seiner Rückkehr zur Sozialdemokratie aus der Kommunistischen Partei mit Luxemburg gegen die Politik der KPD, die sie selbst gründete, und die Politik der Bolschewiki, ins Feld zog. Dies bietet den Anlass der Schrift Clara Zetkins, die 1922 letztmalig im Verlag der Kommunistischen Internationale erschien. Bieten Luxemburgs Schriften selbst den Anlass zu den breit gefächerten Haltungen, die daraus geschlussfolgert werden? Zetkin untersucht die Behauptungen, die von Levi und anderen Reformist*innen nach ihm aufgeworfen wurden, stellt sie in den Kontext der realen Politik in Sowjetrussland und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Neuausgabe
Vorwort von Clara Zetkin
I. Rosa Luxemburgs Lebenswerk
II. Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution im September 1918
III. Gegen die reformistische Ausnutzung von Rosa Luxemburgs Septemberkritik
IV. Rosa Luxemburgs Einstellung zur russischen Revolution nach dem November 1918
V. Weitere Beweise für Rosa Luxemburgs revidierte Auffassung
VI. Paul Levis »Einleitung«, ein Missbrauch von Rosa Luxemburgs Septemberkritik
VII. Um die bolschewistische Agrarpolitik
VIII. Schwierigkeiten und Gefahren der bolschewistischen Konzessionspolitik
IX. Sowjetmacht, proletarische Parteidiktatur und Klassenherrschaft
X. Die aufsteigende Entwicklung der Sowjets
XI. Die Bedeutung der russischen Revolution für das Weltproletariat
Erläuterungen und Glossar
Impressum
Dieses Buch ist eine leidenschaftliche Verteidigung von Rosa Luxemburg als Revolutionärin und von der Russischen Revolution und der sie führenden bolschewistischen Partei. Clara Zetkin, die eine wichtige Weggefährtin Luxemburgs war, setzt sich darin mit der von Paul Levi 1921 herausgegebenen »Nachlassbroschüre« auseinander, in der dieser Rosa Luxemburgs im September 1918 in Gefangenschaft verfassten Texte zur Russischen Revolution veröffentlichte, in denen sie sich kritisch mit der Politik der Bolschewiki auseinander setzte und er sie als eine Gegnerin der bolschewistischen Politik darstellt.
Levi war 1919, nach der Ermordung von Leo Jogiches Vorsitzender der KPD geworden und hatte 1921 mit der Kommunistischen Internationale gebrochen. 1922 wurde er wieder Mitglied der Sozialdemokratie und starb 1930 an den Folgen eines Fenstersturzes aus ungeklärten Umständen.
Zetkin legt minutiös die politische Entwicklung Rosa Luxemburgs in den wenigen Monaten zwischen der Erarbeitung ihrer Texte zur Russischen Revolution und ihrem Tod im Januar 1919 dar und erklärt, dass die von ihr selbst in der deutschen Novemberrevolution vertretene Politik zeigt, dass sie ihre kritischen Positionen zur bolschewistischen Politik in der Praxis revidiert hatte. So zeichnet sie ein lebendiges Bild dieser einzigartigen Revolutionärin und ihres politischen Denkens und Handelns. Eine umfassende Darstellung der politischen Ideen Rosa Luxemburgs hat Wolfram Klein in seinem Buch »Rosa Luxemburg« zu Papier gebracht, welches ebenfalls im Manifest Verlag zum 150. Geburtstag Luxemburgs erschien.
Im zweiten Teil verteidigt Clara Zetkin die damalige Politik der Bolschewiki in den Jahren 1921 und Anfang 1922. Dabei setzt sie sich ausführlich mit den ungünstigen Bedingungen auseinander unter denen die Russische Revolution stattfand und die von den Bolschewiki Maßnahmen erforderten, die – oberflächlich betrachtet – keinen sozialistischen Charakter hatten, wie die Wiedereinführung begrenzter marktwirtschaftlich-kapitalistischer Elemente in der Landwirtschaft. Sie erklärt, warum diese Maßnahmen nötig waren, um das Überleben des ersten Arbeiter*innenstaates zu garantieren. Ihr Text ist ein wunderbares Beispiel für dialektisches Denken, das alle Phänomene in ihrer Widersprüchlichkeit und von allen Seiten betrachtet und von revolutionärer Politik, die sich nicht dogmatisch an abstrakten Lehrsätzen, sondern an den konkreten Gegebenheiten und der Zielsetzung, der Macht der Arbeiter*innenklasse zu erhalten, orientiert.
Es ist dabei einerseits interessant, wie sehr die Autorin auf die Gefahren der Bürokratisierung und die Existenz bürokratischer Elemente im jungen Sowjetrussland hinweist und gleichzeitig diese Gefahr doch unterschätzt, weil sie die Festigkeit der bolschewistischen Partei als Garanten dafür sah, eine vollständige Bürokratisierung des Arbeiter*innenstaates – wie sie im Zuge der 1920er Jahre geschah – zu verhindern. Sie betont, wie lebendig das politische Leben in der bolschewistischen Partei und den Sowjets Anfang der 1920er Jahre trotz Bürgerkrieg und katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen – einer faktischen weitgehenden Atomisierung der Arbeiter*innenklasse – war und scheint zu unterschätzen, dass eben diese Bedingungen die Bolschewiki dazu zwangen in einem gewissen Ausmaß stellvertretend für die Arbeiter*innenklasse selbst die Macht in diesem jungen Staat auszuüben. Und doch hat sie Recht, wenn sie darauf hinweist, dass die bolschewistische Partei Anfang 1922 eine revolutionäre Arbeiter*innenpartei war, in der leidenschaftlich debattiert wurde und es keine von der Arbeiter*innenklasse separaten Interessen gab. Die Entwicklung des Stalinismus war zu diesem Zeitpunkt für solche Kommunist*innen, die in und mit der Partei die Revolution gemacht hatten nicht vorstellbar. Zetkin hat sich, anders als Leo Trotzki und seine Unterstützer*innen, nicht öffentlich gegen diese Entwicklung gestellt, was ihren herausragenden Beitrag für die sozialistische Bewegung jedoch nicht schmälert.
Dieses Buch erschien nach seiner Erstveröffentlichung 1922 nur in Auszügen in den in der DDR veröffentlichten Werken Clara Zetkins. Wir freuen uns, es 99 Jahre nach seiner Erarbeitung wieder aufzulegen. Es ist nicht nur von historischem Interesse. Es ist ein hervorragendes Beispiel der marxistischen Analysemethode und beinhaltet viele Lehren für die zukünftigen Anläufe, den Kapitalismus zu überwinden. Aber auch die Verteidigung Rosa Luxemburgs ist eine aktuelle Aufgabe. Denn die Ideen dieser großen Marxistin und Revolutionärin werden heute mehr denn je entstellt und ihres revolutionären Inhalts beraubt. Mit der Herausgabe ihrer Schriften, einschließlich ihrer Schriften zur Russischen Revolution, und dieses Werks von Clara Zetkin will der Manifest Verlag einen Beitrag dazu leisten, Rosa Luxemburgs wahres Erbe lebendig zu halten.
Sascha Staničić
Berlin, im März 2021
Die nachfolgende Arbeit ist schon zu Anfang dieses Jahres niedergeschrieben worden. In heißer Empörung über Paul Levis Versuch, die begonnene Fahnenflucht aus dem Lager der proletarischen Revolution in das Lager des Reformismus mit dem Namen Rosa Luxemburgs zu decken, der konsequenten Hasserin und Bekämpferin des Reformismus. Ein Zusammentreffen äußerer Umstände hat bewirkt, dass meine Abwehr solcher Schändung nicht sofort veröffentlicht werden konnte.
Seither ist es gekommen, wie es sich damals bereits zum Greifen deutlich ankündigte. Paul Levi ist seinen »Weg« weiter gegangen. Von der Kommunistischen Partei, die sich, aus bitteren Erfahrungen lernend, in Arbeit und Kampf von Tag zu Tag allmählich zur Massenpartei empor ringt, über die Unabhängige Sozialdemokratie hinweg und mit ihr zusammen zurück zu der Mehrheitssozialdemokratie. Noch vor Gera und Nürnberg war Paul Levi reif für die »Vereinigung« geworden, wie die Hilferding und Crispien längst reif für sie waren. Trotz Görlitz. In kürzester geschichtlicher Zeitspanne haben sich die sozialen Dinge so zugespitzt, dass sie nicht länger Zwittergebilde und Zwitterstellungen zwischen Revolution und Reformismus dulden. Es heißt wählen.
Der Herausgeber von Rosa Luxemburgs »Nachlassbroschüre« hat gewählt. Er hat sich damit selbst erledigt und erledigt sich bei jedem Waffenklirren auf dem geschichtlichen Schlachtfelde des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer unwiderruflicher. Er ist heute nicht mehr einer, auf dessen Stimme Freund und Feind wartet wie auf orientierendes Trompetengeschmetter, auf dessen Stimme man aufmerkt. Was verschlägt es also, dass er fortfährt, die bolschewistische Partei zu begeifern, ohne deren Führung die russische Revolution nicht zum »gewaltigsten Faktum des Weltkriegs« geworden wäre? Hat es da noch einen Sinn, gegen sein Tun und seine Tendenz zu polemisieren?
Ich habe mir diese Frage gestellt und sie bejaht. Die Papierkügelchen, die Zwerge anlässlich der veröffentlichten »Nachlassbroschüre« gegen die Riesin russische Revolution abgeschossen haben, sind platt zu Boden gefallen und zertreten. Geblieben jedoch sind die großen geschichtlichen Probleme, die die Revolution selbst mit jedem Tage ihres Lebens und Webens aufwirft. Rosa Luxemburg hat ernst mit ihnen gerungen, andere haben mit ihnen nur literarisch gespielt.
Diese Probleme sind nicht bloß Probleme der russischen Revolution, sondern der proletarischen Revolution, deren Donner langsam, aber sicher näher und näher zu uns durch die Welt rollen. Wer wagt zu prophezeien, wie früh oder wie spät sie in ihrer Tragweite als brennende praktische Tagesfragen vor dem Proletariat noch nicht sowjetischer Staaten stehen werden? Wie sie als solche Fragen kurze Zeit vor der Arbeiterklasse Deutschlands gestanden sind, bis es der deutschen Bourgeoisie mit Hilfe reformistischer Führer glückte, die junge, unsicher daher schreitende proletarische Revolution abzuwürgen. Sicherlich wird das in den einzelnen Ländern entsprechend der verschiedenen, geschichtlich gegebenen Umstände geschehen, allein der Wesenskern der Probleme wird der gleiche bleiben. Denn wenn er auch innerhalb »nationaler Wände« wächst und sich entwickelt, so kann er doch seinen Ursprung nicht verleugnen: die bürgerliche Klassengesellschaft mit ihren unüberbrückbaren Gegensätzen, und diese ist international.
Probleme der proletarischen Revolution bilden den Inhalt meiner Darlegungen. Ich habe nichts an der polemischen Art geändert, in der diese vor Monaten niedergeschrieben worden sind. Sie tragen nach meiner Ansicht dazu bei, die grundsätzlichen Unterschiede der geschichtlichen Einstellung zwischen kleinbürgerlich-demokratischen Reformsozialisten und revolutionären Kommunisten scharf hervortreten zu lassen. Ich maße mir keineswegs an, mit meiner Arbeit die umstrittenen Fragen »gelöst« zu haben. Immerhin hoffe ich, dass sie zum Verständnis der proletarischen Revolution Russlands und der Politik ihrer führenden Partei beiträgt.
Die Arbeit erscheint am Vorabend des fünften Jahrestags der Aufrichtung Sowjetrusslands. Ich lege sie nieder am Grabe Rosa Luxemburgs, der Unvergesslichen und Unersetzlichen, die die Eroberung der Staatsgewalt durch das russische Proletariat jubelnd begrüßte, eine sonnensehnsüchtige Seele, die endlich nach langer, dunkler Nacht den Morgen empor dämmern sieht, ein forschender Geist, der das große, schöpferische Neue zu bewältigen strebt, ein starker Wille, der unwiderstehlich vorwärts drängt. Ich widme die Arbeit dem heldenhaften russischen Proletariat und seinen treuen Führern. Jenem Proletariat, das wundenbedeckt, von Feinden bedräut, vom Weltproletariat allein gelassen bis heute den ungebrochenen Mut bewahrt hat, an seine große geschichtliche Aufgabe zu glauben und im Bewusstsein internationaler Solidarität für ihre Erfüllung zu arbeiten und zu kämpfen. Jenen Führern, die der Größe dieses Proletariats ebenbürtig sind.
Clara Zetkin.
den 24. Oktober 1922
Seine Bedeutung und Geschlossenheit / Seine Schändung durch die reformistischen Gegner auf Grund von Levis »Nachlassbroschüre« / Zur Geschichte der »Nachlassbroschüre«
Weit mehr als Rosa Luxemburgs tragischer Lebensausgang allein ist der Grund dafür, dass die von einer ebenso bestialischen als feigen Offizierskamarilla Ermordete für immer »eingeschreint bleiben wird in dem großen Herzen« des befreiungssehnsüchtigen Weltproletariats von heute, der befreiten Menschheit von morgen:
Es ist der Schatz ihres Lebenswerks, den sie an den Befreiungskampf der Ausgebeuteten dahingegeben hat. Ein Schatz von seltenem Reichtum, ein Lebenswerk von seltener Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Größe. Ein von revolutionärer Leidenschaft glühendes Herz hieß einen eisernen Willen, reiche Talente zu einer starken Kraft zusammenballen, gerichtet auf das eine titanenhafte Ziel, das der um Erkenntnis ringende junge Marx in faustischem Drang sich gesteckt: die soziale Welt zu verändern.
Im Dienste dieses Ziels war Rosa Luxemburg Zeit ihres Lebens hingebungsvolle Gläubige und seherische, vermittelnde Hohepriesterin, fragende, forschende, kühl abwägende Gelehrte und kühn wagende Kämpferin, die vorwärts stürmte, ungeschreckt durch Hindernisse, der Gefahren spottend. Ihr außergewöhnlich scharfer, starker Geist zergliederte nicht bloß mit unerbittlicher Logik die sozialen Tatsachen und Vorgänge, sondern er erfasste sie auch stets dialektisch, im Fluss ihrer Entfaltung. Aus einem gründlichen, umfassenden Wissen um die Vergangenheit und Gegenwart der Gesellschaft schöpfend, von den verschiedensten Wissensgebieten angeregt und genährt, kristallisierte er Kenntnisse zu wegweisender Erkenntnis über die Triebkräfte, die Richtung, die Bedingungen des sozialen Vergehens und Werdens unserer Tage. Marxens historischer Materialismus war Rosa Luxemburg dabei nicht etwa die fertige Formel, an der sie das geschichtliche Leben maß, wohl aber gab er ihr die sichere Methode, um das geschichtliche Leben zu verstehen in seiner auf- oder abwogenden Veränderlichkeit, seinen strengen Gesetzen, seiner bunten Ausstrahlung voller Sinn und Widersinn.
Im Mittelpunkt ihres Ringens um Durchdringung und Bändigung des riesigen und mit jedem Tag wachsenden Wissensstoffs stand, was Mittelpunkt ihrer glühenden Sehnsucht, ihrer verzehrenden Tätigkeit war: die Revolution. Die Revolution als der höchste Ausdruck gesellschaftlicher Schöpfungskraft, als der stolze, weithin sichtbare Gipfel einer steigenden und verebbenden Welle neuen geschichtlichen Lebens. Die Wahrheitssuchende wollte Wirklichkeitsgestaltende sein. In ihrer Persönlichkeit, in ihrem Leben schlossen sich Unkenntnis, Wille und Handeln zum unzerbrechlichen Ringe.
So konnte in der Vorkriegszeit Rosa Luxemburg unbeirrt durch die revolutionäre Phraseologie der deutschen Sozialdemokratie die Führerin der Opposition gegen die opportunistische Praxis dieser Partei werden, gleichzeitig aber eine der überragenden Gestalten der Zweiten Internationale, ebenso bewehrt, waffentüchtig und überlegen im Kampfe gegen den Reformismus und Revisionismus der Bernstein jeder Spielart und jeder Nationalität, wie gegen alle anarchistischen und anarchistelnden Schrullen und Kindsköpfigkeiten sich revolutionär gebärdender Kleinbürgerei. Das zähe Ringen um die Verwirklichung ihres Jugendtraums, das polnische Proletariat zu wecken und auf dem Boden zielklaren Klassenkampfs in fest gefügter Front mit den Arbeitern Russlands, Deutschlands, aller kapitalistischen Staaten zum revolutionären Sturm wider die bürgerliche Ordnung zu führen, ließ sie früh und klar das Problem der Internationalität des proletarischen Klassenschicksals in seiner ganzen beherrschenden Bedeutung würdigen. Bei der ideologischen und organisatorischen Aufbauarbeit der Sozialdemokratie Polens und Litauens stieß sie auf die verbissene Gegnerschaft des Nationalismus, des Sozialpatriotismus der PPS. In glänzenden Waffengängen setzte sie sich mit ihm auseinander, ihn als eine gefährliche Form des Opportunismus enthüllend.
So war Rosa Luxemburg wie kaum jemand berufen und auserwählt, vom ersten Tage des Weltkrieges an dessen imperialistischen Charakter aufzudecken, das schillernde Gespinst von Legenden und Geschichtsklitterungen kritisch zu zersetzen, mit dem die Scheidemänner und David der verschiedensten Nationalitäten, aber gleichen Verrats ihrer Grundsätze, ihn verhüllten; die Massen der Ausgebeuteten aufzufordern, ihre internationale Solidarität im Zeichen der Revolution zum obersten Gesetz ihres Handelns zu machen. Sie war mehr als der Mittelpunkt der anfangs winzigen, allmählich wachsenden Ideen- oder Kampfesgenossenschaft, die den Weltkrieg als Auftakt der Weltrevolution begriff und unerschrocken daran ging, das Proletariat für sie zu mobilisieren. Sie war ihr heilig glühendes Herz, ihr klar erkennendes Hirn, ihr diamantharter Wille. Ohne Zögern und Zaudern, sonder Wanken und Schwanken wurde bei ihr der Gedanke Tat. Den Blick unverrückt der Weltrevolution zugewandt, bekämpft Rosa Luxemburg in Theorie und Praxis gleich unerbittlich und wuchtig sowohl die offenen Verräter des Proletariats, die im Namen der »Vaterlandsverteidigung« und anderer Lügen die Arbeiter an die Schlachtbank des Imperialismus lieferten, wie die Hehler der Sozialpatrioten, die unter Berufung auf die Parteidisziplin und sonstige »Realitäten« feige den Massenbetrug duldeten und vor dem Kampf flohen.
Und wieder steht Rosa Luxemburg führend mitten im dichtesten Kugelregen, als greifbare Nähe ward, was geschichtliche Perspektive gewesen. Mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter und Bauern in Russland unter der entschlossenen Führung der Bolschewiki, mit der Aufrichtung der Diktatur der Schaffenden in der Räteordnung daselbst glühte die Weltrevolution auf. Es schien, dass ihre Lohe sich reibend rasch über den Erdball wälzen müsste. Flackerten nicht mehr und mehr ihrer Feuerzeichen empor? Der militärische Zusammenbruch der Zentralmächte; die sinnenfällige Zerrüttung der kapitalistischen Wirtschaft in allen Ländern; die Umwälzung in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie; der Umsturz des kaiserlichen deutschen Reiches. Nach der Höhe der ökonomischen Entwicklung Deutschlands, nach der Bedeutung, der politischen Schulung und Organisation und den Leiden seines Proletariats deuchte die Annahme nicht verwegene Phantasterei, dass hier der Umsturz zur ganzen, zur proletarischen Revolution werden, und dass diese die Arbeiter Westeuropas zum Befreiungskampf rufen müsste.
Abermals erlebt Rosa Luxemburg, dass die proletarischen Massen Deutschlands an Reife der Erkenntnis, des Willens, der Opferfreudigkeit der revolutionären Situation nicht gewachsen, nicht ebenbürtig sind. Sie lassen sich aufs Neue von Führern narren, die gewöhnt sind, geschichtlich nur mit den messingnen Spielpfennigen bürgerlicher Reformlerei zu rechnen, und deren Furcht vor der Macht der Bourgeoisie größer ist, als ihr Vertrauen auf die revolutionär zu entfesselnden Kräfte des Proletariats. Die Ebert-Scheidemann verraten offen das Proletariat, das sie von den Kampffeldern der Revolution zurücktreiben in den »Frieden« der kapitalistischen Ausbeutung. Die Haase-Dittmann bauen den Schutzwall solchen schmählichen Tuns, indem sie vor dem Kampf für die Weiterführung der Revolution zurückschrecken. Ein Schwindel hat dabei den andern abgelöst. Statt der »Pflicht zur Landesverteidigung« wird den Massen die Hoffnung auf die »Demokratie« gepredigt. Auf die Demokratie des bürgerlichen Staats, die sich ihnen schon am 6. Dezember 1918 als blutige Klassendiktatur der Bourgeoisie enthüllte, als Wels, der sozialdemokratische Stadtkommandant von Berlin, auf wehrlose demonstrierende Kriegskrüppel und Arbeitslose schießen ließ.
Durch die Revolution aus der Schutzhaft befreit, nimmt Rosa Luxemburg sofort den Kampf gegen Verrat, Unklarheit, Schwäche, Halbheit auf. Sie ringt um die Seelen der Proletarier, um ihr revolutionäres Erwachen und Handeln mit allen Mächten der bürgerlichen Welt, mit allen Einflüssen der sozialdemokratischen Parteien, die revolutionsfeindlich oder revolutionsängstlich sind. Mit geschärftem Blick für die Bedürfnisse und Bedingungen der deutschen Revolution — als des nun wichtigsten weiteren Schrittes der Weltrevolution — verfolgt sie die unrevolutionären und gegenrevolutionären Irrwege und Seitensprünge des Ebert-Haase-»Rats der Volksbeauftragten« und später die brutalen Lakaiendienste, die die von den Unabhängigen gereinigte mehrheitssozialdemokratische Regierung der Bourgeoisie leistet. Schonungslos löst Rosa Luxemburg alle klingenden Schlagworte, alle gleißenden Begriffsfälschungen in ihr Nichts auf, mit denen der revolutionäre Tatwille der Arbeiter entmannt wird. Ihre leidenschaftliche Überzeugung pulsiert in dem fieberhaften Kampf von Tag zu Tag, ihre glänzenden, vielseitigen Talente und ihr gründliches Wissen sind in ihm lebendig. Und wie ihr allzeit die Revolutionen der Vergangenheit Fundgruben der Erkenntnis waren, so wird ihr geschichtliches, politisches Verstehen und Handeln nun angeregt, wegsicher und befeuert durch das Weben und Wirken der proletarischen Revolution in Sowjetrussland.
Auf der Höhe ihres Kampfes für das Weitertreiben der Revolution fällt Rosa Luxemburg, das Opfer monarchistisch-militaristischer Mordbuben und ihrer moralisch, politisch Mitschuldigen: der Ebert-Scheidemann-Regierung. Sie fällt, umlauert und umheult von dem Hass und der Furcht, von den Verleumdungen und Beschimpfungen der um ihre Kassenschränke und Herrschaftsgewalt zitternden Bourgeoisie, aber auch jener Führenden der Arbeiterbewegung, die die Revolution in die Zwangsjacke eines ausschließlich bürgerlich-demokratischen Umsturzes stecken oder aber sie »im Flügelkleide einer Mädchenschule« sehen möchten. Rosa Luxemburgs zarte Körperlichkeit ist aus dem Schlachtgetümmel der aufeinander prallenden Klassen verschwunden, ihr kühner, erkenntnisklarer Geist schreitet den Ausgebeuteten und Enterbten aller Länder solange führend voran, als sie gegen den Kapitalismus kämpfen müssen. Denn die stolze Einheit dessen, was Rosa geschaffen und was sie war, steht vor den Massen, einem gewaltigen Block carrarischen Marmors gleich. Nicht überall geglättet und behauen, mit Kanten, Ecken und Unebenheiten, aber in schimmerndem Weiß weithin leuchtend und mit der Festigkeit des Gefüges der Wetter Unbill trotzend. Dieses unvergängliche Denkmal, das Rosa Luxemburg sich selbst gesetzt, kündet den Massen, wo die rauen, steilen Wege der proletarischen Revolution sich scheiden von den sanften, blumigen Pfaden der bürgerlichen Reform.
Doch was erlebten wir, noch ehe dass sich der Tag zum dritten Male jährte, dass »der genialste Kopf unter Marxens Schülern« zertrümmert wurde? An den reinen Marmorblock von Rosas Lebenswerk treten die Leute des »Vorwärts« heran, und sie schreiben darauf mit Händen, die das Blut des Weltkrieges und deutscher Revolutionskämpfer gerötet hat: »Wie unklug von den Offizieren des Edenhotels, dass sie Rosa Luxemburg mordeten. Hätte sie weiter gelebt, sie wäre die unsere geworden, reif für die Abwürgung der Revolution und für die Stinneskoalition.« Es kommen die Mannen der »Freiheit« und malen auf den Block mit zitternden Fingern in krausen, verschwommenen Zügen:
»Wenn Rosa Luxemburg nicht revolutionsberauscht die soziale Welt der Gegenwart verkehrt sah und in ihrem Denken unsicher hin oder her schwankte, wenn sie auf dem Boden des Marxismus blieb, wie ihn Kautsky und Hilferding für die Theorie auffassen und Haase und Dittmann für die Praxis, so war sie die unsere.«
Man denke! Die Leute des nämlichen »Vorwärts«, der am Tage vor Rosa Luxemburgs Ermordung geradezu zu solcher Schmachtat in den berüchtigten Versen Zicklers aufgereizt hatte, deren dichterische Wertlosigkeit der richtige Rahmen war für die Nichtswürdigkeit der Gesinnung. Die Mannen der nämlichen »Freiheit«, die im November und Dezember 1918, im Januar 1919 die scharfe, aber sachliche Abrechnung Rosa Luxemburgs mit den USP-Schildhaltern der gegenrevolutionären Ebert-Scheidemann-Politik in ohnmächtiger Wut nicht anders zu beantworten wusste, als mit Verdrehungen und Unterstellungen der überzeugenden Gedankengänge, und die noch die Ermordete mit der Verleumdung begeiferte, sie habe ihre Parteigegner mit »vergifteten Waffen« bekämpft. Sie alle hatten auf einmal ihr Herz entdeckt für die »geistig hoch stehende Frau«, für die »Schärfe ihres Geistes«, die »Wissenschaftlichkeit« ihres geschichtlichen Denkens, und sie würdigen »das Vermächtnis«, das sie dem Proletariat gelassen. Sie möchten den aus Nacht und Not empor drängenden Massen einreden — und reden sich vielleicht selbst ehrlich ein —‚ dass Rosa Luxemburg eins war mit ihnen in der Wertung des größten, bedeutsamsten Geschehnisses unserer Zeit: der russischen Revolution, oder genauer gesagt: in der Beurteilung der Bolschewikpartei, dem denkenden Hirn, dem wagemutigen Willen, dem reisig bewehrten Arm der russischen Sowjetrepublik. Muss es noch gesagt werden, dass diese Beurteilung umgemünzt wird zu einer einseitigen, gehässigen Verurteilung der Politik, der Methoden und Mittel des revolutionären Kampfes dieser Partei, unter deren Führung die Revolution in Russland klar und scharf ihr proletarisches Wesen herausgestellt hat? Würgend, bitter steigt es einem im Halse empor. Das Bitterste aber ist, dass für das frivole Spiel der Stampfer und Hilferdinge der Anstoß und der Schein des Rechts gegeben wurde durch das Tun eines Mannes, der in den letzten entscheidungsreichen Jahren einer von Rosa Luxemburgs nahen Kampfesgenossen gewesen ist. Die reformistischen Führer berufen sich auf die Broschüre, die Paul Levi aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg veröffentlicht und eingeleitet hat: »Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung.«1
In tieferem Sinne als von manchem dickleibigen Buch gilt von Rosa Luxemburgs knapper und zum Teil nur skizzierter Arbeit, dass sie ihre Geschichte hat. Ihr grauer Hintergrund ist die Schutzhaft Rosa Luxemburgs in Breslau, mit der Absperrung von dem wild tosenden Strom des Geschehens und den Mitteln und Möglichkeiten, auf breitester, sachlicher Grundlage zur Selbstverständigung darüber zu gelangen. Ihr Herzschlag ist die Sorge um die russische Revolution, über deren Tragweite sich die weitsichtige geschichtliche Denkerin von Anfang an im Klaren war, ist der leidenschaftliche Drang der glutvollen Revolutionärin, mit aufhellender Kritik aktiv einzugreifen. Der Herausgeber hat in seinem »Vorwort« von der Entstehung der Abhandlung erzählt. Rosa Luxemburg schrieb sie nach einem Besuch Paul Levis im September 1918, um diesen davon zu überzeugen, dass — im Gegensatz zu seiner damaligen Meinung — eine kritische Auseinandersetzung des internationalen Kommunismus mit der Politik der Bolschewiki notwendig sei.
Der Herausgeber der Nachlassbroschüre schweigt über anderes, das von dem gleichen Interesse sein dürfte. Nämlich darüber, ob Rosa Luxemburg selbst später die Veröffentlichung ihrer Arbeit gewollt hat. Obgleich sie mir im Sommer 1918 zweimal schrieb, ich möchte bei Franz Mehring auf eine wissenschaftlich-kritische Stellung zur bolschewistischen Politik hinwirken, obgleich sie mir von ihrer eigenen damals beabsichtigten größeren Arbeit darüber Mitteilung machte, hat sie in ihrer weiteren Korrespondenz von dieser Angelegenheit als »erledigt« gesprochen und ist später nie wieder darauf zurückgekommen. Das Warum liegt für jeden auf der Hand, der mit Rosa Luxemburgs Betätigung nach dem Ausbruch der deutschen Revolution vertraut ist. Diese Betätigung ist durch eine Stellungnahme zu den Problemen der Konstituante, Demokratie, Diktatur etc. charakterisiert, die sich in Widerspruch zu der früheren Kritik an der Bolschewikpolitik befindet. Rosa Luxemburg hatte sich zu einer veränderten geschichtlichen Wertung durchgerungen.
Das war der einzige Grund — und meines Dafürhaltens ein zu achtender Grund — weshalb Leo Jogiches sich entschieden gegen die Veröffentlichung der nachgelassenen Kritik erklärt hat. Leo Jogiches war zeitlebens das kritische Gewissen Rosa Luxemburgs, ihr nächststehender und vor allem auch in jeder Hinsicht ihr ebenbürtiger Kampfesgenosse. Er ist die einzige Persönlichkeit, die moralisch und politisch das Recht hatte, gleichsam als Rosas Testamentsvollstrecker zu entscheiden. Und wer des Glücks teilhaftig geworden ist, diesen seltenen Menschen zu kennen, zu kennen in seinem großzügigen, wundervollen Freundschafts- oder Kampfesbund mit Rosa Luxemburg, der weiß genau, dass er in dieser Sache nie eine Meinung geäußert haben würde, wenn er nicht fest überzeugt gewesen wäre, im Sinne und nach dem Willen der Freundin zu handeln. Paul Levi war das alles bekannt; er ist mit nachlässiger Handbewegung über den Willen der beiden großen Toten weg gestampft. Das Lob der bürgerlichen und erst recht der sozialdemokratischen »Antibolschewisten« und ihre dreist-demagogische Ausschlachtung der Nachlassbroschüre sagen eindeutig, ob er sich dafür auf das »höhere Recht« der Revolution, des internationalen Proletariats berufen darf.
Paul Levi behauptet schlankweg: »Von gewisser Seite war der Broschüre der Flammentod zugedacht«. Dieses Märlein für artige Kinder, die das Gruseln lernen sollen, machte selbstredend die Runde durch die Blätter, in deren Redaktionen von einem »vernichtenden Schlag« gegen die »dogmatisch starren und verbrecherischen« Bolschewiki geträumt wurde. Die geängstigte Phantasie dort sah sicherlich neben dem brennenden Scheiterhaufen »ketzerischer« Schriften Sinowjew als roten Großinquisitor und Bela Kun nebst Radek als seine schleppenden und schürenden Henkersknechte. Mögen sich die Gemüter der Sanften und Wahrheitsdürstenden beruhigen. Der Flammentod-Legende liegt nichts als dieses zu Grunde: Leo Jogiches — wie erstaunt würde er sein, dass er als »gewisse Seite« heraufbeschworen worden ist! — hatte mich damit beauftragt, in Rosas Schreibtisch sowie in einigen Kisten nach Manuskripten, Briefen etc. zu suchen. Die Ausbeute war gering. Die Noskiden hatten in der Wohnung der »hetzenden Bolschewistin« nach der vandalischen Manier gehaust, die diesen Schützern der Ordnung und des Eigentums Selbstverständlichkeit war. Ich trug gewissenhaft jedes aufgestöberte Blättchen wie ein Heiligtum zu Leo, und wir prüften und besprachen die Funde. Darunter waren einige Seiten mit Stichworten, Hinweisen, abgerissenen Sätzen zu einer Kritik Rosas an der bolschewistischen Politik in der Agrar- oder Nationalitätenfrage. Leo reichte mir diese Blättchen mit der Bemerkung zurück: »Verbrennen Sie das. Es ist zu fragmentarisch, und Rosa hat über diese und andere Fragen der bolschewistischen Taktik ausführlicher geschrieben. Aber auch das soll nicht veröffentlicht werden.«
Ich muss Leo daraufhin wohl fragend und erstaunt angeblickt haben, denn er fuhr fort:
»Meinen Sie nicht, aus Rücksicht auf unsere russischen Freunde. Die können noch andere Kritik vertragen. Nein, nein! Wegen Rosas. Sie hat ihre anfängliche Beurteilung der bolschewistischen Methoden und Taktik in wichtigen Punkten wesentlich modifiziert. Was sie darüber in der Schutzhaft zu Breslau geschrieben, ist ein erster, tastender und noch unfertiger Versuch, die russische Revolution wissenschaftlich-kritisch zu bewältigen. Rosa fehlte es in Breslau an genügend dokumentiertem Material. Sie konnte auch keine lebendige Fühlung mit Führern der russischen Revolution haben, die die Dinge aus eigener Anschauung kannten. Als sie nach Berlin kam und den Kampf für die deutsche Revolution aufnahm, ging sie mit Feuereifer daran, sich über die revolutionäre Entwicklung in Russland gründlich zu orientieren. Die deutsche Revolution selbst zwang dazu. Sie stellte vor die Massen die Frage der Diktatur, Demokratie, des Rätesystems etc. Rosa dachte nicht mehr daran, mit ihrer alten Kritik an die Öffentlichkeit zu kommen. Sie hatte die Absicht, eine neue größere Abhandlung über die russische Revolution zu schreiben.«
Leo sprach dann sehr eingehend mit mir über Rosas Nachlass, im Besonderen über ihren literarischen Nachlass, der dem internationalen Proletariat zu erb und eigen gehöre. Er und ich seien die »natürlichen« Verwalter und Testamentsvollstrecker, und wir würden selbstverständlich Adolf Warski und Julius Marchlewski-Karski zur Regelung und Herausgabe heranziehen. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, die Blätter zu verbrennen, die Rosas klare, charaktervolle Schriftzüge trugen. Auch meinte ich, die Notizen könnten später einmal von Interesse und Wert sein. Nie ist mir bekannt geworden, dass irgendwer Rosas Kritik »dem Flammentod zugedacht« habe. Wie wäre das auch möglich gewesen! Das Manuskript dazu befand sich bei Paul Levi, bzw. in Händen, die ihm so willig und sicher gehorchen wie seine eigenen.
Die Presse der sozialdemokratischen Koalitionspolitiker und Opportunisten in Deutschland tat, als ob die Welt die Kenntnis »der wahren Meinung Rosa Luxemburgs über die Bolschewisten« als Offenbarung erst Paul Levi verdanke. In Wirklichkeit war es längst bekannt, dass Rosa einzelnen Auffassungen und Maßnahmen der bolschewistischen Politik anfänglich kritisch und ablehnend gegenüberstand. In der Broschüre: »Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches«2 schrieb Karl Radek voriges Jahr:
»Abgeschnitten von der Welt, angewiesen auf sehr spärliche Informationen über die Lage in Russland, war sie voller Angst um die Geschicke der russischen Revolution. Sie fürchtete, dass es dem deutschen Imperialismus gelingen werde, die russische Revolution zu erdrosseln, und von diesem Standpunkt aus stand sie der Taktik der Bolschewiki in der Friedensfrage kritisch gegenüber. Aber während die Kautsky, die sich jetzt unter die Fittiche der Luxemburgischen Kritik des Bolschewismus verschanzen wollen, nicht den Finger rührten, um die deutsche Arbeiterklasse zum wirklichen revolutionären Kampf zu bewegen, dessen Fehlen die gefährliche Situation schuf, in der sich die russische Revolution außenpolitisch befand, endete die Luxemburgische Kritik immer in dem Appell an die deutschen Arbeiter, die sie verantwortlich machte für all die Gefahren, in denen sich die russische Revolution befand. Und deshalb wussten wir immer, wenn wir die Artikel Rosa Luxemburgs im ›Spartakus‹ lasen, dass wir, trotz ihrer Kritik an uns, mit ihr in der Tat einig waren; denn sie suchte in Deutschland die Pflicht zu erfüllen, die wir in Russland erfüllten. Als die November-Revolution ihr die Tore des Gefängnisses öffnete, waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und uns zu Ende, wodurch am besten bewiesen war, dass sie nicht prinzipieller Natur waren.«
Als Radek dieses feststellte, kannte er nicht bloß seine Kautskyschen Pappenheimer, die sich unter »die Fittiche der Luxemburgischen Kritik« flüchten möchten, sondern er hatte auch Paul Levi vorausgeahnt, der diesem erhabenen Beispiel »echter Marxisten« gefolgt ist. Wem Radeks Zeugnis in der Sache nicht vollgültig genug ist, der mag darüber in der »Freiheit« nachlesen. Am 20. Januar 1919, fünf Tage nach Rosa Luxemburgs Ermordung, schrieb dort Luise Kautsky in einem »Erinnerungsblatt« — ich kann leider nur sinngetreu zitieren, nicht wörtlich: »Als ich im März 1918 mit Rosa sprach, stand sie dem Bolschewismus noch sehr kritisch gegenüber.« Man sieht: auch in dieser Beziehung gehört das Klappern zum Handwerk.
Verlag Gesellschaft und Erziehung, Berlin
↩
Ebenfalls neu erschienen bei Manifest (2018): Radek, Luxemburg, Liebknecht, Jogiches, ISBN 978-3-96156-068-4
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»Die russische Revolution, das gewaltigste Faktum des Weltkriegs« /Die russische Revolution, die Angelegenheit des Weltproletariats / »Die elementare Pflicht der Sozialisten, die Schätze an Erfahrungen und Lehren der russischen Revolution zu heben« / Der utopische und gegenrevolutionäre Kern der menschewistischen und Kautskyschen Auffassung der russischen Revolution / Das geschichtliche Verdienst der Bolschewiki / Kritik der bolschewistischen Agrarpolitik / Kritik der bolschewistischen Nationalitätenpolitik / Kritik der bolschewistischen Einstellung zur Konstituante / Kritik des Wahlrechts zu den Sowjets / Kritik der bolschewistischen Politik der proletarischen Diktatur in ihrem Verhältnis zu »Terror« und »Demokratie«
Ist denn der Charakter, der Inhalt, sind denn die Werturteile von Rosa Luxemburgs Kritik tatsächlich danach, dass die Bolschewiki vor ihr zittern müssten wie vor der Posaune des jüngsten Gerichts? Durchaus nicht »vernichtend« für die Politik der führenden russischen Revolutionspartei ist nicht, was Rosa Luxemburg selbst geschrieben hat, »vernichtend« soll vielmehr wirken, was Feinde und Gegner an Gift daraus heraus destillieren. Und zwar nicht bloß für die von ihnen herzlich gehassten »Bolschewiki« und die kommunistischen Parteien der Dritten Internationale, sondern letzten Endes auch für die russische Revolution, die proletarische Revolution überhaupt, — die Herren Möchtegern-Nutznießer der Nachlassbroschüre mögen sich dessen bewusst sein oder nicht. Die Proletarier haben deshalb ein zwiefaches Recht darauf, zu hören, was Rosa Luxemburg ihnen sagt.
Ihre Ausführungen beginnen mit dem im Verlauf der Abhandlung immer wieder aufklingenden Leitmotiv: »Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkriegs«.1 Es heißt dann weiter — der sonst so zitaten- oder enthüllungsfrohe »Vorwärts« hat, wie andere auch, die folgenden Sätze weislich verschwiegen —:
»Ihr Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen am besten die Phrase Lügen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig ideologisch bemäntelt hat: die Phrase von der Mission der deutschen Bajonette, den russischen Zarismus zu stürzen und seine unterdrückten Völker zu befreien. Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Russland angenommen hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassenwerte erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bürgerlichen Republik zu immer weiteren Phasen mit der Fatalität der inneren Logik voranbewegt hat — wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe eine Lappalie geblieben ist—, all dies zeigt auf flacher Hand, dass die Befreiung Russlands nicht das Werk des Krieges und der militärischen Niederlagen des Zarismus war, nicht das Verdienst »deutscher Bajonette in deutschen Fäusten«, wie die »Neue Zeit« unter der Redaktion Kautskys im Leitartikel versprach, sondern dass sie im eigenen Lande tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war. Das Kriegsabenteuer des deutschen Imperialismus unter dem ideologischen Schilde der deutschen Sozialdemokratie hat die Revolution in Russland nicht herbeigeführt, sondern nur für eine Zeitlang anfänglich — nach ihrer ersten steigenden Sturmflut in den Jahren 1911-13 — unterbrochen und dann — nach ihrem Ausbruch — ihr die schwierigsten, abnormsten Bedingungen geschaffen.«2
Rosa Luxemburg weist darauf »die doktrinäre Theorie« zurück, »die Kautsky mit der Partei der Regierungssozialdemokraten teilt, wonach Russland als wirtschaftlich zurückgebliebenes, vorwiegend agrarisches Land, für die soziale Revolution und für eine Diktatur des Proletariats noch nicht reif wäre.« Ebenso die davon abgeleiteten Schlussfolgerungen, dass in Russland nur eine bürgerliche Revolution möglich und die Koalition von Sozialdemokratie und Liberalismus geschichtliches Gebot sei. Rosa Luxemburg stellt fest, dass »in dieser grundsätzlichen Auffassung der russischen Revolution, aus der sich die Stellungnahme zu den Detailfragen der Taktik von selbst ergibt«, die »Menschewiki« in Russland, »die deutschen Opportunisten« und »die deutschen Regierungssozialisten« sich einträchtig zusammenfinden:
»Wenn die russische Revolution darüber hinausgegangen ist, wenn sie sich die Diktatur des Proletariats zur Aufgabe gestellt hat, so ist das nach jener Doktrin ein einfacher Fehler des radikalen Flügels der russischen Arbeiterbewegung, der Bolschewiki, gewesen und alle Unbilden, die der Revolution in ihrem weiteren Verlauf zugestoßen sind, alle Wirren, denen sie zum Opfer gefallen, stellen sich eben als ein Ergebnis dieses verhängnisvollen Fehlers dar.«3
Rosa Luxemburg fragt nach dem Ergebnis
»dieser Doktrin, die vom Stampferischen ›Vorwärts‹ wie von Kautsky gleichermaßen als Frucht ›marxistischen Denkens‹ empfohlen wird.
»Theoretisch ist es nach ihr die originelle ›marxistische‹ Entdeckung, dass die sozialistische Umwälzung eine nationale, sozusagen häusliche Angelegenheit jedes modernen Staates für sich sei«.
Praktisch ist es die Tendenz, »die Verantwortlichkeit des internationalen, in erster Linie des deutschen Proletariats, für die Geschicke der russischen Revolution abzuwälzen, die internationalen Zusammenhänge dieser Revolution zu leugnen. Nicht Russlands Unreife, sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der historischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Revolution erwiesen, und dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren, ist die erste Aufgabe einer kritischen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.«4
Im Anschluss an diese Darlegungen unterstreicht Rosa Luxemburg die »elementare Pflicht« der Sozialisten in allen Ländern, »durch eingehende, nachdenkliche Kritik« der russischen Revolution deren »Schätze an Erfahrungen und Lehren zu heben.«
»Es wäre in der Tat eine wahnwitzige Vorstellung, dass bei dem ersten welthistorischen Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse und zwar unter den denkbar schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und Chaos eines imperialistischen Völkermordens, in der eisernen Schlinge der reaktionärsten Militärmacht Europas, unter völligem Versagen des internationalen Proletariats, dass bei einem Experiment der Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was in Russland getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen sei.«
Unter den geschichtlich für die russische Revolution gegebenen »so fatalen Bedingungen«, können auch der riesigste Idealismus und die sturmfesteste Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus verwirklichen,
»sondern nur ohnmächtige, verzerrte Anläufe zu beiden. Nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist die ganze Größe der eigenen Verantwortung des internationalen Proletariats für die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen. Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur Geltung. … Sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation erwachsen.«5
Die erste Periode der russischen Revolution, von März bis Oktober 1917, ist — wie die große englische und französische Revolution —
»der typische Werdegang jeder ersten großen Generalauseinandersetzung der im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft erzeugten revolutionären Kräfte mit den Fesseln der alten Gesellschaft. Ihre Entfaltung bewegt sich naturgemäß auf aufsteigender Linie: von gemäßigten Anfängen zu immer größerer Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalen Partei.«6
Schon am Tage nach dem ersten Siege der Revolution — der Aufrichtung der demokratischen Republik — entbrannte »ein innerer Kampf in ihrem Schoße um die beiden Brennpunkte: Frieden und Landfrage.«
Denn »die treibende Kraft der Revolution war vom ersten Augenblicke an die Masse des städtischen Proletariats. Seine Forderungen erschöpften sich aber nicht in der politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stützte sich die Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen Drehpunkt der Revolution schon seit 1905, in den Vordergrund schob.«
Mit der Friedens- oder Landfrage waren die Schicksale der politischen Demokratie, der Republik selbst verknüpft. Die zuerst überrannten und fortgerissenen bürgerlichen Klassen warfen sich nach rückwärts und suchten im Stillen die Gegenrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen Petersburg war der Ausdruck davon. Nach wenigen Monaten hatte sich die Situation zu dem Entweder — Oder entwickelt: »Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats«.7
»Die russische Revolution hat hier nur bestätigt die Grundlehre jeder großen Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder muss sie sehr rasch und entschlossen vorwärts stürmen, mit eiserner Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächeren Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt.«
Rosa Luxemburg erhärtet dieses Urteil durch das Beispiel der großen englischen und der großen französischen Revolution. Sie schüttet bleibenden Spott aus über »Kautsky und seine Gesinnungsgenossen, die der russischen Revolution ihren ›bürgerlichen Charakter‹ der ersten Phase bewahrt wissen wollten.«
In der gekennzeichneten Situation »kann man das Utopische und im Kern Reaktionäre der Taktik ermessen, von der sich die russischen Sozialisten der Kautskyschen Richtung, die Menschewiki — leiten ließen.… Sie klammerten sich verzweifelt an die Koalition mit den bürgerlichen Liberalen, d. h. an die gewaltsame Verbindung derjenigen Elemente, die durch den natürlichen inneren Gang der revolutionären Entwicklung gespalten, in schärfsten Widerspruch zu einander geraten waren.«
»In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten und die Revolution vorwärts treiben konnte. Die ganze Macht ausschließlich in die Hände der Arbeiter- oder Bauernmasse, in die Hände der Sowjets, — dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der Schwierigkeit‚ in die die Revolution geraten war, das war der Schwertstreich, womit der gordische Knoten durchhauen, die Revolution aus dem Engpass hinausgeführt und vor ihr das freie Blachfeld einer ungehemmten weiteren Entfaltung geöffnet wurde.
Die Lenin-Partei war somit die einzige in Russland, welche die wahren Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff; sie war ihr vorwärts treibendes Element, also in diesem Sinne die einzige Partei, die wirklich sozialistische Politik trieb. …
Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die Hände des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution gesichert hat.
Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum ersten Male die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.
Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.«
Die Partei der Bolschewiki konnte in der Revolution nur dadurch die Führung und die Macht an sich reißen, dass sie den Mut hatte, die vorantreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Wie bei den »Gleichmachern« in England und den »Jakobinern« in Frankreich sicherte die »Maßlosigkeit« ihrer Forderungen die Errungenschaften der Revolution und trieb diese weiter.
»Aber die konkrete Aufgabe, die den Bolschewiki in der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war unvergleichlich schwieriger als die ihrer geschichtlichen Vorgänger.«8
Rosa Luxemburg prüft, wie die bolschewistische Politik die schwierige konkrete Aufgabe zu lösen versucht hat. Zunächst betreffs der Agrarfrage, auf deren überragende Bedeutung und kompliziertes Wesen sie kurz hinweist. »Gewiss war die Losung der unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern die kürzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider sehr ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, dass die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat.« Dieses scharfe Urteil wird wie folgt begründet. Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft setzt in Bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus:
»Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und -methoden, die allein zum Ausgangspunkt der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Natürlich braucht man dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen. Man kann es ihm ruhig anheim stellen, sich durch die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebs zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluss und dann für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb freiwillig zu entscheiden. … Aber jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande muss selbstverständlich mit dem Groß- oder Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muss hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation, oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen.«
Zweite Vorbedingung ist, »dass die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen. …
Dass die Sowjet-Regierung in Russland diese gewaltigen Reformen nicht durchgeführt hat, — wer kann ihr das zum Vorwurf machen! Es wäre ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft, mitten im reißenden Strudel der inneren und äußeren Kämpfe, von zahllosen Feinden und Widerständen ringsum bedrängt, eine der schwierigsten, ja wir können ruhig sagen: die schwierigste Aufgabe der sozialistischen Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten!«…
Aber: »Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, muss aber auf jeden Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse liegen, sie muss zum Mindesten alles vermeiden, was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt.«9
Rosa Luxemburg ist der Überzeugung, dass die Agrarparole der Bolschewiki »geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken musste.«
Sie führte »zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, Zerschlagung. … des relativ fortgeschrittenen Großbetriebs in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet.«
Durch die willkürliche Art der Aufteilung wurden die Eigentumsunterschiede und die Klassengegensätze auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft.
»Diese Machtverschiebung hat aber zu Ungunsten der proletarischen und sozialistischen Interessen stattgefunden. Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer, sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der ›Besitzergreifung‹, steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neu erworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft, also der Produktion überhaupt in Russland, zur Gegensatz- oder Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse geworden.«
Der französische Parzellenbauer, den die Revolution geschaffen, wurde zu deren tapferstem Verteidiger.
»Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Russland und die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiss sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem Hunger.«10
Rosa Luxemburg ist weiter der Meinung, die Bolschewiki hätten einen Teil der Schuld daran, dass die objektiven Schwierigkeiten der Lage sich verschärften, dass die militärische Niederlage zum Zusammenbruch und Zerfall Russlands wurde. Dies aber »durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das so genannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: der staatliche Zerfall Russlands«. Die Parole »war ein besonderer Schlachtruf« der Bolschewiki gegen den Imperialismus der Miljukow- oder Kerenski-Regierung; »sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.«11
Die »Hartnäckigkeit und starre Konsequenz«, mit der Lenin und Genossen diese Parole festhielten — so führt Rosa Luxemburg aus, steht »sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch der Haltung, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. … Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose›Selbstbestimmungsrecht der Nationen‹ nichts als hohle, kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist. In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum ABC der sozialistischen Politik, dass sie wie jede Art Unterdrückung so auch die einer Nation durch die andere bekämpft.«12
»Eine Art Opportunitätspolitik« nimmt Rosa Luxemburg als Grund dafür an, dass die Bolschewiki »eine hohle Phrase geradezu zu ihrem Steckenpferd machten. Sie rechneten offenbar darauf, dass es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen.«13
Das ukrainische Zwischenspiel bei den Brest-Litowsker Friedensverhandlungen und das Verhalten Finnlands hätte die Bolschewiki bald darüber belehren müssen, dass ihre Rechnung nicht stimmte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen der verschiedenen, dem alten Russland einverleibten Nationen und Völkerschaften nutzten das Schlagwort vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« aus als Werkzeug ihrer gegenrevolutionären Klassenpolitik. Das aber sowohl gegen Sowjetrussland, wie gegen die eigenen proletarischen Massen. Die »nationalistische Phrase verwandelte sich in der rauen Wirklichkeit der Klassengesellschaft in ein Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft«. Sie trug in den von Russland losgerissenen Ländern Verwirrung und Lähmung in das Proletariat, das bis dahin in geschlossener Front mit den russischen Arbeitern gekämpft hatte.
»Wie kommt es, dass in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, dass sie es von Russland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. … Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne ›die deutschen Gewehrkolben in deutschen Fäusten‹, wie die ›Neue Zeit‹ Kautskys schrieb, wären die Lubinskis und die anderen Schufterles der Ukraine, sowie die Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den sozialistischen Proletariermassen ihrer Länder nimmermehr fertig geworden.
Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte.«
Aufgabe der Bolschewiki wäre es gewesen, »die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, seine Integrität als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Nationen im Bereich der russischen Revolution als oberstes Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen… Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht sehr gründlich anzusehen. Das ›Selbstbestimmungsrecht der Nationen‹, verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden, bildet den Schlachtruf, unter dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird.«14
Rosa Luxemburg deutet in einigen Worten darauf hin, dass aus der gekennzeichneten bolschewistischen Politik, die sie für fehlerhaft hält, die Diktatur Deutschlands folgte, »von Brest-Litowsk bis zum Zusatzvertrag, der Terror und die Unterdrückung der Demokratie.« Sie will das an »einigen Beispielen prüfen«: an der Stellung der Bolschewiki zur Konstituante, zum allgemeinen Wahlrecht, zur Demokratie überhaupt, an der Art der Diktatur, der Art und dem Umfang des Terrors.
Nach ihrer Auffassung bedeutet die Auflösung der Konstituante im November 1917 »eine Wendung« in der bolschewistischen Taktik. Die Partei hatte vor ihrem Siege die Konstituante stürmisch gefordert und die Kerenski-Regierung aufs Heftigste bekämpft, weil sie die Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung verschleppte. Trotzki hatte die Machtergreifung der Sowjets als »die Rettung der Konstituante« erklärt, als den zu ihr führenden »Eingang«. Der erste Schritt nach dem Siege der Sowjets war die Auseinandertreibung der Konstituante. Er wurde damit gerechtfertigt, dass diese lange vor dem entscheidenden Wendepunkt gewählt worden sei und in ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit und nicht der neuen Sachlage widerspiegelte.
Rosa Luxemburg findet »ganz ausgezeichnet und überzeugend«, was Trotzki in diesem Sinne, gestützt auf unbestreitbare Tatsachen, in seinem Schriftchen »Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag« sagt. Die »verjährte, also totgeborene Konstituierende Versammlung« musste kassiert werden. Die Bolschewiki »wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung anvertrauen, die das gestrige, Kerenskische Russland, die Periode der Schwankungen und der Koalition spiegelte.