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Menschen, die für ihr Leben wichtig waren – im Guten wie im Bösen – schildert die 1928 in Schnait geborene Lydia Stilz mit liebevollem Blick in ihrer genauen und zugewandten Sprache. Viele Begegnungen und Ereignisse mögen sich so und ähnlich auch in anderen Gegenden und zwischen anderen Menschen abgespielt haben, es ist das Verdienst der Autorin, sie hier auf ihre ganz eigene Art mit Humor und weiser Distanz zum Leben zu erwecken.
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Seitenzahl: 208
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Lydia Stilz
Menschen,die mich berührten
Lydia Stilz, geboren 1928 in Schnait im Remstal, studierte Anfang der Fünfzigerjahre am Pädagogischen Institut in Esslingen und lehrte dann an Grund- und Hauptschulen. Von England über Indien, Thailand und Indonesien bis nach Australien, vom Nordkap bis zur Antarktis lernte sie die Welt kennen. Heute lebt sie wieder in ihrem Geburtsort.
1. Auflage 2018
© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung:
Christoph Wöhler, Tübingen.
Lektorat: Kerstin Jaworski, Radolfzell.
Druck: CPI books, Leck.
Printed in Germany.
ISBN 978-3-8425-2117-9eISBN 978-3-8425-1810-0
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VORWORT
TANTE SOPHIE
DIE LEHRERIN
DIE GEMEINDEHELFERIN
MRS ROBSON AND JOAN
SCHWESTERN
ELSA HÄRLE
MAX DRKOSCH UND MARGOT BETZ
FRAU HOFSÄSS
DER GÖCKELES-TÜRKE
FRAU HILDA
Manchmol uf em Weag durchs Leabamuescht a bissle innehalta,muescht verschnaufa, om di gucka. –’s send so mancherloi Geschtalta,manche gegawärtig nooch, andre ganget schao voraus,viele kommet hentadreiond du schpürscht, bischt et alloa.
Als Neugeborene kennen wir zunächst nur eine Gestalt, unsere Mutter. Wie wir sie erkennen, daran erinnern wir uns nicht. Ist es ihr Herzschlag? Ihre Stimme? Ihr Geruch? Die Pränatal-Wissenschaft meint, in dieser Reihenfolge prägt die Mutter ihr Kind. Ihr Herzschlag bestimmt den des Ungeborenen von allem Anfang an. Dass das Kind im Mutterleib die Stimme der Mutter hört und darauf reagiert, ist erwiesen. Der Geruch der Mutter kann erst dann wirksam werden, wenn das Kind selbständig atmet.
Das Neugeborene erkennt auch bald den Vater, wenn er sich ihm liebevoll zuwendet, sich mit ihm beschäftigt, mit ihm spricht und mit ihm spielt. Auch die übrigen Verwandten, Geschwister, Onkel und Tanten, die Großeltern und die Nachbarn nehmen bald Gestalt an im Leben des Kindes. Dann werden sie auch zu Vorbildern. Die Kleinen ahmen sie nach, ihre Sprache, ihre Gestik, ihr ganzes Verhalten: Das Kind wird »gebildet«. Diese Bildung hält ein ganzes Leben lang an, auch bei Menschen, die keine Schule besucht haben oder nur kurze Zeit hingegangen sind. Das Leben erfordert Anpassung und Weiterentwicklung, wenn es gelingen soll.
Im Lauf des Lebens ändern sich die Vorbilder. Die Eltern sind manchmal nicht glücklich über die Freunde, denen sich die Heranwachsenden anschließen. Da ist es gut, wenn der junge Mensch schon früh zur Verantwortlichkeit und Kritikfähigkeit erzogen wurde. Dabei geben viele »geheime Miterzieher« Hilfestellung.
Unser Vater hat immer wieder betont: »Von mir könnt ihr alles lernen, wie man’s macht und wie man’s nicht macht.« Dazu gehört dann aber auch, dass der Vater mit den Kindern spricht und dass die Meinung der Kinder gehört wird.
Hier möchte ich von Menschen berichten, die mir im Leben wichtig geworden sind. Die Geschichten fußen auf eigenen Erlebnissen sowie auf Berichten, Erzählungen von anderen Menschen, die die Protagonisten meiner Erzählungen auch gekannt haben. Von den Eltern und Großeltern habe ich in einem meiner anderen Büchern ausführlich berichtet, darum gehe ich auf sie nicht mehr ein.
Es ist eine bunte Mischung von Menschen, die ich vorstelle. Manche habe ich lange gekannt, andere wieder nur kurz. Manchen bin ich wichtig geworden, anderen bin ich nur eine alltägliche, hoffentlich freundliche Erscheinung geblieben, deren sie sich am Abend nicht mehr erinnern. Ich bin ihnen wie der kleine Spatz, der im Augenblick vor meinem Fenster im Efeu herumhüpft und etwas abpickt, das ich nicht erkennen kann. An ihn kann ich mich auch bald nicht mehr erinnern, und doch ist er noch irgendwo und freut sich seines Lebens. So will ich mich zuerst der Frau zuwenden, die mich kannte, ehe ich bei Bewusstsein war, der Frau, die meiner Mutter half, dass ich ins Leben kam.
Die Tante Sophie kannte uns Geschwister alle schon, ehe wir sie kannten. Sie war die Hebamme, die hier in den Zwanziger- und Dreißigerjahren bis 1940 den meisten Frauen half, ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Die allerwenigsten Frauen gingen zur Entbindung in eine Klinik. Nur wenn eine Problemgeburt zu vermuten war, dann riet die Hebamme den Frauen: »Gehst besser ins Krankenhaus!« Den Arzt im Ernstfall hinzuzuziehen, war sehr schwierig. Die meisten Haushalte hatten kein Telefon, auch die Hebamme nicht. Wenn sie gebraucht wurde, kam der Ehemann oder eine verwandte Person und klingelte an der Türe der Hebamme. Sie hatte auch eine Tafel an ihrer Haustüre, auf der sie jeweils vermerkte, wo sie sich gerade befand.
Es kam manchmal vor, dass mehrere Kindlein zur gleichen Zeit auf die Welt drängten. So erzählte mir eine Frau, dass die Tante Sophie zu ihrer Mutter gerufen worden war. Sie stellte fest, dass das Kindlein noch nicht so schnell kommen wollte. »Bei dir dauert es noch einige Zeit. Im Hagenbüchle steht auch eine Geburt an. Ich muss mal gucken, wie weit es dort ist.« So ging sie in die entfernte Straße und guckte. Der Weg dorthin war ziemlich weit, die Straße ging steil bergan, so konnte sie nicht mit dem Fahrrad dorthin fahren. Wie sie die beiden Frauen und ihre Kindlein versorgt hat, wusste meine Informantin nicht zu sagen. Sie war ja das eine Kind, dem die Hebamme auf die Welt geholfen hat, und ihre Mutter hat ihr diese Geschichte erst erzählt, als sie selbst Mutter wurde. Den Kindern hat man früher über das Thema »woher die Kindlein kommen« nichts erzählt. Das Thema Sexualität war tabu.
Für die Tante Sophie war es sehr wichtig, die Kinder, denen sie auf die Welt geholfen hatte, immer wieder zu sehen und ihre Entwicklung zu beobachten. Dass wohl auch eine gewisse Sehnsucht nach ihren eigenen Kindern mitspielte, ist anzunehmen, doch niemand in ihrem Heimatort wusste von der Frida oder den Zwillingen Hans und Gretel. Sie hatte sie in Stuttgart geboren und nach der Geburt »verkauft«, zur Adoption freigegeben. Von »Verkauf« wurde deshalb im Scherz geredet, weil die Adoptiveltern der Zwillinge sich aus dem Familienzuwachs einen Kredit für den Bau von zusätzlichem Wohnraum versprachen. Sie bekamen das Geld dann auch. Die leibliche Mutter jedoch, die Sophie, hatte danach nur eine Leere in ihrem Leben, die sie mit ihrem Beruf ausfüllte.
Zu der Zeit, als sie schwanger war (möglicherweise nach einer Vergewaltigung?), hat sie in der Stadt ihre Ausbildung zur Hebamme absolviert. Daher kam es, dass die Leute in ihrem Heimatdorf weder von der Schwangerschaft noch von der Geburt etwas mitbekommen haben. Sowohl für die junge Frau selbst als auch für die Angehörigen eines »gefallenen Mädchens« war dieser »Fall« eine große Schande. Die Drohung seitens der Eltern war nicht selten: »Wenn du mit einem Kind heimkommst, bleibst lieber gleich fort.« So wurden die armen Mädchen nicht nur vom Erzeuger des Kindes im Stich gelassen, sondern auch von ihren Verwandten.
Goethe hat ja die Situation eines solchen Mädchens im »Faust« dramatisch dargestellt, und nach ihm wurde das Drama immer wieder aufgegriffen und verarbeitet. Doch während Gretchen im »Faust« ihr Kindchen tötet und selbst dem Wahnsinn und dem Tod verfällt, hat die Sophie ihre Zwillinge zur Adoption freigegeben. Von der Frida ist nicht bekannt, ob sie auch adoptiert oder in eine Pflegefamilie gegeben wurde. Sie trat viel später als Frau Off in Erscheinung. Dafür hat die Sophie in ihrem Berufsleben vielen Müttern und Vätern geholfen, viele Kinder ins Leben, zum Atmen gebracht. In unser Haus zum Beispiel kam die Tante Sophie immer wieder.
Es muss Anfang der Dreißigerjahre gewesen sein, da nahm eines Tages unsere Mutter den kleinen Gottfried bei der Hand. »Die Tante Ernstine hat Zwillinge gekriegt. Wir gehen jetzt und besuchen sie.« Warum durfte ich denn nicht mit? Ich war doch die Große und hätte zu gerne die Kindlein gesehen. Der kleine Gottfried hatte doch gar nichts davon! Doch die Mutter wusste wohl, was sie tat. Sie hatte gewusst, dass das eine Büblein tot geboren war, aber sie wusste nicht, was für ein Anblick es für mich sein würde. Ich sollte dem Tod noch nicht so nah ins Auge schauen müssen. Doch der Tante Ernstine wollte sie den Trost ihres munteren, gesunden kleinen Neffen zuteilwerden lassen. Als sie wieder heimkam, musste sie berichten. »Das kleine Heinerle ist ein herziges Büble, aber sehr schwach. Es ist so schwach, dass ihm die Hebamme die Nottaufe gegeben hat.«
»Die Nottaufe? Was ist denn das?«, fragte ich.
»Ja, weißt du, wenn ein Kindlein so schwach ist, dass es nach menschlichem Ermessen sterben wird, kann man keinen Pfarrer holen, dann muss es schnell getauft und damit Gott übergeben werden. Das ist eine Nottaufe, und die darf in solchen Fällen die Hebamme im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes vollziehen. So ist das bei dem Heinerle gewesen. Jetzt ist es ein Kind Gottes, ob es am Leben bleiben darf oder stirbt.« Dass sie dabei als » Dote«, die Taufpatin, dabei gewesen war, hat sie uns nicht erzählt.
Das kleine Heinerle ist seinem namenlosen Brüderle nachgefolgt. Es war eben zu schwach. Einmal hat mir die Tante Ernstine ein Foto, ein kleines Bildle, gezeigt, dass sein Vater, der Onkel Reinhold, gemacht hatte. Es war wirklich ein ganz herziges kleines Büble, und mein Kinderherz war froh, dass die Tante Sophie es getauft hatte, ehe es starb. Von da an stand bei mir die Tante Sophie nur ein klein wenig unter dem Pfarrer, aber viel näher bei uns, den Kindern und ihren Eltern.
Es war im Spätsommer 1935, als an einem heißen Sonntagnachmittag unsere Mutter in der »Kammer« auf dem Bett lag. »Au, Mutter, du hast aber einen dicken Bauch«, sagte ich. Fast ein wenig verlegen antwortete die Mutter: »Das vergeht wieder.« Damit war für den Moment die Sache bei mir vergessen, aber nicht bei der Mutter. Am Abend, als der Vater im »Verein« (CVJM) war, saßen wir um den Tisch, wir drei Großen. Die kleine Lisbeth war schon im Bett. Da erzählte die Mutter uns, dass die kleinen Kindlein im Bauch der Mütter wüchsen, bis sie groß genug seien, dass sie selber atmen und schreien und trinken konnten. Das war eine wunderbare Geschichte und wie alle Geschichten, die die Mutter erzählte, gewiss wahr. Märchen erzählte die Ahne (Großmutter) oder die Dote, vielleicht auch die Schwester Barbara. Ein bissle konnte ich schon selber lesen. Ich ging ja schon seit Ostern in die Schule. Aber ich verstand eine längere Geschichte nicht, weil mir das Zusammenfügen der Buchstaben zu viel Mühe machte, sodass ich den Sinn nicht herausfand. Trotzdem gab mir die Mutter ein dünnes Büchlein zum Lesen mit dem Titel »Woher die Kindlein kommen«. Das habe ich dann verstanden, weil die Mutter den Sachverhalt schon erzählt hatte.
Im Herbst sagte sie uns dann, dass wir ein Geschwisterlein bekämen, sodass wir uns darauf freuen konnten. Und wir freuten uns auch, weil die Eltern sich freuten und weil wir vier Geschwister ein neues Geschwisterlein als Bereicherung begrüßten. Von der Doris, einem Nachbarskind, wussten wir, dass es gar nicht schön sei, ganz allein als Kind unter lauter Erwachsenen zu sein. Sie war auch oft bei uns, hütete mit mir die kleinen Geschwister und nahm teil an unseren Streichen.
Es war am 10. November 1935. Die Brüder und ich schliefen über der Kammer der Eltern im »Vesperstüble«. Ich wachte auf an einer Unruhe unter uns. Türen gingen auf und zu, Wasser rauschte in der Wasserleitung, Stimmen waren zu hören. Dann kam ein Stöhnen von der Mutter. Mir lief ein Schauer über den Rücken, dann wurde mir ganz heiß. Ich steckte den Kopf unter die Decke und hielt mir noch die Ohren zu. Als ich den Kopf nach einiger Zeit wieder herausstreckte, hörte ich das Kindlein schreien. »Wacht auf, das Kindlein schreit unten«, weckte ich die Brüder. Wir zogen uns notdürftig in der Dunkelheit an. Im Hemd wollten wir der Tante Sophie nicht entgegentreten, das schickte sich nicht. Dann stiegen wir in der Dunkelheit die Treppe hinunter. Die Glastüre war von innen abgeschlossen. Der Vater stand dahinter und fragte: »Was wollt ihr denn so bald? Es ist doch erst halb zwei in der Nacht!«
»Das Kindle sehen!«, antwortete ich.
»Da müsst ihr noch eine Weile warten, bis es gebadet ist.«
Das leuchtete uns ein, aber wieder hinauf ins Vesperstüble wollten wir nicht gehen. So setzten wir uns auf die Stiege und warteten. Wie gut, dass wir notdürftig angezogen waren, denn es war ziemlich kühl in dem Treppenhaus. Weder die Haustüre unten noch die Fenster waren dicht. Sie ließen zwar keinen Wind herein, aber die Kälte drängte sich durch alle Ritzen und Fugen. Von drinnen hörten wir Schritte und die Stimmen des Vaters und die leisere, sanfte der Tante Sophie. Das Geschwisterchen – es war jetzt nicht mehr ein anonymes Kindlein – hatte aufgehört zu schreien. Dann wurde die Glastüre von innen aufgeschlossen, und der Vater ließ uns eintreten. »Das ist euer Schwesterle«, stellte die Tante Sophie vor. Das Schwesterle lag im Bettle und hatte ein ganz rotes Gesichtle. Die Fäustle lagen neben dem Köpfle, die Äugle waren zu. Wir staunten dieses Wunder an und schlossen es in unsere Herzen ein. Wir trauten uns nicht, es zu streicheln. Es schien zu zerbrechlich zu sein. Die Mutter hatten wir bei unserer »Anbetung« kaum beachtet, bis uns ihre Stimme mahnte: »Geht jetzt nur wieder ins Bett. Die Nacht ist noch lang. Am Morgen müsst ihr ausgeschlafen sein für die Schule und das Schüele.« (Die Buben gingen ins »Schüele«, den Kindergarten neben unserem Haus, den die Schwester Barbara leitete.) Da sah ich, dass die Mutter sehr müde aussah, nahm schnell die Buben an der Hand und führte sie wieder hinauf ins Vesperstüble. Schlafen aber konnte ich lange, lange nicht mehr. Der Schrecken über das Stöhnen der Mutter und die überwältigende Freude über das Schwesterle hielten mich bis in die Morgenstunden wach.
Die Tante Sophie war an jedem Morgen wieder da und wusch das Schwesterle. Ich schaute ihr genau zu, wie sie die Windel löste und in einen Eimer warf, wie sie das Gesichtle mit einem weichen Waschlappen sanft abtupfte. Dann zog sie das weiße Kittele und das Hemmadle aus. Sie kamen auch zu der Windel in den Eimer. Die Händla, die Ärmla, die Brust und das Bäuchle wurden mit dem weichen Waschlappen und mit warmem Wasser abgewaschen. (Einen Schwamm benutzte sie nicht, weil der nicht ausgekocht werden konnte wie ein Waschlappen, erklärte sie mir später.) Der kleine Körper wurde gleich abgetrocknet, damit sich das Schwesterle nicht erkältete. Das frische Flügelhemmadle wurde vorne auf der Brust zugebunden. Darüber kam das weiße Kittele, das im Nacken gebunden wurde. »So ist das Kindle gut verpackt. Heute machen wir die Nabelbinde nicht ab, sie ist ja noch nicht lange dran«, erläuterte die Tante Sophie am ersten Morgen. Nun wusch sie das Schwesterle zwischen den Beinchen, die Schenkala und die Füeßla mit einem anderen Waschlappen. Dazu nahm sie auch ein bissle Seife. Beide Waschlappen kamen in den Eimer zu der übrigen Wäsche. »Das darfst du in die Küche tragen, dann wird die Maria es waschen«, hieß mich die Tante Sophie. Die Maria war vom Schurwald gekommen, um für uns zu kochen und zu putzen, solange die Mutter im Wochenbett war. Sie hatte die Buben schon ins Schüele geschickt.
Die Tante Sophie war noch nicht fertig. Sie musste noch die Mutter richten. Aber für mich war es Zeit, in die Schule zu gehen.
Im Schulhof traf ich meine Schulkameradinnen. Wir waren immer recht zeitig im Schulhof, damit wir vor der Schule noch eine Weile spielen konnten. Schon von weitem rief ich ihnen zu: »Ich hab ein Schwesterle gekriegt heut Nacht!« Ich konnte meine Freude nicht für mich behalten. Mir ging es wie den Hirten in der Weihnachtsgeschichte: »Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus …« Ja, auch eine ganz gewöhnliche Geburt ist ein Stückle Weihnachtsgeschichte. Vielleicht, denke ich jetzt, erlebte die Tante Sophie auch jedes Mal das Wunder der Menschwerdung nach – und die Geburt ihrer eigenen Kinder, die sie nicht behalten und aufwachsen sehen durfte. Vielleicht war es ein Trost, dass sie vielen anderen Kindlein auf die Welt helfen durfte und sie dann auch aufwachsen sah.
Das nächste Mal kam die Tante Sophie im Frühjahr 1938 zu uns. Wieder hatte die Mutter uns anvertraut, dass wir ein Kindlein erwarteten. Da wir nun drei Schwestern und zwei Brüder waren, fanden wir, es müsste wegen dem Gleichgewicht unbedingt ein »Brüderle« werden. Die Mutter lächelte milde und meinte »Mir nemmat, was kommt!« Als Neunjährige durfte ich der Mutter helfen, die Hemdchen, Kittele, Windeln und das Bettle zu richten. Ich wusste auch schon, dass das Kindlein neun Monate im Mutterleib wachsen musste. »Bis zum siebten Monat sollten die Sachen für das Kindle gerichtet sein. Es könnte ja bälder kommen.« Daran hielten wir uns. Außerdem war die Winter- und Vorfrühlingszeit ganz geschickt, diese schöne und wichtige Sache zu erledigen, denn die Feldarbeit ruhte.
Das Frühjahr 1938 war sehr mild. Schon Ende Februar waren die Knospen an den Kirschbäumen ganz dick, und die Anemonen drüben am Rain hatten ihre weißen Kopftüchle aufgesetzt. Der Vergleich mit den Kopftüchern der Frauen, die am Ostermorgen das leere Grab Jesu aufsuchten, stammte von der Mutter. Sie liebte solche poetischen Vergleiche.
An einem Morgen Mitte März kann ich herunter zum Kaffeetrinken. Die Mutter hatte schon den Tisch gedeckt und die braunlasierte irdene Kaffeekanne auf den Tisch gestellt. Sie saß in der Kammer auf ihrem Bett und sah ein wenig bleich aus. Ich schnupperte. In der Luft lag ein deutlicher Geruch von … »Ist die Tante Sophie da gewesen?«, fragte ich. Wenn sie nämlich da gewesen war, dann roch es nach Sagrotan. »Ja, mir hent gmoant, des Kendle komm, aber ’s ischt no et so weit.« (Wir haben gemeint, dass das Kind kommt, aber es ist noch nicht so weit.)
Am 19. März kann dann das »Brüderle«. Aber es war ein Schwesterle mit langen schwarzen Haaren. »Die müeßet mir a bissle aschneida, sooscht bendat mr se ins Kittale nei« (Die müssen wir ein wenig abschneiden, sonst binden wir sie ins Kittele hinein.), meinte die Tante Sophie. Und dann kam sie wieder jeden Tag zweimal, morgens und abends, und versorgte Mutter und Kind. Die Maria aus Aichschieß war wieder gekommen und versorgte die übrige Familie, und alle fühlten sich wohl.
Die verwandten Frauen kamen, brachten einen »Koglopfer« (Gugelhupf) oder Hefekranz, damit sich die »Kewettere« (Kindbetterin) stärken und das Kindlein gut ernähren konnte. Davon kriegten wir anderen Familienmitglieder natürlich auch was ab. Wenn die Frauen sich in der Kammer unterhielten, saß ich »mäuslesleis« in der Stube und horchte zu. Das waren interessante Sachen, die da berichtet wurden. So erfuhr ich, dass es nicht selbstverständlich war, dass wir ein gesundes Schwesterle bekommen hatten. Die Mutter habe sich gewundert, wieso die Hebamme so schnell machte, dass das Kindle auf die Welt käme. Denn sie hatte bemerkt, dass die Nabelschnur um das Hälsle von dem Kindle gewickelt gewesen sei. Es habe nicht gleich geschrien, aber die Hebamme habe es bald zum Schreien gebracht. Das war für mich wieder etwas zum Nachdenken und zum Dankbarsein.
Drüben am Rain standen die Kirschbäume in allerschönster Blüte. So duftig und voll hingen die Blütenbüschel unter dem blauen Himmel. Bienen summten, angelockt von dem süßen Duft, und sammelten Honig. »Mr derf sich dra fraia wie am a scheena Strauß« (Man darf sich dran freuen wie an einem schönen Strauß), sagte die Mutter ein wenig wehmütig. Ja, der blanke blaue Himmel brachte in einer Nacht den Frost, der die Kirschblüten umbrachte. Die frühen Kirschen waren erfroren. Aber unsere kleine Annemarie – sie durfte leben und wachsen und sich freuen.
Im Frühsommer 1940 lag ich im Bett im Stüble. Durch die Türritzen fiel der Schein des Lichtes aus der Stube, wo die Eltern sich leise unterhielten. Ich war gerade am Einschlafen, da ließ mich die Stimme der Mutter aufmerken: »Jetzt hemmer sechs Kender, ond ’s siebte kommt.« (Jetzt haben wir sechs Kinder und das siebte kommt.) Weiter hörte ich nicht. Wir würden also noch ein Geschwisterlein bekommen.
Sieben Kinder hatten nicht viele Familien, trotz »Mutterkreuz«. Dieser Orden war eine Ehrennadel, ähnlich dem Eisernen Kreuz, für Mütter mit vier und mehr Kindern. Damit war auch eine Geldzuwendung verbunden. Unsere Eltern verweigerten diese »Ehrung«. »Mir kennet osere Kender selber ufzieha. Mir wellet et, dass dear Schtaat sich a Reacht verschafft an osere Kender, weil mir Geld agnomma hent!« (Wir können unsere Kinder selbst aufziehen. Wir wollen nicht, dass sich dieser Staat ein Recht auf unsere Kinder verschafft dadurch, dass wir Geld annehmen!) Die Eltern trauten den Nationalsozialisten alles Böse zu.
Nun hatte sich also das siebte Kind angemeldet im zweiten Kriegsjahr. Der Vater war nicht Soldat geworden, weil er einen Herzfehler hatte. Dafür hatte er die schwersten Arbeiten in den Weinbergen für die eingerückten Verwandten zu erledigen. Das war zeitweise eine härtere Arbeit als die in der Kaserne. Von den Soldaten, die nicht an der Front waren, hörte man oft, dass ihnen nach dem gewiss nicht leichten täglichen Dienst, dem Drill, sterbenslangweilig war, besonders denen, die zu Hause ein ausgefülltes, arbeitsreiches Leben gehabt hatten wie die Bauern und Wengerter (Weingärtner). Sicher hatten es die Arbeiter in den Fabriken nicht leichter, aber es ist doch ein Unterschied, ob ein Mann seinen geregelten Verdienst und seinen gesetzlich verbürgten Feierabend hat wie die Fabrikoder Büroarbeiter, oder ob er das Gefühl hat, für das Wohlergehen seiner Familie in der Weise verantwortlich zu sein, dass er mit ihr und für sie das tägliche Brot in der Landwirtschaft erarbeitet.
Doch das Leben an der Front war ungleich schwerer und gefährlicher als das in der Heimat. Aber alle taten sie ihre Pflicht, auch wir an der »Heimatfront«. Ja, auch die Kinder arbeiteten mit auf dem Feld oder im Haushalt. Freizeit gab es für uns Landkinder im Frühling, Sommer und Herbst nicht, obgleich die gemeinsame Arbeit recht vergnüglich sein konnte. Bei der Arbeit konnten die Familienmitglieder miteinander sprechen, und schon allein das gemeinsame Arbeiten verband sie.
Die vierzehn- und fünfzehnjährigen Mädchen, die aus der Volksschule entlassen waren, hatten ein »Pflichtjahr« abzuleisten, meist in einer kinderreichen Familie oder in einem landwirtschaftlich geprägten Haushalt. Die Altersgenossen arbeiteten als Lehrlinge, in einer Fabrik oder in der elterlichen Landwirtschaft, sofern sie nicht in eine weiterführende Schule gingen.
Zunächst zeigte ich nicht, dass ich von dem erwarteten Geschwisterchen wusste, aber ich beobachtete die Mutter heimlich. Lange sah ich nicht, dass sie schwanger war. Sie hatte ja immer weit geschnittene Kleider an und die Schürze darüber gebunden. Vermutlich hatte sie bemerkt, dass ich sie beobachtete, denn eines Tages sprach sie zu mir von »oserem Kendle« (unserem Kindlein), als ob mir das schon lange bekannt sein müsste. Nun begann eine Zeit der innigen Vertrautheit zwischen Mutter und ältester Tochter. Dieses Verhältnis wurde wohl von meiner Seite auch noch dadurch gefestigt, dass ich vier Wochen vor meinem zwölften Geburtstag zum ersten Mal meine Periode bekam. Nun war ich eine junge Frau, die in den monatlichen Frauenzyklus eingebunden war, und kein Kind mehr. Aber als Frau fühlte ich mich noch lange nicht.
Der heiße Sommer und der kühlere Herbst mit ihren vielfältigen Arbeiten kamen und gingen. Eine Klassenkameradin sprach mich eines Tages Anfang Oktober an: »Uier Kendle mueß doch jetzt do sei?« (Euer Kindlein muss doch jetzt da sein?)
»Do woiß i aber nex drvo!«, war meine empörte Antwort. »Wohear willscht denn du des wissa?« (Woher willst denn du das wissen?)
»D Hebamm hot’s maira Mutter gsait.« (Die Hebamme hat es meiner Mutter gesagt.)
Wie ich auch hatte die Maria das Gespräch der Erwachsenen gierig belauscht und sich dabei irreführen lassen. Unser Kindlein wurde erst einen Monat später geboren. In die Vorbereitungen für das erwartete Geschwisterchen wurde ich immer mehr eingebunden.
Nach dem »Öhmdet« Mitte August war das Gras wieder nachgewachsen. Im Oktober wurde von den Baumgütern »dritt Gras« geholt. Solange es auf den Wiesen Futter zu holen gab, wurde nicht »von oba ra« (von der Heubühne) gefüttert. Man wusste ja nicht, wie lang der Winter dauern würde, wann man den ersten Klee mähen konnte. So lange sollten das Heu und das Öhmd auf der Bühne reichen. Deshalb holte man Gras und auch das Laub von den Obstbäumen »en d Krippe«, solange es draußen noch etwas zu holen gab. Auf den Äckern war nach der Getreideernte als Zwischenfrucht Senf gesät worden, der gab auch manche Krippe voll für unsere Kühe im Stall.
Die Mutter hielt beim Mähen wacker mit. »Dass du no so guet mäha kaascht!« (Dass du noch so gut mähen kannst!), wunderte sich einmal die Ahne.
»Ja, i wondere mi au, aber ’s macht mir nex aus!« (Ja, ich wundere mich auch, aber es macht mir nichts aus!), antwortete die Mutter.
An Martini, am 11. November, feierten wir den fünften Geburtstag unserer Schwester Marta. Die Geburtstage wurden mit einem Blumenstrauß und den Geschenken von der Dote Marie und den beiden Ahnen gefeiert. Ein Kerzle wurde für das Geburtstagskind im Kinderschüle angezündet, das hatte mit der Familie nichts zu tun. Die Dote Marie brachte, schön angeordnet auf einem Teller, ihr Honiggebäck, die »Brilla«, herauf. Den Namen hatten die Gebäckstücke von ihrer Form. Durchsichtig waren sie allerdings nicht, sondern kompakt und süß von Honig, Zucker und Mehl.