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Fredenbüll in Nordfriesland hat drei Deiche, 176 Einwohner (inklusive Adelsfamilie), 600 Schafe (Bio!), Bäcker Hansen, Frisörsalon Alexandra, die Kneipe »De Hidde Kist«, eine Feuerwehr und eine Polizeistation mit Polizeiobermeister Thies Detlefsen. Noch. Denn die kleine Wache ist vom Rotstift des Kieler Innenministeriums bedroht, und Thies setzt alles daran, die Kriminalitätsrate im Kreis hochzuhalten. Hinter jedem toten Schaf wittert er das Werk militanter Ökoaktivisten und bei Falschparkern geht er schon mal von Selbstmordattentätern aus. Doch dann liegt Biobauer Brodersen höchst unappetitlich zugerichtet im eigenen Mähdrescher. Gleichzeitig verschwindet die Gattin von Versicherungsvertreter Ketels spurlos. Ist das friedliche Fredenbüll ein Hort brutalster Kriminalität?
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Seitenzahl: 282
Krischan Koch
Rote Grütze mit Schuss
Ein Küsten-Krimi
Für meine Mutter,die natürlich die beste Rote Grütze machte
»Wenn du ’ne Linie ziehst zwischen Amsterdam und Kopenhagen, dann liegt Fredenbüll genau auf der Mitte«, sagt Klaas, der in Fredenbüll die Post austrägt. »Jo, is so.«
Er demonstriert das immer wieder gern anhand eines Bierglases zwischen zwei Jägermeisterfläschchen an einem der beiden Stehtische in dem Fredenbüller Imbiss »De Hidde Kist«.
»Genau genommen zwischen Reusenbüll und Neutönninger Siel«, wendet Piet Paulsen ein, Landmaschinenvertreter im Ruhestand.
Aber das spielt eigentlich keine Rolle, denn für die Fredenbüller ist es der Mittelpunkt der Welt. Der Ort hat drei Deiche, hundertsechsundsiebzig Einwohner, einschließlich einer echten Adelsfamilie, aber ohne die drei Wochenendhäuser, und sechshundert Schafe, hauptsächlich Bio. Es ist alles da, was man braucht: Edeka mit Lotto/Toto, Filiale vom Bäcker Hansen aus Husum, »Salon Alexandra« und natürlich »De Hidde Kist«, wo Wirtin Antje »Internationale Spezialitäten« serviert, vom »Halben Brötchen mit herzhaftem Landmett« über Sauerfleisch in Gelee bis zum »Putenschaschlik Hawaii«. Neuerdings gibt es auch Croque.
»Wird aber noch nich so angenommen«, klagt Antje. »Alle woll’n immer nur meine Rote Grütze mit Schuss.«
Für einen Kammermusikabend auf dem Gut der von Rissens musste Antje kürzlich sogar siebzig Portionen ihrer Roten Grütze anliefern.
»Könnt ich mich reinsetzen, in Antje ihre Rode Grütt«, sagt Klaas.
»Jo, is mal wat anderes«, findet auch Piet Paulsen.
Fredenbüll hat auch eine Polizeistation. Noch. Und Polizeiobermeister Thies Detlefsen will, dass das so bleibt. Die kleine Wache neben der Freiwilligen Feuerwehr in dem Backsteinbau ist nämlich vom Kieler Rotstift bedroht.
»Ich hab dat Schreiben mal dabei. Hier, Briefkopf, direkt vom Innenminister in Kiel.«
»Na, wat will er denn?«, fragt Klaas. »Antje, machst für Thies erst mal ’n Bier.«
»Hier«, Thies Detlefsen liest langsam vor, »im Zuge einer Weiterentwicklung der Sicherheitsstrukturen im ländlichen Bereich ist eine Zentralisierung regionaler Polizeiposten geplant.«
»Dat hört sich irgendwie nich gut an«, findet auch Antje und zieht energisch den Frittierkorb mit einer Portion Pommes aus dem heißen Fett.
»Dabei hatten sie mir letztes Jahr sogar ’n neues Dienstfahrzeug in Aussicht gestellt.«
»Erst ham sie Klaas sein Postamt plattgemacht und jetzt ... Dat is ’ne Sauerei.« Landmaschinenvertreter a. D. Piet Paulsen zieht die Lederweste, die er das ganze Jahr trägt, stramm, nimmt zwei leere Flachmänner von Stehtisch zwei und stellt sie zu Antje auf den Glastresen.
»Dabei is die Wache mit einem Mann kaum zu schaffen.« Thies setzt seinen Kuhblick auf.
Thies Detlefsen sieht eigentlich gut aus in seiner knapp sitzenden Polizeiuniform. Er ist ein Kerl von einem Mann. Kantiger Kopf, kantiges Kinn, kurzgeschnittenes blondes Haar mit hochgegeltem kleinem Struppelspoiler vorne. Die Frisur mit dem Frontigel stammt aus dem »Salon Alexandra«. Aber wenn Thies nach ein paar Bieren nachdenklich wird, bekommt er diesen leichten Kuhblick.
»Na ja, Thies, bist bei der Arbeit auch manchmal ’n büschen übergenau«, sagt Klaas.
»Wat denn, ich hab mein Schreibtisch so hoch mit Akten liegen.« Detlefsen hebt die Hand in Höhe des Bügelverschlusses seiner Bierflasche. »Alles ungelöst.«
»Ja, ja, Thies, neulich dat tote Schaf. Wie war das? Anschlag militanter Ökoaktivisten? Hör auf!«
»Moment, nee, nee, dat war die internationale Futtermittelmafia. Aber ohne Soko hast du dagegen keine Chance.«
»Komm, Thies, nu chill erst mal ’n büschen runter.«
Chillen, das ist das Neuste, was Antje draufhat. Bei Antje ist sowieso alles gerade im Umbruch. Seit der letzten WM hängt gegenüber der Dunstabzugshaube ein 46-Zoll-Flachbildschirm, sehr zur Freude der drei bis vier männlichen Stammkunden, die die meiste Zeit des Jahres bei Antje verbringen. Champions League, Euro League, Pokal, Bundesliga sowieso und zwischendurch immer mal ein kühles Getränk. Aber dann gibt es auch noch eine neue Speisekarte und neue Beleuchtung. Antje hat auf Energiesparröhren umgerüstet. »Machen irgendwie ungemütliches Licht«, findet Klaas. Und jetzt will Antje die »Hidde Kist« umbenennen – in »Croque Lagune«. Neue Leuchtschilder sollen angeblich schon bestellt sein. Damit will sie an die Durchreisenden nach Sylt, Föhr und Amrum ran. »Nur mit Schaschlik kann ich denen nich mehr kommen.«
Nicht nur Antje, auch ihr Hund, Schäfermischling Susi, hat die Ernährung umgestellt.
»Ja, wo ist die Susi?! Susi komm, hier, kriegst ’n Stück Schaschlik!« Piet Paulsen pult ein Fleischstück von seinem Spieß und hält es dem Hund hin. Susi schnuppert interessiert und wendet sich dann ab.
»Da is nix zu machen!« Die vollschlanke Antje zuckt resigniert mit den Schultern. »Sauerfleisch, Frikadellen, hat sie doch früher so gern gefressen, rührt sie alles nicht mehr an, seit sie neulich diese Fleischvergiftung hatte.«
»Fleischvergiftung?« Klaas wird leicht mulmig.
»Dabei waren die Schinkenknacker mit Paprika erst zwei Wochen über das Verfallsdatum raus ... Aber drei Pakete auf einmal, das war einfach zu viel.«
»Und seitdem ist der Hund Vegetarier, oder was?«, fragt Paulsen mit heiserer Raucherstimme.
»Ja, kann man so sagen ... Pommes, mal die Reste vom Kartoffelsalat. Darf aber kein Speck drin sein.« Die Mischlingshündin stellt die Ohren auf. »Ja, Susi, Kartoffelsalat, fein!«
»Antje, sieh lieber zu, dass du dein Frittierfett mal wieder gewechselt kriegst«, brummt Detlefsen.
»Komm, lass ma, war wieder eins a dat Putenschaschlik, richtig schön scharf«, krächzt Paulsen. »Und Thies, du trinkst erst mal ganz sutsche dein Bier.«
Paulsen war auch vor der Rente schon die Ruhe selbst. Und eigentlich hat er auch schon immer so ausgesehen: Lederweste, schweres Brillengestell mit Gleitsicht und deutlich erhöhtes Cholesterin. Und auch die neuen Zähne hat der Bredstedter Zahnarzt irgendwie eine Nummer zu groß bestellt.
Thies schüttelt den Kopf. »Ja, ihr habt gut reden. Ihr sitzt hier schön gemütlich an Tisch zwei. Ich sach euch, ich hab vielleicht wieder so’n Tag hinter mir. Der Hamburger Medizinprofessor in sein’ Reetdachschloss hat schon wieder fünfmal angerufen. Füüünfmal! Zweimal wegen den Jauchemief von Dossmann seine Geflügelhalle und dreimal wegen Treckerlärm vom Biohof.« Thies redet sich richtig in Rage. »Musste ich zu Brodersen hin, Brodersen war nich da, nur seine verrückte Frau. War grad wieder am Meditieren oder so und mit ihre Duftöle zugange. Mann, Mann, Mann. Und dann sieben Falschparker am Deich. Siiieben! Bis auf den Jeep von dem alten von Rissen alles ortsfremde Kennzeichen. Merkt ihr wat?«
»Jetzt erzählt er gleich wieder wat von Selbstmordattentäter.« Piet Paulsen pult sich die Reste seines Putenschaschlicks »Hawaii« aus den gewaltigen Zähnen. »Thies, dat sind Touristen.«
»Ja, wat denn, dieser Mohammed Atta hatte auch Hamburger Nummernschild.«
»Mensch, Thies«, sagt Postbote Klaas, »überlech doch ma, Selbstmordattentäter bei uns in Nordfriesland, dat bringt doch nix!«
»Aber ham wir hier Touristen? Dat Schild ›Zimmer frei‹ bei Renate. Hast du gesehen, dass Renate dat mal reingenommen hat?«
So recht ist es Thies Detlefsen noch nicht gelungen, die Kriminalitätsstatistik von Fredenbüll in Schwung zu bringen. Auch das neue Traffipax-Gerät, der Radarblitzer für Geschwindigkeitskontrollen, hat noch nicht den entscheidenden Durchbruch gebracht. In der platten weiten Marsch springt der Blitzkasten jedem sofort ins Auge. Und wer soll in Fredenbüll schon in die Radarfalle tappen? Der Trecker von Biobauer Brodersen und die antiquarische Zündapp-Zweigang von Bounty, dem übrig gebliebenen Althippie aus der Landkommune, sind vom Erreichen der erlaubten fünfzig km/h innerhalb der geschlossenen Ortschaft von Fredenbüll weit entfernt, das verrostete Hollandrad des Eppendorfer HNO-Professors Müller-Siemsen erst recht.
»Thies, dat is schon rein rechnerisch gar nich möglich«, analysiert Klaas nach vier Jägermeistern und einer doppelten Portion Roter Grütze mit Schuss messerscharf.
Einmal allerdings ist Thies doch ein Hamburger Porsche auf dem Rückweg von Sylt im Ort mit hundertzweiundsiebzig, die Toleranz schon abgerechnet, in die Radarfalle gegangen. Das Traffipax hatte ein gestochen scharfes Bild des Schnösels auf der Gegenfahrbahn beim Überholen von Brodersens Bioschafen geliefert. »Klarer Fall von Paragraph 315 c«, hatte Thies überhaupt keine Zweifel aufkommen lassen und den Führerschein gleich vor Ort einkassiert. Dann hat er einen holländischen Spediteur mit frischer Ware von Hühnerbaron Dossmann geblitzt, allerdings nur mit zweiundsiebzig, und in den ersten Wochen, als sich die Anschaffung des Blitzgerätes noch nicht herumgesprochen hatte, immer wieder den Schimmelreiter.
Der Schimmelreiter heißt auch Hauke, wie der bei Theodor Storm, allerdings Hauke Schröder, aber er ist auch viel nachts unterwegs und fegt in seinem tiefergelegten Corolla den Deich am Koog entlang. Wie das Pferd im Buch ist auch Hauke Schröders Auto weiß, das heißt, genau genommen, perlmuttmetallic. Die Rückbank hat er rausgenommen und stattdessen zwei stattliche Tausend-Watt-Boxen eingebaut, aus denen ausschließlich AC/DC zu hören ist. So geht es mit dumpfem »Dumb-dumb-dumb-dumb«, dass die grün getönten Scheiben wackeln, immer am Deich entlang. Die Strecke Fredenbüll nach Neutönninger Siel hinunter kommt der Schimmelreiter kurz auf hundertsiebzig. Die Spoiler halten den Japaner auch bei steifem Nordwest dicht auf der Straße. Vor der Kurve zur Badestelle muss man dann ziemlich zügig runterschalten.
»Ja, Kriminalität is hier genug«, sagt Thies Detlefsen. »Aber wenn ich ehrlich bin, könnte mehr sein. ’n büschen mehr Unterstützung könnte auch von euch kommen. Denn eins muss euch klar sein, wenn nix passiert, bin ich hier bald weg.« Kuhblick. »Dann schicken sie mich auf die Wache nach Bredstedt oder gleich in die Stadt ... nach Husum.« In den Kuhblick mischt sich Panik.
»Soll’n wir hier jetzt den Edeka überfallen, oder wat«, sagt Klaas und zieht seine blau-gelbe Postjacke aus.
Piet Paulsen schraubt mit einem Knacken ein neues Jägermeisterfläschchen auf und schaltet mit der Fernbedienung das 46-Zoll-Flachbildgerät ein, auf dem prompt Gerhard Delling erscheint. »Kannst ja Antje wegen zu altes Bratfett verhaften. Wär’ mal wat anderes.«
Wie jedes Jahr in den ersten warmen Maitagen, wenn die Frühlingsstürme vorüber sind, liegt auf einmal der schwere Duft von Flieder und Weißdorn über Fredenbüll. Die ersten Apfelblüten regnen über die Dorfstraße, und die drei Deiche sind über und über gelb mit Butterblumen gepunktet. Im Gutshaus der von Rissens werden die Fensterläden gestrichen. Huberta von Rissen rüstet sich für den »Fredenbüller Kultursommer«, in dem sie auf dem Gut wieder eine Reihe von Konzerten und Lesungen veranstalten will.
Ein Schwarm Eiderenten zieht mit ohrenbetäubendem Schnattern im Tiefflug über das Deichvorland hinweg. Die Fredenbüller entrosten ihre Gartengrills und tauschen in den Waschbetonkübeln die Stiefmütterchen gegen Begonien aus. Die Amsel in der Kastanie vor der alten Dorfkirche ist auf Brautschau und macht einen Mordslärm. Auch bei vielen Fredenbüllern scheinen die Hormone verrücktzuspielen, nur bei Thies Detlefsen und seiner Frau Heike irgendwie nicht. Aber dafür gibt es in Fredenbüll jetzt wohl einen echten Entführungsfall.
Thies kommt an diesem Freitag später nach Hause. Mit seinem Traffipax hat er auf der L 157, die von Husum herüberkommt, am Abend noch mal Jagd auf ein paar Ferienhausbesitzer gemacht, die zum Wochenende eilig die letzte Fähre auf die Inseln erwischen wollten. Das Blitzgerät hatte er hinter dem neuen Schild »Feiern im Fachwerk« postiert, gleich am Ortseingang vor der alten Scheune, die man neuerdings für Partys anmieten kann. Tatsächlich sind ihm ein BMW-Coupé und drei Geländewagen, alles Hamburger Ferienhausbesitzer mit NF-Kennzeichen, in die Falle gegangen. Viel mehr als hundertzwanzig hatten die zwar auch nicht auf dem Tacho, aber Thies fährt bester Laune ins Wochenende.
Als er zu Hause vorfährt, fällt er erst mal über die neuen Terrassenplatten, was seine Stimmung deutlich dämpft. Seit Wochen stehen die Paletten mit den Platten in der Auffahrt, dreifarbig, Anthrazit, Mauve und Karmin, Muster »Siena«, gar nicht einfach zu verlegen. Dabei hatte Thies die Garageneinfahrt vor drei Jahren gerade gemacht. Aber als Heike die neue Terrasse von Sandra gesehen hatte, wollte sie auch »Siena« haben. Für Heike muss es immer das Neuste sein. Thies kommt längst nicht mehr hinterher.
Nach einem Abendessen sieht es zu Hause nicht aus. Dafür sitzt Heike grade wieder vor einer ihrer Kochsendungen. Thies’ Stimmung sinkt weiter. Statt selbst zu kochen, sieht Heike in letzter Zeit lieber Kochen im Fernsehen und macht in der Mikrowelle Tiefkühlpizzas heiß. Die Zwillinge sind im Gegensatz zu Thies begeistert und werden immer dicker.
Irgendwie kommt Heike ihm heute Abend verändert vor. Aber er weiß zuerst nicht, wieso. Neue Klamotten? Schminke? Oder einfach nur der Frühling?
»Ich will mit Marret, Swaantje und Sandra am Sonntag mal wieder nach Hamburg runter: Queen Mary gucken«, offenbart Heike.
»Sonntag? Is Angrillen am Deich«, sagt Thies.
»Das viele gegrillte Zeug soll gar nicht gut sein.« Die Erkenntnis hat Heike aus ihren Kochsendungen.
»Und wat is mit den Zwillingen?«, fragt Thies.
»Die nimmst du einfach mit zum Grillen. Telje, Tadje, wollt ihr mit Papa grillen?« Die einträchtig nebeneinander auf dem Sofa sitzenden Mädchen, acht Jahre alt und auch von ihren Eltern kaum auseinanderzuhalten, starren weiter wie gebannt auf den Fernsehkoch, der gerade Förmchen für ein Soufflee einbuttert.
»Telje! Tadje!« Thies wird etwas lauter.
»Ich will auch mit Queen Mary gucken«, quakt Telje.
»Geht nich, ihr kommt mit zum Grillen.«
»Sag mal, Thies, fällt dir eigentlich gar nichts auf?« Heike sieht ihn herausfordernd an.
Daraufhin mustert Thies seine Frau eindringlich. Also doch: die Haare. Sonst hat Heike immer diesen Heuwagen mit Dauerwelle auf dem Kopf, meist mit einem Haargummi gebändigt. Jetzt trägt sie auf einmal glatte Haare mit orangenen Strähnchen.
»Warst du beim Friseur?«
Es ist bei den beiden eigentlich immer dasselbe. Thies möchte gern, dass alles so bleibt, Fredenbüll, seine Polizeistation, aber auch Mode und Einrichtung. Seinetwegen müsste Heike nicht unbedingt mit jedem Quartal die Frisur wechseln. Aber Heike ist eben mehr für die Veränderung. Ständig fährt sie ins Möbelcenter nach Flensburg. Dabei haben sie gerade zwei neue Dreisitzer, die kaum ins Wohnzimmer passen. Im Urlaub will Heike immer gleich nach Afrika oder wenigstens Spanien. Neuerdings träumt sie von einer Kreuzfahrt, während Thies die Sommerferien am liebsten einfach nur mit der Fähre nach Amrum rüberfährt. »So’n Strand hast du in ganz Spanien nich.« Piet Paulsen hat das bestätigt, und der muss es wissen. Seit Paulsen Rentner ist, hat er ein Apartment an der Costa del Sol, das allerdings immer noch nicht bezugsfertig ist. Irgendwie stockt der Bau.
Von ihren Shoppingtouren mit ihren Freundinnen schleppt Heike laufend neues Dekozeugs an. An Ostern erst die zweihundert beleuchteten Plastikeier im Vorgarten und drinnen die ganzen Hasen und Hühner aus Ton. Thies hätte das nicht unbedingt haben müssen.
Allgemein lässt sich sagen, die Damenwelt von Fredenbüll ist eher für das Moderne, und »Salon Alexandra« geht immer voran. Als die Frauen sich in der Vorweihnachtszeit zum gemeinsamen Backen trafen, war auch dem letzten ihrer Ehemänner aufgefallen, wie gut gebräunt die Damen für die Jahreszeit waren. Um die rückläufigen Dauerwellen zu kompensieren, hatte Alexandra im Hinterraum ihres Salons einen Turbobräuner aufgestellt, Acapulco 28/1 Kombi.
»Drei Trockenhauben raus, Bräuner rein. Fertig.« Postbote Klaas hatte mitangefasst.
Nun muss man wissen, dass der 28/1 Kombi ein ziemlicher Apparat und Klaas eher klein ist. Während Thies’ Polizeiuniform in der Schulter immer leicht spannt, wirkt die blau-gelbe Postjacke von Klaas immer zwei Nummern zu groß. Klaas ist keine eins siebzig und eher ein dunkler Typ, äußerlich alles andere als der typische Friese.
Wenn Thies es recht überlegt, hat er den blonden Heuwagen auf Heikes Kopf eigentlich immer gemocht. »Eigentlich gehst du doch wegen der Dauerwelle zum Friseur. Und jetzt warst du da, damit keine Locken mehr drin sind, oder wie seh ich das?«
Heike ist beleidigt und wechselt das Thema.
»Und soll ich dir was sagen, Leif saß auch schon wieder bei Alexandra. So schnell wächst doch kein Haar. Ich weiß nich, was er da immer will. Neue Versicherung kann doch wohl bald nich mehr sein.«
»Kann ich dir ganz genau sagen, was der da will«, sagt Thies. »Klarer Fall von überversichert.«
Leif Ketels, Vertreter der Nürnberger, Sektion Nordwest, hat im Kreis alles versichert, was man versichern kann: Haftpflicht, Lebensversicherungen, Landmaschinen, sämtliche Reetdächer sowieso. Klaas behauptet, sogar Schafe. Leif hat damit richtig Geld gemacht. Er fährt immer den dicksten Benz, und die Mädels behaupten, seine Swaantje hat er damals auch nur wegen der Kohle rumgekriegt.
»Swaantje sieht eigentlich ’n büschen zu gut aus«, sagt Sandra. Sie meint, als Partnerin für den unscheinbaren Leif in seiner fliederfarbenen Windjacke und mit der weißen Haut und den paar rotblonden Härchen auf der Oberlippe, die wirklich nicht als Bart durchgehen.
Die regelmäßigen Besuche ihres Mannes im »Salon Alexandra« nimmt Swaantje erstaunlich gelassen. Es hält sie keineswegs davon ab, sich von Alexandra die Haare machen zu lassen.
»Morgens war Swaantje da, Schneiden, Dauerwelle, das ganze Programm, sah aus, als wenn sie noch was vorhätte«, sagt Heike. »Und mittags, sie war kaum unter der Trockenhaube raus, da kam Leif rein.«
»Und du warst ’n ganzen Tag da, oder wie?«
»Ja, was denkst du, Entkrausen und Strähnchen, das dauert. Da kriegst du ganz schön was mit, ob du willst oder nich.«
Thies schüttelt den Kopf.
»Alexandra und Leif, die hatten sich ganz schön in der Wolle, hinten in dem Zimmer mit den Waschbecken. Diese Versicherungsheinis sind aber auch hartnäckig.«
»Wieso? Ging dat um Versicherungen?« Thies blickt ungläubig.
»Mensch, Thies, das war hinten bei den Waschbecken. Und gegen die Trockner konnte ich das auch nicht richtig verstehen. Alexandra hat irgendwie gesagt, sie will das nicht mehr, und er soll sie in Ruhe lassen, oder so. Und er wollte sich noch mal mit ihr treffen.«
Thies Detlefsen versteht die Welt nicht mehr. Eigentlich sind die Friesen eher bodenständig und treu, glaubt Thies zumindest. Aber in diesem Mai scheinen alle verrücktzuspielen: Versicherungsvertreter Leif Ketels, seine hübsche Swaantje, die vornehme Huberta von Rissen, Biobauer Jörn Brodersen und dessen durchgedrehte Frau Lara.
»Es heißt ja, Swaantje soll was mit Brodersen haben«, sagt Heike.
»Und ich hab Jörn Brodersens Landrover heut schon wieder bei Huberta von Rissen stehen sehen, während der alte von Rissen auf irgend so ’n Adligentreffen in Ostholstein war.«
»Wat die an Brodersen bloß alle finden«, wundert sich Heike und fasst sich prüfend in die neue Frisur.
Thies’ friesischer Charme ist bei den Fredenbüller Damen ja auch nicht ganz ohne Wirkung. Aber mit Jörn Brodersen kann er nicht mithalten.
»Sach mir ma’ eine, die Brodersen noch nich angegraben hat«, meint Klaas zu dem Thema. »Macht hier einen auf Bio-Schnacker, aber Brodersen ist knallhart. Und er hat ’n Schlag bei Frauen. Jo, is doch so.«
Jörn Brodersen wirkt sportlich. Mit seinem gepflegten Dreitagebart und den etwas längeren Haaren wirkt er jünger, als er ist. Er stammt zwar aus dem Norden, aus der Elbmarsch in der Nähe von Elmshorn, aber er ist eben kein geborener Fredenbüller und eigentlich auch kein Landwirt. Nach dreiundzwanzig Semestern Psychologie und einem kurzen Intermezzo als Tanztherapeut in Südamerika ist er seit zehn Jahren Biobauer, und zwar höchst erfolgreich.
In erster Linie hat Brodersen seine sechshundert Schafe auf dem Deich stehen. Aber er bewirtschaftet auch noch ein paar Hektar, auf denen er traditionelle alte Getreidesorten und Futtermais für die Tiere, die er nebenbei hat, anbaut. Das Land hat seine Frau Lara, eine echte Fredenbüllerin, mit in die Ehe gebracht. Die beiden haben sich bei einer Tanztherapie auf einer Hazienda kennengelernt.
Lara ist die Schwester von Leif Ketels, dieselbe weiße Haut und dieselben dünnen hellen Haare. Sie verkauft im Hofladen Schafsfelle, Dinkelkissen und Duftöle aus eigener Produktion. Den Großteil des Tages meditiert Lara. Während »dat Gespenst«, der Spitzname stammt natürlich von Klaas, in anderen Sphären schwebt, macht Jörn Brodersen Hausbesuche bei der ortsansässigen Damenwelt.
Thies überlegt kurz, ob er sich auch schnell eine Tiefkühlpizza heiß machen und dann noch ein paar Platten »Siena« verlegen soll oder doch lieber in »De Hidde Kist« fährt, um wenigstens die zweite Halbzeit des Freitagsspiels in der Bundesliga anzugucken.
In dem Moment klingelt das Telefon, das heißt, es klingelt nicht, stattdessen düdelt ›Waterloo‹ aus Richtung Ladestation, ein neuer Klingelton von Heike, seit sie neulich im Abba-Musical war.
Antje ist dran. Im Imbiss herrscht hellste Aufregung. Das hört Thies im Hintergrund. Das Spiel läuft, aber das ist es nicht.
»Thies!!« Antje schreit in den Hörer. »Bist du das, Thies?!«
Thies nimmt den Hörer ein Stück vom Ohr. »Wat is denn los, Antje? Ich wollt sowieso gleich kommen. Is was passiert?«
»Kann man wohl sagen. Leif war hier. Swaantje is weg.«
»Swaantje is weg«, sagt Thies zu Heike, während er sich den Hörer vom Ohr hält.
»Wieso, die war doch heute Morgen beim Friseur«, zischelt Heike dazwischen.
»Thies, du musst kommen. Klaas hat alles genau aufgeschrieben«, schreit Antje ins Telefon.
»Bin sofort da«, sagt Thies geschäftsmäßig.
In der Kochshow ist grad ein Soufflee im Ofen zusammengefallen. Die Zwillinge auf dem Sofa werden munter und zeigen begeistert auf den Fernseher.
»Da is wat mit Swaantje, möglicherweise Entführung, weiß man noch nicht.« Thies zieht seine Polizeijacke über.
»De Hidde Kist« ist außergewöhnlich gut besucht. Klaas und Piet Paulsen sitzen auf Hockern an ihrem Stammtisch. Und an dem anderen, also an Stehtisch eins, steht Bounty, der sich bei Antje immer mal einen seiner Schokoriegel mit Kokosfüllung rausholt oder zum Fußball vorbeikommt. Doch heute ist das Spiel auf dem Großbildschirm nebensächlich.
»Leverkusen interessiert doch eh keine Sau«, sagt Bounty, der statt Schokoriegel heute Mettbrötchen isst.
»Swaantje is weg«, platzt es aus Klaas raus, als Thies in die Kneipe gestürmt kommt. Der kleine Postbote blickt bedeutungsvoll. »Leif war vielleicht fertig. Seit dem Frühstück hat er Swaantje nicht mehr gesehen.«
»Wieso? Swaantje war beim Friseur«, sagt Thies.
»Kann ja sein, aber als Leif abends nach Hause kommt, steht kein Essen auf ’m Tisch. Und normal gibt dat Freitag Schollen.«
Klaas hat alles fein säuberlich auf einem Paketbenachrichtigungsschein notiert. Die Geschichte mit den Schollen jetzt nicht, aber sonst alles.
»Gute Arbeit, Klaas«, sagt Detlefsen wichtig. »Was hat Leif gesagt, haben die Entführer sich schon gemeldet?«
»Wat denn für Entführer?«, will Paulsen wissen.
»Ja, wer sie entführt hat, weiß ich auch nicht. Muss ich morgen gleich mal sehen, dass wir in Kiel ’ne Fangschaltung beantragen.« Thies ist voll in seinem Element.
»Sach mal, Thies, meinst du tatsächlich, Swaantje is’ entführt worden?« Antje, die gerade ihre Teller mit Sauerfleisch, Kartoffelsalat und Roter Grütze vom Glastresen in den Kühlschrank zurückräumt, sieht Thies ungläubig an.
»Sieht ganz danach aus«, sagt er.
Thies fährt noch mal bei der Wache vorbei. Er weiß selbst nicht recht, was er da soll. Aber irgendwie muss er etwas tun. Für alle Fälle nimmt er seine Dienstpistole aus der Schublade und fährt noch mal durchs Dorf. Er hat keine Idee, wo er Swaantje suchen soll. Jetzt in der Nacht eine große Suchaktion zu starten findet er übertrieben. Aber irgendwie hat er ein komisches Gefühl. »Nach all den Jahren im Polizeidienst hast du einfach so ’n Bauchgefühl«, sagt Thies immer.
Er fährt noch mal ein Stück aus dem Ort raus die beiden Landstraßen ab. Es ist alles ruhig wie immer. Aber ihm fällt auf, dass sich in diesem Frühjahr einiges verändert hat in Fredenbüll. Die historische Glocke im Holzturm der Dorfkirche aus dem achtzehnten Jahrhundert, die vereinzelte Kulturreisende in die Gemeinde lockt, ist restauriert worden. Sie schlägt gerade zweimal. Der alte Dorfkrug, der seit fünfzehn Jahren vor sich hin gammelte, wurde abgerissen. An der kleinen Landstraße nach Neutönningersiel ist der neue Fahrradweg fast fertig. Es fährt nur niemand dorthin mit dem Rad, nur der Schimmelreiter – in seinem Corolla.
An der Bundesstraße Richtung Husum gibt es gleich mehrere neue Schilder: Gleich am Ortseingang »Feiern im Fachwerk«. Und die Straße weiter runter bei Dossmann, ein Stück vor seiner Hühnerhalle, soll das große neue Freigehege mit Bodenhaltung hinkommen. Die fünftausend Legehennen sind noch nicht drin, aber die riesige Reklametafel steht schon: »Freiheit, die man schmeckt«. Ein bisschen weiter auf dem Brachland, das eigentlich nicht mehr Dossmann gehört, steht handgemalt die Forderung: »Stoppt die Öko-Diktatur!« Das Schild hat früher schon mal da gestanden, dann war es ein paar Jahre verschwunden, seit diesem Frühjahr ist es wieder da.
Ein Stück weiter die Landstraße hinunter parkt dort am Waldrand seit letztem Herbst dieses Wohnmobil älteren Baujahrs mit dem rosaroten Neonherz hinter der Frontscheibe. Im Imbiss wurde darüber schon ausgiebig diskutiert. Thies vermutet die Aktivitäten eines osteuropäischen Mädchenhändlerrings. Er hat aber noch keine Ermittlungen aufgenommen. Heute Nacht ist die Frontscheibe des Campingbusses unbeleuchtet. Und ein anderes Auto mit Kundschaft ist auch nicht zu sehen. Detlefsen wendet.
In »De Hidde Kist« ist immer noch Licht. Das Spiel ist vorbei. Jetzt diskutieren die Trainer, und Antje scheuert den Grill. Piet Paulsen steht vor der Tür und raucht.
Als Thies nach Haus kommt, liegt Heike schon im Bett, ist aber noch wach.
»Heike, mit Swaantje Queen Mary gucken, dat wird wohl nix. Swaantje is entführt.«
Die Nacht ist stockdunkel. Nur aus der alten Remise am Rand des Waldes kommt ein schwaches Licht durch die kleinteiligen Fenster. Der alte Backsteinbau gehört eigentlich zum Gut der von Rissens, ist aber einen guten Kilometer vom Haupthaus entfernt. Das Gebäude, in dem früher mehrere Kutschen und landwirtschaftliches Gerät untergebracht waren, wird seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und rottet langsam vor sich hin. Eine historische Kutsche, die zum letzten Mal bei der nun schon länger zurückliegenden Hochzeit von Onno und Huberta von Rissen im Einsatz war, fristet dort ihr Dasein. Im Winter stellt Huberta von Rissen ihr englischgrünes MG-Oldtimer-Cabrio dazu.
In dem niedrigen Raum scheint die Zeit stillzustehen. Ein ganzes Sammelsurium ausgedienter Gerätschaften findet sich hier mittlerweile, alte Forken, ein gammeliges Jauchefass, Holzrechen und Sicheln. Ein vorsintflutlicher pferdebetriebener Heuwender ist über und über mit Spinnweben bedeckt. Neben einem Kiefernschrank lehnen ein doppelläufiges, leicht angerostetes Jagdgewehr und eine altertümliche Sense. Gegenüber steht ein schwerer alter Postschrank mit vielen kleinen Schließfächern, deren einzelne Türchen mit Symbolen gekennzeichnet sind: einer Eichel, einem Kleeblatt, einem Keilerkopf und einem Hasen.
In der ehemaligen Kutscherkammer, die früher einmal als Schlafraum und Küche diente, findet man allerdings durchaus Hinweise auf Besucher. Der alte Kohleherd ist eindeutig in diesem Winter beheizt worden, denn neben dem Herd liegt ein kleiner Stapel frisch geschlagenes Holz. Auf dem wurmstichigen Holztisch stehen eine halb geleerte Sektflasche und zwei Gläser. Gegenüber des etwas mitgenommen aussehenden Bettes hängt eine Jagdtrophäe an der Wand, ein Elchkopf, den der alte August von Rissen, Vater des heutigen Gutsherrn, als junger Mann in den Dreißigerjahren bei einer Jagd im schwedischen Nordvärmland geschossen haben soll. Der Elch schaut recht freundlich auf die heutigen Besucher hinunter, als würde es ihn amüsieren, was sich in letzter Zeit vor seinen Augen alles abgespielt hat. Nachdem sich in den letzten dreißig Jahren hier kaum jemand hat blicken lassen, ist nun wieder ordentlich Leben in die Bude gekommen. Dafür sorgen unter anderen Swaantje Ketels und Jörn Brodersen, die sich regelmäßig für ihre Rendezvous in der Remise einfinden.
Schon auf Schützenfesten und Dorfhochzeiten hatten die beiden kaum voneinander lassen können: die blonde Swaantje, die für die norddeutsche Provinz eigentlich viel zu hübsch ist und schon zu Husumer Tanzstundenzeiten einer ganzen Generation friesischer Jungs den Kopf verdreht hatte, und der smarte Biobauer und aufreizende Tänzer Jörn Brodersen, der gar nicht so heimliche Traum vieler Fredenbüller Damenkränzchen.
»Er sieht immer ’n büschen aus wie dieser Arzt von der Nationalmannschaft«, meint Piet Paulsen. »Hier, wie heißt der noch mal, Müller-Dings?«
Postbote Klaas ist da gänzlich anderer Meinung und schüttelt an dieser Stelle regelmäßig den Kopf.
»Wieso nicht?«, fragt Paulsen dann. »Nu stell dir Brodersen mal rasiert vor, ’n büschen älter und im Trainingsanzug.«
Wenn Swaantje und Brodersen zu den Klängen von Bountys Band »Stormy Weather« durch den Tanzsaal schweben, folgt ihnen die versammelte Fredenbüller Schützenfestgemeinde mit offenem Mund und eifersüchtigen Blicken. Und bei Bountys achtzehnminütiger Coverversion von ›Samba Pa Ti‹ weht ein Hauch von Copacabana über den nordfriesischen Deich. Heute Nacht will sich allerdings keine rechte Romantik einstellen.
Swaantje liegt auf dem durchgelegenen Bett, nackt, notdürftig in die alte Wolldecke gehüllt. Sie sieht erhitzt und verheult aus. Nur die neue Frisur aus dem Salon Alexandra sitzt perfekt. Brodersen, ebenfalls nackt, läuft vor dem Elchkopf auf und ab. Er wirkt hektisch, aber irgendwie sportlich, tatsächlich wie dieser Doktor der Nationalmannschaft, nur eben ohne Trainingsanzug.
»Und was sollen wir jetzt bitte tun?« Swaantje wischt sich wütend ein paar Tränen mit der Wolldecke aus dem Gesicht und entblößt dabei kurz ihre Brüste. Sie sieht Brodersen vorwurfsvoll an.
»Soll das denn auf einmal alles nicht mehr gewesen sein?«
»Doch, natürlich, aber ...« Brodersen bleibt stehen und blickt kurz zu ihr. Seine blauen Augen leuchten in der dunklen Remise.
»Ich hab mich von Leif getrennt«, Swaantje wird jetzt laut. »Ich hab meine Sachen gepackt und bei Renate untergestellt. Verdammt, wir haben uns das immer wieder ausgemalt, zigmal. Wir wollten doch zusammen hier weg.«
Brodersen sucht verlegen nach seinen auf dem Boden verteilten Klamotten, aus denen er eben noch gar nicht schnell genug herauskommen konnte.
»Aber von heute Nacht war nie die Rede.« Er setzt sich auf die Bettkante. Als er Swaantje in den Arm nehmen will, stößt sie ihn weg.
»Und was sollen wir jetzt machen? Wo soll ich denn hin? Verrat mir das bitte mal.«
»Warum kann nicht alles so bleiben? Nur fürs Erste«, wendet Brodersen vorsichtig ein, fährt sich durch sein kräftiges, von grauen Strähnen durchzogenes Haar und versucht sein Grinsen aufzusetzen, mit dem er bei den Fredenbüller Frauen so erfolgreich ist.
»Bist du vielleicht wirklich so ein blödes Arschloch, wie alle behaupten?«, fährt sie ihn an. »Dann sollte ich deiner durchgeknallten Frau mal erzählen, was wir hier so treiben.« Sie ist außer sich vor Wut.
»Mensch, Swaantje, mach doch jetzt nicht alles kaputt.«
»Bitte? Ich mache alles kaputt? Wir wollten ein neues Leben beginnen, erinnerst du dich? In Südamerika, weit weg von diesen Scheiß-Deichen, den stinkenden Schafen und ... und blöden Friesen.«
Bei Swaantje kullern schon wieder die Tränen, aber dann hat sie sich erstaunlich schnell gefasst. Energisch springt sie aus dem Bett und zieht sich an, zumindest Jeans und BH, während Jörn Brodersen immer noch nackt und dümmlich lächelnd im Raum steht.
»Wir wollten in Brasilien Salsa tanzen!«, schimpft Swaantje und reißt dabei aus Versehen die alte Waschschüssel mit dem friesisch blauen Rand vom Tisch.
»Samba«, berichtigt Brodersen sie.
Das bringt Swaantje so richtig in Rage. Ihre weichen hübschen Gesichtzüge bekommen schlagartig etwas Hartes, fast Gefährliches. Sie greift sich den zu der Waschschüssel gehörenden Krug, zerschlägt ihn an der gusseisernen Platte des alten Ofenherdes. Von dem Henkel, den sie mit ihrer Hand fest umklammert hält, bleibt nur eine spitze Scherbe stehen, mit der sie auf Brodersen losgehen will. Darauf ist Jörn Brodersen nicht gefasst gewesen. Voll Panik reißt er einen antiquarischen Holzrechen von der Wand und hält sich die morsche Harke vor den nackten Körper, um die wild gewordene Swaantje abzuwehren.
Doch dann überlegt Swaantje es sich anders. Sie schnappt sich das neben dem Schrank lehnende Jagdgewehr. Immer noch in Jeans und BH fuchtelt sie mit dem doppelläufigen Gewehr vor Brodersens Nase herum. Ihre Hand mit den fliederfarbenen, sorgfältig lackierten Fingernägeln steht in auffälligem Gegensatz zu dem rostigen Abzug des Gewehres. Den nackten Biobauern ergreift die pure Angst. Er reißt beide Arme nach oben. Brodersen hat mit Frauen ja schon einiges erlebt. Aber mit dem Jagdgewehr ist noch keine auf ihn losgegangen. In Sekundenbruchteilen spulen sich vor seinem inneren Auge noch einmal die dramatischsten Schlussakte seiner Affären ab. Im selben Augenblick löst sich ein Schuss.
Alle beide, Swaantje und Brodersen, zucken zusammen. Das großkalibrige Projektil ist mitten zwischen den Augen gelandet. Nicht im Kopf des smarten Ökolandwirts, sondern im ausgestopften Schädel des Elches aus Nordvärmland.
Swaantje lässt die Waffe fallen und schluchzt laut auf. Brodersen rührt sich nicht. Sie lässt ihn stehen, schnappt sich Schuhe, Bluse und Jacke und stürzt nach draußen. Im Laufen zieht sie sich ihre Klamotten über. Sie schwingt sich auf das Fahrrad, mit dem sie gekommen ist, und tritt so schnell sie kann. Sie radelt ohne Licht auf dem dicht von alten Buchen und Kastanien gesäumten Sandweg Richtung Deich.
Die Nacht ist kühl und frisch, der Mond ist praktisch nicht vorhanden, fast Neumond, nur eine ganz schmale Sichel, die kaum Licht gibt. Aber die Milchstraße zieht sich satt leuchtend von dem kleinen Wäldchen, in dem das Gut der von Rissens liegt, einmal über den ganzen Himmel bis hinter den Deich. Der gewölbte Sternenhimmel wirkt ganz nah. Von Weitem ist das Blöken eines einzelnen Schafes zu hören. Ansonsten absolute Stille und fast völlige Dunkelheit.
Swaantje Ketels hört vor allem ihr eigenes Keuchen. Sie spürt jetzt die Wirkung der Flasche Sekt, die sie fast allein geleert hat. Da hatte sie noch geglaubt, dass es etwas zu feiern gäbe. Der Sattel des Rades ist etwas zu hoch eingestellt. Beim Treten kann sie die jeweils untere Pedale gerade eben mit der Fußspitze erreichen. Ihre Fersen rutschen dabei immer wieder aus den Schuhen, sodass sie ihre roten Pumps zu verlieren droht. Sie hat das Gefühl, als mache sich das klapprige Rad selbstständig. Mit ziemlichem Tempo und in leichten Schlangenlinien fegt Swaantje auf der Straße den Deich entlang. Sie hat keine Ahnung, wo sie überhaupt hinwill.
Auf dem Rücken des Deiches huschen vor dem Nachthimmel die Silhouetten einiger Schafe vorüber. Ein einsames Blöken hallt durch die Dunkelheit. Und dann hört sie das Brummen, das schnell lauter wird und zügig in ein Röhren übergeht. In der langen Kurve Richtung Meer flammen sechs grelle Scheinwerfer auf. Das Röhren wird lauter. Dumpf hallt das Dumm-dumm-dumm durch die Nacht.
Der Schimmelreiter hängt tief in seinem Schalensitz. Die roten Rallye-Sicherheitsgurte spannen stramm wie Hosenträger über seiner Brust. Aus den Boxen stampft AC/DC. »I’m on the Highway to Hell«, schreit der Schimmelreiter den Song laut mit.
Hauke kommt grade von einem nächtlichen Meeting mit Bounty, die neue Ernte verkosten. Drei solvente Tüten haben sie geraucht und Bountys Scheiß-Hippie-Mucke gehört. Der Schimmelreiter zieht den Regler seiner Anlage noch ein Stück weiter auf. Der Bass pocht in seinem Kopf, und durch das Marihuana kommt ihm die Fahrt noch schneller vor. Jetzt im Auto mit dem passenden Sound wirkt der Stoff erst richtig. Der helle Scheinwerferkegel fliegt über die schmale Straße. Er hat das Gefühl zu schweben. Tacho- und Drehzahlnadeln zittern synchron über die Rundinstrumente. Das unter dem Rückspiegel hängende Met-Horn schaukelt wie in Zeitlupe hin und her. Hauke trommelt den Beat auf dem Lederlenkrad mit. Die Asche der Filterlosen zwischen seinen Fingern fällt auf seine Jeans.
Plötzlich ist da wie aus dem Nichts dieser Schatten. Oder bildet er sich das nur ein? Und dann hört er das Knacken in dem AC/DC-Song, ein kurzes Scheppern, das in ›Highway to Hell‹ absolut nichts zu suchen hat. Was, verdammte Scheiße, war das?