Roter Mond - Kim Stanley Robinson - E-Book

Roter Mond E-Book

Kim Stanley Robinson

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Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 2048. Die Menschheit hat den Mond kolonisiert. Vor allem China hat sich große Pfründe gesichert. Für drei Menschen wird der Erdtrabant zum Schicksalsort: Fred Fredericks soll dort für die chinesische Science Foundation ein Kommunikationssystem installieren und wird Zeuge eines Mordes. Der chinesische Starreporter Ta Shu soll die Schönen und Reichen auf dem Mond interviewen und gerät in eine tödliche Intrige. Und Chan Qi, die Tochter des chinesischen Finanzministers, hat ihre ganz eigene Agenda. Als sie heimlich zur Erde zurückkehren will, setzt sie damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die nicht nur Freds, Shus und ihr eigenes Leben bedrohen, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit ...

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Seitenzahl: 766

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Das Buch

Dreißig Jahre in der Zukunft: Der Mond ist kolonisiert. Am lunaren Südpol, wo die Sonne niemals untergeht, haben Amerikaner und Chinesen ihre Basen in den Kraterwänden eingerichtet. Für Fred Fredericks ist es der erste Flug zum Mond. Im Auftrag von Swiss Quantum Works soll er einen Quantenkommunikator, mit dem sich absolut abhörsichere Gespräche führen lassen, an die chinesische Mondbehörde liefern und installieren. Doch bei der Übergabe wird Chang Yazu, der ranghöchste Verwaltungsbeamte, vergiftet, und Fred wird bei dem Anschlag schwer verletzt. Als er wieder zu sich kommt, steht er im Verdacht, der Mörder zu sein. Um seine Unschuld beweisen zu können, muss Fred aus der Mondbasis fliehen – und trifft dabei auf eine unwahrscheinliche Verbündete: Chan Qi, die Tochter des chinesischen Finanzministers. Sie ist aus persönlichen Gründen auf den Mond gekommen, und das, was sie dort erlebt, wird den Lauf der Geschichte verändern – auf Luna ebenso wie auf der Erde …

Der Autor

Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien mit »Roter Mars« der Auftakt der Mars-Trilogie, die ihn weltberühmt machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. Zugleich hat sich Kim Stanley Robinson mit zahlreichen Texten als wichtige Stimme in der amerikanischen Umweltdebatte etabliert. Der Autor lebt mit seiner Familie in Davis, Kalifornien. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt seine Romane »2312«, »Aurora« und »New York 2140« erschienen.

Mehr über Kim Stanley Robinson und seine Romane erfahren Sie auf:

diezukunft.de

KIM STANLEY ROBINSON

ROTERMOND

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

RED MOON

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 09/2019

Redaktion: Rainer Michael Rahn

Copyright © 2018 by Kim Stanley Robinson

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeund der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-24127-8V001

www.diezukunft.de

INHALT

KAPITEL EINS

nengshang nengxia

Es geht aufwärts, es geht abwärts – XI

KI 1

shen yu

Orakel

KAPITEL ZWEI

bo hanshu tansuo

Kollaps der Wellenfunktion

TA SHU 1

yueliang de fenmian

Die Geburt des Mondes

KAPITEL DREI

taoguang yanghui

Sich bedeckt halten – DENG

KI 2

ganrao shebei

Zugriff auf das Gerät

TA SHU 2

xia yi bu

Der nächste Schritt

KAPITEL VIER

di chu

Erdaufgang

TA SHU 3

yueliang ren

Mondmensch

KAPITEL FÜNF

tao dao diqiu shang

Flucht zur Erde

KI 3

shexian ren zai chuxian

Das Subjekt tritt wieder in Erscheinung

KAPITEL SECHS

liangzichanjie

Verschränkung

KAPITEL SIEBEN

fu nu neng ding ban bian tian

Frauen stützen den halben Himmel – MAO

KI 4

shexian ren shizongle

Verschwinden des Subjekts

TA SHU 4

laojia

Die Heimat der Ahnen

KAPITEL ACHT

tai diejia yuanli

Überlagerung

TA SHU 5

da huozhe xiao

Groß oder klein

KI 5

wolidou

Flügelkämpfe

KAPITEL NEUN

tao dao yueliang shang

Flucht zum Mond

KI 6

jimi tongxin

Sichere Verbindung

KAPITEL ZEHN

Zhongguo Meng

Ein chinesischer Traum

KI 7

zhiyou guanlianjie

Nur verbinden

TA SHU 6

qi ge hao liyou

Die sieben guten Gründe

KAPITEL ELF

xiaokang

Ideale Gesellschaft von Gleichen

KI 8

lianxi

Kontaktdaten

KAPITEL ZWÖLF

zhengzhi luxian de zhenglun

Theoriedebatten

KI 9

xue liang

Scharfe Augen

KAPITEL DREIZEHN

bei ai

Kummer

KI 10

zou

Los

KAPITEL VIERZEHN

Hai-3

Helium 3

KI 11

xiao yanzhu

Kleines Auge

KAPITEL FÜNFZEHN

mozhe shitou guo he

Beim Überqueren des Flusses die Steine spüren – DENG

KAPITEL SECHZEHN

tianxia

Alles unter dem Himmel

KI 12

houhui

Bedauern

TA SHU 7

Tao Yuan Xing

Die Quelle des Pfirsichblütenstroms – WANG WEI

KAPITEL SIEBZEHN

Shoulie laohu

Tigerjagd

KI 13

mei hao sheng huo

Ein wunderbares Leben – XI

KAPITEL ACHTZEHN

liliang pingheng

Gleichgewicht der Kräfte

KAPITEL NEUNZEHN

daibiao xing weiji

Repräsentationskrise

TA SHU 8

feng shui

Wind Wasser

KI 14

zhengming wanbi

QED

KAPITEL ZWANZIG

chaodai jicheng

Dynastienfolge

KAPITEL EINS

nengshang nengxia

Es geht aufwärts, es geht abwärts– XI

Man hatte ihm gesagt, er solle nicht hinsehen, wenn er auf dem Mond landet, aber er saß angeschnallt auf einem Sitz am Fenster und konnte einfach nicht anders: Er sah hin. Ihm wurde schnell klar, warum man ihm davon abgeraten hatte – mit jedem Herzschlag verdoppelte sich die Größe des Mondes. Sie rasten mit kosmischer Geschwindigkeit auf ihn zu und würden beim Aufprall gewiss pulverisiert werden. Offenbar hatte jemand einen Fehler gemacht. Er war noch immer schwerelos, und von dem Widerspruch zwischen diesem friedvollen Gefühl und dem, was er sah, wurde ihm übel. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Vor seinen Augen erblühte die weiße Kugel und verwandelte sich in eine unregelmäßige Ebene, über die sie hinwegsausten. Das Herz pochte ihm bis zum Hals, wie ein Kind, das aus ihm rauswollte. Das war das Ende. Ihm blieben nur noch Sekunden, und er war nicht bereit für den Tod. Sein Leben zog an ihm vorüber, genauso wie man sich das vorstellte, und er erkannte, dass es so gut wie inhaltsleer gewesen war, und dachte: Aber ich wollte mehr!

Der chinesische ältere Herr, der neben ihm saß, beugte sich über seine Schulter, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Puh«, sagte der alte Mann. »Anscheinend kommen wir ziemlich schnell runter.«

Das weiße Durcheinander stürzte ihnen entgegen. »Ich habe gehört, dass man besser nicht hinschaut«, sagte Fred mit zittriger Stimme.

»Wer behauptet denn so was?«

Erst fiel Fred nicht ein, von wem er es gehört hatte, doch dann antwortete er: »Meine Mutter.«

»Mütter sorgen sich zu viel«, sagte der alte Mann.

»Haben Sie das schon mal gemacht?«, fragte Fred in der Hoffnung, etwas zu hören, das ihm helfen würde, das Gesicht zu wahren.

»Ob ich schon mal auf dem Mond gelandet bin? Nein. Mein erstes Mal.«

»Bei mir auch.«

»Und obwohl wir so schnell sind, gibt es keinen Piloten am Steuer«, wunderte sich der Alte gut gelaunt.

»Wahrscheinlich sollte etwas derart Schnelles auch nicht von einem Menschen geflogen werden«, meinte Fred.

»Wohl nicht. Ich weiß aber noch, dass es früher Piloten gab. Das kam einem sicherer vor.«

»Obwohl wir Menschen eigentlich nicht besonders gut in so was sind.«

»Nicht? Arbeiten Sie vielleicht in der Computerbranche?«

»Das tue ich tatsächlich.«

»Dann sollten Sie ja beruhigt sein. Aber sind die Computer, die unsere Landung durchführen, nicht von Menschen programmiert?«

»Klar. Beziehungsweise … vielleicht.« Es kam dauernd vor, dass Algorithmen neue Algorithmen schrieben; es wäre vielleicht gar nicht so leicht gewesen, das Landesystem bis zu seinen menschlichen Ursprüngen zurückzuverfolgen. Nein, ihr Schicksal lag in den Händen ihrer Maschinen. Das war natürlich immer so, aber in diesem Fall trat ihre Abhängigkeit ihm ein bisschen zu deutlich vor Augen. Fred hörte sich sagen: »Irgendwie lässt sich jedes Programm bis zu einem Menschen zurückverfolgen.«

»Ist das gut?«

»Ich weiß nicht.«

Der alte Mann lächelte. Bis dahin hatte ein ruhiger und etwas trauriger Ausdruck auf seinem uralten Gesicht gelegen; nun bildeten Lachfältchen ein freundliches Muster und ließen erkennen, dass er oft auf diese Art lächelte. Es war, als hätte jemand das Licht angeschaltet. Weißes, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenes Haar und ein fröhliches Lächeln: Darauf versuchte Fred sich zu konzentrieren. Wenn sie jetzt auf dem Mond aufprallten, würden sie als moleküldünner Schmierfilm enden. Das würde immerhin schnell gehen. Unter ihnen wechselten Weißundschwarzundweißundschwarz sich so schnell ab, dass die Landschaft zu einer grauen Ebene verschwamm, bevor sie rot und blau zu funkeln begann, wie bei einem dieser Windrädchen, die das Auge täuschten.

Der alte Mann sagte: »Das ist ein sehr schönes Beispiel für kao yuan.«

»Und das heißt?«

»In der chinesischen Malerei bezeichnet man so einen Blickwinkel aus großer Höhe.«

»Tatsächlich«, sagte Fred. Er fühlte sich benommen und schwitzte. Eine weitere Woge der Übelkeit durchflutete ihn, und er fürchtete, sich übergeben zu müssen. »Ich bin Fred Fredericks«, erklärte er, als legte er seine Beichte auf dem Sterbebett ab; oder als würde er etwas in der Art von Ich wollte immer Fred Fredericks sein sagen.

»Ta Shu«, sagte der alte Mann. »Was bringt Sie hierher?«

»Ich helfe bei der Inbetriebnahme eines Kommunikationssystems.«

»Für die Amerikaner?«

»Nein, im Auftrag einer chinesischen Organisation.«

»Und welcher?«

»Der chinesischen Mondbehörde.«

»Sehr gut. Ich war einmal Gast einer Ihrer Bundesbehörden. Ihre National Science Foundation hat mich in die Antarktis geschickt. Eine vortreffliche Organisation.«

»Das habe ich auch schon gehört.«

»Bleiben Sie lange?«

»Nein.«

Mit einem Mal drehten sich ihre Sitze um 180 Grad, und kurz darauf spürte Fred, wie er in die Polster gedrückt wurde.

»Aha!«, sagte Ta Shu. »Anscheinend sind wir bereits gelandet.«

»Tatsächlich?«, rief Fred. »Ich habe nicht mal was gespürt.«

Der Druck erhöhte sich. Wenn ihr Schiff bereits magnetisch an den Landestreifen angedockt hatte, worauf der Druck hindeutete, dann waren sie nun in Sicherheit, oder die Gefahr war zumindest nicht mehr ganz so groß. Viele Züge auf der Erde funktionierten genauso, sie schwebten auf einem Magnetstreifen dahin und wurden elektromagnetisch beschleunigt oder abgebremst. Das weiße Land mit den schwarzen Flecken sauste immer noch mit erstaunlicher Geschwindigkeit an ihnen vorbei, aber das Schlimmste war überstanden. Und sie hatten nicht einmal etwas vom Aufsetzen gespürt! Von einem jähen, harten Aufprall hätten sie wohl ebenso wenig gemerkt. Für ein Weilchen waren sie wie Schrödingers Katze gewesen, dachte Fred, tot und lebendig zugleich. Beide Zustände hatten sich in einer Kiste der Möglichkeitszustände überlagert. Nun war die Wellenfunktion kollabiert. Sie lebten.

»Magnetismus ist seltsam!«, sagte Ta Shu. »Das unheimliche Wirken einer fernen Hand.«

Das passte überraschend gut zu dem, was Fred durch den Kopf ging. »Einstein hat das Gleiche über Quantenverschränkung gesagt«, erwiderte er. »Er hat nichts davon gehalten, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, wie sie funktionieren sollte.«

»Wer weiß schon, wie überhaupt etwas funktioniert! Ich bin mir nicht sicher, warum ihn das gerade in dem Fall so gestört hat. Wenn Sie mich fragen: Magnetismus ist genauso unheimlich.«

»Nun ja, Magnetismus wohnt bestimmten Objekten inne. Quantenverschränkung bezeichnet man auch als nicht lokal, das ist schon ziemlich verrückt.« Obwohl Fred nass geschwitzt war, ging es ihm langsam besser.

»Verrückt ist das alles«, sagte der alte Mann. »Finden Sie nicht? Eine Welt der Rätsel.«

»Vermutlich. Genau genommen setzt das System, das ich hier in Betrieb nehmen muss, Quantenverschränkung zur Verschlüsselung ein. Obwohl wir sie nicht erklären können, nutzen wir sie für unsere Zwecke.«

»Wie bei so vielen Dingen!« Erneut trat das fröhliche Lächeln auf sein Gesicht. »Was können wir denn überhaupt erklären?«

Die Mondoberfläche zog nun in nicht mehr ganz so irrwitziger Geschwindigkeit an ihnen vorüber. Langsam zeigte das Bremsmanöver Wirkung. Eine weiße, von kohlschwarzen Schatten übersäte Ebene erstreckte sich bis zum nahen Horizont. Fred hatte gehört, dass ihre Landepiste über zweihundert Kilometer lang war, aber bei ihrem Tempo von etwa 8300 Stundenkilometern zum Zeitpunkt des Aufsetzens musste das Schiff auf der ganzen Strecke ziemlich scharf abbremsen. Tatsächlich wurden sie immer noch merklich in ihre Sitze gedrückt, und gleichzeitig hatte Fred den Eindruck, nach oben gezogen zu werden, obwohl ihm das seltsam vorkam. Die leicht nach oben wirkende Kraft ließ allerdings bereits wieder nach, und es blieb vor allem das Gefühl, von einer riesigen unsichtbaren Hand in den Sitz gedrückt zu werden. Was Fred durchs Fenster sah, kam ihm wie eine schlechte CGI-Grafik vor. Da sie den ganzen Weg von der Erde hierher mit Fluchtgeschwindigkeit gereist waren, hatten sie keinen Bremstreibstoff an Bord gebraucht, was Gewicht und Größe des Raumschiffs und damit auch die Flugkosten deutlich reduzierte. Aber es bedeutete auch, dass sie etwa vierzig Mal so schnell heruntergekommen waren wie ein kommerzieller Jet auf der Erde, wobei die Fehlertoleranz beim Aufsetzen auf der Piste nur wenige Zentimeter betrug. Ihr Flugbegleiter hatte nichts von alledem erwähnt; Fred hatte es selbst nachgelesen. Kein Problem, hatten ihm in diesen Dingen bewanderte Freunde versichert. Es gab keine störende Atmosphäre, und die Raketenlenksysteme waren sehr präzise; es war sicherer als andere Methoden, auf dem Mond zu landen, sicherer, als mit einem Flugzeug auf der Erde zu landen – sicherer, als mit einem Auto herumzufahren! Aber trotzdem, sie landeten auf dem Mond! Es war tatsächlich kaum zu glauben.

»Kaum zu glauben«, sagte Fred.

Ta Shu lächelte. »Kaum zu glauben.«

Der Moment, in dem das Bremsmanöver endete, war leicht zu bestimmen: Sie spürten keinen Druck mehr. Nun erlebten sie zum ersten Mal die eigentliche Schwerkraft Lunas. Genau sechzehn Komma fünf Prozent der Erdanziehungskraft. Das bedeutete, dass Fred jetzt etwa zwölf Kilo wog. Das hatte er vorher ausgerechnet und sich dabei gefragt, wie das sich wohl anfühlen würde. Als er sich nun in seinem Sitz herumdrehte, stellte er fest, dass es beinahe dem Gefühl der Schwerelosigkeit entsprach, das sie während ihres drei Tage langen Flugs von der Erde gespürt hatten. Beinahe, aber nicht ganz.

Ihr Flugbegleiter löste ihre Anschnallgurte, und sie richteten sich unter Mühen auf. Fred stellte fest, dass es ihm ein bisschen so vorkam, als liefe in er in einem Schwimmbecken herum, nur ohne Wasserwiderstand und ohne Auftrieb. Nein – eigentlich ließ es sich mit nichts vergleichen.

Wie viele der anderen Fluggäste, die meisten davon Chinesen, wankte er durchs Passagierabteil. Ihr Flugbegleiter kam besser vom Fleck, er bewegte sich auf eine federnde, fließende Art. In Videos vom Mond sah man immer diese federnden Sprünge, schon damals bei den Apollo-Missionen: Menschen, die wie Kängurus umhersprangen und dann hinfielen. Hier purzelten sie auch umher wie Betrunkene und entschuldigten sich – lachend –, wenn sie bei dem Versuch, einander zu helfen oder einfach nur aufzustehen, zusammenstießen. Fred bewegte beim ersten Schritt kaum mehr als die Zehen und stellte sich trotzdem am schlimmsten von allen an. Er trieb empor und musste sich an einem Geländer über seinem Kopf festhalten, um nicht gegen die Decke zu prallen. Dann fiel er wie ein Fallschirmspringer wieder nach unten. Andere hatten weniger Glück und trafen mit Wucht die Decke; die dumpfen Geräusche verrieten, dass sie gepolstert war. Überall im Passagierbereich erklangen Rufe und Gelächter, und ihr Flugbegleiter sagte erst auf Chinesisch und dann auf Englisch: »Langsamer bitte, mit aller Ruhe!« Nach einigen weiteren Worten auf Chinesisch fügte er hinzu: »Die Schwerkraftverhältnisse bleiben von nun an so, wenn Sie sich nicht in Zentrifugen aufhalten, also lassen Sie sich Zeit und gewöhnen Sie sich daran. Tun Sie so, als wären Sie Faultiere.«

Die Fluggäste taumelten durch einen aufwärts führenden Gang, der Fensterscheiben an den Seiten hatte, durch die sie Ausschnitte von Mondoberfläche und Raumhafen erkennen konnten. Der Raumhafen sah aus wie ein in einen weißen Hügel eingelassener Betonbunker mit einem Band schwarzer Fenster. Der Beton auf dem Mond war eigentlich gar kein Beton, hatte Fred unterwegs gelesen, weil er aus Aluminiumoxid bestand, das in großer Menge im Mondgestein vorkam. Deshalb war Mondbeton fester als normaler Beton. Die Landschaft um den Raumhafen herum sah genauso aus wie die, die sie während ihrer Landung überflogen hatten, war aber hügeliger. Die nahen Anhöhen waren oben weiß und unten schwarz. Fred wusste nicht, ob die Sonne gerade auf- oder unterging. Aber Moment mal: Sie waren in der Nähe des Südpols, es konnte also jede Tageszeit sein, weil die Sonne am Polarhimmel immer so niedrig stand.

Fred, Ta Shu und die übrigen Fluggäste bewegten sich vorsichtig durch den Gang, indem sie sich entweder am Geländer entlangzogen oder mitten durch den Flur nach oben hüpften. Fast alle arbeiteten sich langsam und unbeholfen voran. Immer wieder erklangen Entschuldigungen und nervöses Lachen.

Die Sonne goss ein Glas Licht über den Hügeln aus. Die von Geröll übersäte Landschaft draußen leuchtete grell; man konnte kaum glauben, dass die Fenster des Gangs stark getönt und polarisiert waren. Ohne die Scheiben wäre ihnen der Weg durch den Tunnel vielleicht leichter gefallen, aber andererseits war die Aussicht wirklich wunderschön, und der visuelle Bezugspunkt erleichterte auch die Anpassung an die geringe Schwerkraft, weil er einem ganz klar vermittelte, dass man sich wirklich auf einer fremden Welt befand. Nicht dass die Leute deshalb weniger oft hingefallen wären. Fred hielt sich an einem Handlauf fest und versuchte in kleinen Sprüngen voranzukommen. Verrückt, was er dabei mit seinen Füßen anstellen musste – es war wirklich schwer! Darauf hatte ihn niemand hingewiesen, aber vielleicht kam es einem ja nach einer Weile ganz normal vor, und die Leute vergaßen es einfach. Er fühlte sich wie ausgehöhlt, und ihm fehlte der gewohnte vertikale Schwerpunkt, der einem verriet, ob man aufrecht stand.

Ta Shu war direkt hinter Fred. Ein breites Lächeln lag auf seinen Lippen, während er sich am Handlauf entlangzog wie an einem Kletterseil. »Höchst eigenartig!«, sagte er, als er bemerkte, dass Fred sich zu ihm umsah.

»Ja«, sagte Fred. Es fühlte sich an wie Schwerelosigkeit mit einem nach unten gerichteten Tropismus, eine Art Krümmung in der Raumzeit – und genau darum handelte es sich natürlich auch. Er musste dauernd Kurskorrekturen vornehmen, die allerdings kaum Anstrengung erforderten. Es genügte, die Zehenspitzen zu bewegen, aber die Schuhe verstärkten diese Bewegungen. Wirklich vertrackt. Man musste sehr achtsam sein und in Zeitlupe auf Zehenspitzen gehen. »Daran werde ich mich erst mal gewöhnen müssen.«

Ta Shu nickte. »Wir sind nicht mehr in Kansas! Wo sind Sie untergebracht?«

»Im Hotel Star.«

»Ich auch! Wollen wir den Tag mit einem gemeinsamen Frühstück beginnen?«

»Ja, das klingt gut.«

»In Ordnung, dann sehen wir uns dort.«

Fred folgte den Schildern zur Visakontrolle für Ausländer, an der die Schlange deutlich kürzer war als die für die Chinesen. Kurz darauf sah er sich zwei Grenzbeamten gegenüber, denen er seinen Reisepass reichte. Die Beamten musterten ihn kurz, legten seinen Pass unter einen Scanner und winkten ihn dann durch. Jenseits des Kontrollbereichs begrüßten ihn zwei Chinesen und brachten ihn in den nächsten Bereich, der wie jede andere Gepäckausgabe aussah. Die Schilder waren chinesisch beschriftet, mit kleinen englischen Übersetzungen darunter:

WILLKOMMEN BEI DEN GIPFELNDES EWIGEN LICHTS

Die Gepäckbänder setzten sich in Bewegung, und zahlreiche ähnlich aussehende schwarze Kästen mit versenkten Griffen erschienen. Freds Koffer hatte einen grünen Griff. Als er ihn sah, zog er den Koffer vom Fließband und schleuderte ihn dabei beinahe hoch in die Luft. Er wirbelte herum wie ein Diskuswerfer, taumelte und fing sich wieder. Ein Gewicht von etwa fünfhundert Gramm ließ ihn umhertaumeln! Aber er selbst war nicht erheblich schwerer, und Masse war nicht dasselbe wie Gewicht. Das würde er lernen müssen. Zweifellos war sein Gepäck aufgrund des darin befindlichen Unicasters schwerer oder massereicher, als es aussah.

Seine Aufpasser sahen teilnahmslos zu, wie er sich im Kreis drehte. Als er zur Ruhe gekommen war, nahm einer der beiden ihm seinen Koffer ab, sodass er sich mit beiden Händen an einem Geländer festhalten konnte. Behutsam und auf Zehenspitzen näherte er sich dem Ausgang. Er bildete sich ein aufzufallen, aber die anderen Neuankömmlinge wirkten genauso unbeholfen wie er. Es gab nach wie vor zahlreiche Stürze mit sanftem Aufprall, die eher Verlegenheit als Verletzungen zur Folge hatten. Die Hallen waren von Gelächter erfüllt. Der Mond war lustig!

KI 1

shen yu

Orakel

Nationallabor Zhangjiang, Shanghai

Außerdem (verschränkt):Nationallabor für Quanten-Informationswissenschaft,Hefei, Anhui

»Meldung an den Analysten.«

»Sag mir, was los ist.«

»Das mobile Quantenkommunikationsgerät, dessen Spur ich verfolgen sollte, ist jetzt auf dem Mond.«

Der Analyst, einer der Gründer und wichtigsten Mitarbeiter des Strategischen Beratungskomitees Künstliche Intelligenz, vergewisserte sich, dass niemand ihn belauschen konnte, und legte dann den Ton auf die Kopfhörer. Jede Kommunikation zwischen ihm und dieser KI war per Quantenverschränkung verschlüsselt, und die KI, bei der es sich um eines seiner persönlichen Experimente handelte, stand mit dem Rest der digitalen Welt nur über Kanäle in Verbindung, die der Analyst persönlich eingerichtet hatte. Die Zwiesprache mit ihr war ebenso vertraulich wie die mit der eigenen Seele.

»I-330, was für ein Gerät war das noch mal, das man auf den Mond geschickt hat?«

»Ein Swiss Quantum Works Unicaster 3000.«

»Erzähl mir mehr darüber.«

»Es wurde im Mai 2046 von Chang Yazu, Leiter der chinesischen Mondbehörde, gekauft.«

»Wie ist es auf den Mond gelangt?«

»Frederick J. Fredericks, ein technischer Mitarbeiter von Swiss Quantum Works, hat es auf den Mond gebracht.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, stellt ein Unicaster eine vertrauliche Verbindung zwischen zwei Personen her. Wo befindet sich das dazugehörige zweite Gerät?«

»Unbekannt.«

»Hat man das Gerät auf dem Mond bereits benutzt?«

»Nein.«

»Befindet es sich bereits im Besitz von Chang Yazu?«

»Nein.«

»Wo befindet es sich im Moment?«

»Fredericks hat es.«

»Wann wird er es übergeben?«

»Er hat am 20. Juli 2047 um zehn Uhr Universalzeit einen Termin mit Chang.«

»Welche chinesische Behörde steht der Mondbehörde vor?«

»Die chinesische Raumfahrtbehörde und der Ausschuss zur Steuerung wissenschaftlicher Forschung.«

»Waa sai! Ein Diener zweier Herren! Kein Wunder, dass da oben so ein Durcheinander herrscht. Bitte lege einen neuen Ordner für diese Angelegenheit an. Sieh dich nach Aufzeichnungen im Zusammenhang mit diesem Treffen zwischen Chang und Fredericks um, sowohl von dem Treffen selbst als auch von seinen Folgen. Und suche nach dem anderen Gerät, das mit dem bei den Gipfeln des Ewigen Lichts verknüpft ist.«

»Wird gemacht.«

KAPITEL ZWEI

bo hanshu tansuo

Kollaps der Wellenfunktion

Fred folgte seinen beiden Aufpassern in einen schlauchförmigen Raum, der an eine U-Bahn-Station erinnerte und größtenteils von einer wartenden Bahn eingenommen wurde. Sie betraten ein Abteil, und kurz darauf verließ die Bahn den Raumhafen. Als sie fünfzehn Minuten später mit einem Zischen zum Stehen kam, stiegen sie auf Zehenspitzen aus und kamen in einen Saal mit einer langen Fensterfront, durch die das gleißende Sonnenlicht horizontal hereinfiel und lange schwarze Schatten erzeugte. Draußen ließen sich die niedrigen Gebäude, von denen die Gipfel des Ewigen Lichts übersät waren, im grellen Schein nur schwer ausmachen. Was Fred von der Umgebung sah, war eine raue Mischung schwarzer und weißer Flecken, ein Chiaroscuro; er hatte bereits begriffen, dass dies auf dem Mond Normalität war. Der Horizont war sehr unregelmäßig und seltsam nah – wie nah, ließ sich angesichts des hellen Lichts und der absolut klaren Sicht nur schwer abschätzen, aber anscheinend war er nur ein paar Kilometer entfernt. Bevor Fred den Anblick auf sich wirken lassen konnte, wurde er um eine Ecke und durch einen Flur geführt, bis sie eine Reihe Fenster erreichten, von denen aus man das Innere des Kraters sehen konnte.

Dieser Gipfel des Ewigen Lichts erhob sich über einem dazugehörigen Abgrund der ewigen Dunkelheit: Es handelte sich um den berühmten Shackleton-Krater. Die Sonnenstrahlen erreichten nie den Grund dieses Kraters, und auch nicht seine Innenwände. Als seine Augen sich angepasst hatten, konnte Fred im dunkelgrauen Zwielicht die steile, gekrümmte Innenwand des Kraters erkennen. Weiter unten gab es mehrere horizontale Fensterreihen in der Felswand. Es sah aus, als hätte man ein überlanges Kreuzfahrtschiff krumm gebogen und in die Kraterwand eingelassen. Im Licht der Fenster glitzerte der von Wassereisstaub bedeckte Grund des Kraters leicht. Der Krater war so groß, dass man seine gegenüberliegende Wand nicht sehen konnte; die Kraterwand, die unter ihm einen weiten Bogen beschrieb, erstreckte sich bis jenseits des Horizonts. Es war eine düstere, grauschwarze Welt.

Einer von Freds Führern erklärte, dass das Hotel Star sich hinter einer der Fensterreihen dort unten befand, direkt neben dem amerikanischen Konsulat. »Na dann mal los, ich folge Ihnen«, sagte er wagemutig und taumelte hinter den beiden sich anmutig bewegenden Chinesen her zu einer Rolltreppe, wo er sich zum Glück einfach am Geländer festklammern konnte und trotzdem vorankam. Rolltreppen waren eine tolle Sache. Die hier erinnerte ihn an die Londoner U-Bahn, sie ging einfach immer weiter abwärts. Als sie schließlich bei etwas angekommen waren, das Ebene 6 hieß, fiel er mit seinem ersten Schritt hin. Er rappelte sich auf und folgte seinen Aufpassern achtsam durch einen breiten, gekrümmten Korridor, der zu den Glastüren des Hotels führte. Er war seekrank, hatte leichte Kopfschmerzen, und ihm war schwindelig. Die Schwerkraft des Mondes fühlte sich nicht besser an als die Schwerelosigkeit im All. Genau genommen empfand er sie als sehr viel unangenehmer.

Der Eingang zum Hotel Star befand sich in der Innenkurve eines gekrümmten Korridors. Sein Zimmer erwies sich als nur wenig größer als sein Bett. Seine Fremdenführer ließen ihn allein und versprachen ihm, dass er zum Frühstück einen Weckanruf erhalten würde.

Er setzte sich aufs Bett; es kam ihm vor wie ein Trampolin. Wenn er wollte, hätte er bis zur Decke springen können. Dann, nachdem dreimal hintereinander eine Glocke ertönt war, spürte er, dass alles langsam schwerer wurde. Das war tatsächlich der Fall: Sein Schlafzimmer befand sich auf einer Ebene des Hotels, die zu einem Zentrifugenring gehörte. Nach ein bis zwei Minuten, in denen das Zimmer den Eindruck erweckte zu kippen, spürte er, wie er von einem sehr vertrauten, anheimelnden Druck aufs Bett gepresst wurde: 1 g. Man hatte ihm gesagt, dass es am besten war, so oft wie möglich in irdischer Schwerkraft zu schlafen, um die Zeit zu minimieren, die man bei Mondschwerkraft verbrachte. Für eine Reise, die so kurz war wie die von Fred, musste man sich daran nicht unbedingt halten, aber empfohlen wurde es trotzdem, und als man ihm die entsprechende Option auseinandergesetzt hatte, hatte er sich dafür entschieden. Jetzt kuschelte er sich dankbar in seine Matratze, und sein Schwindelgefühl legte sich. Alles kam ihm nun richtig vor; als wäre er zu Hause. Das war eine solche Erleichterung, dass er schnell einschlief.

Als er erwachte, wusste er nicht, wo er war, doch als er hochschreckte und dabei vom Bett flog, fiel es ihm wieder ein: Auf dem Mond! Offensichtlich hatte man die Zentrifuge abgeschaltet, was wahrscheinlich der Grund für sein Erwachen war. Er trieb noch immer über dem Bett, während ihm all das klar wurde; dann drehte er sich herum und landete auf dem Gesicht. Mit wackeligen Beinen richtete er sich auf und stellte fest, dass er noch eine Stunde Zeit bis zu seinem Frühstück mit Ta Shu hatte. Alles war in Ordnung.

Während er im Bad seine Morgentoilette verrichtete, informierte er sich online über Ta Shu. Hier musste er nicht auf die Daten-Cloud der Erde zugreifen, sondern auf eine Art lokales Internet. Was er fand, war trotzdem mehr als genug, um ihm einen Eindruck von dem älteren chinesischen Herrn zu verschaffen.

Ta Shu: Dichter, Geomant, Feng-Shui-Experte sowie Produzent und Moderator einer beliebten Cloud-Reiseshow. Von frühester Kindheit an hatte er bereits Gedichte geschrieben und veröffentlicht, zunächst große, kalligrafische Poster-Gedichte mit Zeichnungen alter Machart, aber aus dem Blickwinkel eines Kindes. Anscheinend hatte er über eine weite Lebensspanne eine Flut von Gedichten verfasst; eine Flut, die jedoch mit einer Reise in die Antarktis plötzlich verebbt war. Es gab verschiedene Berichte über das, was ihm dort widerfahren war. Seither war er Ex-Dichter und machte stattdessen Reisesendungen. Glaubte man den Gerüchten, dann schrieb er noch so viele Gedichte wie zuvor, die jedoch nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Während der Jahrzehnte, in der er seine Reisesendung produziert hatte, hatte er 230 verschiedene Länder besucht, alle sieben Weltmeere, den Nord- und den Südpol und die Spitze des Mount Everest. An einem praktisch windstillen Tag hatte er sich von einem Ballon zum Gipfel des Berges tragen lassen und war oben aus der Gondel gestiegen. Und nun war er auf dem Mond.

Schwankend stieg Fred die breite Treppe in den Speisesaal des Hotels hinab. Ta Shu saß am Tisch und las etwas auf dem darin eingelassenen Bildschirm, während er abwesend von einem Teller aß, auf dem etwas für Fred Unidentifizierbares lag. Ta Shu blickte auf. »Guten Morgen.« Einmal mehr fiel Fred auf, wie außergewöhnlich selig und freundlich sein Lächeln war.

»Danke«, sagte Fred und ließ sich dabei schon recht gekonnt auf seinem Stuhl nieder. »Wie haben Sie geschlafen?«

Ta Shu wedelte mit der Hand. »Ich schlafe nicht viel. Ich habe geträumt, dass ich auf einem See dahintreibe. Als ich aufgewacht bin, habe ich mich gefragt, wie es sich anfühlen würde, hier zu schwimmen. Ich frage mich, ob es hier Schwimmbäder gibt. Darüber muss ich mich informieren. Und Sie?«

»Ich habe gut geschlafen«, sagte Fred. Er betrachtete das Buffet, das auf einer kurzen Theke angerichtet war. »Mein Zimmer hat sich auf 1 g gedreht, aber als die Zentrifuge abgeschaltet wurde, bin ich aufgestanden. Mir war ein bisschen seltsam zumute.«

»Vielleicht hilft ja ein kleines Frühstück.«

Fred war einerseits hungrig, verspürte aber andererseits einen Widerwillen dagegen, etwas zu essen. Er erhob sich ruckartig, wankte zum Buffet und hielt sich daran fest. Gott sei Dank gab es ganz normales Essen, aber auch zahlreiche Schüsseln mit nicht zu identifizierenden Früchten und Breien. Fred hatte sehr klare Essensvorlieben. Er füllte sich Joghurt in eine kleine Schale – er hoffte, dass es Joghurt war –, verteilte ein paar Körner und Rosinen darüber und überlegte dabei, ob man das Essen wohl auf dem Mond angebaut oder von der Erde eingeflogen hatte. Der Großteil war wohl importiert. Beinahe überforderte es ihn, gleichzeitig die Schale im Gleichgewicht zu halten und zu Ta Shu zurückzukehren, aber er schaffte es halb schwebend auf seinen Stuhl, ohne etwas zu verschütten.

»Sind Sie hier, um ein bisschen Feng Shui zu betreiben?«, fragte er Ta Shu, bevor er zu essen anfing. Offenbar war er nun doch hungrig.

»Ja. Und um ein paar Folgen für meine Reisesendung aufzunehmen. Eine Reise zum Mond! Kaum zu glauben, dass wir hier sind.«

»Stimmt. Andererseits fühlt sich hier alles so seltsam an, und man begreift rasch, dass man wirklich hier ist.«

Erneut lächelte er sein wunderschönes Lächeln. »Ja, wir sind ganz gewiss hier. Das kann mein Feng Shui bestätigen.«

»Feng Shui auf dem Mond also?«

»Ja. Feng Shui bedeutet ›Wind und Wasser‹, es dürfte also interessant werden!«

Früher einmal war Fred zu dem Schluss gekommen, es handle sich bei Feng-Shui-Praktiken um etwas so Uraltes und Geheimnisumwittertes, dass sie einfach nicht zu verstehen waren. Aber seine Arbeit hatte ihm nur zu deutlich gemacht, dass es tatsächlich geheimnisvolle Kräfte gab, die alles beeinflussten, weshalb ihm die Vorstellung, dass es sich bei Feng Shui um ein uraltes, überliefertes Gespür für Quantenphänomene handelte, nicht vollkommen abwegig erschien. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob sich solche Phänomene nicht doch irgendwie erahnen ließen? Geheimnisse gab es auf jeden Fall, und vielleicht hatten manche davon mit Makro-Wahrnehmungen des Mikroskopischen zu tun. Er selbst hatte ziemlich oft seltsame Wahrnehmungen; eigentlich dauernd. Von daher war er solchen Ideen gegenüber aufgeschlossen. »Erzählen Sie mir mehr.«

Mit einem Fingertippen rief Ta Shu auf dem Tischbildschirm eine runde Karte des Mondes auf und scrollte darauf herum. »Hier haben wir ein Feng-Shui-Problem. Sehen Sie, wie übel der Bereich um den Südpol von Meteoreinschlägen mitgenommen ist? Einschließlich dieses wirklich großen Kraters, des Aitken-Beckens am Südpol. Der größte Einschlag im Sonnensystem, mit Ausnahme des Hellas-Kraters auf dem Mars. Ich habe einfach nicht verstanden, warum es so viele Einschläge von Süden her gibt, also in einem senkrechten Winkel zur Ekliptikebene. Wo sollen all die großen Felsbrocken herkommen, wenn sich über dem Südpol nur interstellarer Raum befindet?«

»Hmm«, sagte Fred. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

»Das ist ein Feng-Shui-Gedanke«, sagte Ta Shu. »Aber zugleich handelt es sich schlicht und einfach um Astronomie. Ein befreundeter Astronom hat mich über den Sachverhalt aufgeklärt. Anscheinend hat der Rieseneinschlag, der das Aitken-Becken am Südpol hinterlassen hat, stattgefunden, als diese Gegend hier sich noch näher am Äquator befand. Dieses große Loch ist dann durch die Mondrotation ganz natürlich zu dem einen oder anderen Pol gewandert. Weil eine unregelmäßige Kugel sich nun mal dreht wie ein Kreisel, der sich ins Gleichgewicht bringt.«

»Eine Polhode-Kreiselbewegung!«, sagte Fred. Es gehörte zu den Eigenschaften verschränkter Partikel, dass sie den gleichen Spin hatten, weshalb er gedanklich oft mit Drehbewegungen zu tun hatte, wenn auch in weit kleinerem Maßstab. Er betrachtete beim Essen die Karte. »Also, die Gipfel des Ewigen Lichts«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Die sind hier, weil die Polarachse des Mondes vertikal zur Ekliptikebene steht. Aber ich verstehe nicht, warum die Mondachse nicht parallel zu Erdachse steht, die um dreiundzwanzig Grad gegen die Ekliptikebene geneigt ist.«

»Ich auch nicht!«, rief Ta Shu aus, offenbar entzückt, dass Fred darauf gekommen war. »Eigentlich sollten doch beide genau zueinanderpassen, oder? Also habe ich meine Astronomenfreunde auch dazu befragt. Sie haben mir erzählt, dass Erde und Mond sich bei einem großen Zusammenprall herausgebildet haben, der die Erdachse in eine sogar noch größere Schieflage gebracht hat als die, in der sie sich jetzt befindet, um die fünfzig oder sechzig Grad. Seitdem befinden die beiden sich in einem Gravitationsballett mit der Sonne, und der Mond hat sich dabei so weit von der Erde entfernt, dass die Sonne seine Achse begradigen konnte. Die Erdachse wurde auch durch die Sonne begradigt, aber bei ihr war die Abweichung größer, weshalb sie sich derzeit in einem Winkel von dreiundzwanzig Grad befindet, während die des Mondes beinahe vertikal zur Sonne steht.«

»Bringt die Abweichung Ihr Feng Shui durcheinander?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Und was machen Sie jetzt?«

»Ich passe mich an. Arbeite an lokalen Fragestellungen.«

»Zum Beispiel?«

»Ich werde zum Beispiel die chinesischen Anlagen in der Librationszone aufsuchen.«

»Was ist denn das?«

»Die beiden Kreisränder, die vom Südpol entlang des neunzigsten und des hundertachtzigsten Längengrads nach oben verlaufen.«

»Wobei der nullte Längengrad die Mitte der zugewandten Seite ist?«

»Ja, ganz genau. Von der Erde aus sieht man natürlich immer die gleiche Seite des Mondes. Er befindet sich in gebundener Rotation. Das gehört auch zum Gravitationsballett. Bei vielen Monden im Sonnensystem ist das genauso.«

»Ja, ich weiß.«

»Aber alle Umlaufbahnen im Sonnensystem sind elliptisch. Kepler war der erste, der das begriffen hat.«

»Das keplersche Gesetz«, riet Fred.

»Eines seiner Gesetze. Er war ein Feng-Shui-Genie. Und sein Gesetz besagt unter anderen, dass der Mond sich desto langsamer bewegt, je weiter er auf seiner elliptischen Umlaufbahn von der Erde entfernt ist. Je näher er ist, desto schneller wird er. Zugleich dreht er sich aber mit gleichbleibender Geschwindigkeit um seine eigene Achse.«

»Moment mal. Ich dachte, er befände sich in gebundener Rotation?«

»Ja, aber er dreht sich trotzdem – einmal im Monat um sich selbst.«

»Stimmt.«

»Und dabei ist nicht immer genau dieselbe Seite der Erde zugewandt. Bei größerer Entfernung wird er langsamer, und wir sehen mehr von seiner linken Seite, und zwei Wochen später ist er dann schneller unterwegs und zeigt uns mehr von seiner rechten Seite.«

»Interessant!«, sagte Fred.

»Ja. Dieses Taumeln hat Galileo, ein weiterer großer Feng-Shui-Meister, als Erster bemerkt, als er durch sein Teleskop geblickt hat. Er meinte, der Mond sei wie ein Mann, der beim Rasieren das Gesicht zur Seite wendet. Vielleicht war er der Erste, dem das überhaupt aufgefallen ist. Mit einem Teleskop sieht man es besser. Auf Englisch heißt es Libration. Tianping Dong.«

»Und dieser Bereich wird gerade von den Chinesen entwickelt?«

»Ja.«

»Und weshalb?«

»Weil Feng-Shui-Experten das vorgeschlagen haben!«

»Aber warum?«

»Weil man die Erde in der Librationszone kommen und gehen sieht. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Auf dem restlichen Mond ist das nicht so. Auf der der Erde zugewandten Mondseite bewegt sich die Erde nicht vom Fleck, sie steht immer an der gleichen Stelle am Himmel. Das ist doch seltsam, finden Sie nicht? Sie hängt einfach am Himmel! Das will ich erleben.«

»Interessant.«

»Ja. Und auf der abgewandten Seite des Mondes sieht man die Erde überhaupt nicht. Wunderbar für die Radioastronomie, habe ich gehört. Das will ich auch sehen, bin gespannt, ob es ein anderes Gefühl erzeugt.

Aber in der Librationszone geht die Erde erst auf und dann wieder unter. Das wirft alle möglichen interessanten Fragen auf. Soll man den erdzugewandtesten Bereich der Zone bebauen, sodass die Erde möglichst lange sichtbar ist und sich weiter über den Horizont erhebt? Oder baut man am besten am Außenrand der Zone, wo die Erde nur für einen kurzen Moment blau über den Horizont späht? Macht das in Sachen Feng Shui einen Unterschied?«

»Oder in praktischer Hinsicht?«

Ta Shu runzelte die Stirn. »Bei Feng Shui geht es um die Praxis.«

»Wirklich? Nicht bloß um Ästhetik?«

»Bloß Ästhetik? Ästhetik ist etwas sehr Praktisches!«

Fred nickte, als würde er zweifeln. »Darüber müssen Sie mir mehr beibringen.«

Ta Shu lächelte. »Ich bin selbst nur ein Schüler. Bei Ihrer Arbeit mit Computern beschäftigen Sie sich doch sicher mit Mathematik, oder? Die ist doch berühmt für ihre Ästhetik.«

»Tja, aber funktionieren muss sie auch. Zumindest in meinem Fall. Also werden Sie die Librationszone aufsuchen?«

»Ja. Ich habe einen alten Freund dort oben.«

Fred tippte auf die Karte. »Aber die chinesischen Stationen sind nie bis auf die Nordhalbkugel vorgedrungen. Woran liegt das? Hat das auch etwas mit Feng Shui zu tun?«

»Ja, gewiss. Es ist eine Frage des geografischen Anstands.«

»Anstand?«

»Dass man sich nicht zu viel nimmt. Die Pole sind die besten Flecken auf dem Mond, gerade weil es dort Wasser gibt, und wegen des Sonnenwinds; es handelt sich also einmal mehr um eine für das Feng Shui typische Mischung ästhetisch-praktischer Erwägungen. Und in den Begrifflichkeiten des Feng Shui sind sich die beiden Pole ziemlich ähnlich. China hat zuerst am Südpol gebaut. Stellen Sie sich vor, wir hätten das Gleiche anschließend im Norden gemacht! Wo sollten dann die anderen Nationen hin? Das hätte sie vielleicht beunruhigt. Insofern also Anstand. Es ist immer höflicher, den anderen auch Platz zu lassen. Wenn diese Erklärung zutrifft, hat man sich sehr taktvoll verhalten.«

»Allerdings«, sagte Fred. »Wer hat diese Entscheidung getroffen?«

»Die Partei. Aber es handelt sich auch um eine alte chinesische Angewohnheit. China hat sein Territorium nie groß erweitert, besonders im Vergleich zu anderen Ländern. Es erscheint nur aufgrund gemeinsamer Anstrengungen größer, als es ist.«

»Ist das immer noch Feng Shui?«

»Oh ja, natürlich. Man muss die Kräfte ins Gleichgewicht bringen.«

»Dann ist Feng Shui also eine Art daoistische politische Geografie?«

»Ja, ganz genau!« Ta Shu lachte.

Er war leicht zu erfreuen. Fred, der es eigentlich nie darauf anlegte, andere zum Lachen zu bringen, jagte das einen kleinen Schreck ein, andererseits war es auch schön. Er nickte unbeholfen und sagte: »Darüber würde ich gern mehr erfahren, aber ich muss jetzt zu meinem Treffen mit Ihrem hiesigen Leiter.«

»Das dürfte sehr interessant für Sie werden! Wollen wir uns später, wenn Ihre Arbeit getan ist, noch auf einen Drink treffen? Ich würde Sie gerne über Quantenrätsel ausfragen.«

»Sehr gerne«, sagte Fred.

Zwei Chinesinnen empfingen Fred in der Lobby des Hotel Star. Sie stellten sich als Baozhai und Dai-tai vor, schüttelten ihm die Hand und führten ihn dann zum Büro des hiesigen Beamten, mit dem er sich treffen sollte, Chang Yazu.

Fred musste nach wie vor die Handläufe verwenden, um sich sicher bewegen zu können, und die beiden Frauen glitten eifrig besorgt neben ihm her und warteten, wann immer er beispielsweise in einer Kurve Schwierigkeiten hatte. Als sie die Verwaltungszentrale erreichten, brachten sie ihn in ein Zimmer, das einer Aussichtsblase glich und über die gesamte Mondsiedlung hinausragte. Das horizontal einfallende Sonnenlicht, das man hier immer hatte, warf seine Schatten quer durch den Raum. In einem möglichst aufrichtigen Tonfall zeigte er sich begeistert über die Aussicht und schaffte es dabei sogar fast, den beiden Frauen in die Augen zu sehen. Der Krater war erhaben, das Sternenmeer atemberaubend. Fred war nie auf der Südhalbkugel der Erde gewesen, und jetzt nickte er höflich, als seine Gastgeberinnen auf das über ihren Köpfen stehende Kreuz des Südens zeigten und auf einen Fleck von ähnlicher Struktur wie die Milchstraße, bei dem es sich ihnen zufolge um die Magellansche Wolke handelte. Bei den Lichtpunkten, die sich hier und dort zwischen den Sternen bewegten, handelte es sich offenbar um Satelliten in Polarumlaufbahnen um den Mond. Ein größerer Satellit, der wie ein länglicher Mond aussah und an der von der Sonne beschienenen Seite hell leuchtete, während seine dunkle Seite ein samtiges Grau zeigte, war, wie er erfuhr, ein Asteroid, den man wegen seines kohlenstoffhaltigen Chondrits in die Umlaufbahn geholt hatte. Dem Mond mangelte es an Kohlenstoff, weshalb man immer wieder Teile von diesem Asteroiden abschnitt und sie auf die Oberfläche warf, wobei man versuchte, möglichst langsame Kollisionen herbeizuführen. Auf diese Weise verdampften die dabei entstehenden Meteoriten nur zu einem sehr kleinen Teil und ließen sich verwerten.

Dai-tai hielt plötzlich in ihrem Vortrag über den Nachthimmel inne. »Statthalter Chang wird Sie nun in seinem Büro empfangen«, teilte sie Fred mit, und die beiden Frauen führten ihn eine Treppe nach unten und in ein weiteres großes Zimmer, das über eine weiße Decke und ein Panoramafenster in der gegenüberliegenden Wand verfügte. Anscheinend handelte es sich um ein Empfangszimmer. In Fensternähe stand eine große, im Licht der versenkten Deckenleuchten schimmernde Jadestatue, die wohl eine Göttin darstellte. Guanyin, erklärte man Fred. Die buddhistische Göttin der Gnade. Statthalter Chang würde sich in Kürze zu ihnen gesellen.

Fred nickte nervös. Zu Hause hatten einige Leute ihn vor den Chinesen gewarnt, die angeblich immer versuchten, den ausländischen Technologieunternehmen, mit denen sie in China Geschäfte machten, ihr geistiges Eigentum abzujagen. Seine Bekannten hatten gemutmaßt, dass die chinesische Mondbehörde das Gerät von Swiss Quantum Works sogar nur aus diesem einen Grund erworben hatte. Fred hatte keine Ahnung, wie seine Arbeitgeber das zu verhindern gedachten, und er wusste auch nicht, warum sie in das Geschäft eingewilligt hatten. Er wusste nur, dass man ihn mit nichts außer dem mobilen Quantenkommunikationsgerät hergeschickt hatte. Alles, was sonst noch mit dem System zu tun hatte, war entweder in seinem Kopf oder befand sich nicht auf dem Mond. Er hatte sich die Aktivierungscodes eingeprägt und war auf alle Probleme vorbereitet, die auftreten konnten, wenn sie das Gerät einschalteten und Kontakt zu seinem Gegenstück aufnahmen, das sich mutmaßlich auf der Erde befand. Er musste nur dafür sorgen, dass sich der Unicaster im Besitz des richtigen Empfängers befand, wenn er ihn einschaltete und die Verbindung herstellte, und sich um möglicherweise auftretende Bugs kümmern. Da Störungen bei diesem Gerät in der Regel leicht zu beheben waren, machte er sich darum keine Sorgen. Es waren Momente wie dieser, die ihm missfielen, der Smalltalk, das Warten. Seine Mutter sagte immer, dass es unhöflich war, sich zu verspäten.

Drei Männer betraten das Zimmer. Einer stellte sich als Li Bingwen, Parteisekretär der Mondbehörde vor. Li schüttelte Fred die Hand und machte ihn dann rasch mit den beiden anderen bekannt. Agent Gang, Komitee zur Steuerung wissenschaftlicher Forschung; Mr. Su, chinesische Cyberspace-Verwaltung. Gang war groß und massig, Su klein und schmal. Fred, den dieses unerwartete Trio aus dem Konzept brachte, schüttelte Gang und Su die Hände und hielt den Blick dann auf einen Punkt zwischen den beiden gerichtet.

Aus der Begrüßung war hervorgegangen, dass alle drei Englisch sprachen. Nun rief Li: »Willkommen auf dem Mond! Wie gefällt es Ihnen bisher?«

»Es ist interessant hier«, antwortete Fred. Zurückhaltend deutete er in Richtung Fenster. »Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen.«

»Allerdings. Ich möchte Ihnen versichern, dass Statthalter Chang Yazu sich in Kürze zu uns gesellen wird. Er hat noch etwas zu erledigen. Erzählen Sie uns doch derweil von Ihrem Aufenthalt hier. Werden Sie umherreisen, Sehenswürdigkeiten besichtigen, die amerikanische Station am Nordpol aufsuchen?«

»Nein. Ich bleibe nicht lange. Ich muss das Gerät meiner Firma für Sie in Betrieb nehmen und sicherstellen, dass es mit seinem Gegenstück verbunden ist und einwandfrei funktioniert. Anschließend mache ich mich dann auf den Heimweg.«

»Sie sollten sich so viel wie möglich ansehen«, riet Li ihm. »Es ist wichtig, dass die Amerikaner, die uns besuchen, sehen, was wir hier leisten, und ihren Mitbürgern zu Hause davon erzählen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Fred und rang dabei sowohl körperlich als auch diplomatisch um sein Gleichgewicht. »Genau genommen arbeite ich allerdings für eine Schweizer Firma.«

»Natürlich. Aber wir kommen in Frieden im Namen der gesamten Menschheit, wie Ihre Apollo-Astronauten es ausgedrückt haben.«

»Sieht ganz danach aus«, sagte Fred. »Vielen Dank.«

»Kommen Sie hier herüber und erzählen Sie uns von Ihrem neuen Quantentelefon, wenn ich es so nennen darf. Statthalter Chang wird in Kürze bei uns sein. Als Stationschef ist er sehr beschäftigt.«

Fred folgte den Chinesen zu einer Gruppe brusthoher Tische, die rundum mit Handläufen versehen waren. Beim Gehen versuchte er, es Li nachzutun, indem er die Zehen krümmte, oder wenigstens aufrecht zu bleiben, aber er hatte sein Gleichgewicht noch immer nicht wiedergefunden. Er griff nach einem der Handläufe, als ihm einmal mehr schwindelig wurde.

»Waren Sie bereits in einer Zentrifuge?«, fragte ihn Li.

»Ja, mein Hotelzimmer hat sich letzte Nacht gedreht. Das fühlt sich sehr nach zu Hause an.«

»Sehr gut. Wir haben Konferenzzimmer, die sich bei 1 g drehen. Es gibt viele Leute, die versuchen, den Großteil ihrer Zeit in Zentrifugenräumen zu verbringen. Zurück auf der Erde, werden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es auch so halten.«

»Danke, ich werde es versuchen.«

»Später werden Sie froh darüber sein. Ah, da kommt Statthalter Chang. Nach der Vorstellung werden wir uns rasch verabschieden und Sie beide Ihrer Arbeit überlassen.«

»In Ordnung. Danke, dass Sie mich empfangen haben.«

»Es war mir ein Vergnügen.«

Der Mann, der soeben schnellen Schritts den Raum betreten hatte, machte einen großen Satz auf sie zu, blieb stehen und begrüßte zuerst Li Bingwen. »Danke, Sekretär Li. Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.«

»Das ist schon in Ordnung. Ich habe mich gerne mit Ihrem Besucher unterhalten. Fred Fredericks, dies ist Statthalter Chang Yazu, Leiter unserer lunaren Sonderverwaltungszone.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Fred.

Chang streckte die Hand aus, Fred nahm sie und schüttelte Sie. Chang wirkte überrascht; mit verwirrter Miene blickte er über Freds Schulter. Dann brach er seitwärts zusammen. Fred kippte ebenfalls um und fragte sich, warum sein Gleichgewicht ihn in ebendiesem Moment im Stich ließ. Der Duft von Orangen.

Als er zu sich kam, waren mehrere Personen über ihn gebeugt. Er lag auf dem Boden, ihm schwirrte der Kopf, und ihm war übel. Tatsächlich war ihm auf eine allumfassende Art schwindelig, als schwebte er. »Huu.« Er wusste nicht, wo er sich befand, und als er versuchte, sich zu erinnern, wurde ihm klar, dass er auch nicht mehr wusste, wer er war. Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Panik flackerte in ihm auf. Die riesigen Gesichter, die auf ihn herabblickten, sagten Dinge, die er nicht hören konnte. Anscheinend lag er auf dem Boden. Blickte zu Fremden auf, taub, krank. Er versuchte verzweifelt, sich darüber klar zu werden, was hier vorging.

»Mr. Fredericks! Mr. Fredericks!«

Die Worte durchbrachen eine Art Damm in seinem Kopf, und mit einem Mal fiel ihm alles wieder ein. Fred Fredericks, Computerspezialist, Swiss Quantum Works. Zu Besuch auf dem Mond. Zweifellos erklärte das das Gefühl zu schweben. »Huu?«

Sie legten ihn auf eine Trage. Jemand tupfte ihm Gesicht und Hände ab. Als seine Träger versuchten, ihn durch eine Tür zu bugsieren, wäre er beinahe von der Trage gepurzelt. Schnelle Gespräche, die er nicht verstand – aber Moment, das war ja Chinesisch. Das erklärte den über ihm plätschernden Singsang.

Dann befand er sich in einer Art Behälter, einem Wagen oder Aufzug oder einer Operationskammer, das war schwer zu sagen. Mit einem elenden Gefühl trieb er auf einem scheußlichen Gewebe dahin. In einen von Bambusblättern grünen Raum. Ohnmächtig werden oder sich übergeben, schon klar, aber doch nicht beides auf einmal! Den Atem anhalten, um sich nicht zu übergeben. Schwarzer Tunnel, fallen …

Als er wieder zu sich kam, sahen ostasiatische Gesichter auf ihn herab, und im ersten Moment fiel ihm nicht ein, wo er war und wer er war. Er hatte den Eindruck, das schon einmal erlebt zu haben.

»Mr. Fredericks?«, fragte eines der Gesichter. Ah, dachte er. Fred. Auf dem Mond. Chinesische Basis.

»Ja?«, sagte er. Seine Stimme kam von weit her. Die Zunge lag ihm geschwollen im Mund. Lieber Gott – in der Mondschwerkraft trieb sogar die Zunge ein wenig, stieg dem Gaumen entgegen. Man musste sich anstrengen, um sie in ihre Vertiefung zwischen den unteren Zahnreihen zurückzuziehen. Für einen kurzen Moment krampfte sich ihm bei diesem seltsamen Gefühl der Magen zusammen.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Unfall.«

»Mr. Chang? Wie geht es ihm?«

Niemand sprach ein Wort.

»Bitte«, sagte Fred. »Lassen Sie mich mit jemandem sprechen, der Englisch kann. Jemandem, der mir helfen kann.«

Die Gesichter verschwanden.

Als er das nächste Mal zu sich kam, waren andere Gesichter über ihn gebeugt, eine andere Gruppe von Leuten. Er wusste, wer er war, und erinnerte sich auch an den Großteil der Geschehnisse.

»Hat man uns vergiftet?«, fragte er. »Wie geht es Mr. Chang?«

Eine der Personen schüttelte den Kopf. »Leider ist Mr. Chang gestorben. Das gleiche Gift wie bei Ihnen, aber ihm ist es weniger gut ergangen.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Wir konnten ihn nicht retten.«

»Oh nein. Gift?«

»Anscheinend.«

»Aber wie? Was war es?«

Die Frau, die mit ihm sprach, zuckte erneut die Schultern. »Da müssen Sie den Polizisten fragen, wenn er kommt. Sie sind bewacht. Es wird ermittelt.«

Als Fred den Kopf schüttelte, wurde ihm wieder übel. »Ich muss mit jemandem reden«, sagte er.

»Es wird Sie sicher jemand besuchen.«

Fred war von einer Wolke der Übelkeit und Erschöpfung umfangen. Er träumte vom Ertrinken. Als er wieder zu sich kam, war er einmal mehr von neuen Gesichtern umgeben. Auch diesmal gehörten sie Ostasiaten.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte eine Frau am Fußende des Bettes mit kalifornischem Akzent. Sie war größer als die anderen, hatte ein schmales, attraktives Gesicht und wirkte kultiviert, ernst und zielstrebig. »Ich bin Valerie Tong und arbeite für das amerikanische Konsulat. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.«

»Meine Anwältin?«

»So weit würde ich nicht gehen. Ich bin keine Anwältin. Ich bin sicher, dass wir Anwälte finden, um Sie zu vertreten. Anwälte findet man immer.« Sie runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob es hier Gerichte gibt. Vielleicht werden Sie zurück auf die Erde überstellt. Wenn dem so ist, werden wir Ihre Situation im Blick behalten und helfen, wo wir können.«

»Können Sie mich nicht in Gewahrsam nehmen? Wegen diplomatischer Immunität oder so?«

»Tja, Sie sind kein Diplomat. Und wenn ich es richtig verstanden habe, hat man Sie verhaftet. Offenbar liegen … Beweise gegen Sie vor.«

»Das kann doch gar nicht sein! Was für Beweise?«

Valerie Tong kniff die Augen zusammen. »Welche, die Sie wegen Mordes belasten, nehme ich an. Das hat man mir zumindest gesagt.«

»Wie bitte?« Angst durchzuckte Fred, und er hatte das Gefühl, sich selbst erst nachträglich sprechen zu hören. »Ich habe den Mann gerade zum ersten Mal getroffen. Ich kenne ihn gar nicht! Welchen Grund sollte ich haben, ihn umzubringen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das wird sich im weiteren Verlauf sicher zu Ihren Gunsten auswirken. Vorerst möchte ich Ihnen versichern, dass wir Ihre Fortschritte im Auge behalten.«

»Meine Fortschritte?«

»Entschuldigung. Den Fall.«

»Das will ich hoffen!«

Dann brandete eine weitere Woge über ihn hinweg, und er tauchte ab.

TA SHU 1

yueliang de fenmian

Die Geburt des Mondes

Nun, meine Freunde, bin ich also auf dem Mond. Seltsame Worte. Und eine seltsame Erfahrung ist es auch, aber abgesehen von der ungewohnten Leichtigkeit meines Körpers hier muss ich zugeben, dass die Vorstellung seltsamer ist als die Realität. Zumindest bisher. Aber das liegt nur daran, dass es eine so außerordentlich seltsame Vorstellung ist. Ich stehe auf dem Mond. Genau genommen sitze ich auf dem Mond. Und deshalb möchte ich nun gerne herausfinden, um was für einen Ort es sich handelt. Was ist der Mond? Um das zu verstehen, müssen wir bis ganz zurück an den Anfang gehen.

Das Sonnensystem hat als Staubwolke begonnen. Nicht wie der Staub, den wir heutzutage haben, Staub ist nicht ganz das richtige Wort dafür, denn diese wirbelnde Teilchenmasse enthielt alle Elemente, und außerdem war sie wegen der Gravitation schon von Anfang an ziemlich klumpig. Im Laufe der Zeit zog die Gravitation die Klumpen aufeinander zu.

Die leichtesten Elemente waren die häufigsten und bildeten mit der größten Wahrscheinlichkeit Klumpen. Die Art, wie sie verteilt waren, und ihre Eigenschaften führten dazu, dass die meisten von ihnen sich im Zentrum der Staubwolke zusammenballten. Das erste Prinzip des Feng Shui: Gravitation. Im chinesischen System, wie es im Yijing1, dem Buch der Wandlungen beschrieben wird, wäre die Gravitation das kun2, oder mit anderen Worten das Yin im Yin und Yang. Sie wirkt sich ausnahmslos auf alles gleich aus. Nichts entgeht ihr. Im Falle dieses Staubwirbels bedeutet das, dass die meisten Teilchen dem Mittelpunkt entgegenstürzten und sich schließlich zu einer so großen Masse verdichteten, dass sie unter dem Gewicht ihres eigenen Drucks Feuer fingen. Es war ein Kernfusionsfeuer, in dem Atome zusammenkrachen und dabei Energie abgeben. So wurde die Sonne entzündet. Die beiden leichtesten Elemente, Helium und Wasserstoff, haben sich vor allem in der Mitte gesammelt und sind in der Sonne gelandet – neunundneunzig Prozent des Wasserstoffs und des Heliums im Sonnensystem befinden sich in der Sonne. Auf den vier Gasriesen Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun haben sich allerdings auch kleinere Wirbel dieser Elemente gebildet.

Die schwereren Elemente – die größtenteils in den gewaltigen Explosionen entstehen, die man als Supernovae bezeichnet – wirbelten nahe der Sonne durchs Sonnensystem und sammelten sich zu Kugeln, die durch die Hitze der Einschläge schmolzen und von der Gravitation zusammengepresst wurden. Sie trafen aufeinander, bildeten größere Klumpen und wurden schließlich zu den Gesteinsplaneten Merkur, Venus, Erde und Mars. Der Asteroidengürtel wäre auf diese Weise auch zu einem Gesteinsplaneten geworden, aber die Gravitation des nahen Jupiter riss seine Bestandteile immer wieder auseinander, und so bildeten die, die nicht in die Sonne stürzten oder aus dem Sonnensystem hinausgeschleudert wurden, schließlich das breite Band, wie wir es heute kennen.

Jeder der vier Gesteinsplaneten bestand aus kleineren Planetesimalen, die einander anzogen, miteinander zusammenstießen und verbunden blieben. Das war ein kumulativer Vorgang, und als er vor etwa einer halben Milliarde Jahren an sein Ende gelangte, waren an solchen Kollisionen meist ziemlich große Planetesimale beteiligt; eigentlich handelte es sich bereits um kleine Planeten, die die Karten ein letztes Mal mischten. Jeder der vier großen Gesteinsplaneten, die dabei letztendlich herausgekommen sind, weist Anzeichen gewaltiger Kollisionen in den letzten Jahren der Akkumulation auf. Die Nordhalbkugel des Mars ist gegenüber der Südhalbkugel vier Kilometer niedriger, was man heutzutage auf einen gewaltigen Einschlagkrater zurückführt. Der Merkur ist weitaus dichter und metallischer, als man es angesichts der Verteilung von Elementen im Sonnensystem erwarten sollte, und man geht davon aus, dass ein enormer Zusammenprall mit einem anderen Planetesimal einen Großteil seiner Oberfläche und seines Mantels weggerissen und in seine Umlaufbahn geschleudert hat. Normalerweise wären diese Merkurbrocken auf den Planeten zurückgefallen und schließlich wieder mit ihm verschmolzen, aber da sie sich so dicht bei der Sonne befanden, wurde ein Großteil von ihnen durch den Photonenwind des Sonnenlichts aus der Umlaufbahn des Merkur herausgeschleudert und landete schließlich auf der Venus und sogar auf der Erde.

Die Venus zeigt Anzeichen eines gewaltigen Einschlags, der die Rotation des Planeten zum Stillstand brachte. Selbst heute dreht sie sich nur sehr langsam und in Gegenrichtung zu den anderen Planeten.

Und dann sind da die Erde und ihr Mond, der im Vergleich zur Größe seines Planeten so riesig ist, dass es sich um den proportional größten Satelliten des Sonnensystems handelt. Wie kommt das? Dazu gibt es folgende Theorie: Am Anfang, vor etwa 4,51 Milliarden Jahren, gab es zwei Planeten, die sich in der Umlaufbahn der Erde zusammengefunden haben, und die wir heute als Erde und Theia bezeichnen, oder als Gaia und Theia. Sie waren beinahe gleich groß, und Theia befand sich am L5-Punkt der Erde, einem Gravitationsresonanzpunkt in der Erdumlaufbahn, der ein gleichseitiges Dreieck mit der Sonne und der Erde bildet. Solche Lagrange-Positionen sind ziemlich stabil, aber es gibt noch andere starke Gravitationssenken im System, und so kam es schließlich dazu, dass die Anziehungskraft des Jupiter oder der Venus – oder aufgrund eines kosmischen Zufalls sogar die beider Planeten zusammen – Theia aus ihrer Stabilität gerissen und auf die Erde zu geschleudert hat. Ihr Kurs ähnelte offenbar dem, was in der ptolemäischen Epizykeltheorie beschrieben wird – kleine Umlaufbahnen, die sich auf einer Spiralbahn durch größere Umlaufbahnen bewegen –, und als die beiden Planeten sich einander immer weiter näherten, hat ihre gegenseitige Anziehung sie zusätzlich beschleunigt. Theia hat sich anscheinend auch sehr schnell um sich selbst gedreht. Schließlich trafen beide Körper frontal und mit sehr starkem Drehmoment aufeinander.

Beim Zusammenprall verschmolzen sie erst miteinander und explodierten dann in einer gewaltigen Entladung, bei der heißes Gestein und Metall um die heiße, sich drehende Masse in der Mitte verspritzt wurde. Diese flüssigen Trümmerstücke bildeten einen wulstigen Ring um den neu geformten und nun größeren Planeten, der sich durch die Kollision so schnell drehte, dass ein Tag nur etwa fünf Stunden dauerte.

Dieser große Klumpen war das, was wir heute als die Erde kennen. Die geschmolzenen Bruchstücke, die einen Ring um sie bildeten, der von Planetologen als Synestia bezeichnet wird, sammelten sich ziemlich schnell (also innerhalb von etwa hundert Jahren) und bildeten unseren Mond, eine Kugel, die etwa ein Viertel der Größe der Erde, aber nur ein Zehntel ihrer Masse hatte, da das fortgeschleuderte Material größtenteils von Oberfläche und Mantel stammte, die leichter sind als das Erdinnere. Die Planetenkerne sowohl von Theia als auch von der Erde wurden zum Teil des Erdkerns. Die Kugel ausgeworfenen Materials im All wurde der Mond.

Luna. In China ist sie eine große Schutzgöttin, die wir Chang′e nennen. Manchmal auch Yu Nu. In der griechischen Mythologie heißt sie Selene. Und Selenes Mutter war Theia – daher kommt der Name, den die Wissenschaftler dem Impakt-Plantesimal gegeben haben. Dieser verlorene Planet ist genau genommen nicht verloren, er ist ein Teil von uns. Theias Atome befinden sich in jedem menschlichen Körper.

In den viereinhalb Milliarden Jahren, die seither vergangen sind, haben die Gravitationskräfte, die die beiden Himmelskörper aufeinander ausüben, die Erdrotation verlangsamt, sodass wir heute einen Vierundzwanzig-Stunden-Tag haben, während der Mond sich inzwischen in gebundener Rotation befindet und sich in derselben Zeit, die er für einen Umlauf um die Erde braucht, einmal um die eigene Achse dreht. So fahren sie in ihrem Weltraumtanz fort, und die Gezeiten, die der Mond verursacht, indem er an der Erde zieht, haben großen Einfluss auf die Entwicklung des Lebens hier auf Terra genommen.

Was ist von dieser Geschichte zu halten? Sie ist kaum zu glauben! Gewaltige, planetenerschütternde Kollisionen, gefolgt von einem Milliarden Jahre währenden Tanz im Kreis – und all das hat die friedliche, harmonische Welt hervorgebracht, auf der wir heute leben, und auch diesen toten, weißen Gesteinsbrocken im All, diesen Mond hier. Ein einziger Zusammenprall mit zwei sehr unterschiedlichen Ergebnissen, die praktisch einzig und allein von der Gravitation und anderen physikalischen Gesetzmäßigkeiten abhängen. Das gibt einem zu denken. Welten prallen aufeinander! Und einige Auswirkungen davon sind sehr erfreulich.

Natürlich wollen wir nicht, dass uns heutzutage etwas Derartiges widerfährt! Das wäre eine Katastrophe. Und der physische Kosmos bewegt sich nicht entlang der gleichen Bahnen wie die menschliche Geschichte. Nicht mal ansatzweise. Analogien täuschen immer mehr, als sie erhellen; ich bin kein Freund von Analogien, ich verwende sie nicht. Selbst die Metapher, diese mentale Operation, die wir bei beinahe jedem gesprochenen Wort verwenden, ist trügerisch. Ich sage alles immer so klar und deutlich wie möglich.

Und trotzdem ist die Sprache, und damit auch das Denken, ein seltsames und ungenaues Spiel von Metaphern und Analogien, das wir spielen, um am Leben zu bleiben. Deshalb möchte ich Folgendes zur Debatte stellen: Selbst wenn es eine Theia gibt, die in der Umlaufbahn unserer gemeinsamen Geschichte lauert – möglich wäre es –, und selbst wenn sie bereits aus ihrer Lagrange-Position gerissen wurde und nun auf uns zusteuert, um mit einer in unserem Inneren bereits existierenden Gaia zusammenzustoßen, was angesichts der Realitäten von Gravitation und Trägheit unvermeidbar wäre –, dann ist all das schon einmal geschehen. Und wenn die Folgen im ersten Moment auch noch so katastrophal sind, kann auf lange Sicht doch etwas Gutes dabei entstehen.

1 Alte Schreibweise: I Ging.

2 Im Yijing bezeichnet kun »das Empfangende« oder »die Erde«.

KAPITEL DREI

taoguang yanghui

Sich bedeckt halten– DENG

Gelegentlich traf Valerie Tong sich in einem der Gewächshäuser der chinesischen Basis zu einem Gespräch unter vier Augen mit ihrem Stationschef John Semple. In diesem Fall befand sich das Gewächshaus unter dem hohen Kamm, an dem die Ränder des Faustini- und des Shoemaker-Kraters aufeinandertrafen. John bezeichnete diesen Ort gerne als den Gipfel des Vierundachtzigprozentigen Ewigen Lichts. In den kurzen Nächten hier, die genau genommen etwa drei Tage dauerten, verwendeten die größtenteils aus Henan stammenden Mondbauern Wachstumslampen, mit denen sie die Feldfrüchte aus nächster Nähe bestrahlten. Das erzeugte das Bild eines riesigen Raums voller leuchtend grüner Flecken.