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Die erste Kolonie auf dem Mars
Es ist die größte Herausforderung, der sich die Menschheit je gegenübersah: die Besiedlung unseres Nachbarplaneten Mars. Die Verwandlung einer lebensfeindlichen Wüstenwelt in einen blauen Planeten wie die Erde. Von der ersten bemannten Landung auf dem Mars über die frühen Kolonien und ihre Auseinandersetzungen, welche Form von Gesellschaft sie erbauen sollen, bis zum riskanten Versuch, das Klima einer ganzen Welt zu verändern – Kim Stanley Robinson erzählt in seiner Mars-Trilogie die Geschichte der Zukunft wie ein großes historisches Epos.
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Seitenzahl: 1083
Das Buch
21. Dezember 2026: Die ersten hundert Kolonisten brechen zum Mars auf. Fünfzig Männer und fünfzig Frauen aus verschiedenen Ländern stellen sich der größten Herausforderung der Menschheitsgeschichte. Sie sollen aus einer leblosen, kalten Felswüste einen grünen, lebendigen Planeten wie die Erde machen. Doch schon auf dem neunmonatigen Flug wird klar: Nicht jeder ist mit diesem Plan einverstanden. Die Siedler zerfallen in verschiedene Fraktionen. Die einen wollen den Mars terraformen, die anderen ihn so bewahren, wie er ist. Wieder andere plädieren für eine gänzlich neue politische Ordnung, unabhängig von der Erde, während einige eng mit großen Firmenkonsortien zusammenarbeiten, die an der Ausbeutung der Mars-Rohstoffe interessiert sind. Und eine weitere Gruppe hat eigene, geheime Pläne. Im Laufe der ersten Jahre spitzen sich diese Konflikte immer weiter zu, bis der Mars am Ende ein gewaltiges Pulverfass ist, das jeden Moment zu explodieren droht …
Der Autor
Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien mit Roter Mars der Auftakt der Mars-Trilogie, die ihn weltberühmt machte und für die er mehrfach mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. Kim Stanley Robinson lebt mit seiner Familie in Kalifornien. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt seine Romane 2312 und Schamaneerschienen.
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KIM STANLEY
ROBINSON
ROTER MARS
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
RED MARS
Deutsche Übersetzung von Winfried Petri
Durchgesehen und überarbeitet von Elisabeth Bösl
Für Lisa
Vollständige Neuausgabe 11/2015
Copyright © 1992 by Kim Stanley Robinson
Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-11640-8
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INHALT
ERSTER TEIL – DAS FEST
ZWEITER TEIL – DIE REISE
DRITTER TEIL – SCHMELZTIEGEL
VIERTER TEIL – HEIMWEH
FÜNFTER TEIL – GESCHICHTE MACHEN
SECHSTER TEIL – WAFFEN UNTER DEM TISCH
SIEBTER TEIL – SENZENI NA
ACHTER TEIL – SHIKATA GA NAI
ANHANG – UNSER WEG ZUM MARS
ERSTER TEIL
DAS FEST
Der Mars war leer, ehe wir kamen.
Das soll nicht heißen, dort wäre niemals etwas geschehen. Der Planet hatte sich zusammengeballt, war geschmolzen, aufgewühlt und abgekühlt. Das hatte eine Oberfläche hinterlassen, die durch gewaltige geologische – oder besser: areologische – Besonderheiten geprägt war: Krater, Schluchten, Vulkane. Aber all das war in mineralischer Bewusstseinslosigkeit geschehen und wurde von niemandem beobachtet. Es gab keine Zeugen – mit Ausnahme von uns, die wir von dem benachbarten Planeten aus zuschauten, und das erst im letzten Moment seiner langen Geschichte. Wir sind das ganze Bewusstsein, das der Planet je besaß.
Jeder kennt die Bedeutung des Mars für die Menschheit. Dass er für alle vorgeschichtlichen Generationen einer der wichtigsten Sterne am Himmel war wegen seiner roten Farbe und schwankenden Helligkeit sowie der Art, wie er auf seiner Wanderung über den Himmel manchmal anhielt und bisweilen sogar die Richtung änderte. Es war, als wollte er uns mit alldem etwas sagen. So ist es vielleicht nicht überraschend, dass gerade die ältesten Namen für den Mars besonders gewichtig wirken: Nirgal, Mangala, Auqakuh, Harmakhis. Sie klingen so, als wären sie noch älter als die uralten Sprachen, in denen sie vorkommen, als wären es fossile Wörter aus der Eiszeit oder noch früher. Ja, im Laufe von Jahrtausenden war der Mars in den Augen der Menschen eine heilige Macht; und seine Farbe machte ihn zu einer gefährlichen Kraft, weil sie für Blut, Zorn, Krieg und das Herz stand.
Dann erlaubten uns die ersten Fernrohre einen genaueren Anblick. Wir sahen die kleine orangefarbene Scheibe mit ihren weißen Polen und dunklen Flecken, die sich im Verlauf der langen Jahreszeiten des Planeten ausdehnten und zusammenzogen. Selbst die fortschrittlichsten Teleskope ließen uns niemals mehr sehen als das. Aber die besten von der Erde aus gewonnenen Bilder gaben Percival Lowell genügend undeutliche Hinweise für die Erfindung einer Geschichte, die wir alle kennen: der Geschichte von einer sterbenden Welt und einem heldenhaften Volk, das in seiner Verzweiflung Kanäle baute, um das letzte tödliche Vordringen der Wüste zu verhindern.
Das war eine großartige Geschichte. Aber dann schickten die Sonden Mariner und Viking ihre Fotos, und alles änderte sich. Unser Wissen über den Mars erweiterte sich schlagartig, und wir erfuhren buchstäblich millionenfach mehr über ihn als je zuvor. Und so entfaltete sich vor unseren Augen eine neue Welt, eine Welt, die niemand auch nur erahnt hatte.
Doch sie schien eine Welt ohne Leben zu sein. Die Forscher suchten nach Anzeichen früheren oder gegenwärtigen Lebens auf dem Mars, von Mikroben bis hin zu den unglückseligen Erbauern der Kanäle und sogar nach Besuchern von außerhalb. Wie Sie wissen, wurden niemals irgendwelche Beweise dafür gefunden. Und so sind natürlich Geschichten aufgeblüht, um die Lücke zu füllen – genauso wie zu Lowells oder Homers Zeiten oder der der Höhlenmenschen und Bewohnern der Savannen. Geschichten von Mikrofossilien, die durch unsere Bio-Organismen vernichtet wurden, oder von Ruinen, die von Staubstürmen freigelegt wurden und dann für immer verloren gingen, vom Großen Mann und seinen Abenteuern sowie den nur schwer zu fassenden kleinen roten Männchen, die man immer nur aus dem Augenwinkel zu sehen bekommt. Diese Geschichten werden erzählt, um einen lebenden Mars zu schaffen oder ihn wieder mit Leben zu erfüllen. Denn wir sind immer noch die Wesen, die die Eiszeit überlebt haben, die voll Staunen zum Nachthimmel aufgeschaut und sich Geschichten erzählt haben. Und der Mars hat nie aufgehört, das zu sein, was er für uns von Anbeginn an gewesen ist – ein großes Zeichen, ein großes Symbol, eine große Macht.
Und so sind wir hierhergekommen. Er war eine Macht, jetzt ist er ein Ort.
»… und so sind wir hierhergekommen. Was sie aber nicht erkannt hatten, war, dass wir, als wir auf dem Mars ankamen, durch die lange Reise so verändert sein würden, dass die Aufträge, die sie uns erteilt hatten, keine Rolle mehr spielten. Es war nicht wie Leben unter Wasser oder wie die Eroberung des Wilden Westens – es war eine völlig neue Erfahrung. Und als der Flug der Ares andauerte, war die Erde schließlich so weit entfernt, dass sie nichts weiter war als ein blauer Lichtpunkt unter all den anderen, und die Funksprüche kamen mit so großer Verzögerung bei uns an, dass sie aus einem früheren Jahrhundert zu stammen schienen. Wir waren auf uns allein gestellt und wurden so zu fundamental anderen Wesen.«
Lauter Lügen, dachte Frank Chalmers wütend. Er saß unter einer Reihe von Würdenträgern und verfolgte, wie sein alter Freund John Boone seine übliche Anfeuerungsrede hielt. Die stimmte Chalmers missmutig. In Wahrheit war die lange Reise zum Mars wie eine endlose Eisenbahnfahrt gewesen. Sie waren nicht zu anderen Wesen, sondern mehr denn je sie selbst geworden. Man hatte sie aller Gewohnheiten entblößt, bis nur noch das nackte Rohmaterial von ihnen übrig geblieben war. Aber John stand da oben, richtete einen mahnenden Zeigefinger auf die Menge und sagte: »Wir sind hierhergekommen, um etwas völlig Neues zu tun, und als wir eintrafen, sind unsere irdischen Differenzen, die in dieser neuen Welt irrelevant sind, verschwunden!« Ja, er meinte das alles wörtlich. Seine Vision vom Mars war eine Linse, die alles verzerrte, was er sah, wie eine Art Religion. Er würde denselben Nonsens auch in einem Privatgespräch von sich geben, egal, wie sehr sein Gesprächspartner die Augen rollte.
Chalmers hörte nicht mehr hin und ließ seinen Blick über die neue Stadt schweifen. Sie würden sie Nicosia taufen. Es war die allererste große Stadt, die auf der Marsoberfläche freistehend erbaut wurde. Alle Gebäude befanden sich unter einem ungeheuer großen durchsichtigen Zelt, das von einem fast unsichtbaren Rahmen getragen wurde. Es stand auf dem Tharsis-Buckel, westlich von Noctis Labyrinthus. Dieser Standort bot eine prächtige Aussicht, und der ferne Horizont wurde nur im Westen durch den breiten Gipfel von Pavonis Mons unterbrochen. Für die Marsveteranen in der Menge war es berauschend: Sie waren raus aus den Gräben und Mesas und Kratern und konnten unendlich weit sehen! Hurra!
Ein Lachen im Publikum lenkte Franks Aufmerksamkeit wieder zurück auf seinen alten Freund. John Boone hatte eine leicht heisere Stimme und den angenehmen Akzent des Mittelwestens; und er war abwechselnd (und manchmal sogar zugleich) entspannt, angestrengt, ergeben, selbstkritisch, bescheiden, vertrauensvoll, ernsthaft und spaßig. Kurzum – der perfekte öffentliche Redner. Die Zuhörerschaft war hingerissen. Das war dererste Mensch auf dem Mars, der zu ihnen sprach; und ihren Mienen nach zu urteilen hätten sie ebenso gut zuschauen können, wie Jesus ihr Abendessen aus Broten und Fischen vermehrte. Und John verdiente wirklich ihre Verehrung, weil er auf einem anderen Planeten ein ähnliches Wunder vollbrachte, indem er das eingeschränkte Leben dort in eine phantastische Reise verwandelte. »Auf dem Mars werden wir uns mehr als je zuvor umeinander kümmern«, sagte John. Das bedeutete, dachte Chalmers alarmiert, die Art von Verhalten, die man in Überbevölkerungs-Experimenten bei Ratten beobachtet hat. »Der Mars ist ein erhabener, exotischer und gefährlicher Ort«, fuhr John fort, und meinte die gefrorene Kugel aus oxidiertem Gestein, auf der sie etwa fünfzehn Rem jährlich ausgesetzt waren. »Und mit unserer Arbeit gestalten wir eine neue soziale Ordnung und den nächsten Schritt in der Geschichte der Menschheit«, also die neuste Stufe im Kampf der Primaten um die Vorherrschaft.
John schloss mit dieser Floskel, und es gab natürlich lautstarken Beifall. Dann betrat Maya Toitovna das Podium, um Chalmers anzukündigen. Frank warf ihr einen schnellen Blick zu, der besagte, dass er keineswegs in Stimmung für einen ihrer Scherze war. Sie verstand ihn und sagte: »Unser nächster Redner ist der Treibstoff in unserem kleinen Raketenschiff gewesen«, was das Publikum zum Lachen brachte. »Es waren vor allem seine Vision und seine Energie, die uns zum Mars gebracht haben, also richten Sie bitte Ihre Beschwerden, wenn Sie welche haben, an unseren nächsten Redner – meinen alten Freund Frank Chalmers.«
Auf dem Podium war er überrascht, wie groß die Stadt wirkte. Sie hatte die Form eines langen Dreiecks; und sie waren an dessen höchstem Punkt versammelt, einem Park, der den westlichen Scheitel einnahm. Sieben Wege verliefen strahlenförmig nach unten durch die Anlage, um zu breiten, von Bäumen gesäumten und mit Gras bewachsenen Boulevards zu werden. Sie wurden von niedrigen, trapezförmigen Gebäuden gesäumt, die alle mit polierten Steinen in unterschiedlichen Farben verkleidet waren. Größe und Architektur verliehen den Bauten einen Hauch von Paris, wie es ein betrunkener Fauvist im Frühling sah, mit Straßencafés und so weiter. Vier oder fünf Kilometer weiter unten war das Ende der Stadt durch drei schlanke Wolkenkratzer markiert, jenseits davon lagen die flachen Grünflächen der Farm. Die Wolkenkratzer bildeten einen Teil des Zeltgerüstes, das ein gewölbtes Netz aus Linien in der Farbe des Himmels über ihren Köpfen aufspannte. Das eigentliche Material des Zeltes war unsichtbar, sodass es aussah, als stünde man unter freiem Himmel. Er war goldfarben. Nicosia würde ein beliebter Wohnort werden.
Chalmers sagte das alles seinen Zuhörern und erhielt begeisterte Zustimmung. Offenbar hatte er das Publikum, launisch wie es war, ebenso fest in der Hand wie John. Chalmers war stämmig und dunkelhaarig und wusste, dass er einen scharfen Kontrast zum gutaussehenden, blonden John bildete. Er wusste aber ebenso gut, dass er seinen eigenen groben Charme hatte; und als er in Schwung kam, zog er die Menge mit und griff auf seinen Vorrat an Phrasen zurück.
Dann fiel zwischen den Wolken ein Sonnenstrahl wie eine Lanze herunter, traf die nach oben gewandten Gesichter der Menge; und Chalmers Magen krampfte sich zusammen. So viele Leute hier, so viele Fremde! Menschenmassen hatten etwas Erschreckendes – all diese feuchten, halbflüssigen Augen in rosa Fassungen, die ihn anschauten … Wenn er vor einem so großen Publikum redete, suchte er sich normalerweise ein paar Gesichter in der Menge aus und sprach sie direkt an. Die anderen waren nur Hintergrund. Aber mit dem Sonnenstrahl, der über seine Schulter fiel, war die ganze Menge direkt beleuchtet – das war fast zu viel. Fünftausend Menschen in einer einzigen Stadt auf dem Mars! Nach all den Jahren in Underhill war das schwer zu glauben.
Törichterweise versuchte er, seinen Hörern das mitzuteilen. Er sagte: »Seht euch nur um! Unsere Anwesenheit hier ist … seltsam.«
Die Menge entglitt ihm. Wie sollte er es ausdrücken? Wie sollte er ihnen sagen, dass sie in dieser steinernen Welt das einzig Lebendige waren, sie, deren Gesichter wie Lampions bei Nacht leuchteten? Wie sollte er sagen, dass dies hier, selbst wenn Lebewesen nichts weiter waren als Träger unbarmherziger Gene, immer noch besser war als das nackte mineralische Nicht-Leben da draußen?
Natürlich konnte er das nicht in Worte fassen. Vielleicht niemals – und bestimmt nicht in einer Rede. Also nahm er sich zusammen und sagte: »In der Einsamkeit des Mars ist die Präsenz des Menschen eine bemerkenswerte Tatsache.« (Sie würden sich mehr umeinander kümmern denn je zuvor, wiederholte zynisch eine innere Stimme.) »Der Planet als solcher ist ein toter, gefrorener Albtraum« (deshalb exotisch und grandios), »und wir sind auf uns allein gestellt und befinden uns deswegen in einem notwendigen Prozess einer gewissen … Reorganisation« (oder Bildung einer neuen Ordnung) – und ertappte sich dabei, dass er genau dieselben Lügen verkündete, die er gerade von John gehört hatte.
Lächerlich! Aber Lügen waren genau das, was die Leute erwarteten – sie gehörten eben zur Politik. So bekam er am Ende seiner Rede auch einen donnernden Beifall. Gereizt erklärte er, es sei Zeit fürs Essen, und nahm Maya damit die Chance auf ein Schlusswort. Obwohl sie wahrscheinlich geahnt hatte, dass er das tun würde, und sich gar keins zurechtgelegt hatte. Frank Chalmers liebte es, das letzte Wort zu haben.
Menschen strömten auf die improvisierte Bühne, um sich unter die Berühmtheiten zu mischen. Es war selten, dass man so viele der Ersten Hundert auf einem Fleck antraf. So drängten sie sich um John und Maya, Samantha Hoyle, Sax Russell und Chalmers.
Frank blickte über die Menge zu John und Maya. Er kannte die Terraner, die sich um sie drängten, nicht. Das machte ihn neugierig, also bahnte er sich einen Weg über das Podium. Als er näher kam, sah er, wie Maya und John sich einen Blick zuwarfen. »Es gibt keinen Grund, weshalb die irdischen Gesetze hier keine Gültigkeit haben sollten«, sagte gerade einer der Terraner.
Maya wandte sich ihm zu. »Hat Sie der Olympus Mons wirklich an Mauna Loa erinnert?«
»Sicher«, sagte der Mann. »Schildvulkane sehen alle gleich aus.«
Frank starrte über den Kopf dieses Idioten hinweg Maya an. Sie erwiderte seinen Blick nicht. John tat so, als hätte er Franks Hinzukommen nicht bemerkt. Samantha Hoyle sprach leise mit einem anderen Mann, dem sie etwas erklärte. Der Mann nickte und schaute dann unwillkürlich Frank an, dem Samantha weiter den Rücken zukehrte. Es war John, auf den es ankam, John und Maya. Doch diese beiden taten so, als wäre alles in bester Ordnung. Der Gegenstand des Gesprächs, was immer er gewesen sein mochte, war dahin.
Chalmers verließ das Podium. Immer noch strömten Menschen durch den Park nach unten, auf Tische zu, die an den Ausgangspunkten der sieben Boulevards aufgestellt waren. Chalmers folgte ihnen unter junge, frisch gepflanzte Sykomoren, deren khakifarbene Blätter das Licht des Nachmittags trübten, sodass der Park aussah wie der Boden eines Aquariums.
An den Tischen kippten Bauarbeiter Wodka hinunter und wurden ruppig – sich dunkel bewusst, dass mit der Fertigstellung der Konstruktion das heroische Zeitalter in Nicosia ein Ende gefunden hatte. Vielleicht galt das auch für den Mars insgesamt.
Die Luft war erfüllt von durcheinander tönenden Gesprächen. Frank tauchte unter und wanderte zur nördlichen Peripherie. An einer brusthohen Betonmauer blieb er stehen. Das war die Stadtmauer. Aus den Metallstreifen darauf strebten vier Schichten aus klarem Kunststoff nach oben. Ein Schweizer gab mit fröhlichen Fingerzeigen einer Besuchergruppe Erklärungen.
»Eine äußere Membran aus piezoelektrischer Plastik erzeugt aus Wind Elektrizität. Die nächsten zwei Flächen enthalten eine Schicht aus isolierendem Luft-Gel. Die innere Fläche ist eine Strahlung absorbierende Membran, die sich purpurn färbt und ersetzt werden muss. Klarer als ein Fenster, nicht wahr?«
Die Besucher stimmten zu. Frank streckte seinen Arm aus und drückte die Hand gegen die innere Membran. Sie dehnte sich, bis seine Finger knöcheltief eindrangen. Leicht kühl. Auf dem Kunststoff war ein matter weißer Aufdruck: ISIDIS PLANITIA POLYMERE. Durch die Sykomoren konnte er über die Schulter die Bühne am Scheitel erkennen. John und Maya und ihr Haufen Bewunderer von der Erde waren dort noch in lebhaftem Gespräch. Sie führten die Geschäfte des Planeten; sie entschieden über das Schicksal des Mars.
Er hielt den Atem an und presste seine Backenzähne zusammen. Er schlug so heftig gegen die Zeltwand, dass er die äußerste Membran hinausdrückte. Ein Teil seiner Wut wurde so eingefangen und als Elektrizität ins Netz der Stadt eingespeist. Es war in dieser Hinsicht ein besonderes Polymer – Kohlenstoffatome, so mit Wasserstoff- und Fluoratomen verbunden, dass die resultierende Substanz sogar noch stärker piezoelektrisch war als Quarz. Wenn man aber eines der drei Elemente austauschte, veränderte sich alles. Zum Beispiel ergab der Austausch von Chlor durch Fluor das chemisch und mechanisch sehr resistente Verpackungsmaterial Saran.
Frank starrte auf seine eingehüllte Hand und dann wieder auf die anderen beiden Elemente, die noch miteinander verbunden waren. Aber ohne ihn waren sie ein Nichts!
Verärgert wandte er sich ab und ging durch die engen Straßen der Stadt.
Wie Miesmuscheln auf einem Stein drängte sich auf einer Plaza eine Gruppe Araber zusammen und trank Kaffee. Araber waren auf dem Mars erst vor zehn Jahren eingetroffen, bildeten aber schon jetzt eine Macht, mit der man rechnen musste. Sie besaßen sehr viel Geld und hatten sich mit den Schweizern zusammengetan, um ein paar Städte zu gründen, einschließlich dieser hier. Und es gefiel ihnen auf dem Mars. »Es ist wie ein kühler Tag in der Rub’ al-Chali, dem Leeren Viertel«, sagten die Saudis. Die Ähnlichkeit des Mars mit der größten Sandwüste der Erde war so groß, dass arabische Wörter im Englischen übernommen wurden, weil ihr Vokabular für diese Landschaft umfangreicher war: akaba für die steilen Hänge an Vulkanen, badia für die großen Dünen, nefuds für tiefen Sand, seyl für die Milliarden Jahre alten trockenen Flussbetten … Die Leute witzelten, dass sie Arabisch eigentlich zur Amtssprache machen sollten.
Frank hatte einige Zeit mit Arabern verbracht, und die Männer auf der Plaza freuten sich, ihn zu sehen. »Salaam aleyk!«, begrüßten sie ihn; und er antwortete: »Marhabba!« Weiße Zähne blitzten unter schwarzen Schnurrbärten. Nur Männer waren da, wie üblich. Einige Jugendliche führten ihn zu einem Tisch in der Mitte, wo die Älteren saßen, einschließlich seines Freundes Zeyk. Zeyk sagte: »Wir werden diesen Platz Hajr el-kra Meshab nennen, den ›großen freien roten Granitplatz in der Stadt‹.« Er zeigte auf die rostfarbenen Fliesen. Frank nickte und fragte, was für eine Sorte Stein das sei. Er sprach Arabisch, solange er konnte, ging bis an die Grenzen seines Wortschatzes und erntete einige gutmütige Lacher. Dann nahm er an dem Tisch in der Mitte Platz und entspannte sich. Er hatte den Eindruck, als wäre er auf einer Straße in Damaskus oder Kairo, und fühlte sich in dem Gemisch aus Arabisch und teurem Aftershave wohl.
Er studierte die Gesichter der Männer, während sie sprachen. Ohne Zweifel Angehörige einer fremdartigen Kultur. Sie würden sich nicht verändern, nur weil sie auf dem Mars waren, womit sie Johns Vision Lügen straften. Ihr Denken prallte direkt auf das westliche. Zum Beispiel hielten sie die Trennung von Kirche und Staat für falsch, was es ihnen unmöglich machte, mit Westlern hinsichtlich der Grundlagen einer Regierung gleicher Meinung zu sein. Und sie waren so patriarchalisch, dass es hieß, manche ihrer Frauen seien Analphabeten – auf dem Mars! Das war ein Zeichen. Tatsächlich hatten diese Männer den gefährlichen Blick, den Frank mit Machotum verband, den Blick von Männern, die ihre Frauen so grausam unterdrückten, dass diese natürlich zurückschlugen, wo sie konnten, und Söhne terrorisierten, die dann Frauen terrorisierten, die wiederum Söhne terrorisierten und so weiter, in einer endlosen Todesspirale von verzerrter Liebe und Geschlechterhass, sodass sie in diesem Sinne alle Wahnsinnige waren.
Das war einer der Gründe, weshalb Frank sie mochte. Und bestimmt würden sie sich ihm als eine neue Macht auf dem Mars als nützlich erweisen. Man verteidige einen schwachen neuen Nachbarn, um die alten mächtigen zu schwächen, hatte Machiavelli gesagt. Also trank er mit ihnen Kaffee, und allmählich gingen sie aus Höflichkeit ins Englische über. Frank ließ sie damit ihre Überlegenheit in puncto Fremdsprachen demonstrieren, aber zugleich fiel es ihm so leichter, das Gespräch zu kontrollieren.
»Wie haben euch die Reden gefallen?«, fragte er und blickte in den schwarzen Schlamm auf dem Boden seiner Tasse.
Der alte Zeyk antwortete: »John Boone ist immer derselbe.« Die anderen lachten gereizt. »Wenn er sagt, dass er eine bodenständige Mars-Kultur schaffen will, dann meint er, dass hier einige irdische Kulturen gefördert und andere bekämpft werden sollen. Die, die man für rückständig hält, werden ausgegliedert und vernichtet. Das ist eine Form des Atatürkismus.«
»Er denkt, dass jeder auf dem Mars Amerikaner werden sollte«, meinte ein Mann namens Nejm.
»Warum nicht?«, fragte Zeyk lächelnd. »Auf der Erde ist das schon passiert.«
»Nein«, entgegnete Frank. »Ihr solltet Boone nicht missverstehen. Viele halten ihr für egozentrisch, aber …«
»Er ist egozentrisch!«, rief Nejm. »Er lebt in einem Spiegelsaal. Er denkt, wir seien auf den Mars gekommen, um eine gute alte amerikanische Superkultur aufzubauen, und dass jeder zustimmen wird, weil es der Plan von John Boone ist.«
»Er begreift nicht, dass andere Leute andere Meinungen haben«, sagte Zeyk.
»Das ist es nicht«, erklärte Frank. »Er ist nur davon überzeugt, die Meinungen anderer Leute wären weniger sinnvoll.«
Sie lachten darüber, aber das Gejohle der jüngeren Männer hatte einen bitteren Unterton. Sie alle glaubten, dass Boone vor ihrer Ankunft heimlich gegen das Votum der UN für arabische Siedlungen agitiert hatte. Frank verstärkte diese Gerüchte, die fast stimmten; denn John missbilligte jede Ideologie, die ihm in die Quere kommen konnte. Er wollte, dass jeder Neuankömmling ein möglichst unbeschriebenes Blatt war.
Die Araber glaubten indessen, dass John insbesondere sie nicht leiden konnte. Der junge Selim el-Hayil öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber Frank warf ihm einen schnellen warnenden Blick zu. Selim erstarrte und verzog dann wütend das Gesicht. Frank sagte: »Naja, ganz so schlecht ist er auch wieder nicht. Obwohl ich ihn sagen hörte, es wäre besser gewesen, wenn die Amerikaner und Russen den Planeten für sich beansprucht hätten, als sie eintrafen. Wie Pioniere in den alten Zeiten.« Das Gelächter war kurz und grimmig. Selim bewegte eine Schulter, als hätte er einen Schlag erhalten. Frank zuckte mit den Achseln, breitete die Arme weit aus und lächelte. »Aber das ist zwecklos! Ich meine, was kann er schon ausrichten?«
Der alte Zeyk hob die Augenbrauen. »Es gibt unterschiedliche Meinungen dazu, die sich ständig ändern.«
Chalmers erhob sich, um weiterzugehen. Er erhaschte einen scharfen Blick Selims. Dann schlenderte er durch eine Seitenstraße, eine jener schmalen Gassen, die die sieben Hauptboulevards der Stadt verbanden. Die meisten waren mit Kieselsteinen oder Gras bedeckt; aber diese bestand aus grobem gelbem Beton. Er ging langsam an einer zurückgesetzten Einfahrt vorbei und schaute in das Fenster einer geschlossenen Schuhwerkstatt. Sein verzerrtes Spiegelbild erschien in einem Paar großer Stiefel für Außenarbeiten.
Meinungen ändern sich. Ja, viele Leute hatten John Boone unterschätzt – das war selbst Chalmers öfter passiert. Vor seinem geistigen Auge erschien ein Bild von John im Weißen Haus, mit einem von Überzeugung geröteten Gesicht, sein widerspenstiges blondes Haar wild flatternd, die Sonne schien durch die Fenster des Oval Office und beleuchtete ihn, während er mit den Händen gestikulierte und im Raum hin und her schritt, ständig redend. Der Präsident nickte und seine Berater passten auf, Strategien entwerfend, wie sie dieses elektrisierende Charisma nutzen könnten. Oh, in jenen Tagen waren sie beide, Chalmers und Boone, in Hochform gewesen: Frank mit den Ideen und John als der Frontmann, mit einer Energie, die praktisch unaufhaltsam war. Dazu hätte man diesen Zug schon zum Entgleisen bringen müssen.
Selim el-Hayils Spiegelbild erschien zwischen den Stiefeln.
»Ist es wahr?«, fragte er.
»Ist was wahr?«, sagte Frank knapp.
»Ist Boone anti-arabisch?«
»Was glaubst du?«
»War er es, der die Genehmigung zum Bau der Moschee auf Phobos blockiert hat?«
»Er ist ein mächtiger Mann.«
Der junge Saudi verzog das Gesicht. »Der mächtigste Mann auf dem Mars, und er will noch mehr! Er will König sein!« Selim ballte die Faust und schlug damit in die andere Hand. Er war schlanker als die anderen Araber, mit einem schwachen Kinn, und sein schütterer Schnurrbart bedeckte seinen kleinen Mund. Er sah aus wie ein Hase, aber mit scharfen Zähnen.
Frank sagte: »Bald steht die Erneuerung des Vertrags an. Und Boones Koalition umgeht mich.« Er knirschte mit den Zähnen. »Ich kenne ihre Pläne nicht, werde sie aber heute Abend herausfinden. Du kannst dir vorstellen, wie sie aussehen werden. Sicher westliche Tendenzen. Er könnte seine Zustimmung so lange hinausschieben, bis der neue Vertrag garantiert, dass alle neuen Siedlungen nur mit den Unterschriften der ursprünglichen Signatarmächte genehmigt werden.« Selim erschauerte, und Frank fuhr eindringlich fort: »Das ist es, was er will. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass er es bekommt, denn seine neue Koalition macht ihn mächtiger denn je. Das könnte das Ende für die Besiedlung durch Nichtsignatare bedeuten. Ihr wärt damit Gastwissenschaftler. Oder werdet zurückgeschickt.«
Im Fenster sah die Spiegelung von Selims Gesicht wie eine wütende Maske aus. »Battal, battal«, murmelte er. Sehr schlimm, sehr schlimm. Er rang unbewusst die Hände und brummte etwas über den Koran und Camus, Persepolis und den Pfauenthron – Brocken ohne logischen Zusammenhang. Nervöses Gestammel.
Chalmers sagte rau: »Reden bringt nichts. Wenn es so weit ist, spielt nur Handeln eine Rolle.«
Das ließ den jungen Araber verstummen. Schließlich sagte er: »Ich bin mir nicht sicher.«
Frank schüttelte ihn am Arm und sah, wie ein Zittern durch den Mann lief. »Es ist dein Volk, über das wir reden. Es ist dieser Planet, um den es hier geht.«
Selims Mund verschwand unter seinem Schnurrbart. Nach einiger Zeit sagte er: »Das ist wahr.«
Frank erwiderte nichts. Sie blickten gemeinsam in das Fenster, als würden sie die Stiefel betrachten.
Endlich hob Frank die Hand und sagte ruhig: »Ich werde mit Boone reden. Heute Abend. Er reist morgen ab. Ich werde versuchen, zu ihm durchzudringen und ihn zur Vernunft zu bringen. Ich bezweifle, dass das etwas bringt. Das war noch nie der Fall. Aber ich werde es versuchen. Danach … sollten wir uns treffen.«
»Ja.«
»Im Park auf dem südlichsten Weg. Um elf Uhr.«
Selim nickte.
Chalmers durchbohrte ihn mit einem Blick. »Reden bringt nichts«, sagte er und ging fort.
Der nächste Boulevard, den Chalmers erreichte, war voller Menschen, die sich vor zur Straße hin offenen Bars oder Kiosken drängten, wo es Couscous und Bratwurst gab – arabisch und schweizerisch. Das schien eine seltsame Kombination zu sein, passte aber gut zusammen.
Einige Schweizer verteilten Masken aus der Tür eines Apartments. Anscheinend feierten sie dieses Stadtfest als eine Fastnacht oder Mardi Gras, mit Masken, Musik und der Umkehrung der sozialen Ordnung, genau so, wie es in Basel, Zürich oder Luzern in den wilden Februarnächten üblich war … John reihte sich spontan in die Schlange ein. »Um jeden tiefsinnigen Geist wächst immer eine Maske«, sagte er zu zwei jungen Frauen, die vor ihm standen. Sie nickten höflich und nahmen dann ihre Konversation auf Schwyzerdütsch wieder auf, einem gutturalen Dialekt, der nie Schriftsprache geworden war; einem privaten Code, der sogar für Deutsche unverständlich war. Die Schweizer hatten eine noch unzugänglichere Kultur als die Araber. Das ist es, dachte Frank. Sie arbeiteten gut zusammen, weil beide Parteien kulturell so insular sind, dass sie nie einen echten Kontakt herstellten. Er lachte laut, als er eine Maske nahm – ein schwarzes Gesicht, beklebt mit roten Strass-Steinen. Er setzte sie auf.
Eine Reihe maskierter Feiernder schlängelte sich den Boulevard hinunter – betrunken, gelöst, fast außer Kontrolle. An einer Kreuzung öffnete sich die Straße zu einem kleinen Platz, wo ein Springbrunnen vom Sonnenlicht gefärbtes Wasser in die Luft spritzte. Rings um die Fontäne hämmerte eine Blechtrommelband eine Kalypsomelodie. Leute sammelten sich um sie, tanzten oder hüpften im Rhythmus des tiefen Bummbumm der Basstrommel. Hundert Meter über ihnen versorgte eine Entlüftungsöffnung im Zeltgerüst den Platz mit frischer Luft – Luft, die so kalt war, dass kleine Schneeflocken darin schwebten, die im Licht wie Glimmer blitzten. Dann knatterte ein Feuerwerk direkt unter dem Zeltdach los, und zwischen den Schneeflocken fielen bunte Funken zu Boden.
Der Sonnenuntergang machte mehr als jede andere Tageszeit deutlich, dass sie auf einem fremden Planeten standen. Etwas an dem Winkel der Strahlen und der Röte des Lichts war völlig falsch und widersprach den Erwartungen, die im Laufe von Jahrmillionen in das menschliche Savannengehirn eingeprägt worden waren. Dieser Abend lieferte ein besonders krasses und beunruhigendes Beispiel für das Phänomen. Frank ging in diesem Licht zurück zur Stadtmauer. Die Ebene außerhalb der Stadt war mit Steinen übersät, die alle einen langen schwarzen Schatten warfen. Unter dem Betonbogen des südlichen Stadttores hielt er an. Niemand da. Die Tore wurden bei Festen wie diesem verriegelt, um zu verhindern, dass Betrunkene hinausgingen und zu Schaden kamen. Aber Frank hatte den Notfallcode der Feuerwehr-KI. Er vergewisserte sich, dass niemand zusah, gab den Code ein und betrat schnell die Schleuse. Dort legte er Schutzanzug, Stiefel und Helm an und ging erst durch die mittlere, dann durch die äußere Tür. Draußen war es wie immer sehr kalt, und das rhombusförmige Heizelement des Schutzanzugs brannte durch seine Kleidung. Seine Schritte knirschten über Beton und Hartkruste. Loser Sand flog, vom Wind getrieben, nach Osten.
Er schaute sich grimmig um. Überall Steine. Ein Planet, der milliardenfach von Trümmern getroffen worden war. Und die Meteoriten fielen immer noch. Eines Tages würde eine der Städte einen Treffer erhalten. Er wandte sich um und blickte zurück. Nicosia sah wie ein in der Dämmerung leuchtendes Aquarium aus. Es würde keine Vorwarnung geben, alles würde sofort zertrümmert werden: Wände, Fahrzeuge, Bäume, Körper. Die Azteken hatten geglaubt, dass die Welt auf eine von vier Arten enden würde: Erdbeben, Feuer, Überschwemmung oder vom Himmel fallende Jaguare. Hier wird es kein Feuer geben. Auch kein Erdbeben und keine Flut, dachte er. Die Jaguare werden kommen.
In der Dämmerung war der Himmel über Pavonis Mons ein trübes Rosa. Nach Osten hin bergab erstreckte sich die Farm von Nicosia, ein langes flaches Gewächshaus. Von Franks Standort aus konnte man erkennen, dass die Farm größer als die eigentliche Stadt und voller grüner Felder war. Frank ging zu einer ihrer äußeren Schleusentüren und trat ein.
Im Innern der Farm war es heiß, volle dreißig Grad wärmer als in der Stadt und hundertzwanzig Grad wärmer als auf der Oberfläche. Er musste seinen Helm aufbehalten, da die Luft hier auf die Pflanzen abgestimmt war, reich an Kohlendioxid und arm an Sauerstoff. Er blieb bei einer Werkbank stehen und wühlte in Schubladen voller kleiner Werkzeuge und Pestizidpflaster, Handschuhe und Beutel. Er suchte sich drei kleine Pflaster aus und steckte sie in einen Plastikbeutel; dann schob er den Beutel in die Tasche des Anzugs. Die Pflaster waren raffinierte Pestizide, Biosaboteure, die dazu dienen sollten, Pflanzen mit systemeigenem Schutz zu versorgen. Er hatte sich informiert und kannte eine Kombination, die bei Tieren tödlich sein würde …
In die andere Tasche steckte er eine Schere. Schmale Kieswege führten ihn zwischen langen Beeten mit Gerste und Weizen hindurch wieder nach oben, zurück zur Stadt. Er betrat die Schleuse, nahm den Helm ab, zog Anzug und Stiefel aus und verstaute den Inhalt der äußeren Taschen in seiner Jacke. Dann kehrte er in die Stadt zurück.
Am unteren Ende hatten die Araber eine Medina angelegt. Sie glaubten, ein solches Altstadtviertel sei wichtig für die Gesundheit einer Stadt. Die Boulevards wurden enger, und zwischen ihnen lagen Labyrinthe aus gewundenen Gassen, die den Karten von Tunis oder Algier entnommen oder willkürlich geschaffen worden waren. Nirgends konnte man von einem Boulevard zum nächsten sehen, und der Himmel über den Köpfen war nur in schmalen Streifen zwischen den sich einander zuneigenden Häusern sichtbar.
Die meisten Gassen waren jetzt leer, da die Party oben in der Stadt in vollem Gange war. Ein paar Katzen schlichen herum und erkundeten ihre neue Heimat. Frank holte die Schere aus der Tasche und kratzte in einige Plastikfenster »Jude, Jude, Jude, Jude« in arabischer Schrift. Dann ging er pfeifend weiter. Eck-Cafés waren kleine Höhlen voller Licht. Flaschen klirrten wie die Hämmer von Goldsuchern. Ein Araber saß auf einem breiten schwarzen Lautsprecher und spielte auf einer elektrischen Gitarre.
Chalmers erreichte den zentralen Boulevard und ging ihn hinauf. Im Geäst der Linden und Sykomoren riefen sich Teenager Lieder auf Schwyzerdütsch und Englisch zu.
»John Boone / Went to the Moon / No fast cars / He went to Mars!«
Kleine Musikergruppen quetschten sich durch die immer dichter werdende Menge. Einige Männer mit Schnurrbärten, kostümiert wie amerikanische Cheerleader, tanzten geschickt einen komplizierten Cancan. Kinder schlugen kleine Plastiktrommeln. Das Zeltdach dämpfte die Geräusche, deswegen gab es unter den Kuppeln keine Echos, aber laut war es trotzdem.
Weiter oben, wo der Boulevard in den Sykomorenpark führte, stand John, inmitten einer kleinen Menge. Er sah Chalmers herankommen, erkannte ihn trotz der Maske und winkte ihm zu. So gut kannten die Ersten Hundert einander …
»He, Frank«, sagte er. »Du scheinst dich ja gut zu amüsieren.«
»Allerdings«, sagte Frank durch seine Maske. »Ich liebe Städte wie diese, du nicht auch? Eine bunte Mischung an Leuten. Sie zeigt einem, wie viele verschiedene Kulturen inzwischen auf dem Mars versammelt sind.«
John lächelte leicht. Sein Blick glitt über den unter ihnen liegenden Boulevard.
In scharfem Ton fuhr Frank fort: »So eine Stadt ist ein Hindernis für deinen Plan, nicht wahr?«
Boone wandte sich ihm wieder zu. Die Menge ringsum zerstreute sich; sie spürte, dass der Wortwechsel einen scharfen Zug annahm. Boone sagte zu Frank: »Ich habe keinen Plan.«
»Ach ja? In deiner Rede klang das anders.«
Boone zuckte die Achseln. »Die hat Maya geschrieben.«
Eine zweifache Lüge: dass Maya sie geschrieben hatte und dass John nicht an das, was er gesagt hatte, glaubte. Selbst nach all diesen Jahren kam es ihm fast so vor, als spräche er zu einem Fremden. Zu einem Politiker. »Jetzt mal ehrlich, John«, zischte Frank. »Du glaubst das alles doch. Aber was willst du mit den ganzen unterschiedlichen Nationalitäten machen? All dem ethnischen Hass, dem religiösen Fanatismus? Deine Koalition kann all das nicht unterdrücken. Du kannst den Mars nicht für dich allein haben, John. Er ist keine Forschungsstation mehr, und du wirst keinen Vertrag durchsetzen können, der ihn wieder zu einer macht.«
»Das versuchen wir ja auch gar nicht.«
»Warum wolltest du mich dann aus den Gesprächen heraushalten?«
»Das wollte ich nicht!« John machte ein gekränktes Gesicht. »Entspann dich, Frank. Wir werden es zusammen durchstehen, wie immer. Nur die Ruhe!«
Frank starrte seinen alten Freund verwirrt an. Sollte er das glauben? Er hatte nie gewusst, was er von John halten sollte – die Art, wie er Frank als Sprungbrett benutzt hatte, seine Freundlichkeit … Hatten sie nicht als Verbündete begonnen?
Es fiel ihm auf, dass John sich nach Maya umsah. »Wo ist sie denn?«
»Irgendwo hier«, antwortete John knapp.
Es war Jahre her, dass sie über Maya hatten sprechen können. Boone warf ihm einen scharfen Blick zu, als wollte er sagen, dass ihn das nichts angehe, dass alles, was für Boone im Laufe der Jahre wichtig geworden war, Frank gar nichts anginge.
Frank ließ ihn wortlos stehen.
Der Himmel war inzwischen tief violett, mit Streifen aus gelben Zirruswolken. Frank kam an zwei Gestalten vorbei, die Dominos aus Keramik trugen, ein lachendes und ein weinendes Gesicht, Komödie und Tragödie, und mit Handschellen aneinander gefesselt waren. Die Straßen der Stadt waren dunkel geworden. Fenster, hinter denen Partys stattfanden, leuchteten grell. In jeder verschwommenen Maske blitzten große Augen – auf der Suche nach der Quelle der in der Luft liegenden Spannung. Unter dem wie Ebbe und Flut brausenden Rauschen der Menge war ein dumpfer stürmischer Ton.
Er hätte nicht überrascht sein sollen. Er kannte John so gut, wie man einen anderen Menschen überhaupt nur kennen konnte, aber wann war es ihn je etwas angegangen? Er schlüpfte zwischen die Bäume des Parks, unter die handgroßen Blätter der Sykomoren. War es je anders gewesen? Die gemeinsame Zeit, all die Jahre der Freundschaft. Und nichts hatte eine Rolle gespielt. Diplomatie mit anderen Mitteln …
Er sah auf die Uhr. Fast elf. Er hatte sich mit Selim verabredet. Noch eine Verabredung. Sein ganzes Leben bestand aus in Viertelstunden unterteilte Tage, und er war daran gewöhnt, von einem Termin zum nächsten zu hetzen, die Masken zu wechseln, mit einer Krise nach der anderen fertig zu werden, zu managen und zu manipulieren und in nie endender Eile Geschäfte abzuwickeln. Heute war ein Feiertag: Mardi Gras, Fastnacht, aber er hatte Termine. Er kannte kein anderes Leben mehr.
Er kam zu einer Baustelle, einem Magnesiumgerüst, umgeben von Stapeln aus Back- und Pflastersteinen und Sandhaufen. Wie nachlässig von den Arbeitern, das einfach so herumliegen zu lassen. Er steckte einige große Steine, die er gerade noch in der Hand halten konnte, ein. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass ihn jemand von der anderen Straßenseite aus beobachtete – ein kleiner Mann mit schmalem Gesicht unter struppigen schwarzen Dreadlocks. In seinem Blick lag etwas Scharfes, Beunruhigendes. Es war, als ob der Fremde alle seine Masken durchschaute, als kenne er seine Gedanken und Absichten.
Chalmers erschrak und zog sich rasch ins Unterholz im Park zurück. Als er sicher war, den Mann abgehängt zu haben und dass ihn sonst niemand beobachtete, fing er an, Steine in die unter ihm liegende Stadt zu schleudern. Einen für den Fremden, mitten ins Gesicht! Über ihm war das Zeltgerüst nur als ein schwaches Muster verdeckter Sterne zu erahnen. Es sah so aus, als stünden sie direkt im kühlen nächtlichen Wind. Die Luftzirkulation war in dieser Nacht natürlich stark. Zerbrochenes Glas, Rufe. Ein Schrei. Es war wirklich laut. Die Leute flippten aus. Ein letzter Stein, gezielt auf ein großes, erleuchtetes Fenster jenseits des Grases. Er traf nicht. Dann schlüpfte er unter die Bäume.
In der Nähe der Südmauer sah er jemanden unter einer Sykomore – Selim, der nervös herumging. Frank schwitzte, rief aber ruhig: »Selim!« Er griff in seine Brusttasche und fischte vorsichtig die drei Pflaster aus dem Beutel. Synergie konnte so mächtig sein, im Guten wie im Bösen. Er trat vor und nahm den jungen Araber kräftig in den Arm. Die Pflaster blieben kleben und durchtränkten Selims leichtes Baumwollhemd. Frank trat zurück.
Jetzt hatte Selim noch etwa sechs Stunden. Er fragte Frank: »Hast du mit Boone gesprochen?«
»Ich habe es versucht«, erwiderte Chalmers. »Er hat nicht zugehört. Er hat mich belogen.« Es war so leicht, Enttäuschung zu heucheln. »Fünfundzwanzig Jahre Freundschaft, und er hat mich belogen!« Er schlug mit der flachen Hand gegen einen Baumstamm; die Schutzstreifen der Pflaster lösten sich und flogen in die Dunkelheit. Er nahm sich zusammen. »Seine Koalition wird empfehlen, dass nur die Länder, die den ersten Vertrag unterzeichnet haben, Siedlungen auf dem Mars bauen dürfen.« Das war möglich und sogar recht plausibel.
»Er hasst uns!«, schrie Selim auf.
»Er hasst alles, was ihm in die Quere kommt. Und er hat erkannt, dass der Islam im Leben der Gläubigen noch eine echte Macht darstellt. Er formt die Denkweise der Menschen. Das kann Boone nicht ausstehen.«
Selim erschauerte. Im Dunkeln leuchtete das Weiß seiner Augen hell. »Er muss aufgehalten werden!«
Frank drehte sich zur Seite und lehnte sich an einen Baumstamm. »Ich … weiß nicht.«
»Du hast es selbst gesagt. Reden bringt nichts.«
Frank umkreiste den Baum. Er fühlte sich benommen. Du Idiot, dachte er. Reden ist alles. Wir sind nichts als ausgetauschte Informationen. Reden ist alles, was wir können!
Er drehte sich wieder zu Selim um und sagte: »Wie?«
»Der Planet. So müssen wir es machen.«
»Die Stadttore sind heute Nacht verriegelt.« Er hielt inne. Seine Hände verkrampften sich. »Aber das Tor zur Farm ist noch offen.«
»Aber die äußeren Schleusen der Farm werden abgeschlossen sein.«
Frank zuckte mit den Achseln und ließ ihn kurz nachdenken.
Selim zwinkerte und sagte: »Ah!« Dann war er verschwunden.
Frank setzte sich zwischen den Bäumen auf den Boden. Es war ein sandiger feuchter Schmutz, das Ergebnis intensiver Forschung. In dieser Stadt war nichts natürlich – nichts.
Nach einiger Zeit stand er auf und ging durch den Park. Er schaute sich die Leute an. Vor der Oper trafen maskierte Personen aufeinander, rauften und kämpften, umgeben von Zuschauern, die Blut witterten. Frank ging wieder zur Baustelle, um noch mehr Steine zu holen. Er warf sie; aber einige Leute sahen es diesmal. Er musste flüchten. Wieder zwischen die Bäume, in den kleinen Dschungel unter dem Zeltdach, um Raubtieren zu entkommen – durch Adrenalin aufgeputscht, die stärkste aller Drogen. Er lachte ungestüm.
Plötzlich erblickte er Maya, die allein bei der improvisierten Bühne am Scheitelpunkt stand. Sie trug einen weißen Domino, aber er erkannte sie an den Proportionen ihres Körpers, ihrem Haar und der Haltung – eindeutig Maya Toitovna. Die Ersten Hundert, die kleine Gruppe – sie waren für ihn die Einzigen, die wirklich am Leben waren. Alle anderen waren Gespenster. Über unebenen Boden eilte Frank zu ihr. Er umklammerte einen tief in der Jackentasche verborgenen Stein und dachte: Komm schon, du Schlampe! Sag etwas, um ihn zu retten! Sag etwas, das mich dazu bringt, durch die ganze Stadt zu laufen, um ihn zu retten!
Sie hörte ihn kommen und wandte sich um. Auf dem Domino leuchteten metallisch blaue Pailletten. Ihre Augen waren unter der Maske nicht zu erkennen.
»Hallo, Frank!«, sagte sie, als trüge er keine Maske. Er machte beinahe kehrt, um wegzulaufen. Schon das Wiedererkennen genügte fast, ihn so weit zu bringen …
Aber er blieb doch stehen und sagte: »Hallo, Maya. Es war ein schöner Sonnenuntergang, oder?«
»Eindrucksvoll. Die Natur hat es völlig übertrieben. Es war bloß eine Einweihungsfeier für eine Stadt, sah aber aus wie der Tag des Jüngsten Gerichts.«
»Ja.«
Sie standen im Schatten unter einer Straßenlaterne. »Hast du dich amüsiert?«, fragte sie.
»Sehr. Und du?«
»Es wird mir ein bisschen zu wild.«
»Das ist doch verständlich, Maya. Wir sind endlich aus unseren Erdlöchern heraus und auf der Oberfläche! Und was für einer Oberfläche! So einen Ausblick hat man nur auf dem Tharsis-Buckel.«
»Der Ort ist gut gewählt, ja«, stimmte sie zu.
»Es wird eine großartige Stadt werden«, meinte Frank. »Wo wohnst du derzeit, Maya?«
»In Underhill, Frank, wie immer. Das weißt du doch.«
»Aber du bist nie dort. Ich habe dich seit einem Jahr oder länger nicht mehr gesehen.«
»Ist das so lange her? Ich bin in Hellas gewesen. Das hast du sicher gehört.«
»Wer hätte mir das denn erzählen sollen?«
Sie schüttelte den Kopf, die blauen Pailletten glitzerten. »Ach, Frank.« Sie wandte sich ab, als ob sie den Konsequenzen der Frage ausweichen wollte.
Ungehalten trat Frank ihr in den Weg. »Damals auf der Ares.« Seine Stimme klang gepresst, und er räusperte sich, um die Kehle frei zu machen und leichter sprechen zu können. »Was ist passiert, Maya? Was ist nur passiert?«
Sie zuckte die Achseln und vermied es, ihn anzusehen. Längere Zeit sagte sie nichts. Dann blickte sie ihm ins Gesicht und sagte: »Eine Laune des Augenblicks.«
Und dann läutete es Mitternacht, und sie befanden sich im marsianischen Zeitschlupf, jener Lücke von neununddreißigeinhalb Minuten zwischen 24.00.00 und 00.00.01 Uhr, in der alle Uhren stillstanden. Die Ersten Hundert hatten ihn eingeführt, um den etwas längeren Marstag an die gewohnte Vierundzwanzigstundenzählung der Erde anzupassen. Diese Lösung hatte sich erstaunlicherweise gehalten. Jede Nacht scherten sie eine Weile aus den zuckenden Zahlen, dem erbarmungslosen Lauf des Sekundenzeigers aus …
Und als in dieser Nacht die Uhren Mitternacht schlugen, drehte die ganze Stadt durch. Diese fast vierzig Minuten außerhalb der Zeit waren der Höhepunkt der Party, das war jedem instinktiv klar. Feuerwerke wurden gezündet, Leute brüllten vor Freude, Sirenen schnitten durch den Lärm, und das Jubelgeschrei wurde noch lauter. Frank und Maya sahen sich das Feuerwerk an und hörten dem Krach zu.
Doch der veränderte sich plötzlich: verzweifelte Schreie, wütendes Geheul. »Was ist los?«, fragte Maya.
»Ein Kampf«, antwortete Frank und lauschte. »Vielleicht aus einer Laune des Augenblicks heraus.« Sie starrte ihn an, und er fügte rasch hinzu: »Vielleicht sollten wir uns das mal ansehen.«
Das Geschrei wurde lauter. Dort unten herrschte Aufruhr. Sie gingen durch den Park, ihre Schritte wurden immer länger, bis sie in den leichten Hüpfschritt der Marsianer verfallen waren. Der Park schien Frank größer als vorher zu sein, und einen Augenblick lang hatte er Angst.
Der zentrale Boulevard war voller Müll. Leute rannten wie Raubtiere in Rudeln durch die Finsternis. Eine ohrenbetäubende Sirene ging los – der Alarm, der ein Leck im Zelt anzeigte. In beiden Richtungen entlang der Straße splitterten Fenster. Auf dem Rasen lag ein Mann reglos auf dem Rücken. Das Gras um ihn herum war mit dunklen Streifen verschmiert.
Chalmers packte den Arm einer Frau, die sich über den leblosen Körper gebeugt hatte, und brüllte: »Was ist passiert?«
Sie weinte. »Ein Kampf. Sie kämpfen immer noch.«
»Wer? Schweizer, Araber?«
»Fremde«, sagte sie. »Ausländer.« Sie sah Frank tränenblind an. »Holen Sie Hilfe!«
Frank rannte wieder zu Maya, die mit einer Gruppe sprach, die um eine weitere reglose Gestalt herumstand. »Was, zum Teufel, ist hier los?«, fragte er sie, während sie gemeinsam zum Krankenhaus eilten.
»Es ist ein Aufstand. Ich weiß nicht, warum.« Ihr Mund war ein gerader Strich und ihr Gesicht so weiß wie der Domino, der immer noch ihre Augenpartie verhüllte.
Frank riss seine Maske herunter und warf sie weg. Die Straße war voller Glasscherben. Ein Mann rannte auf sie zu. »Frank! Maya!«
Es war Sax Russell. Frank hatte den kleinen Mann noch nie so aufgeregt gesehen. »Es ist John – man hat ihn angegriffen!«
»Was?«, riefen sie gleichzeitig.
»Er versuchte, einen Streit zu schlichten, und drei oder vier Männer haben ihn angesprungen. Sie schlugen ihn nieder und schleppten ihn weg.«
Maya schrie: »Und ihr habt sie nicht aufgehalten?«
»Wir haben es versucht. Einige von uns sind ihnen nach. Aber in der Medina haben wir sie verloren.«
Maya blickte Frank an.
Der rief: »Was geht hier bloß vor? Wohin wollen sie ihn bringen?«
»Zu den Toren«, sagte sie.
»Die sind nachts doch verriegelt.«
»Vielleicht nicht für jeden.«
Sie folgten Maya in die Medina. Straßenlampen waren zerbrochen; unter den Füßen knirschte Glas. Sie fanden einen Feuerwehrmann und rannten zum Türkischen Tor. Er schloss es auf. Dann eilten sie in die Schleuse und legten in Windeseile Schutzanzüge an. Hinaus in die Nacht, die von dem Bathysphärenschimmer der Stadt erhellt war. Sie fingen an zu suchen. Frank schmerzten die Gelenke von der nächtlichen Kälte, und seine Lunge fühlte sich an, als hätte man ihm zwei Eiskugeln in die Brust gestopft, um seinen rapiden Herzschlag abzukühlen.
Draußen war nichts. Wieder rein. Hinüber zur nördlichen Mauer und dem Syrischen Tor. Wieder hinaus unter die Sterne. Nichts.
Es dauerte lange, bis ihnen die Farm einfiel. Inzwischen bestand die Suchmannschaft aus etwa dreißig Personen in Schutzanzügen. Sie rannten durch die Schleuse und gingen die Schneisen zwischen den Feldern ab.
Sie fanden John bei den Rettichen. Seine Jacke war über das Gesicht gezogen, um eine Luftblase für den Notfall zu bilden. Das musste er unbewusst getan haben, denn als sie ihn vorsichtig auf die Seite drehten, sahen sie eine Schwellung hinter seinem Ohr.
Maya sagte mit bitter krächzender Stimme: »Bringt ihn ins Innere! Schnell!«
Vier Leute hoben ihn hoch. Chalmers hielt Johns Kopf, seine Finger berührten die Mayas. Sie stolperten durch das Farmtor in die Stadt zurück. Einer der Schweizer führte sie zum nächsten medizinischen Zentrum, das schon mit verzweifelten Menschen überfüllt war. Sie legten John auf eine freie Bank. Er war bewusstlos, sein Gesicht verkrampft. Frank nahm den Helm ab und machte seinen Rang geltend, als er in die Notaufnahme platzte und die Ärzte und Schwestern anschrie. Die ignorierten ihn, bis eine Ärztin sagte: »Halt den Mund! Ich komme schon.«
Sie und die Schwestern trugen John in einen Raum und schlossen ihn an einen Monitor an. Dann untersuchte die Ärztin ihn mit dem abwesenden Blick, den alle Ärzte bei der Arbeit haben. Abtasten von Hals und Gesicht und Kopf und Brust, Stethoskop …
Maya teilte ihr mit, was sie wussten. Die Ärztin nahm ein Sauerstoffgerät von der Wand und blickte auf den Monitor. Sie hatte den Mund zu einem unzufriedenen kleinen Knoten verzogen. Maya saß mit verstörter Miene am Ende der Bank. Ihr Domino war längst verschwunden.
Frank setzte sich neben sie.
Die Ärztin sagte: »Wir könnten noch weitermachen. Aber ich fürchte, er ist tot. Er war zu lange ohne Sauerstoff.«
»Machen Sie weiter!«, rief Maya.
Natürlich taten sie das. Schließlich kamen weitere Mediziner hinzu, und sie rollten John in die Intensivstation. Frank, Maya, Max, Samantha und einige Einheimische saßen draußen im Flur. Ärzte kamen und gingen. Ihre Gesichter waren leer, in ihnen die Präsenz des Todes. Schutzmasken. Einer kam heraus und sagte: »Er ist tot. Er war zu lange draußen.«
Frank lehnte den Kopf gegen die Wand.
Als Reinhold Messner von der ersten Alleinbesteigung des Everest zurückkehrte, war er stark dehydriert und äußerst erschöpft. Während des letzten Teils des Abstiegs fiel er oft hin und brach schließlich auf dem Rongbuk-Gletscher zusammen, wo ihn die Frau, die seine einzige Hilfsmannschaft darstellte, fand. Und er sah im Delirium zu ihr auf und sagte: »Wo sind alle meine Freunde?«
Es war ruhig. Kein Laut außer dem leichten Summen und Zischen, dem man auf dem Mars nie entkam.
Maya legte Frank die Hand auf die Schulter, und er zuckte fast zurück. Seine Kehle verkrampfte sich. Es tat richtig weh. »Es tut mir leid«, brachte er hervor.
Sie wischte die Bemerkung beiseite und runzelte die Stirn. Sie hatte denselben Gesichtsausdruck wie die Ärzte, als sie sagte: »Du hast ihn doch nie besonders gemocht.«
»Stimmt.« Er dachte, es wäre klüger, in diesem Moment ehrlich zu ihr zu sein. Aber dann erbebte er und sagte bitter: »Was weißt du schon, wen ich mag und wen nicht?«
Er schüttelte ihre Hand ab und stand mühsam auf. Sie wusste nichts. Niemand wusste es. Er wollte in die Intensivstation gehen, überlegte es sich dann doch anders. Dafür war beim Begräbnis genug Zeit. Er fühlte sich leer, und plötzlich kam es ihm so vor, als gäbe es nichts Gutes mehr auf der Welt.
Er verließ das medizinische Zentrum und ging durch die seltsam stille Dunkelheit der Stadt, durch das Land des Schweigens, seinen sentimentalen Gedanken nachhängend. Die Straßen glitzerten, als wären Sterne auf das Pflaster gefallen. Die Menschen standen in Gruppen herum, schweigend, durch die Nachricht betroffen. Frank Chalmers bahnte sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch und fühlte ihre Blicke auf sich ruhen. Ohne nachzudenken, begab er sich zu der Bühne am höchsten Punkt der Stadt. Dabei sagte er sich: Jetzt wird sich zeigen, was ich mit diesem Planeten alles anfangen kann.
ZWEITER TEIL
DIE REISE
»Wenn sie sowieso alle verrückt werden, warum schicken wir dann nicht von vornherein Verrückte und ersparen ihnen so die Mühe?«, fragte Michel Duval.
Er meinte es nur halb im Scherz. Er vertrat die Position, dass die Auswahlkriterien eine verwirrende Kombination aus Doppelbindungen waren.
Seine Kollegen starrten ihn an. »Können Sie irgendwelche spezifischen Verbesserungen vorschlagen?«, fragte der Vorsitzende der versammelten Psychiater, Charles York.
»Vielleicht sollten wir alle mit ihnen in die Antarktis fahren und sie gemeinsam in dieser ersten Periode beobachten. Das würde uns eine Menge aufzeigen.«
»Aber unsere Anwesenheit würde sie hemmen. Ich denke, dass nur einer von uns gehen sollte.«
Also schickten sie Michel Duval. Er traf die hundertfünfzig Finalisten in der McMurdo-Station. Am Anfang ähnelte das Treffen jeder x-beliebigen internationalen wissenschaftlichen Konferenz. Aber es gab einen gewaltigen Unterschied: Dies war die Fortsetzung eines Auswahlprozesses, der bereits Jahre gedauert hatte und noch ein weiteres Jahr dauern würde. Und diejenigen, die am Ende übrig blieben, würden zum Mars fliegen.
Also lebten sie über ein Jahr in der Antarktis zusammen. Sie machten sich mit den Habitaten und Geräten vertraut, die bereits in Robotschiffen auf dem Mars landeten, und mit einer Landschaft, die fast so kalt und rau war wie der Mars selbst. Sie lernten einander kennen. Sie lebten in Wright Valley, dem größten der Trockentäler der Antarktis, betrieben eine Biosphärenfarm und verbrachten in den Unterkünften einen dunklen südpolaren Winter. Sie bildeten sich in zweiten oder dritten Fachgebieten weiter und simulierten unablässig die unterschiedlichen Aufgaben, die sie auf dem Raumschiff Ares und später auf dem Roten Planeten selbst würden erledigen müssen – immer in dem Bewusstsein, dass man sie beobachtete, bewertete und beurteilte.
Nicht alle waren Astronauten oder Kosmonauten, obwohl es etwa je ein Dutzend davon gab. Aber die Mehrzahl der Kolonisten mussten, so gerne sie auch Astronauten werden wollten, Experten auf Gebieten sein, die erst nach der Landung ins Spiel kamen: Medizin, Computertechnik, Systementwicklung, Robotik, Architektur, Areologie, Biosphärenplanung, Gentechnik und Biologie, dazu alle Arten von Ingenieuren und Konstrukteuren. Diejenigen, die es bis in die Antarktis geschafft hatten, bildeten eine beeindruckende Gruppe von Experten in den relevanten Wissenschaften und Berufen, und sie verbrachten einen guten Teil ihrer Zeit damit, sich gegenseitig etwas beizubringen, um ihr Wissen auf sekundären und tertiären Gebieten zu vertiefen.
Und all das spielte sich unter dem ständigen Druck von Beobachtung, Bewertung und Beurteilung ab. Dieser Teil des Testes setzte sie natürlich unter Stress. Michel Duval wusste, dass das schlecht war, da es zu Zurückhaltung und Misstrauen bei den Kolonisten führte und das hohe Maß an Verträglichkeit, das das Auswahlkomitee suchte, nicht gewährleistete. Das war eine der vielen Doppelbindungen. Die Kandidaten ihrerseits schwiegen über diesen Aspekt, und er machte ihnen daraus keinen Vorwurf. Diese Doppelbindung war die beste Strategie, denn sie sicherte Ruhe und Frieden. Keiner konnte es wagen, einen anderen zu beleidigen oder sich zu laut zu beschweren. Sie konnten es auch nicht riskieren, sich zu sehr zurückzuziehen oder sich Feinde zu machen.
Also gaben sie sich brillant genug, um hervorzustechen, und normal genug, um mit dem Feld mitzuhalten. Sie waren alt genug, um eine Menge gelernt zu haben, aber noch jung genug, um der physischen Härte der Arbeit auf dem Mars gewachsen zu sein. Sie waren hinreichend motiviert, sich auszuzeichnen, aber ausreichend entspannt, um gesellig zu sein. Und sie waren verrückt genug, um die Erde für immer verlassen zu wollen, aber vernünftig genug, um diese fundamentale Verrücktheit zu verbergen und sie in der Tat als reine Rationalität und wissenschaftliche Neugier zu tarnen, was der einzig akzeptable Grund für diesen Wunsch zu sein schien. Deshalb behaupteten sie, die neugierigsten Wissenschaftler aller Zeiten zu sein. Das war aber noch nicht alles. Sie mussten entfremdet und einsam genug sein, dass es ihnen nichts ausmachte, jeden, den sie je gekannt hatten, für immer hinter sich zu lassen – und dennoch sozial genug, um mit all ihren neuen Bekannten in Wright Valley gut auszukommen, mit jedem einzelnen Mitglied dieses kleinen Dorfes, das die erste Kolonie bilden würde. Oh, es gab unendlich viele Doppelbindungen! Sie mussten gleichzeitig außergewöhnlich und völlig durchschnittlich sein. Unmöglich. Aber genau die Aufgabe, die zwischen ihnen und ihrem größten Herzenswunsch stand und deswegen Besorgnis, Furcht, Groll und Wut auslöste. Mit diesen ganzen Belastungen fertigwerden zu müssen …
Aber auch das war ein Teil der Prüfung. Michel beobachtete sie mit großem Interesse. Manche versagten, scheiterten auf die eine oder andere Weise. Ein amerikanischer Thermalingenieur wurde zunehmend introvertiert, zerstörte dann einige der Rover und musste mit Gewalt in Gewahrsam genommen und entfernt werden. Ein russisches Paar verliebte sich ineinander und trennte sich dann mit einem so heftigen Streit, dass sie sich nicht mehr zusammen im gleichen Raum aufhalten konnten und beide ausschieden. Dieses Melodram illustrierte die Gefahren einer Romanze und machte alle anderen in dieser Hinsicht sehr vorsichtig. Es entwickelten sich immer noch Beziehungen, und als sie die Antarktis verließen, hatte es drei Hochzeiten gegeben. Diese glücklichen sechs konnten sich sozusagen ihrer Sache »sicher« sein. Aber die meisten waren so darauf versessen, zum Mars zu fliegen, dass sie diesen Teil ihres Lebens auf Eis legten und höchstens diskrete sexuelle Partnerschaften eingingen, die in manchen Fällen jedermann verborgen blieben, in anderen nur vor dem Auswahlkomitee geheim gehalten wurden.
ENDE DER LESEPROBE