Rotröcke - Bernard Cornwell - E-Book

Rotröcke E-Book

Bernard Cornwell

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Beschreibung

Untertanen und Rebellen. Philadelphia ist im Jahr 1777 eine Stadt im Krieg – nicht nur zwischen amerikanischen und britischen Truppen, sondern auch mit sich selbst. Als die Stadt von den Briten erobert wird, fängt der wahre Kampf erst an. Der junge britische Rekrut Sam Gilpin hat seinen Bruder sterben sehen. Nun muss er sich zwischen dem Eid auf einen fernen König und seinem Gewissen entscheiden. Auch im Hause der wohlhabenden Beckets stehen sich Freunde der Freiheit und treue Untertanen erbittert gegenüber. Bald wird an einem Ort namens Valley Forge Geschichte geschrieben werden, zwischen Eis und Blut, und ein Land entstehen: Amerika. Ein großer Roman von Bernard Cornwell: über Krieg und Frieden, Freund und Feind, Feigheit und Heldentum.

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Seitenzahl: 774

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Bernard Cornwell

Rotröcke

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Marcel Bieger

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Untertanen und Rebellen.

Philadelphia ist im Jahr 1777 eine Stadt im Krieg – nicht nur zwischen amerikanischen und britischen Truppen, sondern auch mit sich selbst. Als die Stadt von den Briten erobert wird, fängt der wahre Kampf erst an. Der junge britische Rekrut Sam Gilpin hat seinen Bruder sterben sehen. Nun muss er sich zwischen dem Eid auf einen fernen König und seinem Gewissen entscheiden. Auch im Hause der wohlhabenden Beckets stehen sich Freunde der Freiheit und treue Untertanen erbittert gegenüber. Bald wird an einem Ort namens Valley Forge Geschichte geschrieben werden, zwischen Eis und Blut, und ein Land entstehen: Amerika.

 

Ein großer Roman von Bernard Cornwell: über Krieg und Frieden, Freund und Feind, Feigheit und Heldentum.

Über Bernard Cornwell

Bernard Cornwell, geboren 1944, machte nach dem Studium Karriere bei der BBC. Nach Übersiedlung in die USA entschloss er sich, einem langgehegten Wunsch nachzugehen, dem Schreiben. Im englischen Sprachraum gilt er als unangefochtener König des historischen Abenteuerromans. Bernard Cornwells Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt, die Gesamtauflage liegt bei mehr als 20 Millionen Exemplaren.

Lassen Sie uns nun, falls Sie nichts dagegen haben, die Frage von einer anderen Seite betrachten. Angenommen, wir rebellieren tatsächlich gegen Großbritannien, erklären uns für unabhängig und gründen unsere eigene Republik … Was würde das für Folgen haben? Ich muss gestehen, die Vorstellung ruft Entsetzen in mir hervor, und mein Blut gefriert, wenn ich an all das Unheil und die teuflischen Verwicklungen denke, die unweigerlich daraus erwachsen werden.

 

Reverend Charles Inglis

Philadelphia 1776

Teil eins

Eins

Die Bloodybacks schlichen durch die warme Dunkelheit zum Töten.

Ein verborgener Mond tauchte die Ränder der schwarzen Wolken in ein silbernes Licht, das die zerrissenen Spitzen der Kiefern am westlichen Horizont scharf hervortreten ließ. Am östlichen Himmel zeigte sich keine einzige Wolke, ein dunkler Schlund, der mit klaren und hellen Sternen übersät war. Die Wege unter den Bäumen lagen in vollkommener Dunkelheit. Aus den langen Reihen der marschierenden Männern klang der eine oder andere gemurmelte Fluch auf.

Die Sonne würde bald aufgehen und einen neuen dampfenden Tag voller atemberaubender Hitze ankündigen. Selbst jetzt, in den frühen Morgenstunden, herrschte eine bedrückende, aufdringliche Schwüle, die die Männer in ihren dicken Wolluniformen zum Schwitzen brachte. Rote Uniformen. Die Männer waren Soldaten. Sechs Kompanien englischer Rotröcke folgten ihren Offizieren durch einen bewaldeten Hohlweg zu einer Taverne und einer Kreuzung, zum Feind.

Ein Bach plätscherte im Süden, und der Wind rauschte leise durch die Baumäste, während die nächtlichen Insektenschwärme alle Geräusche übertönten, die von den genagelten Stiefeln auf den trockenen, abgefallenen Nadeln hervorgerufen wurden. Ein geflüsterter Befehl wurde von Mann zu Mann weitergegeben. Die Soldaten blieben stehen und gingen in die Hocke.

Die Hände des Gefreiten Sam Gilpin klebten von getrocknetem Schweiß. Seine Haut prickelte von der Schwüle. Irgendwo wieherte ein Pferd.

Es musste ein feindliches Ross sein, denn die Rotröcke, auch ihre Offiziere, waren zu Fuß unterwegs, sogar der General. Das Wiehern verriet Sam, dass der Feind nicht weit sein konnte, wahrscheinlich ganz in der Nähe. Trotz der warmen Witterung fröstelte der Gefreite.

Seine Muskete würde nicht feuern. Kein Gewehr, das die Rotröcke mitführten, würde schießen, denn die Soldaten hatten den Befehl erhalten, den Flintstein von ihren Zündschlössern abzuschrauben. Ohne Flintstein entstand kein Funke, der das Pulver entzünden konnte, und damit fehlte die Kraft, die die Kugel aus dem Lauf trieb. Dieser Befehl war erlassen worden, damit kein Soldat, der im Dunkeln stolperte, dabei versehentlich einen Schuss abgab und so den Feind vorzeitig warnte.

Die Rotröcke waren in der warmen Finsternis und in Stille gekommen, und jetzt war der Feind nah.

«Auf, Marsch!» Wieder ein geflüsterter Befehl. Sams Kompanie wurde vom Pfad unter die Schwärze der Bäume geführt. Alle bemühten sich, leise zu laufen, und doch knackten kleine Zweige und raschelten Kiefernnadeln. Und einmal knallte der messingbesetzte Kolben einer Muskete laut gegen einen Baumstamm.

Das Geräusch ließ die Männer erstarren, aber kein warnender Ruf ertönte von den feindlichen Linien. Sam fragte sich, ob die anderen dort wach und bereit auf der Lauer lagen. Waren die Musketen der Feinde geladen, waren die Hähne gespannt, um vorzuschnellen und Feuer, Rauch und Tod zwischen die Bäume zu tragen? Sams Herz klopfte schneller von der Furcht, die jeder Soldat davor empfindet, getötet zu werden. Schweißtropfen brannten in seinen Augen. Das Atmen fiel ihm in dieser harzhaltigen Luft schwer. Die Kompanie setzte sich wieder in Bewegung. Sam entdeckte zu seiner Linken ein verwischtes rotes Glühen und wusste, dass sich dort das Lager des Feindes befinden musste.

«Runter!»

Sam blieb stehen und duckte sich. Das rote Glühen stammte von einem niedergebrannten Lagerfeuer. Nun konnte er auch weitere Feuer erblicken, die nur noch schwach glommen. Das Glühen der Holzkohle zeigte die dunklen Silhouetten von Gebäuden. Wieder wieherte ein Pferd. Der Gefreite machte zwischen den Feuern keine Bewegung aus.

«Bajonette aufpflanzen!» Ein rauer, geflüsterter Befehl.

Sam zog das Seitengewehr aus der Scheide. Er hatte in der Abenddämmerung die Schneide gewetzt und die Spitze geschärft. Er schob jetzt den Ring des Bajonetts über die Mündung seiner Muskete und drehte es, bis es fest saß. Die Schmiere, mit der er das Seitengewehr eingerieben hatte, um es rostfrei zu halten, vermischte sich mit dem klebrigen Schweiß auf seinen Händen. Rings um sich herum hörte er das Schaben und Klicken, während seine Kameraden ihre Bajonette aufpflanzten. Es schien unmöglich zu sein, dass der Feind nichts davon mitbekam. Und dennoch erscholl weder ein Ruf, noch wurde ein Gewehr abgefeuert. Sam holte eine Lederschnur aus seiner Munitionstasche. Er band je ein Ende um den Bajonettgriff und den Karabinerhaken am Lauf. Nun würde kein Gegner das Seitengewehr von der Muskete reißen können, und das Bajonett würde auch nicht im Leib des Feindes stecken bleiben, wenn Sam es nach erfolgreichem Stechen wieder herausziehen wollte.

Natürlich hatte Sam Angst, aber gleichzeitig war in ihm auch Erregung. Er fürchtete sich davor, seine Kameraden im Stich zu lassen, von Captain Kelly getadelt zu werden und sich von Sergeant Scammell anbrüllen zu lassen. Aber in ihm brannte auch der Stolz eines jungen Mannes. Sie waren die Bloodybacks, die rotröckigen Soldaten des Königs, die Könige der Burg, die Hähne auf dem Misthaufen, und in wenigen Momenten würde man sie wie blutdürstige Jagdhunde von der Leine lassen, damit sie die Feinde des Königs zerreißen und vernichten sollten.

Schritte ertönten zu seiner Rechten, und Sam machte die dunkle und große Gestalt von Sergeant Scammell aus, der die Kompanie abschritt. «Ihr seid nicht hier, um mit diesen Hundsfotten zu tanzen, sondern um sie zu töten! Habt ihr mich verstanden?» Scammell hatte nur geflüstert, aber dennoch war seine Stimme furchteinflößend und wurde auch noch vom letzten Mann verstanden. Die wenigsten in der Kompanie mochten den Sergeant, aber selbst die, die ihn aus tiefstem Herzen hassten, waren froh, dass er in dieser Nacht bei ihnen war, denn im Getümmel einer Schlacht bewies Scammell stets eine unglaubliche Standfestigkeit und Effizienz. Die glimmenden Reste der feindlichen Lagerfeuer warfen einen dumpfen roten Schein auf das vierzig Zentimeter lange Bajonett des Sergeants.

Sam fuhr mit den Fingerspitzen über sein eingeschmiertes Seitengewehr. Es wies drei Seiten auf und war mit Rinnen versehen, damit das Blut abfließen konnte und der Stahl nicht im Fleisch des Feindes stecken blieb. Diese Waffe war weniger zum Schneiden als vielmehr zum Stechen geeignet. «Zielt auf ihre Bäuche oder Hälse», mahnte Scammell. «Kitzelt sie nicht damit, sondern bringt sie um!»

Captain Kelly und Fähnrich Trumbull hatten bereits ihre Säbel gezogen. Zwei weitere Offiziere standen am Waldrand und beobachteten das Lager des Feindes. Kelly war groß und ruhig, und die Männer liebten ihn. Trumbull war dreizehn, ein Schuljunge, den man in die Uniform gesteckt hatte, und die meisten Männer verachteten ihn. Sam sah, wie die Säbelspitze des Fähnrichs zitterte. Der Junge musste ziemlich nervös sein.

Sams Zwillingsbruder machte ebenfalls einen unruhigen Eindruck. «Bleibst du in meiner Nähe, Sam?», fragte Nate leise.

«Ja, ich bleibe bei dir», versicherte Sam ihm, so wie er Nate immer Mut zusprechen musste. In England waren die Brüder manchmal in Nächten wie diesen in das Gehege des Squire geschlichen. Während Sam solche Abenteuer genossen hatte, hatte Nate sich immerzu nur vor den Fallen und den Jagdhütern gefürchtet. Sam war stets der Anführer gewesen, und Nate war ihm gefolgt. Doch in dieser Nacht war ihre Beute weit tödlicher als das Rotwild des Squire.

Sam blickte auf die ersterbenden Feuer. Vielleicht brannte im Haus seiner Eltern im heimischen England gerade auch das Feuer im Herd nieder und wartete auf den Beginn des neuen Tages. Captain Kelly hatte Sam zwar einmal erklärt, dass in England die Sonne früher aufging als hier, aber irgendwie konnte Sam sich das nicht so recht vorstellen. So glaubte er, dass die Hähne seiner Mutter in diesem Moment ihr Gefieder schüttelten, um mit ihrem Krähen die Welt zu wecken. Und die Hunde seines Vaters zuckten neben dem Herd im Schlaf. Dann fragte er sich, was die jungen Frauen im Dorf wohl sagen würden, wenn sie Sam Gilpin jetzt sehen könnten, wie er mit schmutzigem Gesicht und einem Gewehr in der Hand auf den Befehl wartete, die Feinde des Königs anzugreifen. Der Gedanke an sie überdeckte seine Nervosität und brachte ihn zum Lächeln.

«Ich wünschte, es ginge endlich los», murmelte Nate neben ihm.

Ein grauer Streifen tauchte am Rand des Nachthimmels auf und schwächte die Helligkeit der Sterne im Osten ab. Das erste Büchsenlicht. Das Land lag noch unter völliger Finsternis. Das Pferd wieherte zum dritten Mal. Sam hörte, wie es mit den Hufen auf den harten Boden stampfte. Er strengte die Augen an und erkannte rund um die Feuer die zusammengerollten Gestalten von Schlafenden. Die unvermeidlichen Ängste, die durch das lange Warten genährt wurden, machten ihn unruhig. Hatten die Feinde denn keine Wachtposten aufgestellt? Sie mussten doch Männer am Waldrand stehen haben. Vielleicht wollten sie die Rotröcke in einen Hinterhalt locken? Vielleicht hatten sie in den Schatten der Häuser Kanonen aufgestellt, und im nächsten Moment würden ihre großen Mündungen Feuer spucken und Schrapnelle in die Angreifer jagen, die ihnen die Leiber zerrissen.

Sam leckte sich über die trockenen Lippen und dachte weiter über das Schreckliche nach, das bald aufblitzen würde. Captain Kelly hatte vor dem Abmarsch erklärt, sie würden auf die Nachhut des Feindes treffen, die zurückgeblieben war, um den Vormarsch der Briten zu stören. Die sechs Kompanien Rotröcke seien auf dem Weg, die Nachhut aufzureiben, aber nicht mit Feuer und Kugeln, sondern allein mit Bajonetten. Sam befürchtete nun, dass sie stattdessen wie Schafe zur Schlachtbank unterwegs waren.

«Auf, auf!» Als der Befehl endlich kam, wurde er nur leise ausgegeben. Sam hatte mit so etwas wie einem kräftigen Trompetenstoß und dem Entrollen großer seidener Fahnen gerechnet, mit dem ganzen Beiwerk des Ruhms, mit dem Soldaten in den Tod geführt wurden.

«Bewegt euch!», zischte Scammell. Die Offiziere waren bereits aus dem Wald herausgetreten und liefen durch das schwache Mondlicht, das durch die zerfaserten Ränder der Wolken drang. Sam marschierte los. Zu seiner Linken sah er, wie die Reihen der Rotröcke wie Geister vor den Bäumen auftauchten. Die roten Uniformjacken wirkten in der Dunkelheit schwarz. Nur die weißen Hosen und Gurte schimmerten hell, doch nicht so wie die langen Seitengewehre, die in der Nacht glitzerten.

Sie bewegten sich über Grasland, ein buckliges und unebenes Gelände. Die Soldaten rückten in drei Reihen vor, bildeten jedoch keine schnurgeraden Linien, weil sie viel zu begierig darauf waren, über die schlafenden Feinde herzufallen. Nur wusste noch niemand, ob der Gegner wirklich schlief. Sam marschierte in der ersten Reihe und hielt nach dem Aufblitzen eines Zündstocks Ausschau, mit dem eine geladene Kanone abgefeuert würde.

Ein Hund nahm die Witterung der ungewaschenen Fremden auf und fing an zu bellen. Eine der zusammengesunkenen Gestalten an einem Feuer regte sich und richtete sich auf. Die mit Metallspitzen bewehrten Reihen rückten vor. Die Stiefel der Soldaten stampften schwer im Gras. Der Atem der Männer ging rau.

Der Hund kläffte wie verrückt. Er weckte damit einen anderen Hund, der anfing, den Mond anzuheulen. Die Offiziere verwünschten den Wind, den sie im Rücken hatten. «Zum Angriff! Zum Angriff!» Diesmal wurde der Befehl gebrüllt und hörte sich an wie das Heulen eines Dämons.

Nun wurden die Hunde von der Kette gelassen. Die Männer brüllten, und ihre Nerven, die vorher so angespannt gewesen waren, trieben sie voran. Sams Ängste vergingen und wurden von der Lust auf Gefahr ersetzt. Keine feindliche Kanone blitzte auf und schickte Tod und Verderben in ihre Reihen. Keine Musketen wurden abgefeuert. Die Wachtposten des Gegners schliefen tief und fest, und der Überraschungsangriff der Rotröcke gelang.

Die ersten Feinde starben im Schlaf.

Andere erwachten und sahen zu ihrem Entsetzen Bajonettspitzen über sich aufblitzen. Die Seitengewehre fuhren hinab. Als Sam das erste Feuer erreichte, zielte er mit der Metallspitze gegen die weiße Fläche des Halses eines Schlafenden. Er stieß sie hinein, und die Klinge drang sauber durch das weiche Gewebe bis in die Erde darunter. Blut spritzte zu Sam hoch und verfärbte die weiße Haut im Gesicht des Liegenden. Mehr Blut, das wie eine Fontäne aus einer getroffenen Arterie drang, fiel zischend ins glimmende Feuer.

Rotröcke stürmten an Sam vorbei und hielten die Bajonette vor sich. Feinde versuchten, sich aus ihren Decken zu befreien, doch es war zu spät für sie. Sie starben mit Stahl im Bauch, zwischen den Rippen oder im Hals. Die Briten fluchten über das erwachende Lager, und aus ihren Mündern drang das Grunzen und Knurren der Anstrengung, das nur vom Krachen des Stahls unterbrochen wurde, der durch Fleisch und Knochen drang.

Sam drehte die Bajonettspitze, um sie aus dem Boden ziehen zu können. Der Oberkörper seines Feindes bäumte sich auf, als er das Seitengewehr aus dem Hals reißen wollte. Er musste dem Sterbenden einen Stiefel auf die Brust stellen, um den Stahl freizubekommen.

Sam fand sich in der letzten Reihe wieder. Seine Kampfeslust war erwacht, und er eilte nach vorn an die Front des Scharmützels. Im Augenblick war es ihm egal, wo sein Zwillingsbruder geblieben war. Er entdeckte zwei Gegner, die zu einem Musketengestell unterwegs waren. Er bekam einen von ihnen zu fassen, brachte ihn zu Fall, trat ihm ins Gesicht und stieß ihm dann das Bajonett ins Kreuz. Der Mann brüllte und versuchte, das Seitengewehr zu fassen, dessen Spitze sich in seinen Nieren drehte. Der Sterbende heulte wie ein Hund den Mond an, dann brach er zusammen. Sein Stöhnen ging im Geschrei der Getroffenen und dem Triumphgeheul der Rotröcke unter.

Sergeant Scammell brüllte ausnahmsweise nicht, sondern tötete mit seiner gewohnten Effizienz. Captain Kellys Degen war bis zum Griff blutrot gefärbt. Fähnrich Trumbull kreischte wie ein Mädchen, fuchtelte mit seinem Säbel durch die Luft und schrie Befehle, die niemand beachtete.

Links von Sam blitzten Musketen auf.

«Ganze Kompanie marsch!» Captain Kelly sprach laut, aber mit unfassbarer Ruhe. «Linksschwenk. Kompanie rückt in Zweierreihe vor! Auf, Männer!»

Die Hälfte der Kompanie folgte ihm. Der Rest war gerade zu sehr mit dem Töten beschäftigt.

«Angriff!» Sam sah, wie der Trupp Feinde vor dem Wald der Bajonette auseinanderspritzte. Ein Gegner, vermutlich ein Offizier, denn er hielt einen Säbel in der Hand, brüllte seinen Männern zu, sie sollten stehen bleiben. Dann griff er ganz allein die Rotröcke an. Seine Klinge prallte gegen einen parierenden Musketenlauf, bevor das Seitengewehr des Sergeants in seine Rippen eindrang. Der Offizier keuchte und stöhnte. Zwei weitere Bajonette gaben ihm endgültig den Rest. Das, was von der gegnerischen Nachhut übrig geblieben war, ließ alles stehen und liegen und floh in den Wald. Ein Versprengter, dessen weißes Hemd in der Nacht hell leuchtete, warf sich auf ein ungesatteltes Pferd und galoppierte davon.

Das Töten endete so rasch, wie es begonnen hatte. Ein Moment des Triumphes und der Metzelei, dann brachten die Schreie der Offiziere und Sergeants die Totschläger zur Räson. Sam fand sich inmitten von grinsenden, fremden Rotröcken wieder. Die Leichten Kompanien von sechs verschiedenen Regimentern waren zu dieser Schlacht ausgezogen, und fast jedes aufgepflanzte Bajonett war rot gefärbt. Ein Highlander, dessen Hochländermütze mit dem karierten Band blutbespritzt war, tötete einen Verwundeten mit einer raschen, kurzen Bewegung seines Messers. Dann hockte er sich vor den Leichnam und durchsuchte dessen Taschen nach Geld und Nahrungsmitteln.

Wachen wurden aufgestellt. Die Männer zogen die Flintsteine aus den Taschen und schraubten sie an die Zündschlösser. Eine Handvoll Männer, die man in der Taverne aufgegriffen hatte, wurden als Gefangene nach draußen auf das Feld getrieben. Die Rotröcke lachten laut aus Erleichterung und Freude darüber, mit dem Leben davongekommen zu sein.

Die Dämmerung kroch über das Land, und ihr graues Licht zeigte das Feld, auf dem unzählige Leichen ruhten, deren Blutströme sich miteinander vermischten. Ein Hund lief zwischen den Toten herum und leckte an ihren Wunden. Die Gefangenen, die ohne Jacken in Hemd und Hose dastanden, starrten voller Entsetzen auf ihre verblutenden Kameraden, die verzerrt im grau gefärbten Gras lagen. Ein Gefangener übergab sich. Einige fingen leise an zu weinen. Andere bemühten sich, ihre Gefangenschaft mit bitterstolzer Miene zu ertragen.

Auf der Lichtung vor der Taverne wimmelte es plötzlich von Fliegenschwärmen, die vom Blutgeruch angelockt worden waren. Einer der tödlich getroffenen Feinde war in eins der glimmenden Feuer gefallen. Sein Haar und die Haut darunter waren weggebrannt. Nur der geschwärzte Schädelknochen war dort noch zu sehen. Ein Rotrock zog einem Unglücklichen gerade seine so gut wie neue Leinenhose aus.

Nate fand Sam. Nates Bajonett war unbefleckt. «Wie beim Saustechen», bemerkte er mit der ihm eigenen Naivität.

Sam schärfte gerade mit einem Wetzstein die Spitze seines Seitengewehrs. Sein Blick fiel auf Nates unbenutztes Bajonett. «Es überrascht mich, dass du nicht mit den anderen Rebellen davongelaufen bist.»

«Nein, ganz allein mache ich mich nicht an die Verfolgung.» Nate hockte sich neben seinen Bruder und rieb sein Seitengewehr einige Male durch eine blutbespritzte Stelle im Gras, damit es so aussehen solle, als habe er ebenso tapfer wie seine Kameraden gekämpft. Er hielt dabei ängstlich nach Sergeant Scammell Ausschau, doch der hielt sich am anderen Ende des Felds auf. «Aber eines Tages haue ich ab», erklärte Nate trotzig.

Sam nickte in Richtung der Toten. «Dann endest du so wie sie.»

«Wir alle enden früher oder später wie sie», entgegnete der Bruder und starrte auf sein verklebtes Bajonett, «wenn wir nicht vorher abhauen.»

Die Hitze stieg bereits merklich an. Es würde wieder einer dieser unmenschlichen schwülen Tage werden. Wenn man die Leichen nicht bald begrub, würden sie anfangen, furchtbar zu stinken. Doch zuerst mussten die Taschen der toten Feinde geplündert werden. Man zog den Gefallenen die Kleider aus, durchsuchte sie nach Geld und brach ihnen die Zähne heraus, um sie für gutes Geld denen zu verkaufen, die daraus Gebisse anfertigten. Die meisten Rotröcke saßen jetzt herum und nahmen das karge Frühstück ein: trockenes Brot und gepökeltes Rindfleisch.

Der Fähnrich erschien in der Tür der Taverne und schwenkte eine Trophäe durch die Luft. Eine Fahne des Feindes. Eine der neuen Fahnen, so genannte Sternenbanner. Trumbull schwenkte das Stück über seinem Kopf. Nate warf einen verächtlichen Blick auf den Offiziersanwärter. «Was für ein Pisser», murmelte er grimmig.

«Du bist selbst ein Pisser, wenn du davonläufst», erklärte Sam streng, doch nicht ohne Liebe für seinen Zwillingsbruder. «Sie schnappen dich ja doch. Wenn du Glück hast, erhältst du nur Stockhiebe.» Er zeigte mit der Spitze seines gereinigten und geschärften Bajonetts auf Nate. «Aber viel eher werden sie dich füsilieren.»

«Mich kriegt keiner.»

Sam trank den letzten Schluck des lauwarmen, brackigen Wassers aus seiner Feldflasche. Er fing an, die Toten zu zählen, gab aber bei hundert auf. Kein einziger Rotrock war gefallen. Das Summen der Fliegen wurde unerträglich. Die ersten Offiziere aus dem Stab ritten heran, um sich das Gemetzel anzusehen, das das ganze Feld vor der Taverne aufgewühlt hatte, und amüsierten sich königlich über den Anblick.

Einer der Offiziere riss Fähnrich Trumbull die Fahne aus der Hand, drehte sein Pferd und ritt mit dem Beutestück zu seinen Kameraden. Er kam dabei an Sam vorbei. Die Sonne stieg gerade über den Horizont und verbreitete ihren grellen Schein. Ein Lichtstrahl traf die Fahne, die daraufhin den Eindruck machte, sie stehe in Flammen. Sam zuckte von dem Glühen der dicken roten und weißen Streifen zurück. In der linken oberen Ecke befand sich ein blaues Viereck mit einem Kreis aus dreizehn weißen Sternen. Dann war der Offizier an ihm vorüber, und Sam zwinkerte, um seine Augen von dem Flimmern zu befreien, das die bestrahlte Fahne in ihnen hervorgerufen hatte.

Die Bloodbacks waren in der Nacht gekommen und hatten den schlafenden Yankees ihren Stahl zu schmecken gegeben. Jetzt, am Morgen, lag Sam Gilpin, Gefreiter bei den Rotröcken, im Gras und schlief.

Zwei

In den frühen Morgenstunden des 19. September 1777, einem Freitag, erwachte Jonathon Becket mit dem schrecklichen Bewusstsein, dass das Ende der Welt bevorstand.

Ein verzeihlicher Irrtum, wenn man bedachte, dass Reverend MacTeague am vergangenen Sonntag in seiner Predigt von der Wiederkehr des Herrn gesprochen hatte. Als dann die Lichter plötzlich in den Straßen aufgeflammt waren und lautes Geschrei die Schlafenden in den Betten geweckt hatte, gab es mehr als nur einen Bewohner Philadelphias, der wie Jonathon glaubte, die strahlende Millionenschar der Engel des Herrn sei erschienen, um die Sünde vom Antlitz der Erde zu tilgen.

Trompeten ertönten, und Hufe klapperten durch die langen und geraden Hauptstraßen der Stadt. Die Bürgersleute hantierten schlaftrunken mit Zunder und Feuerstein herum, um Licht zu machen, bevor sie bemerkten, dass schon die erste Stunde des Tages graute, auch wenn draußen ein Getöse herrschte, als sei die Apokalypse angebrochen. Kinder heulten, und Flammen warfen flackernde Muster auf die Häuserfronten. Fensterläden wurden aufgestoßen. Bürger streckten ihre Köpfe heraus und riefen, was denn geschehen sei.

Eine Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Philadelphia wurde nicht vom Weltuntergang bedroht, sondern von britischen Truppen. Man hatte Kavalleristen gesehen, die bei Upper Ferry den Schuylkill River überquert hatten. Die Rotröcke rückten an, und Philadelphia geriet in Panik.

Die Wahrheit, die im allgemeinen Lärm unterging, war jedoch die, dass es sich bei den Reitern um eine Patrouille der Rebellen gehandelt hatte, die das Westufer des Flusses absuchten. Man hatte diese für die Vorhut der Briten gehalten, und so suchte jetzt jeder amerikanische Patriot das Weite.

Die Männer, die als Delegierte im Kongress, dem Parlament der Rebellen, saßen, packten hastig ihre Papiere und andere Wertgegenstände in Reisekoffer. Die Freiheitsglocke im State House hatte man bereits heruntergeholt, und die Papiere der Staatsbibliothek und das Geld des Public Loan Office waren in die westlichen Täler Pennsylvanias in Sicherheit gebracht worden. Nun folgten ihnen die Patrioten, die Architekten der Revolution, die in langen Debatten die Unabhängigkeitserklärung aufgesetzt hatten.

Pferde wurden vor Kutschen gespannt und standen wartend vor den Häusern. Man schleppte Mobiliar auf die Straße und lud es auf Kutschen und Wagen. Frauen warfen besorgte Blicke nach Westen und fürchteten sich vor dem ersten Rotrock, der sich im Licht der vielen Feuer zeigen würde. Philadelphia war die Heimstatt der Revolution, und die Kongress-Delegierten hatten sie zur Hauptstadt der amerikanischen Nation bestimmt. Seine gottesfürchtigen Bewohner befürchteten, dass das Erscheinen des Feindes dem Einfall der Philister ins Land der Kinder Israels gleichen würde: Krieger in schwerer Rüstung, mit Bärten und ohne Erbarmen würden kommen, um Rache zu nehmen. Daher knallten die Peitschen laut durch die Dunkelheit und machten den Kindern noch mehr Angst.

Schrecken und Eile auf den Straßen, doch nicht alle Bürger fürchteten den Einmarsch der Rotröcke. Wie in jeder amerikanischen Stadt lebten auch in Philadelphia der Krone treu ergebene Loyalisten, Anhänger der Tory-Partei, die nichts lieber wollten, als die alte britische Ordnung wiederherzustellen. In den Häusern der Loyalisten wurde das Kommen der Rotröcke begierig erwartet und mischte sich mit Dankgebeten dafür, dass die letzten Rebellen der Whigs-Partei vertrieben wurden. Abel Becket, dessen Lagerhäuser die Kais der Stadt beherrschten, gehörte zu den Loyalisten. An diesem Morgen, als überall in der Stadt die Alarmglocken geläutet wurden, brüllte er im Haus seinem Gesinde Befehle zu: «Verriegelt das hintere Tor! Entzündet auf dem Hof Fackeln und auch einige an den Stufen vor der Tür zur Straße! Was für ein Trubel!»

Er war ein großer Mann mit kurzem, schwarzem Haar, das er für gewöhnlich unter einer in Locken gelegten weißen Perücke verbarg. Er war schmal, und die fünf Lebensjahrzehnte, die hinter ihm lagen, hatten sein Gesicht abgehärmt. Doch in seinen Augen loderte eine geradezu jugendliche Intelligenz. Abel Becket war Kaufmann, und so, wie seine Schlauheit ihn durch die trügerischen Untiefen der jüngsten politischen Debatten geführt hatte, so hatte ihm sein enormer Reichtum erlaubt, in den mageren Jahren der Rebellenherrschaft über Philadelphia zu überleben. Er hatte mit den Rebellen Handel getrieben, denn in den letzten drei Jahren hatten ihm kaum andere Möglichkeiten offengestanden. Doch die Geschäfte mit ihnen hatten ihm kein Vergnügen bereitet und nur geringen Profit eingebracht.

«Hinauf, Maid, nach oben!» Abel schickte ein eingeschüchtertes Küchenmädchen hinauf in den Salon, wo Missis Becket mit dem Gebetbuch und der Bibel wartete. Während das Mädchen dorthin huschte, humpelte Jonathon Becket, der sich eilig in Schwarz gekleidet hatte, in den Flur, wo Abel alle Vorbereitungen für die Ankunft der Briten traf.

«Onkel!» Jonathon zog den geschwollenen und verdrehten rechten Fuß wie eine in Leder gehüllte Monstrosität hinter sich her. «Was geht hier vor, Sir?»

«Die Briten kommen über den Schuylkill. Der Rebellenabschaum ergreift die Flucht, und Gott allein mag wissen, welches Unheil sie in ihrer Panik über uns bringen.» Das Frohlocken in seiner Stimme war nicht zu überhören. Natürlich freute er sich nicht über das Unheil, sondern darüber, die völlige Niederlage der Rebellen mit ansehen zu dürfen.

«Wer ist im Warenhaus?», fragte Jonathon.

«Ich habe nach Woollard geschickt.»

«Ich gehe, Sir.»

«Auf den Straßen ist es nicht sicher genug.»

Zur Antwort zog Jonathon seinen Mantel auf und zeigte einen Pistolengriff, der aus seinem Gürtel ragte. Einen Moment war Abel hin und her gerissen zwischen der Sorge um die Sicherheit seines Neffen und der um das Schicksal der teuren Waren im Lagerhaus. Die Habgier siegte, und er zog die Riegel der Vordertür zurück. «Seid vorsichtig.»

«Das werde ich sein, Sir.» Jonathan bedeckte die Pistole mit dem Mantel und hüpfte hinein in eine Szene, die fast so ungeheuerlich war wie sein Erwachen unter dem Eindruck, das Ende der Welt sei gekommen. Als hätte man mit einem wuchtigen Tritt einen Bienenkorb aufgerissen, so wimmelte und brodelte es auf der Market Street. Ein Kutscher trieb mit der Peitsche sein Gespann fort vom gegenüberliegenden Bürgersteig. Der Wagen war so hoch beladen wie die Heu-Barken, die im Spätherbst den Delaware hinuntersegelten. Darauf befanden sich Betten und Schränke, Tische und Stühle, Truhen und Kisten und so weiter, doch das alles nicht in schöner Ordnung, sondern so, wie es kam, auf die Ladefläche geworfen und hastig mit ein paar Stricken festgezurrt.

Während Jonathon zusah, löste sich ein Spinett aus der oberflächlichen Vertäuung, rutschte hinunter und krachte mit einem die Ohren verletzenden Misston auf den hartgebackenen Lehmboden. Ein vierspänniges Fuhrwerk, dessen Rösser ebenfalls mit einer Peitsche zur Eile angetrieben wurden, raste heran, und eines seiner Räder rollte über Intarsien und Elfenbeintasten. Und niemand schien inmitten der verzweifelten Hast, möglichst weit fort zu kommen, auch nur das Geringste davon zu bemerken.

Jonathon kämpfte sich durch die Menge nach Osten. Er hörte Wortfetzen von erregten Gesprächen. Britische Kavallerie, so hieß es, plündere Northern Liberties. Die Hessen seien dabei, Southware zu brandschatzen. Und Rotröcke ersäuften alle die, die über den Delaware zu entkommen versuchten. Die Menge reagierte auf jede Schreckensmeldung damit, in eine andere Richtung zu fliehen, um der jeweiligen eingebildeten Bedrohung zu entwischen. An der Ecke zur Second Street, wo sich die Kutschen, Wagen und Fuhrwerke stauten, um nach Norden zur Frankfort Road zu gelangen, brüllte ein Prediger den Menschen zu, sie sollten umkehren und Buße tun, denn Gott der Gerechte würde die Stadt verschonen, wenn genug Rechtschaffene übrigblieben und Zeugnis ablegten. Doch die Mahnungen des Mannes gingen im Rumpeln der Räder und dem Wiehern der erschrockenen Pferde unter. Jonathon kämpfte sich weiter vor, und auf seinem Gesicht zeigte sich die Qual, so lange und so weit laufen zu müssen.

Er war vor zwanzig Jahren verkrüppelt geboren worden. Unter den Schreien seiner Mutter war er mit einem verdrehten rechten Bein, das nie richtig auswachsen würde, ins Kerzenlicht der Welt gelangt. Die Mutter war bei der Geburt gestorben, doch Jonathon hatte, zum großen Erstaunen seines Vaters, überlebt. Und es gab Zeiten, in denen niemand daran dachte, dass der Junge verkrüppelt war. Sein Bein mochte verdreht sein, und er mochte einen Klumpfuß haben, doch niemals hatte er sich deswegen von anderen bemitleiden lassen. Wenn er nur schlecht laufen konnte, dann musste er sich anderer Wege bedienen. Und heute ritt Jonathon sehr gut, besser als die meisten anderen. Und mochte er beim Gehen auch humpeln und den Fuß nachziehen, so stand er doch groß und aufrecht und hatte die schlanke Figur und das anmutige Aussehen aller Beckets.

Nun, in dieser Panik, wurde Jonathon heftig herumgestoßen. Einmal stürzte er sogar schwer in einen Ladeneingang. Doch das konnte ihn nicht abhalten, und stur drängte er weiter zu seinem Ziel. Nicht jeder Patriot hatte einen Wagen ergattern können, um sich und seine Habe der Rache der Briten zu entziehen. Als Jonathon dem Hafen schon recht nahe gelangt war, fand er sich in der Masse der Flüchtenden wieder, die die Fähren über den Delaware zu erreichen trachteten, um sich nach New Jersey übersetzen zu lassen. Ein kleines Kind, das einsam und verloren war, schrie seine Verzweiflung aus einem Hauseingang in der Front Street heraus. Jonathon hob das Mädchen in den Schein einer Straßenfackel und fragte brüllend, ob jemand das Kind kenne. Seine Stimme war so mächtig, dass sich für einen Moment Schweigen über den Strom der Flüchtlinge senkte. «Wem ist das Mädchen? Wem gehört das Kind?»

Eine Frau setzte sich gegen das Geschiebe in Bewegung und streckte die Arme nach dem Mädchen aus. Jonathon wehrte den Dank der Frau ab und verschwand in einer Gasse, die hinunter zu den Kais führte. Die Tore am Lagerhaus seines Onkels waren immer noch verschlossen und unbeschädigt. Doch auf der flachkieligen Schaluppe, die an Abel Beckets Kai festgebunden war, wimmelte es von Menschen, die keine Ahnung von der Takelage an Bord hatten und die Anstrengungen der Mannschaft, die Segel zu setzen, erheblich behinderten.

«Halt!» Jonathon hatte vier Jahre im Hafen gearbeitet und dabei eine Stimme entwickelt, die noch auf einem Schiff in der Mitte des Flusses gehört werden konnte.

Ein Mann, der mit dem Springtau rang, das die Schaluppe gegen die Flussströmung hielt, erkannte die verkrüppelte Gestalt, die dort im flackernden Fackelschein stand. «Er ist ein Becket. Achtet nicht auf diesen Bastard!»

«Die Briten kommen!»

«Beeilt euch!»

Alle redeten gleichzeitig, und in diesem Tumult der angstvollen Schreie war bald gar nichts mehr zu verstehen. Frauen und Kinder, deren Gesichter im Licht der Schiffslaternen unnatürlich bleich wirkten, drängten sich um den Hauptmast zusammen. Einige Mannschaftsmitglieder, die in irgendeiner Spelunke ihren Rausch hatten ausschlafen wollen, rannten über die Kaimauer herbei.

«Ich sagte halt!» Jonathon zog die Pistole aus dem Gürtel, zielte in den Himmel und drückte ab. Die Waffe entlud sich laut in die Nacht, und der Rückschlag fuhr durch Jonathons Arm. Alle, die sich auf dem Schiff befanden, hielten erschrocken inne und starrten den Schützen an. Als das Echo des Schusses von den Lagerhauswänden zurückgeworfen war und auf dem Fluss erstarb, sagte Jonathon: «Diese Schaluppe soll General Washingtons Armee Schießpulver bringen. Die Ware ist bereits bezahlt. Wenn ihr mit dem Schiff fahren wollt, müsst ihr das Pulver mitnehmen. Ich komme gerade aus der Stadt, und ich kann euch sagen, dass noch keine Briten angelangt sind. Sobald sie kommen, dürft ihr ablegen. Doch wenn ihr das Pulver nicht mitnehmt, werden die Briten es beschlagnahmen und gegen euch einsetzen.» Er schob die Pistole in den Gürtel zurück. «Davon einmal abgesehen, ist die Schaluppe ohne Ballast nicht fahrtüchtig. Wenn ihr also kein Ballastgewicht mitnehmt, werdet ihr alle ertrinken.»

Jonathons letzte Worte oder vielleicht der Umstand, dass er mit so viel Gelassenheit und Selbstbewusstsein gesprochen hatte, bewegte die Flüchtenden zur Umkehr. Jonathon behielt seine Autorität über sie aufrecht, indem er rasch die richtigen Befehle erteilte. Die Laternen mit den gefährlichen Flammen wurden längsschiffs gebracht. Die Männer schoben Planken von der Kaimauer zum Schiff. Andere rollten große Fässer aus dem Lagerhaus. Ein Tragbalken nahm sie auf und beförderte sie unter Deck in den Laderaum. Jedes Fass enthielt vierhundert Pfund bestes Schwarzpulver. Die Ladung stammte von einem britischen Handelsschiff, das ein amerikanisches Kaperschiff im letzten Herbst in der Chesapeake Bay aufgebracht hatte. Jonathon hatte ihm das Pulver abgekauft und es dann mit einem fairen Aufschlag an die Rebellenarmee veräußert. Diese wertvolle Ladung galt es davor zu schützen, den Briten in die Hände zu fallen. Allein aus diesem Grund war Jonathon in die hektische Nacht hinausgeeilt.

Die Fässer rumpelten über die Pflastersteine und dann über die Planken. Kein einziger Rotrock ließ sich blicken, um dieses Treiben zu stören. Nur ein Riese von einem Mann mit Schultern wie ein Pflugochse stampfte heran und verlangte zu erfahren, wer die Beladung der Schaluppe angeordnet habe.

«Das war ich.» Jonathon hatte auf dem Schiff im Schatten gestanden. Doch jetzt humpelte er mit seinem eigenartigen seitlichen Gang auf den Kai zurück.

Ezra Woollards Ärger verflog sofort, als er den Neffen seines Herrn im Licht erkannte. «Weiß Euer Onkel, was Ihr hier unternehmt, Master Jonathon?»

«Er hat mich geschickt.»

Diese Antwort war vieldeutig, und Woollard, dem das nicht entgangen war, machte eine finstere Miene. «Warum wollt Ihr das verdammte Zeug fortgeben?»

«Weil der Kunde dafür bezahlt hat.»

«Aber wenn die Briten kommen, Master Jonathon, können wir es ihnen auch verkaufen. Zweimal Bezahlung für ein und dieselbe Ware, was?»

«Der Kongress hat für die Ware bezahlt, also soll der Kongress sie auch erhalten.» Jonathon war ein großer Mann, aber gegen Woollard, Abels Lagermeister und Vorarbeiter, wirkte er wie ein Zwerg. Noch arbeitete Jonathon wie Woollard für seinen Onkel Abel, doch in ein paar Monaten wäre Jonathon alt genug, sein Erbe anzutreten und Teilhaber des Becket-Unternehmens zu werden. Bis zu jenem Tag behandelte Ezra Woollard Jonathon mit einer Mischung aus Zweifel und Respekt. Damit brachte er klar genug zum Ausdruck, dass er den Tag nicht gerade herbeisehnte, an dem dieser verkrüppelte junge Mann sein Herr sein würde.

«Oder verschickt Ihr das Pulver vielleicht», fragte der Lagermeister mit einem hämischen Blick, «weil eine junge Frau Euch in Euren Ansichten schwankend gemacht hat?»

Jonathon ignorierte die anzügliche Bemerkung. «Ihr steht mir im Weg, Woollard!»

«Oh, verzeiht, Mylord!» Der Lagermeister verbeugte sich übertrieben, trat dann aber beiseite, um zuzusehen, wie die letzten Fässer über das Kopfsteinpflaster gerollt wurden. Die Menschenmenge an den Fähren-Piers nahm sichtlich ab, und das Licht der Fackeln wurde vom ersten fahlen Grau der Dämmerung überstrahlt. Der Kapitän der Schaluppe bedankte sich bei Jonathon. «Ich hätte fast mein Schiff verloren. Seid vielmals bedankt, Herr.»

«Ihr hättet beinahe das Schwarzpulver verloren.»

«Eine Ware, die in diesen Tagen von allerhöchstem Wert ist. Ich weiß nicht, wann ich Euch wiedersehe, Master Becket, doch Gottes Segen soll mit Euch sein.»

Die schwere Schaluppe stieß ab, gelangte ins offene Flusswasser, setzte Segel und erwischte den frühen Morgenwind, der das Schiff nach Norden trug. Während Jonathon dem Kielwasser des Schiffs nachsah, das sich silbern glitzernd gegen den dunklen Strom abhob, spürte er eine bleierne Müdigkeit, die ebenso schwer wog wie die Ladung, die er gerade vor den Briten gerettet hatte.

Woollard hatte sich verzogen. Jonathon verschloss das Lagerhaus und blickte dann kurz und voller Hoffnung über den Fluss. Doch was er dort zu sehen hoffte, zeigte sich nicht, und so kehrte er dem dunklen Wasser den Rücken zu. Sein rechter Fuß schmerzte beim Gehen. Es gab Zeiten, in denen hasste er es, wenn sein Fuß über den Boden schleifte; dann empfand er Widerwillen vor sich, weil er mit einer solchen Karikatur von einem Bein ausgestattet war. Doch noch viel mehr hasste er es, wenn andere ihm voller Mitleid begegneten oder ihn merken ließen, dass er kein vollständiger Mensch war.

Auf den Straßen war es deutlich ruhiger geworden. Die Patrioten waren alle fort, und die Loyalisten, die mittlerweile gemerkt hatten, dass die Briten doch nicht kamen, liefen neugierig durch die Straßen der Stadt im Dämmerlicht, um festzustellen, wer geflohen und wer geblieben war. In Philadelphia waren die Tories den Whigs immer zahlenmäßig überlegen gewesen. Jonathon sagte sich voller Scham, dass diese Stadt eine Besetzung durch die Truppen des Königs willkommen heißen würde.

Er humpelte zur Ecke von Market Road und Fourth Street und mühte sich dort die Stufen vor einem hohen Steinhaus hinauf. Die Fensterläden standen offen, und das besagte, dass der Haushalt erwacht war. Jonathon hämmerte an die Tür. Er gähnte und blickte kurz nach Westen, als erwarte er, dort, wo die Straßen der Stadt in offenes Land übergingen, Rotröcke zu sehen. Doch draußen bewegte sich niemand. Die einzigen Geräusche in Philadelphia waren das Krähen der Hähne und das Muhen der Kühe, die gemolken werden wollten. Früher war der frühe Morgen in Philadelphia eine Zeit gewesen, in der die Glocken aller Kirchen geläutet hatten. Doch dann hatten die Rebellen alle Glocken abgehängt, um sie einzuschmelzen und daraus Kanonenrohre zu gießen. Jonathon wandte sich wieder der Tür zu und betätigte den Messingklopfer erneut.

Schon wurde die Tür aufgezogen. «Mein Gott, du bist aber früh!» Martha Crowl verzog das Gesicht, als sie vom ersten rötlichen Sonnenlicht getroffen wurde. «Ich habe die Morgendämmerung seit meiner Hochzeitsnacht nicht mehr gesehen, und damals habe ich darum gebetet, sie nie wieder sehen zu müssen. Aber komm doch herein, lieber Bruder.»

Jonathon folgte ihr ins Haus und hinauf in den Salon im ersten Stockwerk. «Ich hatte schon halb damit gerechnet, dass du auch davongelaufen wärst.»

«Um all diese hübschen Dinge hier zurückzulassen, damit irgendein nichtsnutziger Rotrock sie durchwühlt?» Martha wies mit einer weit ausholenden Geste durch ihren Salon, der in der Tat mit hübschen Gegenständen angefüllt war. Ein venezianischer Spiegel auf einem Marmorsims, neben dem eine vergoldete Uhr stand, die von reich verzierten silbernen Kerzenhaltern flankiert wurde. Marthas Gemahl, ein Rechtsanwalt, hatte in Europa Gemälde erstanden. Schöne Bilder von alten Städten und arkadischen Landschaften. Und er hatte in London bei den besten Tischlern die schönsten Möbel gekauft. Und Martha fügte gern hinzu, er sei rücksichtsvoll genug gewesen, früh zu sterben, sodass Martha im Alter von sechsundzwanzig Jahren zu einer vermögenden Witwe geworden war. Zusätzlich zu seinem Reichtum hatte Thomas Crowl Martha Tochter Lydia zurückgelassen, die nun sechs Jahre zählte. «Sie ist noch nicht wach», sagte Martha. «Gott allein mag wissen, warum sie noch schläft. «Möchtest du eine Tasse Tee?»

«Gern.»

Jonathon nahm Platz, als Martha an der Glocke zog. Sie war so groß wie ihr jüngerer Bruder und hatte das schmale Gesicht der Beckets. Manche hielten ihre Züge für zu knochig, um ihr wirkliche Schönheit zu bescheinigen, doch Martha machte das mit ihrer natürlichen Eleganz mehr als wett. Ihr Haar war wie das Jonathons pechschwarz, doch heute Morgen versteckte sie es unter einer Haube. Sie drehte sich zu ihrem Bruder um: «Du siehst ziemlich dreckig aus.»

«Ich habe achtzig Fässer feinsten Schießpulvers verladen und es damit vor dem Zugriff der Briten bewahrt.»

«Die allerdings nicht gekommen sind, es zu holen», wandte sie trocken ein. «Vielleicht lassen sie sich ja überhaupt nicht hier blicken.»

«Wenn General Washington sie aufhalten kann.»

«Letzte Woche ist ihm das aber nicht gelungen, oder?» Die Briten, die vorsichtig von ihren Schiffen in der Chesapeake Bay aus vorgerückt waren, waren bei Brandywine Creek auf die Armee der Rebellen gestoßen. Und wieder einmal war General Washington ausmanövriert und geschlagen worden. Es war immer die gleiche Geschichte. Letzten Winter hatte Washington bei Trenton einen Sieg errungen. Tausend gefangene Hessen waren im Triumphzug durch die Stadt geführt worden, und dieser Anblick hatte bei den Patrioten die Hoffnung gestärkt, dass ihr General es endlich doch gelernt hatte, wie man Schlachten für sich entscheidet. Diese Hoffnung hatte noch bestanden, als die Patrioten den eigenen Truppen bei deren Ausrücken nach Brandywine zugejubelt hatten. Und dann, eine Woche später, hatten sie schweigend und niedergeschlagen zugesehen, wie Washingtons Truppen verwundet, müde und besiegt zurückgehumpelt waren.

Die Loyalisten waren begeistert gewesen, während die Patrioten in tiefe Verzweiflung verfallen waren. Martha und Jonathon gehörten zum Lager der Verzweifelten, auch wenn ihr Onkel Tory und Royalist war. Martha hatte einen Whig geheiratet, und Jonathon hatte mit lebhaftem Interesse die leidenschaftlichen Debatten in der Stadt verfolgt und sich schließlich auf die Seite der Rebellen geschlagen. Nun hatte es den Anschein, als würde seine Treue zur Sache der Patrioten auf eine harte Probe gestellt, denn zum ersten Mal seit Ausbruch der Kämpfe rückten die Briten auf Philadelphia vor.

Martha beobachtete ihren Bruder dabei, wie er sich ausgiebig das rechte Bein massierte. «Tut es dir weh?»

«Ich bin länger als sonst gelaufen. Es war keine Zeit mehr, ein Pferd zu satteln.»

«Armer Jonathon.» Nur Martha durfte ihn bemitleiden, denn seit seiner Geburt war sie seine engste Freundin. Die Heirat hatte sie aus dem Elternhaus geführt. Dann war der Vater gestorben, und Jonathon musste seinem Onkel helfen, doch die tiefe Verbundenheit zwischen Bruder und Schwester hatte in keinem Moment nachgelassen. Jonathon war heute kein verkrüppelter Junge mehr, der Schutz brauchte, doch Martha konnte sich von dieser Sicht nicht lösen.

Eine Magd brachte den Tee. Jonathon saß am Fenster und blickte traurig auf die Dachziegel der Häuser. «Die letzte Nacht war entsetzlich. Ich hätte nie geglaubt, Menschen einmal so würdelos sehen zu müssen.»

Martha lächelte. «Du bist zu streng, Bruder.»

«Sie boten einen beschämenden Anblick!»

Martha zuckte mit den Schultern. «Ich denke, die Briten haben bei ihrer Flucht aus Boston einen ebenso beschämenden Anblick geboten.»

Jonathon lächelte sie kurz an, um ihr zu zeigen, dass er ihr für den Trost dankbar war. Dann lehnte er sich gegen die aufgezogenen Läden. «Glaubst du, dass wir noch gewinnen können?»

«Glaubst du vielleicht, ich besitze die Gabe des Hellsehens? Ich kenne dich nicht als Mann, der törichte Fragen stellt.»

Jonathon zuckte zusammen, nicht wegen neuer Schmerzen im Bein, sondern aus Ärger. «Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass sie hier einmarschieren wollen! Und durch unsere Straßen spazieren! Sich in unseren Häusern breitmachen! Und unsere Mitbürger verhöhnen!»

«Falls sie überhaupt kommen.» Martha klang nicht gerade hoffnungsfroh, doch in diesen Zeiten blieb einem Patrioten kaum etwas anderes übrig, als nach jedem Strohhalm zu greifen. «Ich habe gehört, sie biegen vielleicht nach Süden ab und marschieren auf Baltimore zu.»

Jonathon schien das nicht gehört zu haben. Er starrte weiterhin auf die Dächer, die sich klar vor dem Himmel abzeichneten und somit einen neuen wolkenlosen Tag verhießen. «Ich könnte es nicht ertragen, hier zu bleiben und ihren Triumph mitverfolgen zu müssen!»

«Das wird sicher nicht einfach», stimmte seine Schwester zu.

Jonathon drehte sich zu ihr um: «Deshalb gehe ich fort.»

Martha schwieg zunächst. Ihr Bruder war eine dunkle Silhouette vor dem Fenster, aber sie brauchte sein Gesicht gar nicht zu sehen, um zu wissen, was für eine trotzige Miene er jetzt aufgesetzt hatte. «Du willst fort?»

«Bislang war ich von Nutzen.» Seine Stimme klang unvermittelt fieberhaft. «Ich bin ein guter Kaufmann und habe dem Kongress treu gedient. Ich habe die Armee mit Tierhäuten, Roheisen, Flintsteinen und Schwarzpulver beliefert. Aber jetzt kommen die Briten. Wenn wir jetzt Handel treiben wollen, dann dürfen wir das nur mit dem Feind. Damit hat meine Nützlichkeit ihr Ende gefunden. Wenn ich hier bleibe, muss ich britisches Gold nehmen und mit britischen Handelsleuten Geschäfte machen. Und das kann und will ich nicht!»

«Bist du zu stolz dafür?»

«Wenn du so willst, ja!»

Martha betrachtete die Silhouette ihres Bruders. «Und was willst du dann unternehmen?»

«Ich kann reiten!» Er klopfte auf das kranke Bein. «Zugegeben, mit dem Marschieren ist es bei mir nicht weit her, aber ich kann kämpfen wie ein Mann. Und alles, was ein Kavallerist können muss, ist kämpfen und reiten.» Er lächelte seine Schwester an. «Ich werde mich freiwillig melden.»

«Aha, du kannst also reiten», entgegnete sie ironisch. «Und was, wenn dir das Pferd unter dem Hintern weggeschossen wird? Was willst du dann tun? Davonhumpeln?»

Jonathon lachte grimmig. «Wenn es sein muss, auch das!»

«Du bist ein Narr!» Sie erhob sich und lief ein paar Schritte durch das Zimmer. «Grundgütiger, Jonathon, was bist du für ein Narr!» Sie drehte sich zu ihm. «Oder steckt möglicherweise Caroline dahinter?» Jonathon antwortete nicht darauf. Martha wurde über sein Schweigen so wütend, dass sie ihn anfuhr: «Du kannst sie nicht heiraten!»

Jonathon lächelte. «So wie es aussieht, habe ich ihr noch keinen Antrag gemacht.»

Martha, die immer schon gefühlsbetonter gewesen war als ihr Bruder, spürte, wie ihre Wut anschwoll. «Kann sie lesen?»

«Fließend.»

«Du weißt hoffentlich, dass Ezra Woollard sie heiraten will?»

«Sie hat nein zu ihm gesagt.» Jonathon klang ganz gelassen. Diese Angewohnheit von ihm hatte schon viele Menschen irritiert, besonders wenn er auch bei den beleidigendsten Provokationen seine Fassung behielt und vernünftige und ruhige Antworten gab.

Martha hingegen musste, wenn die Wut sie gepackt hatte, Dampf ablassen, ohne sich darum zu scheren, ob sie damit mehr Schaden anrichtete als gutmachte. «Aber sie ist eine Krämerstochter! Sie lebt auf der anderen Seite des Flusses! Sie verkauft Gemüse!»

«In gewisser Weise bin ich doch auch so etwas wie ein Krämer», entgegnete Jonathon. «Doch um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen, teure Schwester, Caroline hat mich davon abzubringen versucht, die Stadt zu verlassen. In diesem Punkt denkt sie wie du.»

«Das spricht für sie», gab Martha giftig zurück. «Bei allem, was recht ist, hast du denn noch nicht genug getan? Die Armee braucht vollständige Männer, keine Behinderten!»

Jonathon ließ sich auch davon nicht aus der Ruhe bringen. «Sie braucht Männer.»

«Ich lasse es nicht zu.» Martha marschierte zu ihm. «Wenn du in die Armee eintrittst und Soldat wirst, verlierst du dein Erbe, und alle Arbeit deines Vaters wird umsonst gewesen sein! Ezra Woollard wird die Firma übernehmen. Abel mag ihn. Und unser Onkel hat keinen Sohn, dem er alles vermachen kann! Und dazu wirst du es doch wohl nicht kommen lassen wollen, oder?»

«Ich möchte das, was du auch willst: Freiheit!»

«Gott stehe uns bei!» Sie blickte streng in seine dunklen, amüsierten Augen. «Es tut mir leid, dass ich dich einen Behinderten genannt habe.»

«Aber was, du hast doch recht. Ich humpele zur Belustigung der Kinder durch die Straßen. Und ich habe mich daran gewöhnt. Doch nun ist Schluss damit. Nun will ich Soldat werden.»

Martha setzte sich neben ihn. «Und wenn ich dir einen anderen, einen besseren Vorschlag mache, wie du die Briten bekämpfen kannst?»

«Schieß los.»

Martha zögerte einen Moment, so als suche sie nach den richtigen Worten, um ihren Bruder von seinem Vorhaben abzubringen: «Ich bleibe in dieser Stadt, weil sie mein Zuhause ist. Und auch das von Lydia. Und ich will es mir einfach nicht vorstellen, wie wir von einer Bande Rotröcke über das offene Land gejagt werden. Also ertrage ich ihre Besatzung, aber ich leiste auch Widerstand. Oh, ich werde mit ihnen reden, Jonathon, ich werde ihnen Wein und Musik bieten, und ich lache über ihre Scherze. Aber die ganze Zeit über werde ich die Ohren aufsperren. Und das kannst du auch. Wenn du mit den Briten Handel treibst, lernen sie dich bald kennen. Und fassen Vertrauen zu dir. Sie fangen an, dir Dinge zu erzählen. Und du siehst, was sich so auf den Kais tut. Welche Truppen hier eintreffen und wie stark sie sind. Solche und andere Dinge sind wichtig für unsere Streitkräfte, also werden wir sie ihnen erzählen und ihnen damit mehr dienen, als wenn wir ein Gewehr in der Hand hielten!»

«Vielleicht.»

«Nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt!» Martha suchte nach weiteren Gründen, um Jonathon zum Bleiben zu bewegen, und in ihrer Verzweiflung brachte sie ein Argument vor, das sie unter anderen Umständen entschieden abgelehnt hätte: «Caroline bleibt auch. Du könntest sie dann öfter sehen.»

Jonathon schwieg wieder. Er sah dem Rauch nach, der aus den Küchenkaminen nach oben trieb, und seufzte. «Wenn ich hier im warmen und gemütlichen Heim zurückbleibe, werde ich mir selbst nicht mehr ins Angesicht blicken können.»

«Niemand wird dir daraus einen Vorwurf machen.»

«Meinst du deswegen?» Er klopfte leicht auf sein rechtes Bein.

«Ja, deswegen.»

Er lächelte. «Aber du, Schwester, weißt genauso gut wie ich, dass ich fast alles kann, was andere Männer vermögen. Und wenn ein anderer Mann sein Erbe aufs Spiel setzen und kämpfen kann, dann kann ich das ebenso. Niemand würde mir einen Vorwurf daraus machen, wenn ich hier bliebe. Niemand, außer ich selbst!»

«Ach, du dummer Narr!» Martha blickte nach draußen. «Die Briten sind noch nicht da, und die Loyalisten feiern noch nicht ihren Sieg. Also kannst du doch noch etwas warten. Um mehr bitte ich dich doch gar nicht! Warte noch ein Weilchen!»

«Damit du mir mein Vorhaben ausreden kannst?»

«Damit ich dich davon überzeugen kann, dass du, wenn du bleibst, dem Feind mehr Schaden zufügen kannst, als wenn du gehst.»

«Ich warte», entgegnete er. «Ich hatte ohnehin nicht vor, gleich aufzubrechen. Du hast also noch ausreichend Gelegenheit, mich zu bedrängen.»

«Es ist kein Bedrängen.» Martha schloss die Augen. «Ich habe meine Mutter, meinen Vater und meinen Mann verloren. Meinst du, ich möchte dich auch noch verlieren?»

«Gott hat mir bereits mein Teil zukommen lassen», sagte er bitter. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch Schlimmeres für mich vorgesehen hat.»

«Denkst du denn, du kannst ewig leben?», fragte Martha missbilligend.

«Ich denke», sagte Jonathon lächelnd, «dass ich noch eine Tasse Tee möchte.»

Und so wartete Philadelphia, die mutigste und beste Stadt an der amerikanischen Küste, auf den Trommelschlag fremder Truppen. Und die Rotröcke waren schon auf dem Weg.

Drei

«Bestrafung!» Die Stimme des Sergeant-Majors war drei Felder weit zu verstehen. «Achtung!»

Siebenhundert rechte Stiefel stampfen gleichzeitig auf dem trockenen Weideland auf, und dem folgte absolute Stille. Zehn Kompanien waren angetreten und bildeten drei Seiten eines Karrees. In jeder Kompanie standen die größten Männer an den Flanken und die kleinsten im Zentrum. Die lange Reihe des Bataillons stieg und fiel, stieg und fiel wie bei einer wohlgetrimmten Hecke. Sergeants liefen mit ihren Stöcken hinter den Reihen auf und ab. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf blankgeputzten Gürtelschnallen und Musketenläufen wider.

Der Himmel war wolkenlos, und der Tag hatte eine bedrückende, schwüle Hitze gebracht. Unter den dicken roten Wolljacken juckte den Soldaten die Haut, und Schweiß glänzte auf ihren Gesichtern.

Gegenüber dem angetretenen Bataillon, an der vierten Seite des Karrees, stand ein Dreigestell aus Stangen. Der Punkt, an dem die drei schrägstehenden Stangen sich trafen, erhob sich zweieinhalb Meter über den Boden. Auf den ersten Blick wirkte das Gebilde wie ein Dreibein, das darauf wartete, dass ein unförmiger schwarzer Kochtopf daran aufgehängt würde. Doch darunter hatte niemand ein Feuer entzündet. Stattdessen hing dort ein Soldat, den man bis auf die schmutzige Hose entkleidet hatte, an Händen und Fußgelenken gefesselt. Man hatte ein Brett aus einem Schuppen im nahe gelegenen Dorf gerissen und es an zwei der Stangen genagelt, sodass der Mann sich nicht bewegen konnte. Keine Lederschürze bedeckte seine Nieren, ein sicheres Anzeichen dafür, dass seine Offiziere ihn an diesem heißen amerikanischen Abend sterben lassen wollten.

Zwei Männer sahen aus sicherer Entfernung zu. Sie gehörten nicht zu den Einheiten, die dort angetreten waren, und konnten sich deshalb zwanglos darüber unterhalten, dass ihnen das gleiche Schicksal blühen würde wie dem Mann, der dort an den Stangen hing. «Das Einzige, was er falsch gemacht hat», sagte der Gefreite Nathaniel Gilpin, «war, sich erwischen zu lassen.»

«Was er wirklich falsch gemacht hat», korrigierte ihn sein Zwillingsbruder, «war, davonzulaufen. Dumm wie Bohnenstroh!» Sam hatte die meisten Uniformteile ausgezogen und neben sich im Gras aufgehäuft. Im Augenblick löste er gerade die schwarzen Gamaschen von den Stiefeln. Wie der Soldat im Dreigestell hatte auch er seinen Oberkörper entblößt. Doch Sam brauchte keine Bestrafung zu befürchten. Nachdem er sich der Stiefel entledigt hatte, rollte er seine Hose hoch und watete in den kleinen Bach. Pfeifend fing er an, das Pferd von Captain Kelly abzureiben. Das Ross, das auf den Namen Cleo hörte, ließ es sich geduldig gefallen. Sam Gilpin war immer schon gut mit Tieren zurechtgekommen. Er behandele alle Lebewesen gut, pflegte seine Mutter zu sagen, und sei deshalb zu schade für die Armee. Doch Siebzehnjährige sind mit der Sturheit eigener Vorstellungen gesegnet, und so hatte Sam seiner Mutter das Herz gebrochen.

Sein Bruder Nate starrte wie gebannt auf die Szene, wo der Deserteur ausgepeitscht wurde. Trommeln schlugen den Takt, zu dem zwei Männer ihre Peitschen zweimal um den Kopf schwangen, bevor sie sie auf den Rücken des Soldaten niedersausen ließen. Nate zuckte bei jedem Hieb zusammen. «Das muss furchtbar weh tun.»

«Natürlich tut es furchtbar weh! Das ist ja schließlich der Sinn der Sache, oder?» Sam achtete nicht weiter auf die Bestrafung. Er war froh, wieder an einem Pferd arbeiten zu können. Das erinnerte ihn an die Welt, die er zurückgelassen hatte, als er vor drei Jahren den roten Rock angezogen hatte. Er war jetzt zwanzig, groß und gerade gewachsen und hatte ein freundliches, intelligentes Gesicht. Sein Haar, das nun vom Mehl weiß gefärbt war, hatte normalerweise die Farbe von Gold. Und im Dienst band er es zu einem langen, steifen Zopf zurück. «Sieh einfach nicht hin!» Er rieb den Staub von den Flanken des Rosses und erfreute sich daran, wie der Glanz auf das Fell zurückkehrte. Viele Offizierspferde hatten die furchtbare Reise von New York nicht überlebt. Die Flotte hatte aus Gründen, die kein Soldat je begreifen würde, tagelang in der Dünung vor Anker gelegen, und die Hitze hatte alle Lebensmittel an Bord verdorben und das Wasser faulen lassen. Die Pferde waren darüber durchgedreht und hatten ihre Boxen zertreten und so gewütet, dass sie erschossen werden mussten. Diese Wochen hatten die Überlebenden zu anderen Menschen gemacht.

Sam berührte die lange Narbe am Schenkel des Rosses und bemerkte zu seiner Freude, dass das Tier nicht zusammenzuckte. Die Wunde schien gut zu verheilen. Eine Rebellenkugel war ihm bei Brandywine Creek ins Fleisch gefahren. Sam hatte einen Brei aus altem Brot und Spinnweben gekocht und diesen auf der Wunde verrieben. Sein Mittel wirkte wunderbar. Er streichelte die Nüstern des Pferdes. «Du bist ein zähes altes Biest, nicht wahr, Cleo? Der Yankee, der dich erschießen kann, muss erst noch geboren werden, was?»

«O Gott!» Nate starrte auf das Blut, das auf die weiße Hose des Deserteurs floss. Der Mann zuckte und verdrehte sich, während die Peitschen ihn abwechselnd trafen. Nach jedem Hieb zogen die Bestrafer das Leder durch ihre beschmierten Finger, um es von Blut und Fleischfetzen zu reinigen. «Der arme Teufel.»

«Sieh besser nicht mehr hin!» Doch in eben diesem Moment spuckte der Mann den Lederknebel aus und gab einen schrillen, grässlichen Schrei von sich. Das Ross legte darüber die Ohren nach hinten, und Sam drehte sich trotz seines Widerwillens zu der Szene um. Männer aus anderen Bataillonen, die zu beiden Seiten der Landstraße biwakierten, zuckten bei diesem Verzweiflungsschrei zusammen. Sam lief ein Schauer über den Rücken. «Sie sollten ihn endlich mit einer Kugel erlösen.»

«Er hätte sich nicht erwischen lassen dürfen, nicht wahr?», sagte Nate.

«Er hätte vor allem gar nicht erst weglaufen sollen. Wer sich verdrückt, bittet ja geradezu darum, Schwierigkeiten zu bekommen.» Der Mann war ein Fahnenflüchtiger, den man wieder eingefangen hatte. Desertation war in der Armee ein unverzeihliches Vergehen, das auf das Härteste bestraft wurde.

«Wenn ich es tue, dann aber richtig.» Nate grinste. Er war dunkler als sein Zwillingsbruder, aber beiden war ein pfiffiges Gesicht eigen. Große Jungs, die auf dem Land aufgewachsen waren, der Traum jedes Rekrutierungsoffiziers. Doch Nate hatte einen eigenen Traum. Er wollte abhauen. Er wollte weglaufen, weil er sich sicher war, dass irgendwo hinter dieser feuchtheißen Küstenebene das amerikanische Paradies liegen musste, wo das Getreide fast von selbst wuchs, wo die Apfelbäume so schwer mit Früchten beladen waren, dass die Äste unter der Last abbrachen, und wo Nate, sein wichtigster Grund, mit Maggie allein sein konnte. In Nates erträumtem amerikanischem Paradies gab es keinen Hunger, keinen Dienst für den Squire und keine Rotröcke; keine Sergeants, keine Auspeitschungen, keine Gamaschen, keine Ledergerten, keine Stockhiebe, keine Morgen voller Übelkeit und Erbrechen und keine Kinder, die in der Nacht weinten und schrien. Und vor allem keine Soldaten.

«Sie fassen dich ja doch.» Sam glaubte nicht an das Paradies seines Bruders. «Und dann peitschen sie dich so lange, bis sie das Fleisch von deinen Rippen gerissen haben. Sei doch nicht so ein verdammter Idiot, Nate.» Er sah seinen Bruder mit einer Mischung aus Liebe und Bitten an. Sie hatten sich immer sehr nahe gestanden, und das war auch heute noch so. Sam konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass sein Bruder sich selbst in Chaos und Schmerz stürzen würde. «Du darfst nicht einmal an so etwas denken!»

«Drei hätten eine bessere Chance als zwei, Sam.»

«Sie greifen dich auf, peitschen dich zu Tode, und ich darf dich beerdigen. Sei doch nicht so ein gottverdammter, hirnverbrannter Narr!» Sams Liebe zu Nate war so groß, dass er jetzt ernsthaft böse wurde. Er wandte sich verdrossen ab und fing an, die Mähne Cleos zu striegeln. Er dachte dabei an die große Freude, die er damals zu Hause empfunden hatte, wenn er dort die großen Pflugpferde versorgen durfte.

Drei junge Kühe, abgemagert und in einem jämmerlichen Zustand, wurden dreißig Meter weiter zum Bach getrieben. Den Tieren und ihren Metzgern folgte die Schar der Ehefrauen und Kinder der Bataillonssoldaten. Musketen wurden gespannt, angelegt und abgefeuert. Drei Schüsse krachten kurz und hart durch die schwüle Luft. Die drei Färsen zuckten und brachen schwer auf dem Gras zusammen. Ein Tier muhte noch kläglich, bis ein kräftiger Axthieb ihm das Rückgrat spaltete. Die Hufe der beiden anderen schlugen wild um sich, und die Metzger zogen ihre Messer aus den Scheiden. Blutfontänen spritzten in die Luft, und die Kinder lachten über diesen Anblick. Die Frauen hatten ihre eigenen Messer gezückt und krochen auf allen vieren wie Raubtiere heran, um ein Stück Fleisch zu ergattern. Einer der Schlächter trat ihnen mit der bluttriefenden Axt entgegen, um sie zurückzutreiben. Eine alte Vettel knurrte ihn an. Der Geruch von frischem Blut machte Cleo unruhig, und Sam rümpfte die Nase.

«Heute Abend gibt es Rindfleisch.» Nate vergaß die Auspeitschung für einen Moment. «Ist mal ’ne Abwechslung zu dem ewigen Schweinefleisch. Dort drüben ist ja auch Maggie.»

«Lass sie in Frieden, Nate!»

«Was soll ich tun? Sie lässt mich ja nicht in Ruhe.» Nate sah den Metzgern bei der Arbeit zu. Sie schnitten gerade Leber und Nieren heraus und warfen sie in einen Holzeimer. Diese Delikatessen würden heute Abend in der Offiziersmesse serviert. «Sie schaut nach mir.»

«Um Himmels willen, Nate!» Sam führte das Pferd ein paar Schritte flussaufwärts, um seinen Bruder von der jungen Frau abzulenken und fortzubringen. Doch eine umgestürzte Weide versperrte ihm den Weg. Von den Feldlagern drang der Geruch neu entzündeter Feuer heran, und auf dem anderen Feld wurde die Auspeitschung fortgesetzt. Der Deserteur schrie nicht mehr. Man hatte ihn zu eintausend Schlägen mit der sechsschwänzigen Peitsche verurteilt. Eine Gruppe von Offizieren, deren Uniformen hell im Licht der Abendsonne strahlten, begab sich zu den Pferden, um von dort aus die Züchtigung verfolgen zu können.

Sam machte sich wieder an die Arbeit. Es gehörte zwar nicht zu seinen Aufgaben, Captain Kellys Pferd zu versorgen, aber alle Offiziere des Bataillons wussten, dass Sam Gilpin weit besser mit Pferden umzugehen verstand als ihre Burschen. Deshalb zahlten sie ihm gern einen Shilling, wenn er sich um ihre Reittiere kümmerte oder sie im Krankheitsfall versorgte. Sam wischte Cleos Augen und Nüstern mit einem feuchten Lappen ab. Dann hörte er das verräterische Platschen im Wasser.

«Nate!» Maggie lächelte nervös. Ihre Röcke schleiften durch den Bach. Das Wasser reflektierte das Licht der untergehenden Sonne und warf kleine helle Ringe auf das schmale, gebräunte Gesicht des Mädchens. Nate umarmte sie, und es schien ihm völlig gleich zu sein, ob ihn in diesem Moment jemand beobachtete oder nicht. Das Mädchen blickte über die Schulter ihres Liebsten und entdeckte seinen Zwillingsbruder. «Hallo, Sam.»

«Missis Scammell», grüßte Sam übertrieben formell zurück.

«Ich habe euch etwas mitgebracht.» Sie hielt ein blutiges Stück Ochsenschwanz in der Hand, reichte es aber nicht Nate, sondern Sam. Sam wusste, dass Maggie seinem Bruder die Idee zur Flucht in den Kopf gesetzt hatte. Und es war ihm auch klar, dass Maggie wusste, dass Nate nie ohne seinen Bruder davonlaufen würde. Daher gab sich Maggie viel Mühe, Sam dazu zu bewegen, sich ihnen anzuschließen. Nur war Sam in der Armee nicht so unglücklich wie sein Bruder. Er hatte festgestellt, dass er so gut wie alle anderen in der Kompanie kämpfen konnte, er liebte den Umgang mit Pferden, und er sagte sich, wenn er sich nicht zu dumm anstellte, würde er auch den Bestrafungen entgehen.