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Renée hat es satt, in ihrer eigenen Firma bevormundet zu werden. Als Tochter von Racing-Legende Ricky Duvrai muss sie sich täglich in einer Männer-dominierten Branche behaupten. Das Letzte, was sie braucht, ist ein Fake-Ehemann, schon gar nicht den gefährlich heißen Jax Rayne – egal, wie sehr er sie um den Verstand bringt. Mechatroniker Jax lebt für Motoren und unlösbare Herausforderungen. Die Faszination für Renée beginnt mit beidem. Und könnte viel zu schnell enden, als er hinter ihr Geheimnis kommt, das sie besser beschützt als er sein eigenes. Denn Jax kann vieles … außer die Vergangenheit loslassen. Doch nur weil Renée nun auf dem Papier seine Ehefrau ist, heißt das nicht, dass sie ihm dabei helfen muss. Oder? Der rasante Abschluss der prickelnden Kentucky-Love-Reihe! Als Printausgabe und Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.
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Über dieses Buch:
Renée hat es satt, in ihrer eigenen Firma bevormundet zu werden. Als Tochter von Racing-Legende Ricky Duvrai muss sie sich täglich in einer Männer-dominierten Branche behaupten. Das Letzte, was sie braucht, ist ein Fake-Ehemann, schon gar nicht den gefährlich heißen Jax Rayne – egal, wie sehr er sie um den Verstand bringt.
Mechatroniker Jax lebt für Motoren und unlösbare Herausforderungen. Die Faszination für Renée beginnt mit beidem. Und könnte viel zu schnell enden, als er hinter ihr Geheimnis kommt, das sie besser beschützt als er sein eigenes. Denn Jax kann vieles … außer die Vergangenheit loslassen. Doch nur weil Renée nun auf dem Papier seine Ehefrau ist, heißt das nicht, dass sie ihm dabei helfen muss. Oder?
»Rough Like Rayne« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.
Über die Autorin:
Yvonne Westphal schreibt romantisch-schlagfertige Geschichten über Bad Boys mit Herz und classy Girls mit Biss. Ihr Debütroman erreichte auf Anhieb die Top Ten beim LovelyBooks Community Award. Weitere beliebte Romances folgten.
Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/miss_ivythomas
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Bei dotbooks veröffentlichte Yvonne Westphal ihre »Kentucky Love«-Reihe mit den Romanen »Hot Like Clay«, »Dirty Like Ash«, und »Rough Like Rayne«, die auch im Hörbuch- und Printformat bei SAGA Egmont erhältlich ist.
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eBook-Ausgabe Oktober 2024
Copyright © der Originalausgabe 2024 Yvonne Westphal und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Paulina Ochnio unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)
ISBN 978-3-98952-403-3
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Yvonne Westphal
Rough Like Rayne
Roman. Kentucky Love 3
dotbooks.
Für Mama,
die stärkste und gleichzeitig sanfteste Frau, die ich kenne.
Wenn ich groß bin, will ich mal so sein wie du.
Bury Me in Georgia – Kane Brown
Independent Women, Pt. 1 – Destiny’s Child
Last Name – Carrie Underwood
Lost in the Middle of Nowhere – Kane Brown & Becky G
Heaven – Kane Brown
Champion – Fall Out Boy
Unless It’s With You – Christina Aguilera
alle Playlists sind auch auf Spotify verfügbar
Im Ölgeschäft, im Automobilsektor und im Bett gab es genau zwei Arten von Männern: diejenigen, die einer Frau die Zügel überließen, und diejenigen, die einer Frau Zügel anlegten.
Das schwitzende Exemplar, das gerade vor mir saß, gehörte zu letzterer Gruppe. Aber nicht, weil er ein Übermaß von Testosteron und Dominanz auslebte, sondern weil er eine Heidenangst hatte – vor Frauen im Allgemeinen und vor mir im Speziellen. Denn ich war diejenige, die auf dem Stuhl saß, den er haben wollte.
Die Wahrheit war, dass ich genauso viel Angst vor ihm hatte wie er vor mir. Ich hoffte inständig, dass es mir nicht anzusehen war. Wie sagte mein Vater stets? Im Zweifel half nur der Frontalangriff nach vorn.
Mit einem Lächeln, das dem chromglänzenden Briefbeschwerer auf meinem Tisch Konkurrenz machen konnte, legte ich die Füße hoch und kreuzte die Knöchel auf der polierten Oberfläche. Ich sah seinen Adamsapfel hüpfen, als sein Blick der Bewegung zu meinen Füßen folgte. Vielleicht, weil meine Beine unter dem Bleistiftrock nackt waren. Vielleicht auch, weil die Absätze meiner High Heels lang genug waren, um ihn damit zu ermorden.
Denn was beide Gruppen von Männern nicht wussten: In Wahrheit waren es immer die Frauen, die die Zügel in der Hand hielten.
»Nur, damit ich das richtig verstehe, Mr Barlow …«
»Nennen Sie mich Kent«, korrigierte er mit Gönnermiene.
Ich lächelte unverbindlich. »Mr Barlow«, machte ich meine – seine – Position klar. »Wie viel Prozent Produktionskosten glauben Sie einsparen zu können, wenn Sie die Fertigung nach China verlegen?«
»Siebzehn.« Er baute sich merklich auf.
»Siebzehn«, wiederholte ich und hoffte, dass meine Stimme so gelassen klang wie beabsichtigt. Ich hasste diese Art von Verhandlungsgesprächen. Als Frau ging man immer mit einem Nachteil hinein und kam selten mit einem Vorteil heraus. »Lassen Sie mich sehen, dafür würden Sie rund ein Viertel der amerikanischen Mitarbeiter entlassen und den Staat Pennsylvania um knapp dreihunderttausend Dollar Einkommenssteuer pro Jahr bringen. Ganz zu schweigen davon, dass Sie US-amerikanische Maschinenparks in China aufbauen und hoffen, dass dort nicht binnen zwei Jahren eine baugleiche Konkurrenzfabrik aus dem Boden sprießt und Ihr schöner neuer Chefposten bei RD Motorparts der Firmeninsolvenz zum Opfer fällt.«
Der Mann blinzelte. Ich wusste nicht, ob er noch die Einkommenssteuer nachrechnete oder ihm im Wirtschaftsstudium vor lauter Effizienzsteigerung durch Produktion in Niedriglohnländern schlicht nicht erklärt worden war, welche Risiken das barg. Im technologisierten Europa gab es ganze Branchen, die jegliche asiatische Beteiligung kategorisch ausschlossen. Aber was wusste ich schon. Ich war schließlich nur eine Frau.
Mit einem Blick auf die Wanduhr über der Tür nahm ich die Füße vom Tisch und stand auf. »Vielen Dank für das Bewerbungsgespräch, Mr Barlow. Mein Assistent wird sich bei Ihnen melden, aber ich will ehrlich sein: Ich bezweifle, dass mein Vater Ihnen die Firma überlassen wird, die er selbst gegründet und über zwei Jahrzehnte hinweg im Schweiße seines Angesichts aufgebaut hat.«
Zugegeben, diese Formulierung war ein wenig pathetisch, denn der Erfolg von RD Motorparts hatte weniger mit dem unermüdlichen Arbeitswillen oder unternehmerischen Geschick meines Vaters zu tun, sondern mehr mit seinem Namen: Bernhard »Ricky« Duvrai war eine der größten NASCAR-Racing-Legenden, seit sich der unangefochtene Champion Richard Petty 1992 zur Ruhe gesetzt hatte.
Anders als Petty hatte die Firma meines Vaters jedoch seine persönlichen Rennerfolge nicht weiterführen können. Alle von uns gesponserten Teams belegten bestenfalls die Top Zwanzig.
Mein Blick kehrte von den vielen Trophäen und Fotografien in der Glasvitrine zurück zu dem CEO-Bewerber, der jetzt lautstark seinen Stuhl zurückschob – so plötzlich, dass mein Herz vor Schreck einen schmerzhaften Satz machte. Ich zwang mich zur Ruhe und atmete so tief ein, wie es der eng sitzende Rockbund erlaubte.
»Ich will ebenfalls ehrlich zu Ihnen sein, Miss Duvrai: China hin oder her – besser als eine Frau kann ich die Firma allemal führen. Und wenn Sie ehrlich zu sich selbst sind …« Er ließ den Blick abschätzig über meine Erscheinung wandern, was ihm deutlich besser gelang, jetzt, da wir beide standen und er mich trotz meiner Absätze um eine Handlänge überragte. »Sie sitzen bloß auf diesem Stuhl, weil Sie die Tochter Ihres Vaters sind, also bilden Sie sich nichts drauf ein und fahren Sie beim nächsten Gespräch einen Gang runter. Dann wirken Sie auch nicht wie eine Boss-Bitch.«
Plötzlich fühlte sich das Lächeln auf meinem Gesicht an wie eine Maske. »Sie hören von uns, Mr Barlow«, sagten meine Lippen, während meine Augen lautlos hinzufügten, wohin er sich seine wiedergefundenen Eier schieben konnte.
»Ich finde den Weg nach draußen allein. Damit Sie auf dem Weg nicht auf den Zahnstochern da umknicken.«
Diese Zahnstocher würde ich ihm gleich bis zum Anschlag dorthin schieben, wo die Sonne niemals schien, wenn er sich nicht schleunigst aus meinem Büro entfernte. Und wenn meine Brust endlich nicht mehr so eng wäre.
Memo an mich selbst: Keine eng taillierte Kleidung tragen, wenn die Chance besteht, dass ich mich aufrege.
Kaum hatte Kurzschwanz-Kent das Büro verlassen, steckte ein zweiter Mann seinen halbrasierten Kopf herein.
»Probleme?«, fragte Romeo – ja, der Kerl hieß wirklich so, und er sah obendrein aus wie der feuchte Traum aller Junggesellinnen, die von südländischen Strippern fantasierten. Allerdings war Romeo kein Stripper, sondern Ex-Marine und bisexuell mit Tendenz zu Männern.
Mein Vater hatte ihn zu Jahresbeginn für mich eingestellt. Er nannte es »Persönlicher Assistent«, aber für mich klang die Stellenbeschreibung eher nach Babysitter. Trotzdem mochte ich Romeo, denn in den allermeisten Fällen respektierte er meine Wünsche. Erleichtert, dass bloß er in der Tür stand und nicht der nächste Bewerber, ließ ich mich gegen die Tischkante sinken und erlaubte mir, für einen Moment die Augen zu schließen. Es war anstrengend, Tag für Tag seinen Platz rechtfertigen zu müssen, nachdem ich ihn mir durch jahrelange harte Arbeit redlich erkämpft hatte.
»Nein, keine Probleme«, seufzte ich, während mir Kent Barlows Worte immer noch im Kopf herumspukten. Boss-Bitch.
»Wieso schätzt man es an Männern, wenn sie knallhart auftreten, und nennt sie Boss, während man Frauen, die dasselbe tun, Bitch nennt?«
Jetzt grinste Romeo sein sonniges Grinsen. »Weil Menschen dumm sind und ihr Gegenüber oft unterschätzen. Das macht es umso interessanter, wenn sie mal einer echten Bosslady gegenüberstehen.«
Bosslady, dachte ich frustriert. Immerhin klang das charmanter. Leider nannte mich niemand so, denn das würde bedeuten, dass jemand anerkannte, dass ich der Boss war. Ich wünschte, es wäre anders, aber Kent hatte recht gehabt. Der einzige Grund, warum ich auf diesem Stuhl saß, war der, dass ich die Tochter meines Vaters war. Nicht, weil ich seit Jahren härter arbeitete als jeder andere in der Firma. Nicht, weil ich unsere Produkte, Umsatzzahlen, Marktanteile und Mitarbeiter besser kannte als mein Vater selbst. Verdammt, ich konnte es nicht einmal darauf schieben, dass ich eine Quotenfrau war, weil es bei uns keine Frauenquote gab.
Es lag allein daran, dass ich das einzige Kind war, das den Lenden dieses selbstverliebten Narzissten entsprungen war, und dass er mehr Begeisterung für die Vorstellung besaß, seine Firma RD Motorparts weiterhin von jemandem mit den Initialen RD leiten zu lassen, als er Angst vor einer Frau am Steuer hatte.
»Egal. Ich komme klar. Können wir los?«
»Aye.« Romeo hielt drei Schlüssel hoch. »Sanft, groß oder hart?«
Ich verbiss mir ein Grinsen. Natürlich sprachen wir von Autos, nicht von Sex. Sanft war der Tesla, der trotz seiner vierhundert PS mit der weichen Eleganz eines Raumschiffs über die Highways glitt. Groß war der Range Rover, das supersicherste Fahrzeug, wenn es nach meinem Vater ging, der mich am liebsten seit meiner Geburt in einen Wattekokon gepackt hätte: persönliche Kinderärzte, private Krankenversicherung, peinlicher SUV mit riesiger Knautschzone.
Hart hingegen war mein heimlicher Liebling: der Audi R8 GT. Fünfhundertsechzig PS in einem V10-Motor, der in dreieinhalb Sekunden von null auf hundert beschleunigte. Und das Beste: Es gab davon nur dreihundertdreiunddreißig Stück auf der Welt.
Grinsend wollte Romeo gerade die Tür zuziehen, als sich unsere Buchhalterin Claire hereinschob. »Sorry, Romeo.«
»Renée hat einen Termin –«
»Die Pressekonferenz ihres Vaters, ich weiß«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber das ist erst in sieben Stunden.«
»Und vierhundert Meilen weit entfernt«, hielt er dagegen. »In Kentucky.«
»Danke für die Geografie-Stunde, Romeo.«
»Gern geschehen, hier noch eine in Physik: Wenn sie nicht innerhalb der nächsten halben Stunde losfährt, kommt sie zu spät oder riskiert ein paar Knöllchen.«
Amüsiert betrachtete ich die beiden, bis sie fertig waren. Ich liebte es, mit Menschen zu arbeiten, die intelligent, schlagfertig und selbstironisch waren.
Claire tätschelte gut gelaunt Romeos Bizeps. »Dann fängst du besser schon einmal an, alle Geschwindigkeitskontrollen auf dem Weg zu checken –«
»Schon passiert. Wir wissen schließlich alle, wie ungeduldig Renée ist, wenn sie emotional wird.«
Den beiden beim Diskutieren zuzuhören war wie bei einem Tennis-Match zuzusehen. Ich beschloss, mich einzumischen, bevor ich von ihrem Wortwechsel noch ein Schleudertrauma davontrug.
»Renée steht zufällig im selben Raum. Außerdem sind ungeduldig und emotional nicht die ersten Worte, mit denen ich mich beschreiben würde.«
Beide wandten mir den Kopf zu, dann beschlossen sie wohl, ihre Konversation auf später zu verschieben.
Romeo warf mir einen vielsagenden Blick zu, während er auf seine Armbanduhr tippte, dann schloss Claire die Tür hinter ihm und warf mir drei Kundenakten auf den Tisch, von denen ich die oberste gleich erkannte. »Sorry, Süße.«
Ich plumpste zurück in meinen Chefsessel. »Bitte sag mir nicht, dass Brady immer noch nicht gezahlt hat.«
»Okay, dann sage ich es nicht.« Sie kniff die Lippen zusammen und betrachtete ihre blutrot manikürten Fingernägel. Claire gehörte zu der Sorte Frau, die mit ihren Naturnägeln Schrauben in die Wand drehen konnte. Ich gehörte zu der Sorte, deren Nägel schon einrissen, wenn ich sie schief ansah. Vitaminmangel, hatten meine Ärzte attestiert. Klar, als ob das mein größtes Problem wäre.
»Wie viel?«
»Mit Mahngebühren und Zinsen knapp einhundertachtzigtausend.«
Autsch. Ich wusste, dass die Firmenfinanzen das abfedern konnten, aber Brady Fuller war nicht der erste Kunde, der die Zahlungen schleifen ließ, seit ich die Geschäftsführung übernommen hatte. Und wenn mehr Kunden diese Zahlungsmoral übernahmen, könnte es für RD Motorparts schon sehr bald sehr eng werden. Ganz zu schweigen von dem Desaster, das sich zum Jahresende hin anbahnte, wenn wir nicht endlich den Deal mit Pearson Mechanics abschließen konnten.
»Können wir eine Inkasso-Firma beauftragen?«
»Ja, aber das könnte teuer werden.«
Nachdenklich schob ich meinen Daumennagel in die kleine Lücke zwischen meinen unteren Schneidezähnen. »Und einen Anwalt?«
»Dito.«
»Ich schätze, einen Pferdekopf können wir ihm nicht ins Bett legen?«
Claire lachte über meine Anspielung auf Coppolas Mafia-Klassiker Der Pate. Ich sah auf die Uhr. Und dann traf ich eine Entscheidung.
»Ich fahre zu ihm und stelle ihn selbst zur Rede.«
Claire zuckte zurück, als ich aufstand und nach dem Autoschlüssel griff, den Romeo mir dagelassen hatte. »Jetzt? Und die Pressekonferenz in Kentucky?«
»Das schaffe ich schon.« Ich zwinkerte ihr zu. »Du weißt doch, ich bin ungeduldig und fahre zu schnell, wenn ich emotional werde.«
Die Straße hatte mir alles beigebracht, was ich wusste.
Fokus. Disziplin. Überlebenswille.
Mein Blick war fest auf den Horizont gerichtet, während in meinem peripheren Sichtfeld die Randstreifen zu weißen Schlieren verschwammen. Schemenhaft wie Schatten, flüchtig wie ein Herzschlag. Mein eigener Herzschlag beschleunigte sich minimal, als ich einen Kompaktwagen überholte und der Luftdruck kurz gegen meinen Wagen fegte. Das Ortsschild kündigte die nächste Ausfahrt an und versprach die süßeste Aussicht im Süden.
Ich wusste nicht, was Heimatgefühl war, aber ich redete mir gern ein, dass es der warme Druck in der Brust beim Anblick dieses Schilds war. Ich kostete das Gefühl aus, solange es währte, denn man wusste nie, wann einem das Leben alles wieder entriss.
Noch etwas, das mir die Straße beigebracht hatte.
Im Rückspiegel erhaschte ich einen silbergrauen Schemen, dessen geschmeidige Silhouette schneller näher kam, als sie dürfte. Mein Tacho zeigte mehr als einhundertfünfzig an. Streng genommen illegal, aber das war einer der Vorteile, am Arsch der Welt zu wohnen: Die Hälfte der Cops war zu beschäftigt, um Verkehrskontrollen durchzuführen. Und der anderen Hälfte brauchte ich bloß vorher eine Nachricht zu schreiben, damit sie ihre Pause um eine halbe Stunde verlängerten.
Der Wagen schloss schnell auf. Sah aus – und hörte sich an – wie ein Lamborghini. Wieder irgendein reicher Teenager, den zu viel Geld leichtsinnig gemacht hatte. Ich wechselte die Spur, ließ es mir jedoch nicht nehmen, das Gaspedal weiter durchzudrücken, und blieb immer gerade außerhalb seiner Reichweite.
»Hörst du mir überhaupt zu?!« Die Stimme eines meiner besten Freunde dröhnte lauter als der V8-Motor bei knapp zweihundert Sachen.
»Entspann dich, Ash.«
»ENTSPANNEN?!«
Ohne den Blick von dem Punkt am Horizont zu nehmen, an dem der Asphalt flimmernd den Himmel berührte, regelte ich die Lautstärke herunter. Ich liebte diesen Kerl, aber seine Stimmbänder brachten meine Nerven näher an ihre Belastungsgrenze als meine Erbarmungslosigkeit die Drehzahl des Motors.
Ein Mäusebussard kreuzte den Himmel über dem Highway. Das Lenkrad vibrierte unter meinen Fingern.
»Und was ist das eigentlich für ein Lärm? Sitzt du in einem Auto?«
»Ja.«
»Freisprechanlage?«
Diese Frage war so unnötig, dass ich sie keiner Antwort würdigte. Der Lamborghini tauchte neben mir auf. Adrenalin brandete in meinen Gliedern hoch, als mir drei Dinge auffielen.
Erstens: Der Lamborghini war ein Audi.
Zweitens: Am Steuer saß kein Teenager, sondern eine Frau.
Und drittens: »Shit, die Frau ist noch heißer als der Wagen …«
»Ich kann dich kaum verstehen, kannst du lauter sprechen?«, fragte Ash.
Ach ja, richtig. Ich war nicht allein. »Nein. War’s das, oder brauchst du noch was?«
»Nein, du brauchst was!«, beharrte er. »Du kriegst die zwanzigtausend zurück, ich versprech’s! Ich brauche nur eine Weile, weil Versicherungen größere Bastarde sind als Anwälte.«
Ich schüttelte den Kopf. »Vergiss das Geld, Ash.«
»Spinnst du? Auf keinen verdammten Fall! Versprochen ist versprochen. Ich brauch nur noch ’ne Weile.«
Er fuhr fort, sich über Versicherungsklauseln, Bauaufsichten und Trümmerteile auszulassen, und ich hörte geduldig zu, denn dieser Typ hatte in den letzten Wochen genug Scheiße durchgemacht. Währenddessen hielt ich unbeirrt die Geschwindigkeit des Wagens neben mir, wobei mein Blick immer wieder in winzigen Seitenblicken zur Seite driftete, um die Frau im Cockpit links von mir zu erfassen. Schlanke Hände und helle Haut. Die Uhr an ihrem Handgelenk war teurer als meine. Ihr hochgebundener blonder Pferdeschwanz wippte im selben Takt wie ihre Finger auf dem Lenkrad, ihre Lippen bewegten sich, als würde sie mit jemandem telefonieren – nein! – einen Songtext mitsingen.
»Halt mal kurz die Luft an, Ash.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, wechselte ich den Audiokanal und skippte durch die Radiosender. Oder hörte sie über einen Streaming-Dienst? Ich wollte mich gerade wieder aufs Wesentliche fokussieren – die Straße vor mir und einen meiner besten Freunde –, als ihre rhythmischen Kopf- und Lippenbewegungen plötzlich zu dem Song passten.
»Circus« von Britney Spears. Die Fahrerin des Audi tanzte nicht nur zu dem Song, sie ging völlig in ihm auf. Faszinierter, als bei der Geschwindigkeit gesund war, betrachtete ich ihre frechen Gesten, die ihren blonden Pferdeschwanz um ihr Gesicht peitschen ließen, während Britney die Männer in zwei Kategorien einteilte: Diejenigen, die mit einer starken Frau umgehen konnten, und diejenigen, die Angst vor ihnen hatten.
Das gefiel mir.
Mir gefiel auch, wie die Frau vorgab, mich nicht zu bemerken. Und am meisten gefiel mir, dass es ihr kein Stück gelang.
Viel zu schnell tauchte meine Ausfahrt am Horizont auf. Ein Truck auf der rechten Spur zwang mich, entweder zu beschleunigen oder abzubremsen, um die Kurve im Idealwinkel zu kriegen.
Sekundenbruchteilentscheidung.
Ich entschied mich, abzubremsen, während die Frau noch mehr beschleunigte und an mir vorbeizog. Ich überließ ihr den kleinen Sieg.
War nett, unbekannte Fremde.
Dann wechselte ich den Audiokanal erneut. »Wieder da.«
Ash war noch in der Leitung. »Probleme mit dem Wagen?«
»Nein.«
Als der Truck vorbei war, zog ich auf die rechte Spur und ging vom Gas. Der Wagen reagierte sofort. Genugtuung schwemmte das Restadrenalin weg, während ich die Abfahrt nahm und sich mein Herzschlag genauso verlangsamte wie der ländliche Verkehr.
Zweihundert Stundenkilometer auf einem leeren Highway waren eine Höllengeschwindigkeit. Aber sie waren nichts im Vergleich zu zweihundert Stundenkilometern auf einem eine Meile langen Oval zwischen neununddreißig anderen Wagen, wo jedes Detail, jede Millisekunde und jede winzige Drehung des Lenkrads zählte.
»Du bist verrückt, dass du noch mal ein offizielles Rennen fährst, weißt du das?«
Ein Blick auf meinen Pulsmesser: sechsundvierzig über Ruhepuls. Zu viel.
Ja, es war verrückt, dieses Rennen zu fahren. Aber ich würde es trotzdem tun. Weil Ricky Duvrai beschlossen hatte, dieses Rennen – mein Rennen in meiner Stadt – für seine selbstglorifizierte Selbstverherrlichung zu missbrauchen. Und das würde ich nicht zulassen.
Der Verkehr staute sich an einer Ampel. Und wieder einmal stellte ich fest, dass das Leben nichts als eine sehr lange Autofahrt war.
Die meiste Zeit fuhr man allein. Viel Zeit zum Nachdenken. Hin und wieder stieg jemand ein und fuhr einen Teil der Strecke mit. Manchmal spielte ein guter Song im Radio und lenkte einen zeitweise ab. Mal ritt man eine grüne Welle.
»Wie lang ist das letzte Offizielle her? Zwei Jahre?«
Und manchmal stand man Ewigkeiten im Stau.
»Drei.« Drei Jahre, zwei Monate und elf Tage. Ich fing meine abschweifende Konzentration ein. »Aber Fahren ist wie Sex: Man verlernt es nicht.«
Die Straße gibt jedem die gleichen Chancen. Ihr ist es egal, woher du kommst. Ihr ist bloß wichtig, wohin du gehst. Nur wer stehen bleibt, verliert.
Und ich hatte nicht vor, zu verlieren. Niemals.
ungefähr zur gleichen Zeit
Beim Autofahren lernt man viel über die Gesellschaft, in der wir leben.
Männer fahren Sportwagen mit offenem Verdeck und genießen ihre Freiheit. Frauen fahren SUVs, damit genug Platz ist, um die Kinder zur Schule und Einkäufe nach Hause zu fahren.
Familien fahren Kombis, und Rentner fahren Wohnmobile. In der Stadt hetzen Kleinwagen zwischen hupenden Kleintransportern umher, als hinge ihr Leben von dieser einen Ampelphase ab. Auf dem Land chillen Pick-up-Fahrer mit Latzhosen und ohne Schuhe, und werfen dir unter dem Schirm ihrer Baseball-Cap einen irritierten Blick zu, wenn du sie rechts überholst. Als Frau. In einem Sportwagen.
Klingt alles nach Stereotypen und Klischees?
Trauriger Newsflash: Menschen lieben Klischees und brauchen Stereotypen. Gewohnheit, Regeln und geordnete Bahnen geben ihnen Sicherheit, aber sie machen auch behäbig.
In dieser Welt muss man sich seinen Platz erkämpfen. Wer sich an die Regeln hält, bleibt hinter Trucks und Wohnmobilen stecken – im metaphorischen und tatsächlichen Sinne. Wer zu zaghaft blinkt oder den falschen Wagen fährt, schafft es nicht in die Lücke.
Niemand fährt für einen Ford Fiesta zur Seite. Jeder überlässt einem Lamborghini das Feld.
Ich war nicht der Ford Fiesta. Ich war der Lamborghini.
Beziehungsweise der baugleiche Audi R8.
Und ich würde entgegen aller Google-Maps-Prognosen doch noch fast pünktlich zur Pressekonferenz meines Vaters kommen, obwohl ich mehr als eine Stunde an diesen aufgeblasenen Arsch namens Brady verloren hatte.
Nach fast fünf Stunden im Auto war mein Hintern platt und meine Konzentration am Ende, aber ich hielt tapfer durch. Seit ich vier Jahre alt war, hatte ich an den Zäunen von Rennstrecken gestanden und mir die ganzen dreieinhalb Stunden lang vorgestellt, dass ich im Tourenwagen meines Vaters säße und konzentriert Kurve um Kurve perfektionierte. Beim NASCAR entschieden Sekunden über Sieg und Niederlage. Eine Aneinanderreihung perfekter Runden bei höchster Konzentration. Zum wiederholten Male stellte ich mir vor, wie es wäre, selbst in einem Cup-Car zu sitzen. Mein Vater hatte mich nie fahren lassen, obwohl ich eine gute Autofahrerin war und wirklich etwas von Autos verstand. Er hatte mich nicht einmal zu seinen Pressekonferenzen und Veranstaltungen mitgenommen, sondern immer nur aus sicherer Entfernung der VIP-Logen zusehen lassen. Früher hatte ich gedacht, er schämte sich für mich. Heute wusste ich es besser.
Direkt vor mir scherte ein verbeulter Kleinwagen aus, ohne zu blinken. Fluchend trat ich auf die Bremse und lenkte auf die rechte Spur. Mein Herz geriet ins Stolpern, und ich fluchte noch lauter. Vorbei die Konzentration. Der Radiosender rauschte, also skippte ich weiter. Eines hatte sich in all den Jahren, die ich schon quer durchs Land gefahren war, nie geändert: Sobald man die Ballungszentren verließ, spielten die Sender Country, Country und noch mehr Country.
Während ich den gemächlichen Southern Flow eigentlich mochte, brauchte ich jetzt etwas mit mehr Power. Ich musste viermal skippen, bis ich auf ein 2000s Pop Radio stieß, das gerade »Independent Women, Pt. 1« von Destiny’s Child spielte. Augenblicklich wippte mein Körper im Takt des Beats, und mein Fuß drückte das Gaspedal stärker durch. Das war meine Art von Musik. Sie war nicht nur laut, frech und selbstbewusst, sondern auch der Soundtrack zu den besten Erinnerungen meiner Jugend – mit meiner Mutter.
Damals hatte ich sie immer nur ein Wochenende im Monat sehen dürfen, weil mein Vater nach ihrer forcierten Einweisung das alleinige Sorgerecht erhalten hatte. Aber diese Wochenenden waren eine endlose Pyjamaparty gewesen, mit schief gesungenen Pop-Songs an der Küchenzeile, selbstgemachtem Popcorn und Serienmarathons. Meine Mutter war der sanfteste, fröhlichste Mensch, den ich kannte. Aber falsche Entzugsanstalten, falsche Medikamente und der falsche Mann hatten sie zerstört. Nicht selten war sie mitten im Lachen in einen hysterischen Weinkrampf ausgebrochen. Mehrmals hatte sie sich selbst verletzt. Einmal sogar mich. Ich hatte es meinem Vater nie erzählt, damit er mir den Kontakt nicht völlig verbot. Seit ich volljährig war, galt das Verbot natürlich nicht mehr, aber da war der Schaden bereits angerichtet gewesen. Sie hatte sich von mir ebenso abgekapselt wie von ihm und weigerte sich jedes Mal, aus ihrem Zimmer zu kommen, wenn ich sie in der Klinik besuchte. Es war ein Scheißgefühl, wenn die eigene Mutter einen nicht sehen wollte. Schlimmer noch, es trieb mich jedes Mal geradewegs zurück in die Arme meines Vaters, der mich zwischen Überfürsorge und egoistischer Herablassung geradezu zerquetschte.
Ich drehte die Musik lauter und konzentrierte mich auf den nächsten Song, »Circus« von Britney Spears, um mich in eine Zeit zu träumen, in der meine Mutter und ich noch glücklich gewesen waren, und zu vergessen, dass die Welt ein Arschloch war.
Ein quietschblau lackierter Wagen vor mir zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Genauer gesagt der für Straßenfahrzeuge untypische Heckspoiler. Das beliebte Tuning-Teil war auf der Straße bloß ein kosmetisches Accessoire, aber bei hohen Geschwindigkeiten von Hochleistungsautos unverzichtbar, weil es die Bodenhaftung erhöhte, was dem Fahrer mehr Kontrolle verschaffte. Der Unterschied machte sich allerdings erst ab rund achtzig Meilen pro Stunde bemerkbar.
Neugierig zog ich mit ihm gleichauf und ging gerade lang genug vom Gas, um einen Blick ins Wageninnere zu erhaschen. Das Gesicht des Fahrers lag im Schatten, er trug eine Baseball-Cap.
Sofort schlug die Neugierde in Abneigung um, denn die einzigen Kerle, die ich kannte, die beim Autofahren eine Cap trugen, waren Rennfahrer. Unwillkürlich schoss mir Colt Ryder durch den Kopf. Er war nicht nur einer der gefragtesten NASCAR-Fahrer, dessen Vater bereits eine Legende gewesen war und der deswegen mit der aufgeblasenen Arroganz von Ruhm und Reichtum aufgewachsen war, sondern zu meiner Schande mein Ex. Und von Typen wie ihm, die sich selbst für Gott und Frauen für Trophäen hielten, hatte ich eindeutig die Nase voll.
Also trat ich aufs Gas, bevor mich der Fahrer bemerken konnte. Adrenalin explodierte in meinem Bauch, als der V8-Motor unter mir aufheulte. Viel zu schnell holte der Wagen auf, doch der Verkehr verhinderte, dass ich noch mal beschleunigen konnte.
Die nächsten zwei Songs – *NSYNC und Nelly – verbrachte ich damit, verstohlen den kobaltblauen Chevy Camaro ZL1 zu bewundern. Den Wagen, nicht den Fahrer. Es war kein reguläres Cup-Car, sondern besaß individuelle Modifikationen. Die Reifen schienen breiter, die Vorderachse verstärkt. Bisher hatte ich so etwas nur bei Elektrofahrzeugen gesehen. War das ein elektrisch modifizierter Wagen? Warum?
Ich war so sehr mit Starren beschäftigt, dass mir erst nach einer Weile auffiel, wie mühelos der Wagen meine Geschwindigkeit hielt. Wie exakt er meine Geschwindigkeit hielt. Hatte mich der Fahrer entdeckt? Sein ausdruckslos nach vorn gerichteter Blick sprach dagegen. Die absolute Synchronizität unserer Fahrzeuge dafür. Gegen meinen Willen spürte ich Begeisterung in mir aufwallen. Als wären wir mit einem unsichtbaren Band verknüpft, vereint in einem Tanz auf dem Asphalt, den keiner von uns gelernt hatte und den wir doch intuitiv verstanden.
Testweise trat ich leicht aufs Gas. Der blaue Wagen zog augenblicklich nach, doch sein Fahrer ließ keine Regung erkennen. Er wirkte eindeutig attraktiver als Colt, obwohl es im Schatten der Baseball-Cap schwierig war, seine Züge auszumachen. Dafür sah ich umso deutlicher seine wie gemeißelte Kieferpartie und das sinnliche Profil seiner Lippen, deren leicht gehobene Mundwinkel eine undeutbare Mischung aus überlegenem Lächeln und unbeugsamer Härte waren.
Ich war so hypnotisiert von dem Anblick, dass ich fast die Ausfahrt verpasste. In dieser Sekunde sah er herüber. Ertappte Scham rieselte in meine Glieder, doch gleichzeitig prickelte Begeisterung in meinen Fingerspitzen. Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht, als ich das Gaspedal ganz durchtrat. In der Sekunde, in der sich unsere Blicke trafen, zog ich an ihm vorbei.
Für den Bruchteil einer Sekunde bohrte sich das hypnotische Stahlgrau seiner Augen geradewegs in meine Seele, was die Begeisterung über diesen kleinen Sieg berauschender machte als alles, was ich jemals gespürt hatte.
Mein Hochgefühl verpuffte, kaum dass ich an der Rennstrecke ankam. Nicht nur war der Parkplatz so überschaubar wie die benachbarte Kleinstadt, er war auch komplett besetzt. Ich kreiselte zweimal, zunehmend ungeduldig, dann stellte ich mich dreist auf den einzigen freien Parkplatz mit der Aufschrift PRIVAT, genau zwischen den protzigen McLaren GTS von Colt Ryder – ich war nicht wirklich bereit, ihm heute gegenüberzutreten – und den Oldtimer Ferrari meines Vaters.
Der Motor knisterte, während ich mein Erscheinungsbild im Rückspiegel überprüfte und ein paar verirrte Strähnen zurück in meinen hohen Pferdeschwanz steckte. Genau in der Sekunde schoss hinter mir ein kobaltblauer Schemen vorbei.
Was zur Hölle?
Hastig justierte ich den Spiegel neu, wobei ich ihn fast aus der Verankerung riss. Tatsächlich! Der Chevy kam ruckartig zum Stehen und setzte dann so rasant direkt hinter mich zurück, dass ich panisch den Haltegriff packte und mich für einen Zusammenstoß wappnete.
Er kam nicht. Stattdessen stieg der Fahrer so gelassen aus, als hätte er gerade nicht das Stuntmanöver des Jahrhunderts hingelegt.
Mit immer noch wild pochendem Herzen riss ich ebenfalls die Tür auf. Mein Atem stockte kurz, als mein Verstand realisierte, wie attraktiv er aussah, wenn ich ihn nicht gerade für einen arroganten Rennfahrer hinter einem Lenkrad hielt. Es mochte an seinen geschmeidigen Bewegungen liegen, deren ruhige Dominanz fast an ein Raubtier erinnerte und meinen Nacken kribbeln ließen. Ob vor Furcht oder Faszination, wusste ich nicht. Er trug eng sitzende Jeans und darüber ein dunkelblaues Hemd, dessen oberster Knopf offen stand und den Blick auf hypnotische Halsmuskeln freigab. Die Hemdärmel waren locker hochgeschoben, und ich musste mich stark zusammenreißen, nicht auf seine sehnigen Unterarme zu starren.
Mühsam richtete ich meinen Blick auf die Lücke zwischen unseren Stoßstangen. Genauer gesagt, auf die nicht vorhandene Lücke. Er hatte seinen Wagen auf den Millimeter genau hinter meinem platziert.
»Haben Sie irgendwelche Aggressionsbewältigungsprobleme, von denen ich wissen sollte?«
Statt einer Antwort sah er mich so lange und durchdringend an, dass meine Hände feucht wurden. Er legte ganz leicht den Kopf schief und kniff kaum merklich die Augen zusammen, als wäre ich ein seltenes Exemplar einer ausgestorbenen Spezies. Oder eine Maus im Nest der Klapperschlange. Seine Augen waren so tiefdunkelgrau wie Gewitterwolken, und sein Blick war verstörend intensiv, was auch daran liegen mochte, dass sein Gesicht halb im Schatten lag. Sein Blick, sein Körper, seine gesamte Erscheinung stellte jedes feine Härchen auf meinen Armen auf. Ich verspürte gleichzeitig den Drang wegzulaufen und direkt vor ihn zu treten, um ihm die Baseball-Cap vom Kopf zu reißen und seine Miene besser einschätzen zu können. Hinter einem Steuer, wenn uns zwei Autoscheiben voneinander trennten, hatte ich mich irgendwie sicherer gefühlt.
Verstörender als sein Blick war bloß die Stille.
»Sie wissen, dass ich Sie abschleppen lassen werde, wenn Sie da stehen bleiben?« Ich hasste es, wie atemlos meine Stimme klang, und verschränkte die Arme vor der Brust, um wenigstens meine Körperhaltung zu stabilisieren.
Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ist das so?« Gott, seine Stimme war beinahe noch hypnotischer als sein Blick, tief und gleichzeitig samtig. Wieder stellten sich meine Nackenhärchen auf. »Beantworte mir eine Frage, Honey. Ignorantin oder Legasthenikerin?«
Ich blinzelte. »Wie bitte?«
»Ob du nicht lesen kannst oder einfach –«
»Ich weiß, was Legasthenie heißt!«, zischte ich und ärgerte mich gleichzeitig darüber, dass ich im Gegensatz zu seiner ruhigen Gelassenheit klang wie ein kopfloses Huhn. Cool bleiben, Mädchen, es ist nur ein arroganter Arsch. Mit denen wirst du immer fertig.
»Ah. Also Ignoranz.« Er hob das Kinn, und ich wusste nicht, ob die Geste anerkennend oder spöttisch war. »Immerhin gehört dir der Parkplatz nicht, oder?«
Seine Stimme … Wie konnte jemand so absolut ruhig sprechen und dabei so viel Kontrolle ausstrahlen? Wieso konnte ich so etwas nicht?
Ich vermied einen schuldbewussten Seitenblick auf das Schild mit der Aufschrift »PRIVAT«. Wenn ich mir ansah, wie dicht seine Stoßstange meiner auf die Pelle rückte, bekam ich eine Ahnung, wem er gehörte. Wieso hatte der Typ hier einen Privatparkplatz? War er ein Investor der Rennstrecke? Gehörte ihm womöglich ein Team? Der wertige Stoff seines Hemds sprach jedenfalls dafür, dass er Geld hatte.
Für eine Entschuldigung war es zu spät – und Bosse entschuldigten sich ohnehin nicht, also hob ich bloß die Schultern.
»Tja, schade wegen des Parkplatzes.« Ich zwang mich, ebenfalls leise zu sprechen, um ihn instinktiv zu imitieren. Leider hatte ich dadurch bloß das Gefühl, fast zu ersticken, weil ich zu wenig Luft bekam.
»Selbst wenn, wäre es nicht deiner, oder?«
Wieso klang alles, was er sagte, wie eine Herausforderung? Und wieso drängte es meinen Körper danach, mich ihm zu beweisen?
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte – gar nichts, weil alles in meinem Kopf schnippisch, kindisch oder peinlich klang. Schweigen war immerhin Macht.
Wieder hoben sich seine Mundwinkel, und wieder wusste ich nicht, ob er mich belächelte oder mir Anerkennung zollte. Aber ich wusste, dass ein mysteriöses Halblächeln wie dieses der Grund dafür war, dass Leonardo da Vinci die Mona Lisa gemalt hatte: um diesen undeutbaren Ausdruck festzuhalten und auf ewig studieren zu können. Wenn ich könnte, würde ich sein leises Halblächeln ebenfalls auf Leinwand festhalten.
»Netter Anblick übrigens. Selten.« Ohne den Blick von mir zu nehmen, nickte er mit dem Kinn zu meinem Wagen. Mir wurde heiß.
»Verrätst du mir die Nummer?«
»Die Nummer?!« Endlich fand ich meine Sprache wieder. »Ich weiß ja nicht, wie das hier auf dem Land so läuft, aber ich gebe Ihnen – denn so viel Höflichkeit unter Fremden muss sein! – sicherlich nicht meine Nummer, nur weil Sie meinen Anblick nett finden.«
Die Art, wie sich sein Halblächeln jetzt ins Spöttische vertiefte, ließ mich innehalten. Unsicherheit brach durch meine sorgfältig aufgesetzte Fassade. Das war doch ein Flirtversuch gewesen, oder nicht? Wieso war ich plötzlich so verwirrt? Männer mit übersteigertem Ego verputzte ich zum Frühstück – damit sie mich nicht verschlangen, weil ich es als Frau wagte, in ihr Testosteron-Territorium einzudringen und einen Platz für mich zu beanspruchen, obwohl ich kein Y-Chromosom besaß.
Wieso ließen mich Typen wie Kent Barlow kalt, während dieser Mann allein mit seinem durchdringenden Blick und leisen Lächeln Fluchtreflex und Faszination in mir auslöste?
»Dein Anblick ist auch nicht übel, das stimmt. Gut, dass du dir darüber im Klaren bist.«
Mir klappte der Mund auf. Streich die Faszination, dieser Kerl war ein genauso arrogantes Arschloch wie alle anderen halbwegs attraktiven Typen. Jetzt nickte er vollends zu meinem Wagen. »Ich spreche von der Produktionsnummer. In der Mittelkonsole. Das ist ein Audi R8 GT, limitiert auf dreihundertdreiunddreißig Stück. Welche Nummer hat der hier?«
Hitze schoss mir in die Wangen, und ich hoffte inständig, dass man mir das Fettnäpfchen nicht ansah. Er hatte tatsächlich nicht meinen Anblick gemeint. Ich erinnerte mich nicht, wann mir das letzte Mal so heiß vor Scham geworden war. Gleichzeitig regte sich in mir Neugierde. Ich beschloss, nicht in dem Fettnäpfchen sitzen zu bleiben, sondern mein imaginäres Krönchen zu richten und mit einem charmanten Lächeln den Kopf schief zu legen.
»Wow, er kennt sich also nicht nur mit waghalsigen Einparkmanövern aus, sondern auch mit Autos. Ich bin beeindruckt. Aber lass mich etwas klarstellen, Honey.« Ich betonte das Wort besonders, weil er mich ebenfalls so genannt hatte, als wäre ich ein dahergelaufenes Zuckerpüppchen. Und dann lächelte ich, um ihm klarzumachen, dass ich hier nicht der Honigtopf war, sondern die Bienenkönigin.
»Da wo ich herkomme, lernen sich Leute erst einmal kennen, bevor sie sich gegenseitig ihre Nummern verraten. Egal welche. Und ich würde ja sagen, ich wäre durchaus geneigt, dich kennenzulernen, aber das wäre eine Lüge.«
Die Art, wie sie dabei den Blick über meinen Körper wandern ließ, strafte ihre Worte Lügen. Anstatt sie damit vor den Kopf zu stoßen, lauschte ich ihren Ausführungen, während ich sie musterte. Sie trug einen engen Rock, dessen hohe Taille sinnliche Kurven umhüllte, während die cremefarbene Seidenbluse elegant genug war, um sie unantastbar erscheinen zu lassen, und sich die Spitze ihres BHs gerade genug abzeichnete, um zu den wildesten Fantasien einzuladen. Ihre blonden Haare waren zu einem hohen Zopf gebunden, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, und ihr Gesicht war eine faszinierende Mischung aus weichen Zügen und harter Miene.
Ihre unverblümte Art überraschte mich. Doch es war der Blick ihrer Augen, der mich fesselte. Tiefblau und endlos wie der Himmel nach der Abenddämmerung, kurz bevor sich die ersten Sterne zeigten. Ihr Gesicht kam mir vage bekannt vor, aber an diese Augen würde ich mich erinnern.
»… und leider verpasse ich gerade einen Termin, also entschuldige mich bitte.«
Ich reagierte instinktiv. Ob aus dem Grund, sie am Gehen zu hindern, oder meine Neugierde nach dieser widersprüchlichen Frau zu stillen, deren Haltung so selbstbewusst war und deren Augen so verletzlich blickten, wusste ich im Augenblick selbst nicht. »Fahrerfrau?«
Es war das Naheliegendste, zumal ich im Gegensatz zu anderen meine Zeit nicht damit verschwendete, die Beziehungsverhältnisse der Branche zu beobachten.
Trotzdem hoffte ich, dass sie »Nein« sagen würde. Ich war kein Mann für Monogamie, dafür war das Leben zu kurz. Aber ich hatte meine Prinzipien. Und wenn sie vergeben war, würde ich sie nicht anrühren. Kurz zuckte mein Blick zu ihren Händen. Kurze Fingernägel, kein Nagellack. Arbeiterhände – noch ein Widerspruch zu ihrer makellosen Haltung. Und viel wichtiger: kein Ring.
Ich sah ihr wieder in die Augen. Nicht verheiratet. Trotzdem liiert? Eine Beziehung zu einem Rennfahrer würde erklären, warum sie auf dem Highway wie eine Wahnsinnige beschleunigte und einen limitierten Sportwagen fuhr, von dem ich selbst erst vier Stück gesehen hatte – und, warum sie die Pressekonferenz für die Eröffnung des diesjährigen Sweet Springs Fan Races besuchen wollte.
Ihr Lächeln wurde noch verwegener. Verdammt, ihr Mut war noch sexyer als ihre Widersprüchlichkeit. »So etwas in der Art.«
»Welches Team?«, setzte ich sofort nach.
Ihrem Lächeln folgte ein Augenaufschlag, der Berge in die Knie zwingen konnte. »Das Siegerteam, natürlich.«
Ich erwiderte den Blick ihrer blauen Augen, ohne zu blinzeln, versuchte zu ergründen, was sie dahinter zu verbergen versuchte.
»Und du?« Abermals zuckte ihr Blick über meine Erscheinung. »Pit Crew?«
Das überraschte mich. Sie kam in meine Stadt, zu meiner Strecke, stellte sich auf meinen Parkplatz und wusste nicht, wer ich war?
Amüsiert hob ich einen Mundwinkel. »So etwas in der Art.«
Das Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie die Anspielung auf ihre vorherige Antwort verstand. Interesse regte sich in mir, als sie sogar mitspielte und meine vorherige Frage wiederholte: »Welches Team?«
Amüsiert hielt ich ihren Blick fest. »Das Siegerteam, natürlich.«
Die Art, wie sie jetzt die Augen verdrehte, war gleichzeitig das Süßeste und Heißeste, das ich seit langer Zeit gesehen hatte.
In einiger Entfernung brandete Applaus auf und zerriss die Spannung, die sich zwischen uns aufgebaut hatte wie Überdruck in einem defekten Kolbenzylinder.
»Ich schätze, dein Termin wartet, Honey. Wir sehen uns.«
Noch ein Lächeln, das all ihre Gedanken auf ihr Gesicht projizierte, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon, mit wiegenden Hüften und wippendem Pferdeschwanz, der selbst eine Stunde später noch zu viel meiner Konzentration beanspruchte.
Dabei brauchte ich alles davon, um zu verhindern, dass Ricky Duvrai mein Event für eine seiner Selbstinszenierungs-Shows missbrauchte. Bernhard »Ricky« Duvrai war ein guter Rennfahrer, aber ein schlechter Mensch und ein noch schlechterer Verlierer.
»Du verstehst immer noch keinen Spaß, was, Jax?« Er lachte, als wir nach der Pressekonferenz etwas abseits der Menge standen, die sich sofort auf das Buffet stürzte.
»Rayne«, korrigierte ich. Jax war nur wenigen Menschen vorbehalten, und Duvrai zählte definitiv nicht dazu.
Er ignorierte mich und schwafelte weiter, als hätte er immer noch ein Mikrofon unter der Nase. »Das ist mein letztes Rennen, Rayne. Du kannst nicht ernsthaft von mir erwarten, dass ich verliere. Erst recht jetzt nicht, wo ihr in Kentucky Sportwetten legalisiert habt. Ist dir klar, dass dieses Rennen das größte Preisgeld der Branche ausweist?«
Wirklich? Erzähl mir mehr über mein eigenes Rennen, dachte ich.
Statt einer Antwort sah ich ihn bloß ausdruckslos an, bis er meinem Blick nicht mehr standhielt und wegsah. Da fiel mir ein, dass die dreiste Parkplatzdiebin vorhin nicht weggesehen hatte. Nicht eine Sekunde lang.
»Jedenfalls werde ich …«
»Die Sache ist die«, fiel ich Ricky ins Wort. Zeit, zum Punkt zu kommen und nicht weiter unser beider Zeit zu verschwenden. »Um Erster zu werden, musst du der Beste sein. Das bist du nicht. Du saßt seit drei Saisons nicht mehr in einem Rennwagen. Wo steht deine Quote, Plus Dreitausend? Hast du vor, neununddreißig Fahrer zu bestechen?«
Er lachte lauter als nötig, um seine Kränkung zu verbergen. »Willst du mir etwa Betrug unterstell–«
»Du verschwendest meine Zeit, Duvrai. Was hast du vor?«
Zischend trat er näher an mich heran, bis mir sein Aftershave unangenehm in die Nase stach. Ich widerstand dem Drang, einen Meter Mindestabstand zwischen uns zu bringen. »Ich bin gut genug fürs Treppchen. Streng genommen muss ich also nur zwei Fahrer bestechen – oder dazu bringen, nicht zu fahren. Wenn du verstehst, was ich meine.« Seine Brauen hoben sich erwartungsvoll, doch ich tat ihm nicht den Gefallen, irgendeine Reaktion zu zeigen. »Dich und Ryder!«, erklärte er, weil er offenbar die Stille nicht ertrug.
»Kein Interesse. Du hast nichts, was ich haben will.« Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, während ich im Kopf die Zeit überschlug, die ich noch hier verbringen musste. Eine Hand auf meiner Schulter spannte all meine Muskeln an.
Bedrohlich langsam sah ich auf Rickys Hand, dann in sein Gesicht. Ich musste kein Wort sagen, damit er zurückwich und die Hände zum Zeichen seiner Kapitulation hob.
»Jeder ist käuflich, Jax. Was willst du? Meine Firma? Mein Team?«
»Für dich ›Rayne‹«, stellte ich erneut klar. »Deine Firma ist pleite und dein Team nicht mal seinen Fuhrpark wert.« Ich war noch nie ein Freund von falscher Freundlichkeit gewesen. Anders als Ricky, der bereits zwölf vorbeikommenden Menschen zugeprostet hatte, sich aber jedes Mal schnell geschäftig zu mir drehte, um zu verhindern, dass sie ihn ansprachen. »Was ich von dir will, ist, dass du dein Ego und deine Entourage einpackst und aus meiner Stadt verschwindest.«
Ricky lachte erneut, als hätte ich einen köstlichen Witz gemacht. Dann wurde seine Miene hart. »Du weißt, dass ich dir das Leben zur Hölle machen könnte.«
Du weißt nicht, was die Hölle ist.
»Viel Spaß bei dem Versuch.«
Ich ließ den Blick wandern. Colt Ryder, der selbsternannte NASCAR-Kronprinz und ein Arschloch vor dem Herrn, war von einem halben Dutzend Reportern umringt, die sich mit Fragen geradezu überschrien. Ich erspähte Tess Davis, die sich lachend mit einem Tablett voller Shotgläser zu ein paar Gästen aus der Stadt drängte. Einfache Menschen vom Land waren auf Events wie diesem so fremd wie ein Kamel in der Arktis, aber es spülte Geld in die Kassen und gab den Leuten etwas, worüber sie monatelang reden konnten.
»Jeder hat eine Schwäche«, hörte ich Rickys Stimme am Rande meines Bewusstseins.
»Ich nicht.«
Er lachte. Natürlich lachte er, denn er fühlte sich unantastbar und glaubte, er hätte jeden in der Hand, weil er etwas über sie in der Hand hatte. Aber nicht mich. Denn jemanden, dem nichts etwas bedeutete, konnte auch nichts verletzen. Das hatte mir das Leben schon früh beigebracht, und ich hatte stets darauf geachtet, dass es so blieb. Keine Frau. Keine Familie. Nicht einmal ein Haustier. Nur diese verdammte Kleinstadt und ihre Bewohner hatten sich viel zu tief in mein Herz gegraben.
Doch ich stand zu meiner Entscheidung, hierzubleiben. Erfolg war nichts wert, wenn man ihn mit niemandem feiern konnte.
Ein blonder Haarschopf erregte meine Aufmerksamkeit. Unwillkürlich schoss mir die Erinnerung an die dreiste Parkplatzdiebin durch den Kopf. Dann erkannte ich, dass es nicht sie war, sondern Elle Davis, die älteste Schwester meines engsten Freunds und Geschäftspartners Clay. Heute war sie ausnahmsweise ohne ihren Verlobten unterwegs, was sie geradezu aufblühen ließ. Noch ein Grund dafür, diesen Typen nicht zu heiraten, nur weil sie ein Kind von ihm hatte.
Widerwillig riss ich meinen Blick los, bevor Ricky auf die Idee käme, meiner Blickrichtung zu folgen und die Leute, die ich mittlerweile als Familie betrachtete, zu belästigen. Ich musste ihn aus der Stadt rauskriegen, damit er das bisschen Heimat, das ich mir in den letzten Jahren aufgebaut hatte, nicht zerstörte.
»Wie viel willst du?«, fragte ich widerwillig. Jeder war käuflich.
Ricky blinzelte, den Mund leicht geöffnet, was ihn aussehen ließ wie eine Ziege. »Wie viel was?«
»Häppchen, ich bin nämlich gerade auf dem Weg zum Buffet«, erwiderte ich ironisch. »Geld, was sonst? Dafür, dass du deine Selbstinszenierung nächste Woche absagst und dir eine andere Rennstrecke suchst. Warum hast du es auf das Preisgeld abgesehen?«
Beim SSFR – kurz für Sweet Springs Fan Race, wobei einige das F auch mit Festival gleichsetzten – wurden jedes Jahr rund zwanzig Millionen US-Dollar ausgeschüttet, was mittlerweile fast so viel war wie beim legendären Daytona 500. Der Großteil kam aus Sponsorings von Konzernen, die entweder einen Weg suchten, Gewinnsteuer zu sparen, oder ihr ökologisches Gewissen erleichterten, wenn sie in der Gegend fossile Rohstoffe abbauten. Einen kleinen Teil steuerten die Sweet Springs Motor Company und die Sweet Springs Charity Foundation bei – beides Einrichtungen, die ich mit aufgebaut hatte.
Wie bei jedem offiziellen NASCAR-Race auch, wurde der Pot nach einem Schlüssel auf alle vierzig Fahrer aufgeteilt. Der Gewinner erhielt dabei rund neun Prozent, also knapp zwei Millionen Dollar. Was jedoch anders war als bei den offiziellen NASCAR-Cups: Jeder Fahrer verpflichtete sich, einen Anteil seines Gewinns an soziale Einrichtungen zu spenden. Das wiederum inspirierte Fans, Aussteller und Teams, und so kamen jedes Jahr knapp zehn Millionen Dollar für karitative Zwecke zusammen. Es war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es war immerhin etwas.
Ich bemerkte, dass mein Blick erneut durch den Raum gewandert war, als ich einen blonden Zopf wiedererkannte. Das war die Parkplatzdiebin von vorhin. Kurz bewunderte ich ihre aufrechte Haltung – und ihre Fähigkeit, auf diesen Mörderabsätzen zu balancieren. Dann lenkte mich ihr Lachen ab. Sie war in ein vertraut wirkendes Gespräch mit einem Schrank von einem Mann vertieft, der eindeutig kein Rennfahrer war. Sie legte ihm sogar eine Hand auf den Bizeps.
»Fahrerfrau?« – »So etwas in der Art«, schoss mir unser Gesprächsfetzen durch den Kopf.
Nein, dieser Typ war es definitiv nicht. Der war kein Mechaniker und mit Sicherheit auch kein Marketing-Fuzzi. Er sah eher aus wie eine Mischung aus Navy Seal und Teddybär. Hatte sie etwa einen Bodyguard? Wer war sie, die Tochter eines Politikers oder Industriemoguls?
»Ich bitte dich, Rayne, wie kommst du darauf, dass ich … Was um alles in der Welt …?« Ricky war meinem Blick gefolgt. »Entschuldige mich kurz.«
Er setzte sich in Bewegung, den Blick auf die blonde Parkplatzdiebin geheftet. Ich zog ihn an der Schulter zurück.
»Fokus, Duvrai. Wir sind noch nicht fertig.«
Während er schmerzverzerrt seinen Deltamuskel aus meinem Griff löste, ging ich im Kopf die Möglichkeiten durch, woher Ricky die Frau kennen konnte. So, wie er auf sie reagierte, kannte er sie mehr als nur flüchtig.
Sie ist die Freundin eines Fahrers, den er sponsert.
Sie ist die Freundin eines Fahrers aus seinem Team.
Sie ist die Ex-Freundin von einem der oben Genannten.
Sie ist eine Geschäftspartnerin seiner Firma oder seines Teams.
Sie ist seine Freundin.
Bei der letzten Annahme gruben sich meine Finger noch tiefer in sein Fleisch. Sie könnte seine Tochter sein!
In der Sekunde schoss mir ein Gedankenblitz durch den Kopf. Ricky hatte eine Tochter, oder nicht? Ich erinnerte mich vage an ein aufgebauschtes Drama vor ein paar Jahren um seine suchtkranke Ehefrau und das Sorgerecht für seine minderjährige Tochter. Wie alt war sie jetzt?
Egal. Fokus aufs Wesentliche.
»Letzte Wiederholung, Duvrai: Was willst du hier?« Ich sprach leise und betonte jede Silbe.
Bevor Ricky antworten konnte, zuckte ein Kamerablitz in der Nähe. Augenblicklich streifte er seine Beklommenheit ab wie eine Schlange ihre Haut und kleisterte sich sein Sonnenbank-Grinsen aufs Gesicht. Er wagte es sogar, einen Arm um meine Schulter zu legen, um in den Fotoapparat des Reporters zu strahlen.
Ich grinste nicht in die Kamera. Im Gegenteil. Ich senkte instinktiv das Kinn, damit der Schirm meiner Cap meine Augen verbarg. Das war die Kehrseite des Lebens, das ich mir ausgesucht hatte: Jeder hielt sich für deinen besten Freund, deine neugierige Nachbarin, deinen Psychologen und deinen ungefragten Kritiker. Der Pressevertreter, den ich noch nie in der Stadt gesehen hatte, fummelte sein Mikro heraus, um uns eine überschwängliche und unterirdische Frage zu stellen: »Ricky Duvrai und Jax Rayne, zwei der größten Rennfahrerlegenden der letzten Jahre! Wird hier ein Vermächtnis ausgetauscht oder eine langjährige Rivalität –«
Mein eisiger Blick ließ ihn mitten im Satz erstarren. Er klappte den Mund wieder zu, schluckte sichtbar und verzog sich dann eilig.
Ich machte mich von Ricky los und widerstand dem Drang, meine Hand an der Jeans abzuwischen. Er hingegen tätschelte lachend meine Schulter.