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Ein erfrischend unterhaltsamer Kriminalroman mit Tiefgang und viel Liebe für Land und Leute. Marley Leonhardt, neue Polizeichefin in Neuruppin und von den männlichen Kollegen als Quotenfrau belächelt, benötigt dringend einen Erfolg. Die Leiche in einer Prignitzer Rübenmiete scheint die perfekte Gelegenheit zu sein, ihr Können unter Beweis zu stellen. Dumm nur, dass Marley jegliche praktische Erfahrung fehlt. Aber da gibt es ja Richard Said Wagner, den sie zufällig am Fundort trifft. Der prominente Berliner Polizeisprecher ist seit Monaten beurlaubt und lebt zurückgezogen. Können die beiden ihre Kräfte bündeln und den Mordfall lösen?
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Seitenzahl: 549
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Nach dem Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, verschiedenen Stationen im WDR und als Geschäftsführerin einer Produktionsfirma arbeitet Dagmar Rosenbauer als Film- und Fernsehproduzentin. Für ihre Produktionen erhielt sie unter anderem den Grimme-Preis, den Deutschen Fernsehpreis, den Deutschen Wirtschaftsfilmpreis, den Deutschen Entertainmentpreis und die Rose d’Or. Zurzeit produziert sie die deutsch-französische Serie »Parlement« und eine internationale Kinoproduktion. Mit ihrem Mann – und ihrem Hund – lebt sie in der Prignitz und in Berlin.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: arcangel.com/Roy Bishop
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-199-7
Originalausgabe
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Everyone is a moon, and has a dark side
which he never shows to anybody.
Mark Twain
Freitag, 2.Juli
Richard Wagner hasste Opern. Operetten noch mehr. Aber heute Abend wurde ihm das Potpourri aus Operetten und Opernarien, das in Rheinsberg auf dem Programm gestanden hatte, erspart. Man hatte sich auf einen konzertanten Abend geeinigt, das Festival der jungen Opernsänger und Opernsängerinnen wurde aufs kommende Jahr verschoben.
Dass Richard an diesem Freitagabend im Hochsommer im Schlosshof in Rheinsberg saß, war eine Folge seiner Anpassungsfähigkeit. Immer hatte er sich angepasst. Sein ganzes Leben lang. Auch heute Abend. Er war hier, weil Clara ihn gebeten hatte, sie zu begleiten. Sie war eine großzügige Sponsorin der Kammeroper und hatte sich auf diesen Abend, der der Höhepunkt des Gesangswettbewerbs der Kammeroper gewesen wäre, gefreut. Jetzt gab es stattdessen Beethoven, Sinfonie Nr. 3, »Eroica«. Die knappe Stunde Spieldauer war der Kompromiss, auf den sich die Verantwortlichen geeinigt hatten. So war die Situation im Sommer 2021.
Das anhaltend schöne Hochsommerwetter sorgte dafür, dass das Konzert im Freien stattfinden konnte. Das Publikum genoss die schöne Abendstimmung in diesem Ambiente, nur Richard nicht, der von seinen Erinnerungen gequält wurde. Normalerweise konnte Beethoven ihm nichts anhaben. Das war nicht die Musik, die seine Kindheit und Jugend bestimmt hatte. Aber das revolutionäre Pathos der »Eroica«, von den jungen Musikerinnen und Musikern mit Leidenschaft und Tempo gespielt, erwischte ihn.
Er versuchte, an dem Orchester vorbei auf den See zu schauen. Es war der Grienericksee, der in den Rheinsberger See überging. Siebenundachtzig Hektar groß, an der tiefsten Stelle vierzehn Meter tief, hervorragende Wasserqualität. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf dem Wasser. Mit Fakten konnte Richard seine Gefühle fast immer unter Kontrolle bringen. Er bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. So, wie man es ihm in der Reha beigebracht hatte. Regelmäßig atmen und den Kopf umprogrammieren: andere Dinge wahrnehmen, wie den Graureiher, der einen Fisch erspäht hatte und sich ins Wasser stürzte. An die guten Dinge denken, nicht an die schlimmen. Weg aus meinem Kopf – am liebsten hätte Richard mit seiner Hand gewedelt. Gegen die Musik zu arbeiten, war schwer. Er seufzte fast unhörbar. Auch das hatte er in den letzten Monaten gelernt. Leise zu seufzen. Clara sollte von seiner Stimmung nichts mitbekommen. Sie hatte sich auf diesen Abend gefreut, trotz der Programmänderung.
Vorsichtig sah er sich um. Viele Einheimische, einige kannte er vom Sehen. Ein paar Reihen hinter ihnen saßen Martin und Christine Riemann, Schafzüchter aus Rosenwinkel. Christine war eine Freundin von Clara, die sich ebenfalls für die Kultur in der Region engagierte. Er hatte das Ehepaar zwei-, dreimal getroffen. Sie waren einander sympathisch, akzeptierten ihn als neuen Partner von Clara und stellten keine Fragen.
Normalerweise dominierte hier die Berliner Society, hatte Clara ihm erzählt. Aber für sechzig Minuten Beethoven und ohne den anschließenden Champagnerempfang kam niemand extra aus Berlin. Außer Hanno Hermann. Nach dem Konzert würde der wieder um Clara herumscharwenzeln und Richard ignorieren. Das hatte er auch neulich in Demerthin getan, als er Clara unbedingt persönlich treffen wollte. Er hielt Richard für Claras Bodyguard. Nicht in der Lage, einen Satz geradeaus zu sprechen.
Ein Kerl von einem Meter neunzig und fast neunzig Kilo, mit Migrationshintergrund und einem schwarzen Pferdeschwanz – das konnte in den Augen von Hanno Hermann nur ein Bodyguard oder ein Gangster sein. Hanno war ein Ignorant: Jenseits von klassischer Musik und gutem Essen verstand er nichts vom Leben. Obwohl er für diverse Berliner Zeitungen Musikkritiken schrieb, hatte er keine Ahnung, dass Richard der ehemalige Sprecher der Berliner Polizei war. Hanno hatte nicht mitbekommen, dass Richard vor allem wegen seines familiären Hintergrunds über Berlin hinaus eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Interviews, Talkshow-Auftritte – die Medien hatten sich um ihn gerissen. Damals sah er noch anders aus, hatte einen Kurzhaarschnitt und Uniform getragen. Und keinen schwarzen Designer-Anzug von Paul Smith.
Ganz leicht strich Richard über den dünnen Wollstoff. Er fühlte sich gut an. Ein Anzug, in dem man schlafen und am nächsten Morgen ins Meeting gehen konnte. Immer perfekt. »Ein Anzug, der Sie durch die Jahreszeiten begleitet.« So hatte letzte Woche der Verkäufer im Hamburger Flagship-Store getönt. Und versucht, damit den absurd hohen Preis zu erklären. Kurz hatte Richard an seine Mutter gedacht und daran, wie lange sie für ein neues Sommerkleid sparen musste. Damals. Heute bekam sie eine Rente, mit der sie gut auskam.
Richard war froh, dass Clara sich durchgesetzt und er seine notorische Knausrigkeit überwunden hatte. Auch wenn er für lange Zeit nicht mehr in Meetings gehen würde. Dieser Anzug war die Eintrittskarte zu Veranstaltungen wie diesem Konzert in Rheinsberg. Er war eine Rüstung. Dieser Anzug machte ihn unverwundbar. Fast. Allerdings müsste er nachher im Auto das Jackett ausziehen. Er hoffte, dass er auf der Rückfahrt weniger schwitzen würde. Sonst musste der Anzug am Montag in die Reinigung.
Der Defender machte ihm Angst. Trotzdem würde er ihn später fahren. Das war Teil von Claras Plan. Es gab zwar keine Premierenfeier, aber die wichtigsten Geldgeber der Kammeroper waren zu einem kleinen Umtrunk gebeten worden. Clara würde sich zwar nicht betrinken, das tat sie schon lange nicht mehr, aber trotzdem behaupten, nicht mehr fahren zu können. Er hatte mit dem kleinen Wagen nach Rheinsberg fahren wollen, sie aber hatte entschieden: durchs Bombodrom nur mit dem Range Rover.
Richard seufzte. Diesmal nicht leise genug. Clara schaute ihn kurz von der Seite an. Sie spürte sein Unbehagen und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Said«, sagte sie leise. Und es funktionierte. Es funktionierte immer: Er beruhigte sich.
Nach dem Applaus verließ das Publikum rasch den Schlosshof. Nur Richard blieb sitzen. So hatte er es mit Clara verabredet. Er trank ohnehin nichts und wäre in der ausgewählten Runde der Sponsoren und Veranstalter fehl am Platz gewesen. Er atmete tief durch. Er hatte es geschafft, er hatte ein Konzert durchgehalten. Etwas, was ihm vor ein paar Monaten noch unmöglich erschienen war. Jetzt, allein im Schlosshof, konnte auch er die Abendstimmung genießen. Er schloss kurz die Augen und hörte auf die vielfältigen Vogelstimmen. Amseln konnte er erkennen, Schwalben und Spatzen. Sehr viele Spatzen.
»Richard, guten Abend, störe ich?« Martin Riemann stand plötzlich neben ihm. Offensichtlich bester Laune. Richard hatte ihn gar nicht kommen hören.
»Nein, Martin, natürlich nicht. Setz dich doch. Wieso bist du nicht beim Empfang?«
»Ich will Christine vor den Honoratioren nicht in Verlegenheit bringen. Ich verstehe nichts von Musik, und leider fällt’s mir schwer, so zu tun, als sei das anders. Nichts gegen so ein Konzert, aber darüber im Anschluss zu plaudern, liegt mir überhaupt nicht. Geht’s dir nicht genauso? Unsere Frauen sind kulturbeflissen, und wir sind eher praktisch veranlagt.«
Martin lachte sein selbstbewusstes lautes Lachen. Er war ein großer, gut aussehender Mann, fürs Konzert gekleidet in einem edel zerknitterten hellen Leinenanzug. Die ersten grauen Strähnen zogen sich durch das dichte dunkelbraune Haar des Mittvierzigers. Richard mochte ihn. Sie hatten sich zusammen mit den Frauen zwar insgesamt nur ein paarmal getroffen, aber die Chemie zwischen ihnen beiden stimmte.
Er kannte Martin nicht gut genug, um ihm zu sagen, dass er komplett falschlag. Richard verstand sehr viel von Musik, so viel, dass er auch heute Abend jeden falsch gesetzten Takt, jeden nur um Viertelsekunden verstolperten Einsatz überdeutlich gehört hatte. Er hätte jetzt die Noten der »Eroica« aufschreiben können. Einfach so, aus dem Gedächtnis. Er galt früher einmal als musikalisches Wunderkind. Aber das war lange her, und wen interessierte das schon? Er würde nicht darüber sprechen, noch nicht einmal mit Clara und schon gar nicht mit Martin. Also stimmte er ihm kumpelhaft zu und sprach über die herrschende Dürre und die Waldbrandgefahr, bis Martin sich auf die Suche nach seiner Frau und einem Bier machte und Richard allein zurückbleiben konnte.
Nach über einer halben Stunde kam Clara zurück, im Schlepptau Hanno Hermann. Diesmal musste er Richard zur Kenntnis nehmen, denn Clara stellte ihn charmant als ihren Freund vor.
»Oh«, sagte Hanno überrascht, »ich dachte, er sei dein …« Er stoppte abrupt. Was immer er hatte sagen wollen, blieb sein Geheimnis. Denn inzwischen hatte er sich wieder unter Kontrolle, stellte sich Richard kurz und förmlich vor, um sich gleich darauf zu verabschieden.
»Darüber muss er jetzt erst mal hinwegkommen«, lachte Clara, als er außer Hörweite war. »Auf dem Weg hat er mich gefragt, was wir beide mit diesem angebrochenen Abend machen wollen. Der hat ernsthaft geglaubt, er kann mich abschleppen.«
Richard lächelte und schwieg. Gegenüber einem Dritten hatte Clara ihn als ihren Freund bezeichnet. Ja, er war ihr Freund, aber so offen hatte sie das noch nie ausgesprochen. Es fühlte sich gut an, dass sie sich zu ihm bekannte.
Der Defender stand direkt vor dem Schloss – auf dem VIP-Parkplatz. Wo sonst? Clara ging vor Richard her. Kerzengerade wie immer. »Das war doch ein schöner Abend«, sagte sie und dann, als Richard schwieg: »Danke, dass du mitgekommen bist, trotz der Musik.« Sie strahlte ihn an. »Ich habe kaum etwas getrunken. Eigentlich könnte ich noch fahren!«
Er war dankbar für das Angebot, wusste aber, dass er es ablehnen musste. Er würde fahren. So war es verabredet.
»Einen Vorteil muss es doch für dich haben, mit einem Muslim zusammen zu sein.«
Er versuchte, sich locker zu geben, aber Clara hörte den falschen Ton. Er war kein gläubiger Muslim. Er spielte ihn nur manchmal, wenn es ihm in den Kram passte. Fast immer mit einem schlechten Gewissen, denn er hatte das Gefühl, als würde er sich dabei über seine Familie lustig machen. Außerdem konnten sie beide sich sehr wohl an die Zeiten erinnern, als er noch Alkohol getrunken hatte. Aber das war in einem anderen Leben gewesen.
Wegen der Baustelle bei Zühlen hatten sie schon für die Hinfahrt die längere Strecke über Wittstock gewählt. Aber da war Clara gefahren: zügig und sicher wie immer. Richard hatte neben ihr gesessen und sich auf die Landschaft konzentriert. Jetzt war er auf sich allein gestellt.
Kurz hinter Neu-Lutterow begann die Straße, die durch den Truppenübungsplatz bei Wittstock führte. In der Bevölkerung hieß das Gelände nur Bombodrom. Die sowjetischen Streitkräfte hatten zu Beginn der fünfziger Jahre die Grundbesitzer gezwungen, zunächst an die Sowjetarmee zu verpachten und später dann zu verkaufen. Die Russen hatten das Gebiet für Panzerübungen genutzt und später Bombenabwürfe im Tiefflug trainiert. Als sie 1993 endgültig abzogen, wollte die Bundeswehr das Gelände militärisch weiterhin nutzen. Aber nach einem langen Kampf der Bürgerbewegung »Freie Heide« wurden die Pläne aufgegeben. Zurück blieb ein riesiges Gebiet voller Altlasten, vor allem Blindgänger. Richard kannte die grünen Transporter mit der Aufschrift »Kampfmittelräumung«, die regelmäßig über die Landstraßen fuhren. Es wurde viel Geld in die Sicherung des Bombodroms investiert. Aber trotz aller Bemühungen war erst ein kleiner Teil geräumt. Immer wieder kam es durch Wildtiere zu Explosionen von Blindgängern. Bei einem Waldbrand könnte die Situation schnell außer Kontrolle geraten.
Es war keine angenehme Strecke. Überall am Straßenrand standen Schilder mit Warnhinweisen. Auf keinen Fall durfte man den Wald betreten. Heute Nacht kam zur kompletten Dunkelheit noch ein leichter Nebel hinzu. Der Tag war heiß gewesen, aber nachts wurde es in der Region deutlich kühler, und Dunst stieg auf. Das Licht der Scheinwerfer soff darin regelrecht ab. Richard konzentrierte sich auf die Straße. Was, wenn der Wagen jetzt streikte? Aber wieso sollte ein Range Rover mit gerade mal fünftausend gefahrenen Kilometern ausfallen? Richard versuchte, eine beginnende Panik zu ersticken. Es war stockdunkel, ja, aber die Scheinwerfer waren stark. Es war unheimlich, ja, aber es gab keine Notwendigkeit, anzuhalten, geschweige denn, durchs Bombodrom zu laufen. Er musste nur fahren. Geradeaus fahren, nicht nachdenken.
Richard schaute hinüber zu Clara. Sie hatte die Augen geschlossen. Ob sie wirklich schlief, wusste er nicht. Diese nächtlichen Fahrten, bei denen Clara die Augen geschlossen hatte, waren Teil ihres persönlichen Therapiekonzepts. Obwohl sie natürlich keine Ahnung von Therapie hatte. Aber dafür hatte sie ein beeindruckendes Repertoire an Lebensweisheiten parat, um ihn zu ermutigen. »Richard, wenn man vom Pferd abgeworfen wird, muss man wieder aufs Pferd steigen. Oder ein für alle Mal das Reiten aufgeben. Beim Autofahren ist es genauso. Und du kannst das Autofahren nicht aufgeben, wenn du mit mir in der Pampa leben willst.«
Also fuhr Richard seit zwei Monaten wieder. Am liebsten mit dem kleinen roten Mini Clubman, der bis vor Kurzem Claras einziges Auto gewesen war. Aber mit ihren Ambitionen, die perfekte Landfrau zu werden, stiegen auch die Ansprüche. Ein neuer Wagen musste her. Und was passte besser zu Clara als ein Range Rover Defender Plug-in-Hybrid? Den Richard jetzt zum ersten Mal fahren musste. Es fühlte sich besser an, als er erwartet hatte.
Kurz vor Schweinrich brach plötzlich die Hölle los. Ein Traktor nach dem anderen kam von rechts auf die Hauptstraße gerollt. Große, riesige Traktoren: John Deere, Fendt und Steyr. Der Defender zwischen ihnen eingeklemmt. Im Autokino in Zempow hatte es »Treckerkino« gegeben, und jetzt fuhren alle nach Hause. Richard konnte die Musik hören, die auf dem John Deere vor ihm gespielt wurde: Bruce Springsteen, »Born in the U.S.A.«.
Und dann war Maik aus Vehlow vor ihm. An seinen roten Haaren, die im Licht der Straßenlaternen in Schweinrich förmlich strahlten, konnte er ihn erkennen. Maik hatte vor ein paar Wochen beim Schutt-Wegräumen vorm Schloss geholfen. Er war ein netter Kerl. Bauer aus Überzeugung und hoffnungslos in Clara verliebt. Richard war gerettet. Er würde jetzt in den E-Antrieb schalten, der für mindestens fünfzig Kilometer reichte, und hinter Maik über Wittstock und Blumenthal nach Vehlow zockeln. Die restlichen acht Kilometer würde er auch allein schaffen. Wenn sie zu Hause ankamen, würde Clara in ihr Zimmer gehen und Richard in seins. Und irgendwann würde seine Tür aufgehen und Clara zu ihm kommen. Es war Freitagnacht. Sie würde bis morgen früh bei ihm bleiben. So viel war sicher.
Samstag, 3.Juli
Erwin Schwarz hatte die Schnauze voll. Verärgert stand er vom Tisch auf und verließ türenschlagend die Küche. Schon kurz nach halb sieben war er in Kyritz gewesen, um die berühmten Kyritzer Knackis beim Bäcker Armster zu kaufen. Mit der Brötchentüte war er zu Diego Hausmann gefahren. Eigentlich wollte er schon gestern Abend mit ihm sprechen, aber Diego war zu besoffen gewesen. Also hatte er ihm telefonisch angekündigt, dass er um sieben Uhr zum Frühstück kommen würde. Mit frischen Brötchen. Diego musste nur den Tisch decken und Kaffee kochen.
Aber noch nicht einmal dazu war er heute Morgen in der Lage gewesen. Erwin hatte mit einigen Mühen den neuen Kaffeeautomaten zum Laufen gebracht, aber an ein Frühstück, geschweige denn ein Gespräch war nicht zu denken gewesen. Diego saß stumm am Tisch und rührte seinen Kaffee nicht an. Die Brötchentüte lag ungeöffnet auf dem Tisch.
Es stank in der Küche. Und zwar nicht nur nach Abfall und dem schmutzigen Geschirr, das sich stapelte. Auch Diegos Ausdünstungen trugen ihren Teil dazu bei. Er roch nach Schweiß und Alkohol. Erwin hätte ihn am liebsten unter die Dusche gezerrt. So wie vor zwanzig Jahren, wenn Diego ihm mal wieder erklärt hatte, dass es doch völlig ausreiche, zweimal in der Woche zu duschen. Aber mit einem Zweiunddreißigjährigen ging das nicht mehr. Erwin war verzweifelt. Was war aus dem weißblonden Jungen geworden, der vor nichts Angst gehabt, sich auf jedes Pferd gesetzt und ihn abgöttisch geliebt hatte? Ein Säufer wie sein Vater? Erwin wollte das nicht akzeptieren.
Aber er war an diesem Samstagmorgen nicht zu Diego gekommen, um ihm Vorhaltungen zu machen. Er hatte eine klare Ansage.
»Diego, du musst die Rübenmiete abbauen. Die ist seit Monaten überfällig. Es stinkt unerträglich. Die Gräfin besteht darauf, dass sie endlich entfernt wird!«
Clara von Wohlleben, die Gräfin, wie sie von allen genannt wurde, hatte einen Wunsch. Das würde bei Diego funktionieren. Früher hatte er gemeinsam mit Clara überlegt, wie man in Demerthin, dem verfallenen Schloss, das Clara 2019 gekauft hatte, ein Restaurant eröffnen könnte. Immer wieder hatten sie sich getroffen, Pläne geschmiedet und bereits über die Speisekarte gesprochen. Regional, nachhaltig, trotzdem anspruchsvoll. Aber als dann Bernadette verschwand, hatte Diego sich aus allem zurückgezogen und keine Anrufe und Nachrichten von Clara mehr beantwortet. Im vergangenen März hatte sie auf seinem Hof gestanden und laut gerufen, aber Diego hatte so getan, als höre er nichts. Dann hatte sie es aufgegeben, wieder mit ihm in Kontakt zu treten.
»Ich war gestern in Vehlow und habe mit den Leuten von der Biogasanlage gesprochen. Sie nehmen die Rüben, egal in welchem Zustand sie sind. Sie bezahlen auch dafür. Wir müssen sie nur hinbringen.«
Diego antwortete nicht, wahrscheinlich war der Restpegel noch zu hoch.
Die Futterrüben selbst zu ziehen, gehörte zu seinem Plan, um seine Rinder besonders gut zu ernähren und somit ihr Fleisch wertvoller und schmackhafter zu machen. Er wollte einen Teil des Kraftfutters durch Rüben ersetzen und damit nachhaltiger wirtschaften. Nur wenige Bauern in der Prignitz bauten noch Futterrüben an. Der hohe Arbeitsaufwand und die erforderliche frostfreie Lagerung hielten sie davon ab. Futterrüben waren so empfindlich wie Kartoffeln. Bei weniger als acht Grad mussten sie raus aus dem Boden. Im Herbst 2020 hatte es Ende September einen frühen Kälteeinbruch gegeben. Diego hatte gemeinsam mit dem alten Otto Dunzer und ein paar Hilfskräften die Rüben geerntet und eine stattliche Rübenmiete auf dem abgeernteten Sandboden errichtet. Schön aufgeschichtet, mit schwarzer Folie abgedeckt und mit alten Reifen beschwert. Das war am 27. September 2020 gewesen.
Dann kam der Krach mit Bernadette, und keines seiner Tiere sollte mehr in den Genuss der Mischung aus Heu und zerkleinerten Futterrüben kommen. Diego rührte die Rübenmiete nicht mehr an. Spätestens im Frühjahr 2021 hätte er sie abbauen müssen, aber Erwin hatte so seine Zweifel, ob Diego sich überhaupt noch an seine Futterrüben erinnerte. Seit Wochen lag ihm Otto Dunzer in den Ohren. Jedes Mal wenn der auf seinem alten Herrenfahrrad zu Erwin und Elvira geradelt kam, um mit ihnen zu essen und über die neuesten Ereignisse im Dorf zu sprechen, kam er wieder auf das Thema: »Die Rübenmiete muss weg.« Und jetzt sagte es auch die Gräfin. Es musste endlich etwas passieren.
Wieder zu Hause, holte Erwin seinen alten Traktor und fuhr los. Er wusste, dass das im Grunde Unfug war. Allein konnte er die Rübenmiete nicht abbauen. Er brauchte Hilfe und einen großen Anhänger, auf dem er die Rüben in die Biogasanlage bringen konnte. Aber er wollte wenigstens anfangen, und die Schaufel war noch vorne am Traktor montiert, weil er gestern einen Teil seiner Pferdekoppel umgegraben hatte.
Er musste etwas gegen die Wut machen, die sich bei ihm angestaut hatte. Diego hatte doch das Leben noch vor sich! Er war jung, er war wohlhabend, er hatte riesige Flächen Wald und Land. Wenn Bernadette ihn verlassen hatte, na und? Diego würde eine andere Frau finden, eine, die besser zu ihm passte. Der Mensch muss sein Leben selbst in die Hand nehmen, das war immer Erwins Überzeugung gewesen. Es konnte doch nicht sein, dass sich bei Diego das gleiche Programm wiederholte, das schon das Leben seines Vaters zerstört hatte. Genetische Vorbestimmung – so ein Blödsinn. Er würde jetzt die schwarze Plane herunterziehen und dann noch mal zu Diego fahren. Vielleicht würde der sich dann aufraffen, und gemeinsam könnten sie heute noch die Futterrüben nach Vehlow bringen. Das wäre ein Anfang.
Zuerst schob Erwin mit dem Traktor die alten Autoreifen zur Seite. Dann versuchte er, die Plane langsam herunterzuziehen. Er zuckte zusammen, als er die Plane ein Stück lüftete. Die Rüben waren vergammelt, eindeutig, aber der Gestank, der sie umgab, stammte nicht von faulendem Gemüse. Hatte sich ein Tier unter die Plane geschlichen und dann nicht mehr herausgefunden? Der süßliche Geruch nach Aas wurde immer intensiver. Als Erwin die gesamte Plane abgezogen hatte, stieg er vom Traktor ab. Er nahm seine Schaufel und begann, die obere Schicht Rüben wegzuschippen. Dann sah er es: schwarzes, vergammeltes Fleisch – ein Tier? Musste ein sehr großes sein! Als er weitergrub, stieß er auf Knochen. Und daneben eine goldene Kette mit einem Kreuz.
Erwin wurde schlecht, als er begriff, auf was er da gestoßen war: die Leiche eines Menschen. Und dann tat er das, was er vorhin in Diegos Küche mit großer Anstrengung unterdrückt hatte: Er übergab sich. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, wählte er die 110. Und dann brach die Hölle los.
Richard Wagner war an diesem Samstag früh aufgestanden. Clara schlief noch, als er in Jeans und T-Shirt schlüpfte und Izzie, die vor dem großen Bett lag, ein Zeichen zum Aufbruch gab. Im Hausflur legte er der Collie-Hündin das Halsband um, nahm die Leine von der Garderobe und steckte ein paar Leckerlis in die Hosentasche.
Es war kurz nach halb sieben, und die Luft war frisch und noch kühl. Er ging mit dem Hund vorbei am gepflegten Sportplatz des SV Demerthin in den riesigen, komplett verwilderten Schlossgarten. Seit Generationen war hier nichts mehr passiert. Dass man trotzdem durch den Park laufen konnte, lag an den Touristen, die nach der Besichtigung des Schlosses, die nur noch von außen möglich war, oft eine Runde durch den Park spazierten, um nicht das Gefühl zu haben, völlig umsonst angereist zu sein. Es gab verschiedene Trampelpfade durch das hoch stehende Gras, vorbei an umgestürzten Bäumen und durch verwilderte Hecken. Demerthin war ein Renaissance-Schloss mit einem hohen sechseckigen Treppenturm, der 1604 erbaut worden war. Jede Menge Kunst- und Architekturinteressierte kamen jedes Jahr, um sich das Schloss anzusehen. Im Erdgeschoss gab es zwei spätgotische Räume mit Sterngewölbe, die noch vom Vorläufer des Schlosses übrig geblieben waren.
Richard tat es immer leid, die Besucher wegzuschicken. Aber das Schloss war eine einzige Baustelle, und es war gefährlich, sie zu betreten. Er hatte schon Sorge, wenn die Leiterin der Denkmalschutzbehörde aus Perleberg alle sechs Wochen die Baustelle besichtigen wollte. Unabhängig davon, ob es Fortschritte gegeben hatte oder nicht, Ingrid Dessau setzte den Bauhelm auf, zog feste Schuhe an und marschierte los. Nur Richard durfte sie begleiten.
Ingrid Dessau hatte eine tief sitzende Abneigung gegen Clara von Wohlleben und wartete nur darauf, ihr einen Fehler nachweisen zu können. Es war etwas Persönliches. Bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte Clara ihr zu verstehen gegeben, dass sie nach einem abgeschlossenen Studium der Kunstgeschichte mit Spezialgebiet Renaissance sehr genau wisse, was zu tun sei, um Demerthin vor dem Verfall zu retten. Arrogant war sie aufgetreten, in einer abgetragenen Barbour-Jacke, Gummistiefeln und mit einem Collie an ihrer Seite. Ein Bild wie aus einem englischen Jagdmagazin – die reine Inszenierung. Dass die Gemeinde Gumtow dieser Frau das Schloss für ’nen Appel und ’n Ei verkauft hatte und sie nichts, aber auch gar nichts dagegen machen konnte, hatte Ingrid schlaflose Nächte bereitet.
Da kommt so eine Tussi aus dem Westen, mit einem Adelstitel und einem Haufen Geld, und alle stehen stramm. Aber sie, Ingrid Dessau, würde dafür sorgen, dass der Denkmalschutz bis ins letzte Detail eingehalten wurde. Und es würde sich zeigen, wer hier die bessere Kunsthistorikerin war. Schließlich hatte sie an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert und Clara von Wohlleben an der in diesem Fach nicht gerade renommierten Universität zu Köln nur einen Master gemacht. Was immer dieser »Master« überhaupt wert war.
Als verantwortliche Leiterin der Behörde in Perleberg hatte Ingrid Dessau zwar den Vorschriften zu folgen, aber auch genügend Spielraum, diese je nach Fall und Objekt auszulegen. Bei Schloss Demerthin bestand sie unerbittlich auf der exakten Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben. Schließlich gehörte das Schloss zu den wenigen unveränderten Profanbauten der Renaissance in der Region. Die Betonung lag für Ingrid Dessau auf »unverändert«. Clara von Wohlleben sollte sich gefälligst ein anderes Objekt für ihre Selbstverwirklichung suchen.
Clara hatte Richard auch wegen Ingrid Dessau nach Demerthin geholt. Sie wusste, dass sie den Kampf gegen sie nicht gewinnen konnte. Bei der ersten Begehung des Schlosses hatte die Dessau zu jedem Vorschlag, den Clara für die Renovierung und zukünftige Nutzung des Anwesens machte, Nein gesagt.
Konzerte und Lesungen wolle sie im Schloss veranstalten – ausgeschlossen. Dafür müssten je nach Anzahl der Besucher die entsprechenden Toilettenanlagen vorhanden sein. Und die würde das Denkmalschutzamt auf gar keinen Fall genehmigen. Ein Restaurant im Erdgeschoss – niemals. Gästezimmer mit eigenem Badezimmer – wo sollten die Versorgungsleitungen verlaufen? Durch den alten Kaminschacht? Unter gar keinen Umständen – die alten Öfen und Kamine mussten exakt so erhalten bleiben. Allerdings würde man sie wegen des aktuellen Emissionsschutzgesetzes nicht mehr betreiben können. Fußbodenheizung – die Leiterin des Denkmalschutzamtes bekam Schnappatmung.
Eine Zeit lang hatte sich Diego um Ingrid Dessau gekümmert. Sein jungenhafter Charme hatte Eindruck auf sie gemacht und den Konflikt zwischen den beiden Frauen entschärft. Aber dann war Diego von einem auf den anderen Tag aus Claras Leben verschwunden, und sie brauchte einen Ersatz.
Richard hatte ein Händchen für schwierige Frauen fortgeschrittenen Alters. Das hatte Clara bei den gemeinsamen Pokerrunden in Berlin beobachten können. Er blieb immer höflich und vermochte auch einer Siebzigjährigen das Gefühl zu geben, noch immer begehrenswert zu sein. Eine einsame Frau Ende fünfzig wie Ingrid Dessau würde sich seinem Charme nicht entziehen können.
Claras Plan ging auf. Richard behandelte Ingrid Dessau überaus respektvoll, hörte sich ihre endlosen Ausführungen zum Denkmalschutz an, ohne sie zu unterbrechen, und bot ihr, sobald sie aus ihrem alten Golf ausgestiegen war, einen perfekten Cappuccino an. Er zeigte ihr die neu gelieferten Materialien, stellte ihr jeden Handwerker namentlich vor und gab Ingrid Dessau das Gefühl, dass alles unter ihrer Kontrolle war. Dass dann, wenn sie weg war, das eine oder andere doch ein bisschen anders gemacht wurde, als sie es wünschte, fiel ihr zum Glück nicht auf. Vielleicht wollte sie es auch nicht sehen. Sie hatte offenkundig eine Schwäche für den großen, stets dunkel gekleideten Mann mit perfekten Manieren, den etwas Geheimnisvolles zu umgeben schien.
Richard marschierte zügig mit Izzie übers benachbarte Feld. Die Hündin liebte diese frühen Ausflüge, bei denen sie nicht an der Leine laufen musste. Morgens, wenn Clara noch schlief, war ihre gemeinsame Zeit. Sie umkreiste Richard auf Collie-Art und sprang ihn spielerisch an. Richard war immer wieder aufs Neue überwältigt von der Zuneigung, die die Hündin ihm entgegenbrachte. Sie hatte schon nach wenigen Tagen kapiert, dass Richard dauerhaft zu ihrem Rudel gehören würde. Deutlich früher als er.
Marley Leonhardt stand vor dem Spiegel und musterte sich mit der analytischen Gnadenlosigkeit, zu der nur Frauen über vierzig in der Lage sind. Zu klein, zu dick, zu unförmig. Akzeptieren konnte sie nur die dicken blonden Haare, die zu einem klassischen Bob geschnitten waren, und ihre perfekte Haut. Keine Falten, keine Pickel, makellos. Aber das Gewicht! Marley stöhnte.
Seit Wochen joggte sie jetzt jeden Morgen um den Ruppiner See und hatte kein Gramm abgenommen. Ihre Mutter hatte recht: Joggen allein half nicht, sie musste ihr Essverhalten ändern. Oder wieder zu rauchen anfangen. Das war natürlich nicht die Empfehlung ihrer Mutter, sondern ihre eigene Erkenntnis. Seit sie nicht mehr rauchte, hatte sie acht Kilo zugenommen, und das bei einer Körpergröße von hundertfünfundsechzig Zentimetern.
Homeoffice, Langeweile an den Abenden allein zu Hause und dazu seit einem Dreivierteljahr Heimweh nach Berlin: Sie hatte gekocht und gegessen, als gäbe es kein Morgen mehr.
Acht Kilo plus, die sie morgens auf ihren Knien spürte und direkt nach dem Laufen auch vor dem Kleiderschrank. Da gab es einfach keine Auswahl mehr. Nachdem sie so viel zugenommen hatte, hatte sie sich zwei neue Hosen und ein Kleid zugelegt. Das waren die Sachen, die ihr jetzt passten – alles andere blieb, weil zu eng, ungetragen im Schrank hängen. Wenn sie noch mehr in Größe 44 kaufen würde, käme sie nie mehr runter von ihrem aktuellen Gewicht.
Resigniert griff Marley zu dem schlichten dunkelblauen Kleid. Sie hatte vor Jahren den Blog einer Hamburger Journalistin gelesen, die, lange bevor Nachhaltigkeit auch in der Mode zum Thema wurde, ein Jahr lang jeden Tag dasselbe blaue Kleid getragen hatte. Daran hatte Marley sich erinnert und im Frühjahr, als klar war, dass die acht Kilo nicht so schnell verschwinden würden, ein blaues Kleid gekauft. Das trug sie jetzt sehr oft, vor allem, weil es bequemer war als die beiden neuen Hosen. Und sie würde es auch heute tragen: Heute war ihr Berlin-Samstag, ein Ritual, das sie mit ihrer Freundin Verena entwickelt hatte. Einmal im Monat trafen sie sich samstags zu einem späten Frühstück und danach zum Shoppen oder zur Kosmetik. Diese gemeinsame Zeit war der einzige Luxus, auf den sie nicht verzichten konnte.
Gerade als sie ihre Wohnung verlassen und zu Fuß zum Bahnhof Rheinsberger Tor gehen wollte, klingelte ihr Handy.
»Marley, du musst kommen – Leichenfund in Gumtow. Wir brauchen das große Besteck. Leiche ist in einem problematischen Zustand. Und zieh dir was Passendes an: Fundort ist eine Rübenmiete!«
Walter Meyer legte auf, bevor Marley nachfragen konnte. Der Kollege wurde immer mehr zum Problem, sprach mit ihr wie mit einer Assistentin und nicht wie mit seiner Vorgesetzten. Marley griff zu einer der Hosen und zu einem weiten T-Shirt. Dann ging sie ins Internet, um nachzusehen, was Meyer mit »Rübenmiete« gemeint haben könnte.
Erwin Schwarz zitterte noch immer, als Marley Leonhardt ihn zum Gespräch bat. Die zwei Polizisten aus Perleberg, die auf seinen Notruf hin gekommen waren, hatten nach kurzem Blick auf den Fundort und den Zustand der Leiche in Neuruppin angerufen. Das hier war mehrere Nummern zu groß für sie. Während sie auf Verstärkung warteten, nahmen sie die Personalien von Erwin Schwarz auf.
In Neuruppin hatte der wachhabende Dienststellenleiter, Walter Meyer, seine Kollegen, die KTU, das Landesinstitut für Rechtsmedizin in Potsdam und erst zuletzt seine Vorgesetzte, die Leiterin der Polizeidirektion Nord, Marley Leonhardt, informiert. Dann fuhr er selbst nach Gumtow. Eine Leiche in einer Rübenmiete – das war etwas Besonderes. Er grinste, als er in den Wagen stieg und Bodo Eisenhauer aufforderte, Martinshorn und Blaulicht einzuschalten. Dass die Leonhardt nicht wusste, worum es sich bei einer Rübenmiete handelte, hatte er natürlich bemerkt. So etwas kannte man nicht, wenn man in Hamburg studiert und in Berlin beim Innensenator gearbeitet hatte. Auf dem Land nutzten Examina und die neuesten Ermittlungstechniken wenig, da musstest du Land und Leute kennen. Deswegen war er ihr auch überlegen. Irgendwann würde das hoffentlich auch der Polizeipräsident in Potsdam erkennen.
Meyer hatte ein Problem mit Marley Leonhardt, ein großes Problem. Trotz seiner Ermittlungserfolge in den letzten Jahren war er bei der Beförderung zum Kriminaldirektor übergangen worden. Stattdessen wurde die Leonhardt aus dem Stand zur Direktorin und damit zur Leiterin der Polizeidienststelle Nord befördert. Er, Walter Meyer, wäre dran gewesen, das wusste der Polizeipräsident ganz genau. Aber die Zeiten hatten sich geändert, Diversität und Gleichberechtigung waren auch in Brandenburg politisch angesagt – mit diesen Worten hatte der Polizeipräsident versucht, ihm die Nachricht zu verkaufen. Eine Nachricht, mit der Walter Meyer nicht gerechnet hatte. Im Gegenteil: Zusammen mit seiner Frau hatte er schon Pläne gemacht, wie und mit wem die Beförderung gefeiert werden sollte. Und dann diese Niederlage!
Eine Stadtmaus aus Berlin in die Prignitz – das war ein großer Fehler, sagte nicht nur Walter Meyer. Viele in der Polizeidirektion Nord waren seiner Meinung. Vor allem die Männer. Einige der Frauen hingegen freuten sich über Marleys Ernennung und hofften, dass eine Frau an der Spitze der Polizeidirektion den alten Machos das Leben schwer machen würde.
Bodo Eisenhauer und Walter Meyer waren überrascht, als sie auf dem Feldweg ein paar Kilometer von Gumtow entfernt eintrafen und Marley Leonhardt dort schon vorfanden. Auch ohne Blaulicht hatte sie die knapp fünfundvierzig Kilometer von Neuruppin aus zügig zurückgelegt. Ihr Vater war zu DDR-Zeiten die berühmten Wartburg-Rallyes gefahren und hatte ihr offensichtlich das Rennfahrer-Gen vererbt.
Marley war eine rasante Fahrerin. Aber da sie in der Regel mit dem Fahrrad ins Büro kam, wusste das kaum jemand. Es war nicht das Einzige, was ihre Kollegen von der neuen Chefin nicht wussten. Nach Meyers Anruf und nachdem sie nachgesehen hatte, um was es sich bei einer Rübenmiete handelte, war sie zu ihrem Privatwagen gesprintet, der in der Tiefgarage stand. Ein schickes, etwas älteres grünes Audi-Cabrio, hochmotorisiert. Sie war glücklich über die neue Regelung, die es ermöglichte, dass man auch bei einem Umzug sein altes Nummernschild behalten konnte. »B-ML-1980« war für Marley Teil ihrer Identität, aber für ihre Brandenburger Kollegen eine Provokation und das klare Signal, dass die Neue, sobald sie an ihre Grenzen stoßen würde, wieder in die Hauptstadt zurückkehren würde. Marley hatte die Adresse ins Navi eingegeben und war mit quietschenden Reifen losgedüst. Vor Meyer und den anderen am Tatort zu sein, hatte oberste Priorität.
Jetzt saß sie mit dem Mann, der die Leiche gefunden hatte, an einem Klapptisch im hinteren Bereich des Bullis, mit dem die beiden Kollegen aus Perleberg gekommen waren. Sie hatte ihnen klargemacht, dass sie allein mit dem Zeugen sprechen und nicht gestört werden wollte.
Marley warf einen kurzen Blick auf die Personalien, die die Kollegen notiert hatten, und legte ihren Block und einen Stift auf den Tisch.
»Herr Schwarz, bitte erzählen Sie mir, was hier los ist«, bat sie den eingeschüchtert vor ihr sitzenden schlanken Mann um die sechzig. Der wusste offenbar nicht, wo er anfangen sollte, und schwieg.
»Wann genau sind Sie hier eingetroffen?«
Erwin Schwarz dachte kurz nach. »Gegen zehn Uhr fünfzehn.«
»Ist das Ihre Rübenmiete?« Der Begriff, den sie bis vor einer knappen Stunde noch nie gehört hatte, kam ihr flüssig über die Lippen.
»Nein, sie gehört …« Erwin Schwarz zögerte. »Sie gehört Diego Hausmann aus Gumtow. Es ist sein Land.«
Marley hatte sein Zögern bemerkt. »Leben Sie auch in Gumtow?«, fragte sie.
Erwin Schwarz nickte.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Herrn Hausmann?«
»Er ist mein Nachbar … und mein Patensohn.«
»Und weshalb machen Sie …«
Was zum Teufel machte man mit einer Rübenmiete? Marley war auf der Suche nach dem richtigen Verb.
»… sie weg? Die Rübenmiete, meine ich.«
Mein Gott, klang das blöd! Aber der Mann ihr gegenüber schien mit dieser Formulierung kein Problem zu haben.
»Sie muss weg, Diego weiß das, aber er ist momentan nicht in der Lage dazu …«
»Also hat er Sie gebeten, das zu übernehmen?« Marley blickte ihm in die Augen, wartete auf eine Erklärung.
Erwin Schwarz konnte den Blick nicht halten, schwieg und schaute an ihr vorbei.
»Weshalb ist Herr Hausmann nicht in der Lage, das selbst zu erledigen. Ist er krank?«
Erwin Schwarz zögerte diesmal noch länger, bevor er antwortete. »Ja, er ist krank, aber eher seelisch. Er trinkt zu viel. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Für Erwins Verhältnisse war dies eine lange Erklärung, und er fürchtete, dass er schon zu viel gesagt hatte. Hatte er Diego angeschwärzt? Aber jeder in Gumtow würde der Polizei erzählen, dass Diego in den letzten neun Monaten ein Trinker geworden war. Es gehörte zu den Dauerthemen im Dorf. Niemand kam mehr an ihn ran, auch er nicht. Diego war komplett abgestürzt.
Erwin wollte so schnell wie möglich raus aus dem Bulli und zu seinem Traktor. Er musste in Ruhe über das nachdenken, was ihn quälte, seit er den Notruf gewählt hatte. War das, was er faulend und stinkend unter den Rüben und der schwarzen Plane gefunden hatte, war das, was nur noch in Ansätzen einem Menschen ähnelte, Bernadette?
»Also, Herr Hausmann ist nicht in der Lage, diese Rübenmiete … wegzumachen?«
Schon wieder diese einfältige Formulierung! Erwin nickte.
»Und dann hat er Sie gebeten, das zu übernehmen?«
»Nein, gebeten hat er mich nicht. Aber es muss gemacht werden. Die Rüben hätten spätestens im April rausgenommen werden müssen. Jetzt haben wir Juli!«
»Was macht man eigentlich mit solchen Rüben?«
»Das sind Futterrüben. Diego hat sie für seine Rinder angebaut. Er wollte sie damit füttern. Weniger Kraftfutter kaufen und sie natürlicher ernähren. Er beschäftigt sich mit solchen Fragen.«
»Wann hat er die Rübenmiete angelegt?«
Erwin musste nicht lange nachdenken – er selbst hatte Diego geholfen. »Das war Ende September. An einem Wochenende. Futterrüben sind sehr kälteempfindlich. Sie müssen vom Boden entfernt werden, bevor die Temperatur unter acht Grad fällt. Eigentlich ist die sogenannte Abholzeit im Oktober. Aber Ende September gab es plötzlich Nachtfrost. Mit ein paar Leuten aus dem Dorf haben wir Diego geholfen, die Rüben zu schützen.«
»Und weshalb hat er sie dann im April nicht geerntet?«, fragte Marley nach.
Erwin sah sie erstaunt an.
Mist, dachte Marley, das war definitiv ein falsches Verb. »Ich meine, warum hat er sie nicht unter der Plane herausgeholt und an seine Rinder verfüttert?«
»Er hat keine Rinder mehr. Also, er hat schon noch welche, aber sie stehen nicht mehr auf seinem Hof, sie stehen in den Ställen der Agrargenossenschaft. Seit Dezember.«
Ende November hatten Erwin und Otto mit Diego gesprochen. Die Tiere wurden nicht mehr richtig gepflegt und gefüttert, die Kühe zu spät gemolken. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis das Veterinäramt in Neuruppin auf die Situation aufmerksam geworden wäre. Dann wäre eine hohe Geldstrafe wegen Tierquälerei auf Diego zugekommen, und die Tiere hätte er auf jeden Fall verloren. Erwin hatte dann den Deal mit der Agrargenossenschaft eingefädelt. Ein paar wurden verkauft und aus den Erlösen das Futter für die restlichen Tiere bezahlt. So sollte es gehen, bis Diego sich wieder selbst kümmern konnte.
»Herr Schwarz, verstehe ich das richtig? Herr Hausmann legt im September eine Rübenmiete an, um Futter für seine Tiere zu haben. Aber schon im Dezember gibt er seine Tiere weg. Und im April, als er die Rüben eigentlich rausnehmen müsste, macht er das nicht, sondern lässt sie liegen. Und heute, am 3. Juli, kommen Sie, übernehmen das für ihn und finden eine Leiche unter der Plane. Ist das so korrekt?«
Erwin nickte.
»Was ist passiert zwischen September 2020 und Juli 2021?«
Erwin zuckte mit den Schultern und schwieg. Diese Information würde sie nicht von ihm bekommen. Er wusste, was passiert war: Bernadette war verschwunden.
Er kannte seinen Patensohn Diego von klein auf. Ein aufgeweckter Kerl mit weißblonden Haaren. Der hatte ihm und seiner Schwester Elvira auf dem Hof und im Garten geholfen. War mit ihm auf dem Traktor durchs Dorf gefahren. Als er größer wurde, wollte er immer nur bei den Pferden sein. Und bei Erwin und Elvira. Vor seinen wortkargen, groben Eltern hatte er Angst. Außer kurzen, scharfen Anweisungen gab es zu Hause nichts für Diego: keine Freundlichkeit, keine Gespräche, keine Zuwendung. Auch zwischen seinen Eltern herrschte längst Eiszeit.
Jahre zuvor hatte Erwin seinen Freund Olaf Hausmann nicht wiedererkannt, als der nach drei Jahren Gefängnis wegen versuchter Republikflucht 1986 wieder zurück nach Gumtow gekommen war. Aus dem lustigen jungen Typen, dem die Mädchen hinterherliefen, war ein depressiver, schweigsamer Mann geworden. Doch er sah noch immer gut aus, und wenn er etwas getrunken hatte, aber noch nicht volltrunken war, konnte er ausgesprochen charmant sein.
Carmen, die Tochter des Vorsitzenden der LPG, konnte ihr Glück kaum fassen, als Olaf sich mit ihr einließ. Sie war weder besonders hübsch noch besonders beliebt im Dorf. Olaf erschien ihr damals wie ein Hauptgewinn. Ihr Vater war gegen die Beziehung. Früh hatte er seine Frau verloren, und Carmen war sein Ein und Alles. Er erfüllte ihr jeden Wunsch. Aber ein Republikflüchtling als Schwiegersohn – niemals.
Carmen ließ sich jedoch nicht umstimmen. Selbst als ihr Vater drohte, jeglichen Kontakt zu ihr abzubrechen, blieb sie standhaft.
Olaf und Carmen heirateten auf dem Standesamt in Kyritz. Erwin und Elvira Schwarz waren die Trauzeugen. Carmens Vater hatte seine Drohung wahr gemacht. Als einflussreicher Chef der LPG hatte Horst Steiner dafür gesorgt, dass keiner gratulierte oder Geschenke überreichte. Es war deprimierend. Der kalte Herbstregen, der den ganzen Tag fiel, machte es nicht besser. Es war eine Hochzeit in Moll.
Elvira hatte zur Feier des Tages einen Broiler geschlachtet, und gemeinsam mit der langsam vergesslich werdenden Mutter der Geschwister aß das Brautpaar im »guten« Zimmer der Familie Schwarz. Das war die ganze Feier. Carmen schien trotzdem glücklich zu sein. Sie strahlte und zeigte stolz ihren Ring.
Doch schon nach wenigen Monaten war das Glück vorbei. Carmen konnte zu ihrem wortkargen Mann nicht durchdringen. Und mit professioneller Hilfe konnte sie nicht rechnen. Als sie mit dem Arzt in Gumtow über ihren schwierigen Mann sprechen wollte, würgte der sie ab. »Du musst dafür sorgen, dass Olaf weniger trinkt. Dann wird alles gut.« Die Diagnose Depression gab es nicht in der DDR. Eine Erfindung des Kapitalismus. Carmen wurde wütend, Olaf immer stummer. Dass in dieser unguten Stimmung tatsächlich ein Kind gezeugt wurde, hatte nicht nur Erwin überrascht.
Es war ein hübsches Baby, das Carmen und Olaf auf den Namen Diego taufen ließen. Ein Name, der wie ein Versprechen auf Freiheit und Abenteuer klang. Als hätten die beiden schon im Herbst 1988 geahnt, welche Veränderungen bevorstanden.
Carmen liebte ihr Baby und ließ es nicht aus den Augen. Sie war weicher und verständnisvoller geworden. Und nicht nur sie: Auch ihr Vater Horst war durch den unerwarteten Enkel versöhnt. Endlich gab es einen männlichen Erben.
Erwin hatte für kurze Zeit die Hoffnung, Olaf würde jetzt wieder Tritt fassen. Bei der Namensweihe war Erwin zu Diegos Paten bestimmt worden. Olaf hatte ihn beim anschließenden Umtrunk zur Seite genommen. »Kümmere du dich um ihn, ich kann es nicht.« Und er konnte es wirklich nicht. Olaf war gefangen in seiner Depression, seiner unglücklichen Ehe und dem Suff. Diego wurde für Erwin der Sohn, den er sich heimlich wünschte. Und Erwin wurde Diegos männliches Vorbild.
Nach der Wende hatte Carmens Vater nicht nur sein Land zurückerhalten, er hatte auch die richtige Nase gehabt und für einen Spottpreis große Flächen Wald und Land in der Prignitz gekauft. Es gab kaum andere Interessenten, denn zu jener Zeit hatten die jungen Männer und Frauen der Region nur ein Ziel: Go West! Dass Ackerland und Wald in Brandenburg einmal wertvoll und sehr gefragt sein könnten, glaubte damals kein Mensch. Außer Horst Steiner, der Anfang der Neunziger das Fundament für Diegos späteren Wohlstand legte.
Horst Steiner vermachte alles seinem Enkel. Seine Tochter und ihr Oppositioneller sollten es für Diego verwalten, aber es würde nicht ihnen gehören. Carmen weinte, als sie nach dem plötzlichen Herztod ihres Vaters vom Notar in Kyritz mit diesem Testament konfrontiert wurde. Jahrelang hatte sie ihn versorgt, seine Wäsche gewaschen und für ihn gekocht, als er bettlägerig wurde, und dann erbte alles der Enkel, und ihr blieb lediglich der Pflichtteil.
Als Carmen und Olaf dann vor vier Jahren bei einem Autounfall, dessen genauere Umstände nie geklärt wurden, starben, kam Diego nach Gumtow zurück und übernahm sein Erbe. Seine Stelle als Sous-Chef in einem der besten Restaurants in Zürich gab er auf, um wieder in der Prignitz zu leben. Sein Heimweh war während der Ausbildung zum Koch immer größer geworden. Aber die bedrückende Situation in seinem Elternhaus hatte ihn abgeschreckt.
An dem Morgen nach der Beerdigung seiner Eltern, als er zum ersten Mal über den Hof seines Großvaters gelaufen war und die Rinder, die jetzt ihm gehörten, im Stall begrüßt hatte, war er seit langer Zeit wieder glücklich gewesen.
Aber das war alles lange her. Jetzt schien er am Ende zu sein. Erwin war immer noch entsetzt, in welchem Zustand er Diego heute Morgen vorgefunden hatte. Die teure, maßgefertigte Küche mit dem übergroßen Herd und der neuesten Technik war ein Saustall gewesen. Viele der Geräte konnte Erwin gar nicht zuordnen. Seine Schwester kochte für sie beide immer noch auf dem alten Herd, auf dem schon seine Mutter gekocht hatte.
Natürlich musste ein Spitzenkoch wie Diego eine Spitzenküche haben. Und darin den großen Zampano geben. Dafür hatte Erwin Verständnis. Immer wieder hatte Diego Elvira und ihn zum Essen eingeladen. Frische Pasta, Risotto, exotisch mariniertes Rindfleisch, vegetarische Kreationen, kunstvolle Desserts. Es war gut, aber fremd. Elviras Kochkünste dagegen waren überschaubar, doch Erwin schmeckte es.
Er war seit Wochen nicht mehr auf dem Hausmann-Hof gewesen. Diego hatte sich nicht nur von ihm abgewandt. Er hatte sich vom Leben verabschiedet, seit Bernadette verschwunden war.
Diego hatte die hübsche Soldatin im Frühjahr 2020 in Pritzwalk kennengelernt. Die große, durchtrainierte Blondine hatte ihm auf den ersten Blick gefallen. Als sie erzählte, dass sie plante, an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg Informatik zu studieren, um danach die Offizierslaufbahn einzuschlagen, war er schwer beeindruckt. Geprägt durch seine unzufriedene Mutter, die bis zu ihrem frühen Tod mit ihrer Situation gehadert, sie aber nie verändert hatte, bewunderte er selbstständige Frauen, die ihr Leben in die Hand nahmen.
Bernadette Rehm war mit ihren Kameraden und Kameradinnen aus der FlaRak-Gruppe 26 aus Husum in Pritzwalk im Einsatz. Zehn Männer und Frauen Mitte zwanzig, die sich abends und an den Wochenenden langweilten. In den Pritzwalker Kneipen und Lokalen waren sie nicht gerne gesehen. Nach wie vor gab es ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Menschen in Uniform.
Nicht bei Diego. Der hatte die Truppe in seine Küche eingeladen und Pasta gekocht. Der erste Abend war ein großer Erfolg gewesen, und weitere Einladungen folgten. Diego war ein großzügiger Gastgeber, es gab gutes Essen und guten Wein. Bernadette und Diego waren die Einzigen, die keinen Alkohol tranken. Bernadette, weil sie ihn nicht vertrug, Diego aus Überzeugung. Der ewig betrunkene Vater war ihm eine Warnung. Also blieben sie nüchtern, fuhren die anderen zurück ins Quartier und verliebten sich ineinander.
Obwohl sein Vater ihn nie geschlagen hatte, hatte Diego unter Olafs Alkoholismus gelitten. Keiner im Dorf nahm seinen Vater mehr ernst, und seine Mutter sprach nur das Nötigste mit ihm. Der abendliche Ablauf in seiner Familie war immer der gleiche: Carmen schaltete nach dem Essen den Fernseher ein, Olaf machte den Abwasch und blieb dann mit einer Flasche Schnaps allein am Küchentisch sitzen. Um zweiundzwanzig Uhr gingen beide wortlos ins Bett. Diego war völlig auf sich gestellt. Erwin und Elvira waren seine eigentliche Familie, aber die wohnten in einem anderen Haus. Also lag er in seinem Zimmer, hörte Musik mit Kopfhörern und versuchte, der aggressiven Stille seiner Eltern zu entgehen. Er war ein guter Schüler, und sein Vertrauenslehrer im Gymnasium in Pritzwalk bekniete ihn, Abitur zu machen. Aber Diego wollte nur weg. So früh wie möglich. Mit sechzehn Jahren begann er eine Ausbildung zum Koch in Warnemünde und kam nur noch gelegentlich nach Gumtow. Und wenn, dann um bei Erwin und Elvira zu sein.
Ihnen vertraute er, und deshalb erfuhren sie auch als Erste, dass Bernadette bei Diego einziehen würde. Die Entscheidung, ob sie dauerhaft bei der Bundeswehr bleiben wollte, hatte sie verschoben, weil sie herausfinden musste, ob Diego vielleicht die Liebe ihres Lebens sein könnte.
Am Anfang war alles wunderbar: der Sex, die Gespräche, die gemeinsamen Unternehmungen. Aber dann wollte Bernadette sich nützlich machen. Als Systematikerin beschäftigte sie sich mit den grundsätzlichen Voraussetzungen von Landwirtschaft und Tierhaltung. Nach den Kriterien von biologisch-nachhaltiger Bewirtschaftung sollte alles anders und besser werden. Diego war begeistert, zunächst. Aber als sie die Rinder abschaffen und ganz auf Tierhaltung verzichten wollte, begannen die Auseinandersetzungen.
Er hing an den Tieren, jede Kuh, jeder Ochse hatte einen Namen, den er selbst ausgesucht hatte, und er liebte seine Kälber. Nach jeder Geburt legte er sich zu ihnen ins Heu und war immer wieder überwältigt. Niemals würde er das aufgeben. Was konnte am Methan-Ausstoß seiner Rinder so problematisch sein? Er hatte gerade mal dreißig. Jede Übung der FlaRak-Gruppe 26 setzte mehr CO2 frei. Er betrieb ökologische Viehzucht: Seine Rinder standen auf der Wiese, bekamen nur hochwertiges Futter, und er verkaufte sie nur an nachhaltig arbeitende Metzger. Und wenn er, was sein Plan war, in Demerthin gemeinsam mit Clara ein Restaurant aufmachen würde, könnte er das Fleisch seiner eigenen Rinder anbieten. Er verstand es nicht: Bernadette aß doch selbst Fleisch. Nur gelegentlich, wiegelte sie ab. Und überhaupt plane sie, dass sie beide, auch Diego, Vegetarier würden.
Im Grunde war dies der Anfang vom Ende. Die Streitigkeiten wurden nach dieser Ansage heftiger. Sie sprachen tagelang nicht miteinander. Für Diego war es ein Déjà-vu. Aggressives Schweigen hatte seine Kindheit und Jugend geprägt.
Und dann war Bernadette plötzlich weg. Am 3. Oktober 2020. Diego hielt es zunächst für eine Kurzschlussreaktion. Er hatte am Samstagnachmittag ein Bœuf Bourguignon vorbereitet. Sie hatte gemeckert, er hatte gekocht. Es war der Tag der Deutschen Einheit, ein Feiertag. Er konnte Erwin und Elvira, die er zum Abendessen eingeladen hatte, nicht schon wieder etwas Vegetarisches vorsetzen. Und wenn Bernadette nicht mitessen wollte, okay.
Danach wurde es grundsätzlich: seine beschränkten Freunde aus dem Dorf, ihr militärischer Ton, die rechten Sprüche in der Kneipe. Als sie versuchte, ihm die Pfanne wegzunehmen, schlug er zu. Eigentlich hatte er ihre Hand treffen wollen, aber es wurde eine heftige Ohrfeige. Schlagartig waren beide still. Es tat ihm sofort leid, aber er war zu wütend, um sich zu entschuldigen. Sie schaute ihn mit einem vernichtenden Blick an und ging dann wortlos ins Schlafzimmer. Obwohl sein Herz bis zum Hals schlug, hatte er weitergekocht, den Tisch gedeckt und mit Erwin und Elvira zu Abend gegessen. Als die beiden nach Bernadette fragten, erfand er einen grippalen Infekt.
Das Bœuf Bourguignon war perfekt, aber es schmeckte ihm nicht. Er hatte Angst, dass er zu weit gegangen war. Als Erwin und Elvira weg waren, ging er hoch. Die Schlafzimmertür war abgeschlossen. Er klopfte, aber Bernadette reagierte nicht. Diego ging wieder in seine Küche und lauschte, ob sie vielleicht weinte, aber es war totenstill.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war sie weg. Er hatte auf dem Sofa geschlafen und war überrascht, dass er nicht mitbekommen hatte, wie sie das Haus verließ. So hatte er es Erwin und Elvira nachmittags erzählt. Ja, es hatte gestern Krach gegeben, und der grippale Infekt war eine Notlüge. Elvira hatte Verständnis, Erwin nicht. »Seit wann lügst du mich an?«, fragte er. Diego wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
Bernadette war weg. Aber wie und wohin? Diegos Auto stand auf dem Hof, ein eigenes hatte sie nicht. Sie musste zu Fuß losgegangen sein, mit wenig Gepäck. Im Kleiderschrank waren noch ihre Sachen. Nur eine kleine Reisetasche, ihr Handy und ihre Geldbörse waren nicht mehr da.
Seltsam, dachte Erwin. »Sie kommt wieder«, versprach er Diego gegen sein eigenes, ungutes Gefühl. Aber sie kam nicht wieder. Und sie meldete sich auch nicht.
Noch am gleichen Abend hatte Diego eine Flasche Rotwein aufgemacht und sie ausgetrunken. Aus Geselligkeit und weil seine Gäste in Zürich es erwartet hatten, wenn er nach dem Essen an ihren Tisch kam, hatte er in seinem Erwachsenenleben natürlich schon Alkohol getrunken. Aber immer nur kleinste Mengen. Jetzt brach er diese Regel, und plötzlich konnte er seinen Vater verstehen: Der Alkohol war Trost, war wie ein weicher Verband, der sich auf sein Herz legte. Bernadette war seine große Liebe. Er hatte sie geschlagen, jetzt war sie weg und würde niemals wiederkommen. Alles war allein seine Schuld.
Später sollte sich Erwin daran erinnern, dass Diegos Passivität ihn von Anbeginn an irritiert hatte. Es war Erwin, der bei der Bundeswehr und bei Bernadettes Mutter in Düsseldorf anrief. Bei der Bundeswehr war die Sache klar: Man gab keinerlei Auskünfte an Nicht-Familienangehörige.
Bei Bernadettes Mutter war es schwieriger. Erwin musste sich erst das Familiendrama in Kurzversion anhören. Die Mutter hatte den Kontakt zu ihrer Tochter beendet, als diese sich für eine Laufbahn bei der Bundeswehr entschieden hatte. Sie selbst sei seit ihrem Studium für »Ärzte ohne Grenzen« tätig und arbeite inzwischen im Vorstand der deutschen Sektion. Sie habe überall auf der Welt Kriegsgräuel gesehen und lehne jede Form der gewaltsamen Auseinandersetzung ab. Und dann gehe das einzige Kind zur Bundeswehr? Eine Provokation, unakzeptabel – deshalb herrsche Funkstille. Erwins Bitte, als Mutter bei der Bundeswehr nachzufragen, ob Bernadette das Angebot, als Offiziersanwärterin einzutreten, angenommen habe, lehnte sie kategorisch ab.
»Offiziersanwärterin? Bernadette?«
In der Prignitz habe sie gelebt? Wo zum Teufel das denn sei.
Erwin, nach dem Wortschwall erschöpft, blieb höflich. »In Brandenburg.«
»Ostdeutschland! Ach du meine Güte«, hatte Bernadettes Mutter gelacht, »das geschieht ihr recht!« Dann hatte sie aufgelegt.
»Willst du sie nicht als vermisst melden?«, hatte Erwin Diego gefragt. Aber das wollte der auf keinen Fall. Er hätte den Vorfall, für den er sich noch immer schämte, bei der Polizei zugeben müssen. No way!
Diego hatte sich seit dem vergangenen Herbst völlig abgeschottet. Statt Rotwein trank er nun Schnaps, Wodka und Gin. Eine Dorfbewohnerin, die in der Nähe der Glascontainer wohnte, hatte es Elvira erzählt: Wenn es dunkel sei und Diego meine, man sehe ihn nicht, entsorge er die Flaschen.
Dass Diego Olafs Sohn war, wurde überdeutlich. Die gleiche selbstzerstörerische Wut, das gleiche Trinkverhalten. Ein geschulter Beobachter hätte vielleicht gesagt, die Depression des Vaters sei auf den Sohn übergegangen. Im Dorf sagten sie: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Als Richard und Izzie von ihrem Morgengang zurückgekehrt waren, hatte Richard in der provisorischen Küche, die in einer Nische im Flur untergebracht war, das Frühstück zubereitet und den Hund gefüttert. Dann hatten beide auf Clara gewartet, die bestens gelaunt kurz vor elf in die Küche kam, ein Marmeladenbrot aß, einen Kaffee trank und dann mit dem Range Rover losfuhr. Sie wollte in Kyritz einkaufen und danach noch kurz nach Zarenthin ins Atelier von Julius Steinberg. Mit ihm war sie befreundet, seit er den Kauf des Schlosses für sie gemanagt hatte.
Er war Künstler, hatte aber lange Zeit hauptsächlich als Makler gearbeitet, weil er von seiner Kunst nicht leben konnte. Dann hatte er durch den Immobilien-Hype in Berlin innerhalb weniger Jahre so viel Geld verdient, dass er sich ganz seiner Malerei widmen konnte. Er hatte einen riesigen Vierseitenhof in Zarenthin gekauft, ließ ihn für viel Geld renovieren und hatte in den ehemaligen Scheunen Platz für seine großflächigen Werke. Und dann wollten plötzlich alle Bilder von Julius Steinberg. Es war paradox: In dem Moment, in dem er nicht mehr verkaufen musste, riss sich der Kunstmarkt um ihn. Jetzt machte er jedes Jahr zwei bis drei Ausstellungen und galt mit über fünfzig als vielversprechender Nachwuchskünstler.
Clara wollte seit Langem ein Bild von ihm kaufen, obwohl der Raum, in dem es hängen sollte, noch nicht fertig war. Mindestens zweimal im Monat besuchte sie Julius in seinem Atelier und schaute sich seine neuesten Arbeiten an.
Einen Käufer für Demerthin zu finden, war ein Gefallen gewesen, um den ein Mitglied der Landesregierung Julius Steinberg persönlich gebeten hatte. In Potsdam war parteiübergreifend bekannt, dass dieses Renaissance-Schloss in der Prignitz etwas Besonderes war, aber auch, dass das Land Brandenburg weder die Mittel noch den Willen hatte, es fachgerecht zu restaurieren. Und die Gemeinde Gumtow, die seit 1993 im Besitz des Schlosses war, schon gar nicht. Beim Weihnachtsessen des Lions Clubs in Neuruppin vor zweieinhalb Jahren hatte Julius Steinberg dann neben dem Staatssekretär aus dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur gesessen. Der wusste nur, dass Steinberg Künstler war, und hatte außer Schloss Demerthin kein kulturelles Small-Talk-Thema parat.
Als Julius sich als erfahrener Makler zu erkennen gab, bat ihn der Staatssekretär, mal unter dem Radar zu sondieren, ob es denn möglicherweise einen solventen Käufer für das Schloss gebe. Julius hatte seine Kontakte in der Berliner Society spielen lassen, aber niemanden gefunden. Der Kaufpreis war lächerlich gering, aber was an Kosten für die Renovierung auflaufen könnte, war astronomisch. Vor allem wegen der strengen Auflagen des Denkmalschutzes. Julius Steinberg hielt das Schloss für unverkäuflich, bis im März 2020 eine Frau vor seinem großen Hoftor in Zarenthin stand und mit ihm sprechen wollte: Clara von Wohlleben.
Marley Leonhardt schaute Erwin Schwarz hinterher, als der, noch immer zittrig, den Bulli verließ. Der Mann wusste mehr, als er ihr erzählt hatte – das spürte sie. Aber es brauchte jemanden aus der Region, um ihn zum Reden zu bringen. Ihr würde es nicht gelingen, sein Vertrauen zu gewinnen.
Anders als ihre männlichen Kollegen in Neuruppin vermuteten, kannte Marley ihre eigenen Schwächen sehr genau. Beispielsweise, dass sie nur schwer an die Menschen in der Prignitz herankam. Ihre Stärken kannte sie aber auch. Eine davon war, dass sie gut delegieren konnte. Trotzdem würde sie das nächste Gespräch mit Erwin Schwarz bestimmt nicht Walter Meyer überlassen.
Den hatte sie vor ein paar Tagen am Telefon über sie lästern hören. Es war lange nach Dienstschluss gewesen, und vermutlich dachte Meyer, er wäre allein auf der Etage. Seine Bürotür stand offen, als sie auf dem Flur vorbeiging. Sie hörte sein dreckiges, lautes Lachen und konnte nicht widerstehen, sie musste lauschen.
Sie hatte keine Ahnung, mit wem er sprach, aber es ging um sie: ihre Inkompetenz, ihre Arroganz, ihre Angeberkarre und ihre Figur. Es war beleidigend. Kurz hatte sie den Impuls verspürt, hineinzugehen und ihn zur Rede zu stellen. Aber dann schlich sie leise zum Ausgang. Die Stunde der Abrechnung würde kommen, das war gewiss. Walter Meyer hatte nicht die leiseste Ahnung, wen er sich da zur Feindin gemacht hatte.
Erwin Schwarz beachtete Meyer und Eisenhauer nicht, als er aus dem Bulli ausstieg. Er hatte alles gesagt, was er wusste. Na ja, fast alles. Auf das Thema Bernadette mussten sie schon von allein kommen. Dass das nicht lange dauern würde, war ihm klar.
Er wollte zu seinem Traktor gehen, aber der Famulus stand hinter der Absperrung, die die beiden Polizisten aus Perleberg mit rot-weißem Flatterband gezogen hatten.
Meyer, der ihm hinterhergegangen war, rief ihm zu: »Den müssen Sie erst mal hier stehen lassen, bis die Spusi, also die Spurensicherung, durch ist. Das wird noch eine Weile dauern.«
»Und wie komme ich jetzt nach Hause? Das sind gut vier Kilometer bis nach Gumtow!«
Erwin spürte, dass er nicht in der Lage war, diese Strecke zu Fuß zu gehen. Er fühlte sich krank und zerschlagen.
»Dann rufen Sie jemanden an, der Sie abholt – ich kann Sie nicht bringen lassen, wir brauchen hier jeden Mann«, sagte Meyer, der eine gewisse Genugtuung verspürte. Dieser Typ hatte ihn ignoriert, jetzt ignorierte er ihn. Sollte er doch die vier Kilometer laufen.
Erwin zögerte. Seiner Schwester Elvira wollte er die Aufregung ersparen. Später würde er zu Hause einen Kaffee kochen, sich mit ihr an den Küchentisch setzen und von dem Leichenfund erzählen. Er musste behutsam mit ihr sein. Für die kinderlose Elvira war Diego immer ihr Ersatzkind gewesen. Sie litt unter seinem Absturz in den Suff. Auch sie würde sich, das wusste Erwin, dieselben Fragen stellen: Ist das Bernadette? Und hat Diego sie getötet?
Es gab nur einen, den er in seiner Notlage anrufen konnte. Erwin zog sein Handy aus der Tasche seiner dunkelblauen Arbeitsjacke und wählte die Nummer von Richard Wagner.
Richard war gerade dabei, den ehemaligen Schlachtraum in dem Nebengebäude, das Clara, Izzie und er zurzeit bewohnten, auszumessen, als sein Telefon klingelte. Er versuchte, es zu ignorieren. Endlich hatte Clara zugestimmt, dass hier die Küche eingebaut würde, und das wollte er zügig angehen, damit sie ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen konnte. Auf keinen Fall wollte er jetzt mit Erwin Schwarz telefonieren.
Er hatte lange für eine Küche in diesem voll gekachelten weißen Raum argumentieren müssen. Seine eigentliche Motivation musste er dabei gar nicht erwähnen. Es gab genügend überzeugende Argumente: Diesen Umbau könne man schnell und preiswert umsetzen, und wenn irgendwann mal das Schloss saniert sei, könne man dort eine zweite hochwertige Küche einbauen. Irgendwann! Anders als Clara wusste Richard, dass dies noch Jahre dauern würde. Clara hatte keine Vorstellung, wie aufwendig die Renovierung war. Seit sie die Betreuung von Ingrid Dessau an ihn übergeben hatte, verlor Clara zunehmend den Bezug zur Größenordnung der Baustelle.
Das war der einzige, immer wieder aufflammende Konflikt, den sie hatten. Clara schimpfte mit Richard, dass er die Dessau nicht im Griff habe und jede ihrer unsinnigen Denkmalschutz-Auflagen umsetze, er warf ihr Realitätsverweigerung vor. Ohnehin war ihm schleierhaft, wie sie die Sanierung von Demerthin auf Dauer finanzieren wollte.
Schon wieder klingelte das Handy. Erwin war sonst nicht so insistierend – es musste wichtig sein.
»Richard, kannst du mich bitte abholen? Mit dem Auto. Ich bin auf dem Acker in der Nähe von Mechow, kurz vor dem Fließ, und meinen Traktor hat die Polizei beschlagnahmt.«
Richard konnte ihn kaum verstehen, so zittrig war Erwins Stimme.
»Wieso hat die Polizei deinen Traktor beschlagnahmt? Hattest du einen Unfall? Bist du okay?«
»Richard, komm sofort.«