Rückkehr nach Sanditon - Clara Lucas - E-Book

Rückkehr nach Sanditon E-Book

Clara Lucas

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Beschreibung

England 1819: Vor zwei Jahren hatte Charlotte bei einem Ferienaufenthalt in dem kleinen Küstenort Sanditon Sidney kennen und lieben gelernt, doch er heiratete überraschend eine andere. Diesen Sommer kehrt Charlotte zurück, um mit den Freunden von einst erneut die kleinen und großen gesellschaftlichen Ereignisse des aufstrebenden Seekurortes zu durchleben. Und auch Sidney ist wieder zu Gast in Sanditon ... Jane Austens letzte Arbeit "Sanditon" blieb ein Fragment und die Reise ihrer Heldin Charlotte Heywood unvollendet. Nun ist es Clara Lucas gelungen, mit ihrem warmherzigen, amüsanten Roman ganz im Stil Austens, die Geschichte von Charlotte und Sidney Parker neu zu erzählen.

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Der Roman

England 1819: Charlotte Heywood und Sidney Parker haben sich vor zwei Jahren kennengelernt, doch er heiratete eine andere. Nun treffen sie sich in dem kleinen Küstenort Sanditon wieder, Sidney ist inzwischen verwitwet. Sie besuchen nicht nur dieselben gesellschaftlichen Ereignisse wie Bälle und Ausflüge, sondern geraten gemeinsam in ein Duell und müssen eine Entführung verhindern. Dabei entdecken sie erneut ihre Gefühle füreinander …

Rückkehr nach Sanditon ist ein historischer Gesellschafts- und Liebesroman. Er basiert auf dem Roman Sanditon von Jane Austen aus dem Jahr 1817, der aufgrund des frühen Todes der Autorin ein Fragment von nur elf Kapiteln blieb. Clara Lucas nimmt sich der von Austen erdachten Charaktere an und führt deren Geschichte in modernisierter Form fort, ohne Austens treffsichere Sprache und ihren ironischen Blick auf die dargestellte Gesellschaft des Regency aus den Augen zu verlieren.

Die Autorin

Clara Lucas studierte Rechtswissenschaften in Kiel, Straßburg, Freiburg i. Br. und Potsdam. Die Mutter zweier Söhne im Teenageralter lebt und arbeitet heute als Rechtsanwältin im Rheinland und hat bereits zahlreiche juristische Fachtexte veröffentlicht. Rückkehr nach Sanditon ist ihre erste belletristische Arbeit, die aus ihrer seit Jugendzeiten bestehenden Leidenschaft für die englische (Frauen-)Literatur des 19. Jahrhunderts hervorgegangen ist.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Epilog

Prolog

»Miss Heywood, Miss Heywood!«

Charlotte blieb stehen und sah sich suchend um. Sie war eben im Begriff gewesen, mit ihrem Begleiter durch die großen Flügeltüren auf die Terrasse zu treten, als der Ruf ihres Namens sie zurückhielt.

Mr Tom Parker durchquerte den großen Ballsaal und kam auf sie zu: »Miss Heywood, es tut mir sehr leid, aber wir müssen unglücklicherweise schon aufbrechen. John, unser Türsteher, kam eben von Trafalgar House herüber, um uns mitzuteilen, dass die kleine Margaret die Stiege hinuntergefallen ist. — Nichts Schlimmes«, setzte er hinzu, als er Charlottes erschrockenen Gesichtsausdruck sah, »sie hat sich wohl nicht ernsthaft verletzt. Aber sie weint und ruft nach ihrer Mutter. Und Jane, das Kindermädchen, schafft es nicht, sie zu beruhigen. Meine Frau möchte daher so schnell es geht nach Hause.«

Selbstverständlich komme ich mit Ihnen«, erwiderte Charlotte.

«Gibt es irgendetwas, das ich tun kann, Tom?«, mischte sich nun Charlottes Begleiter in die Unterhaltung ein.

»Nein, nein, Sidney. Alles in Ordnung. Der Ball scheint mir doch ein rechter Erfolg zu sein und es wäre wenig hilfreich, wenn nun alle Gäste auf einmal davonliefen«, entgegnete Mr Parker. Zu Charlotte gewandt sagte er: »Sie müssen nicht mitkommen, Miss Heywood. Ich könnte meine Schwestern bitten, Sie später zurück nach Trafalgar House zu bringen. Und ich selbst plane auch noch einmal zurückzukehren, wenn zu Hause alles in Ordnung ist.«

»Oh, nein, nein«, entgegnete Charlotte sofort, »wie könnte ich hier unbeschwert feiern, wenn es Ihrer Tochter schlecht geht und ich Mrs Parker vielleicht helfen kann?!«

»Dann kommen Sie.«

Mr Parker eilte Richtung Ausgang, und sie wollte ihm schon folgen, als ihr Begleiter sie am Handgelenk festhielt und sich zu ihr beugte. Leise sagte er: »Ich bedaure sehr, dass wir keine Gelegenheit mehr haben, unsere Unterhaltung fortzusetzen, denn ich muss Sie etwas Wichtiges fragen, Miss Heywood. Ich werde mich gleich morgen Vormittag nach Margarets Befinden erkundigen. Und ich hoffe sehr, dass ich dann einen Moment allein mit Ihnen sprechen kann.« Er sah sie so eindringlich an, dass Charlottes Mund ganz trocken wurde. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie antwortete: »Ich habe morgen Vormittag nichts vor, Sir, und werde zu Hause sein.«

Charlotte hatte in der Kutsche auf dem Sitz gegenüber von Mr und Mrs Parker Platz genommen. Der Weg nach Trafalgar House, dem Wohnsitz der Familie Parker, war nur kurz, aber sie hatten davon abgesehen, zu Fuß zu gehen, um die empfindlichen Abendschuhe der Damen zu schonen.

»Auch wenn unser erster Versuch, einen Arzt nach Sanditon zu bekommen, fehlgeschlagen ist, sollten wir uns unbedingt weiterhin darum bemühen, egal, was Lady Denham meint«, sagte Mr Parker. »Es scheint ja so zu sein, dass Margaret nichts passiert ist, aber wie leicht hätte so ein Sturz auch schlimm ausgehen können! Wie hilfreich und beruhigend wäre es, wenn wir dann einen Arzt hinzuziehen könnten!«

»Du hast bestimmt recht, mein Lieber«, antwortete seine Frau, »aber ich hoffe doch vor allem sehr, dass unsere Kleine wohl auf ist und es ihr gut geht, wenn wir endlich zu Hause sind.«

»Natürlich, natürlich, meine Liebe. Das ist das Wichtigste!«

Charlotte hörte dem Gespräch zwischen den Eheleuten nur mit halbem Ohr zu. Sie genoss den milden Luftzug, der durch das offene Kutschenfenster hereinströmte und den salzigen Geruch des Meeres mit sich brachte. Ein wenig befürchtete sie, dass sich die Zeit bis zum nächsten Vormittag endlos ziehen würde, denn schlafen könnte sie sicherlich nicht. Wäre sie nicht aufgehalten worden — bestimmt hätte er sie noch heute Abend gefragt, ob sie seine Frau werden wolle, und sie wäre jetzt schon verlobt. Sie seufzte leise. Dann schalt sie sich für ihre Ungeduld: Was machte schon ein einziger Tag? Er würde sie morgen fragen und sie würde Ja sagen und mit zweiundzwanzig Jahren den Mann heiraten, den sie liebte. Glücklich sank Charlotte zurück in den Sitz der Kutsche.

1. Kapitel

»Bitte erheben Sie sich doch, Mr Russel!«

Charlotte Heywood stand im Salon ihres Elternhauses in der kleinen Gemeinde Willingden und schaute mit einer Mischung aus Bestürzung und Belustigung auf den jungen Mann herab, der vor ihr auf dem Boden kniete.

James Russel kam etwas unsicher wieder auf die Füße. Er hatte soeben den ersten Heiratsantrag seines Lebens gemacht und nun das dumme Gefühl, dass dieser Besuch ganz und gar nicht so verlief, wie er eigentlich sollte. Jedenfalls hatte seine Angebetete weder ein glückliches »Ja« gehaucht, noch war sie in seine Arme gestürzt, wie er es sich — als er die Szene zuvor in seinem Kopf durchgegangen war — ausgemalt hatte.

Stattdessen stand sie nun mit gerunzelter Stirn vor ihm. Und ihre Stimme war keinesfalls leidenschaftlich, sondern eher bedauernd, als sie sagte: »Lieber Mr Russel — es tut mir leid, aber ich kann Ihren überaus schmeichelhaften Antrag nicht annehmen. Ich bin mir bewusst, dass nur ganz allein ich an dieser peinlichen Situation schuld sein kann. Anscheinend war mein Verhalten Ihnen gegenüber nicht, wie es hätte sein sollen, denn ich weiß, anderenfalls wären Sie nie auf den Gedanken gekommen… Jedenfalls möchte ich mich aufrichtig bei Ihnen entschuldigen, wenn ich Ihnen das Gefühl gegeben haben sollte, dass Ihr Antrag mir willkommen sein könnte.«

»Meine liebe Charlotte … — Miss Heywood, wollte ich sagen —, Sie kann keine Schuld treffen, so liebenswürdig, so korrekt, wie Sie immer waren! Ich habe mich durch meine Gefühle Ihnen gegenüber hinreißen lassen! Ich hatte so gehofft, dass Sie diese erwidern …« Mit rotem Kopf stand James Russel mitten im Raum.

»Vielleicht ist es das Beste, wenn wir dieses Gespräch einfach vergessen und die Freunde bleiben, die wir vorher waren. Denn wir sind doch noch Freunde?«, fragte sie.

Er beeilte sich, dies zu bejahen, nur um dann doch noch einmal nachzuhaken: »Und Sie sind wirklich völlig sicher … ich meine, vielleicht habe ich Sie auch einfach nur überrascht ...? Wollen Sie es sich nicht doch noch einmal überlegen?« Sein Ton war beinahe flehend.

Charlotte konnte sich nun doch ein Lächeln nicht verkneifen. »Mr Russel, ich bin mir wirklich ganz sicher. Sehen Sie: Selbst, wenn ich wollte, was ich nicht tue — oh nein, bitte schauen Sie mich nicht wieder so verzweifelt an! —, ich könnte meinen Vater nicht im Stich lassen. Sie wissen, nach dem Tod meiner Mutter letztes Jahr habe ich die Führung des Haushaltes und die Sorge für meine jüngeren Geschwister übernommen. Ich kann meinen Vater mit dieser Aufgabe nicht allein lassen.«

»Nun ja, das verstehe ich natürlich«, sagte er, schon eine Spur weniger niedergeschlagen, schaute sie jedoch immer noch mit einem sehnsüchtigen Blick an und machte keine Anstalten zu gehen.

Charlotte beschloss, dass sich die peinliche Szene lange genug hingezogen hatte. »Da wir gerade bei dem Thema sind — ich muss nach der Köchin und dem Abendessen für meinen Vater sehen, es wird höchste Zeit. Leben Sie wohl, Mr Russel. Bitte besuchen Sie mich bald einmal wieder!« Und sie eskortierte den erschütterten jungen Mann aus dem Salon in Richtung Haustür, die Dawson, der Butler ihres Vaters, der wie zufällig sofort aufgetaucht war, für den völlig überrumpelten Mr Russel öffnete.

Als Charlotte zurück in den Salon kam, fand sie dort ihre Schwester Emily vor.

»Ich habe gehört, Mr Russel war hier — anscheinend allein mit dir im Salon. Und jetzt ist er schon wieder gegangen? Kann es sein, dass du ihn hinausgejagt hast?« Emily blickte ihre ältere Schwester gespannt an. Im Gegensatz zu Charlotte, die ein eher dunkler Typ war, mit kastanienbraunen Locken und lebhaften grauen Augen, hatte Emily helleres, fast blondes Haar. Ihre Augen waren blau und ihr Teint rosig, mit einer Neigung, Sommersprossen zu entwickeln, was ihr — zu ihrem großen Verdruss — öfter Neckereien ihrer Brüder einbrachte. Davon abgesehen, glichen sich die Schwestern allerdings sehr: Beide waren mittelgroß und schlank und hatten so ähnliche Gesichtszüge, dass das Verwandtschaftsverhältnis offensichtlich war. Charlotte war mit ihren vierundzwanzig Jahren die ältere der beiden, Emily gerade neunzehn geworden.

Charlotte seufzte: »Er hat um meine Hand angehalten! Es war recht unangenehm. Anscheinend dachte er, dass seine Werbung positiv aufgenommen würde. Ich muss wirklich einen ganz falschen Eindruck bei ihm hinterlassen haben …«

»Also hat dich sein Antrag überrascht? Aber er ist doch schon das ganze Frühjahr um dich herumgeschlichen. Und letzte Woche bei dem Fest der Collins hätte er dich um ein Haar ein drittes Mal zum Tanz aufgefordert. Das war schon recht eindeutig. Magst du ihn denn nicht? Er sieht doch sehr gut aus, ist immer freundlich und hat letztes Jahr das Erbe seines Vaters angetreten — ein schöner Landsitz, ganz ähnlich dem von Papa.«

»Ich mag James Russel wirklich sehr gern, aber heiraten möchte ich ihn nicht«, erwiderte Charlotte. »Er erscheint mir mit seiner impulsiven Art doch auch noch reichlich jung. Außerdem denke ich ohnehin nicht ans Heiraten. Jemand muss schließlich den Haushalt hier führen.«

Emily überlegte einen Moment. Dann sah sie ihre Schwester an und sagte ernst: »Möchtest du denn gar nicht heiraten? Immerhin ist James Russel bereits der zweite Verehrer, dessen Antrag du dieses Jahr abgelehnt hast.«

»Also, im Moment möchte ich jedenfalls nicht heiraten, sondern in der Küche nach dem Rechten sehen. Sonst wird das mit dem Abendessen nie etwas!«

Charlotte drehte sich um und verließ unter dem überraschten Blick ihrer Schwester den Salon.

»Das letzte Stück Truthahn ist für mich!«, rief Anne empört, »du hattest schon eins!«

»Hol es dir! Hol es dir!« Branwell, ein stämmiger Zwölfjähriger, hielt die Platte so hoch, dass seine Schwester nicht heranreichen konnte. Als er aber den strengen Blick sah, den Charlotte ihm von ihrem Platz aus zuwarf, stellte er den Teller schnell wieder auf den Tisch und zuckte entschuldigend mit den Schultern, während er seiner Schwester den begehrten Truthahn auftat.

Dinner bei den Heywoods war zumeist eine laute und fröhliche Angelegenheit. Wenn keine Gäste anwesend waren, erlaubte Mr Heywood, der nicht viel auf Förmlichkeit gab, allen seinen Sprösslingen daran im Esszimmer teilzunehmen. Neben den Streithähnen Branwell und Anne zählten dazu noch sechs weitere Geschwister, die jüngste Tochter war gerade sieben geworden. Vater und Kinder trugen noch schwer an dem plötzlichen Verlust der Ehefrau und Mutter im vorigen Frühjahr, aber das gemeinsame abendliche Essen half, die Bindung der Familie zu festigen und Mr Heywood aufzuheitern.

Nachdem die Aufregung vorbei und das Essen an alle Kinder verteilt war, wandte sich Mr Heywood an seine Älteste, die auf dem Platz neben ihm saß: »Wenn ich richtig informiert bin, Charlotte, hat Mr Russel dich heute besucht? — Nein, du brauchst deine Schwester nicht so finster anzuschauen«, unterbrach er sich, als er Charlottes Blick in Richtung Emily bemerkte, »sie hat dich nicht verraten. Es war der junge Mann selbst, der mich heute Morgen, als ich ihn zufällig im Dorf traf, darauf hinwies, dass er dich in einer wichtigen Angelegenheit aufsuchen wolle und ich doch hoffentlich nichts dagegen hätte.«

»Er hat Sie auf der Dorfstraße gefragt, ob er mir einen Heiratsantrag machen dürfe?!«, rief Charlotte bestürzt aus. Sofort verstummten alle durcheinander geführten Gespräche am Tisch. Charlotte und ihr Vater hatten die volle Aufmerksamkeit der ganzen Runde, die an diesem Abend immerhin aus zehn Personen bestand.

»Er hat dir einen Heiratsantrag gemacht?! Wirst du jetzt James Russels Frau?!«, platzte es aufgeregt aus der zehnjährigen Anne heraus.

»Still, Anne!«, sagte ihr Vater streng. »Du hast ganz entschieden ein zu vorlautes Mundwerk. Ich muss dringend mit Miss Taylor sprechen, wenn sie von dem Besuch bei ihrer Nichte zurück ist.«

Sofort gab es von allen Seiten aufgebrachte Proteste gegen die angedeutete Rüge der heiß geliebten Gouvernante, und das vorherige Thema war schnell vergessen. Die jüngeren Essensteilnehmer widmeten sich stattdessen wieder ihren wichtigeren Streitereien über die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit der heywoodschen Zug- und Reitpferde.

Leise sagte Mr Heywood zu Charlotte, das abgebrochene Gespräch wieder aufgreifend: »Mr Russel hat mich nicht direkt nach meiner Erlaubnis gefragt, aber er schwurbelte etwas daher, dass er dich besuchen wolle und ich doch hoffentlich nichts dagegen hätte, wenn du ihn zum glücklichsten Menschen auf Gottes Erdboden machtest.«

Emily, die auf der anderen Seite ihres Vaters saß, gluckste leicht. »Ach du meine Güte!«, kicherte sie.

»Ja, es war in der Tat sonderbar. Ich habe zwar nichts dazu gesagt, aber ihn doch wohl etwas zu streng angeschaut. Denn er fing an zu stammeln und verabschiedete sich hektisch. Aber es scheint mir, dass man dir — oder vielmehr ihm — doch nicht gratulieren kann?« Mr Heywood blickte seine Älteste gespannt an und wartete auf ihre Antwort.

»Nun, nein, Papa. Mr Russel war zwar so freundlich, mich heute mit einem sehr schmeichelhaften Heiratsantrag zu beehren, aber ich habe ihm abgesagt.«

»Sehr schön!«, sagte Mr Heywood zufrieden und konzentrierte sich wieder auf seinen Hammelbraten. »Nicht, dass er nicht achtbar oder annehmbar wäre. Und wenn du ihn gern genommen hättest, so hätte ich nichts dagegen gesagt — der Besitz, den er von seinem Vater geerbt hat, ist durchaus stattlich. Aber es erscheint mir auch nicht so ganz das Richtige zu sein. Im Übrigen könnte ich dich derzeit hier wirklich nicht entbehren. Schließlich wüssten wir alle gar nicht, was wir ohne dich und deine Hilfe anfangen sollten, nachdem Mama …« Er beendete den Satz nicht, sondern starrte plötzlich abwesend auf sein Glas, hob es an, schwenkte es und beobachtete eine Weile die Bewegungen des Weins. Dann räusperte er sich und fragte die Mädchen nach ihren Plänen für den nächsten Tag.

Charlotte erzählte, dass sie einen Besuch von Mrs Russel, der Mutter des bedauernswerten James, erwarte. Aber Emily sagte nichts, sondern schaute nur zu Charlotte hinüber und runzelte nachdenklich die Stirn.

Noch bevor Mrs Russel am nächsten Tag vorsprach, kam mit der Morgenpost ein dicker Brief für Charlotte von Mrs Mary Parker aus Sanditon.

Die Bekanntschaft zwischen den Parkers und den Heywoods bestand seit zwei Jahren und war auf einen folgenschweren Unfall zurückzuführen, den Mr und Mrs Parker fast direkt vor der Haustür der Heywoods erlitten hatten. An ihrer Kutsche war ein Wagenrad gebrochen und beim Aussteigen aus dem umgekippten Gefährt hatte sich Mr Tom Parker seinen Knöchel so schwer verstaucht, dass ihm und seiner Frau nichts anderes übriggeblieben war, als die freundliche Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Familie Heywood anzunehmen. So hatten sie zwei Wochen im Hause der Heywoods gewohnt, bis Mr Parkers Knöchel so weit wieder hergestellt war, dass das Ehepaar seine Rückreise in den Küstenort Sanditon, von wo es stammte, gefahrlos antreten konnte. Um sich für die ihnen gewährte Gastfreundschaft zu revanchieren, hatten sie Charlotte eingeladen, ihnen über den Sommer in Sanditon Gesellschaft zu leisten.

Zwischen Charlotte und der Familie Parker war bei jenem Besuch eine enge Freundschaft entstanden, so dass es nicht überraschend war, als sie auch für den darauffolgenden Sommer wieder eine Einladung nach Sanditon erhielt. Allerdings war aufgrund der plötzlichen schweren Krankheit und des Todes von Charlottes Mutter an eine Annahme der Einladung nicht zu denken gewesen.

Nun aber stand ein neuer Sommer vor der Tür und Mrs Parker schrieb:

»… Es wäre uns eine große Freude, liebe Miss Heywood, wenn Sie uns diesen Sommer einmal wieder in Trafalgar House besuchen könnten. Von den Geschwistern meines Mannes haben nur Diana und Arthur fest zugesagt, denn Susan hat sich bedauerlicherweise entschieden, den Sommer mit ihrer Freundin zu verbringen: Mrs Bertram fühlt sich gesundheitlich nicht wohl und ihr Arzt hat ihr geraten, zur Kur nach Bath zu gehen, um das berühmte Wasser zu trinken. Susan möchte ihr beistehen. Sie selbst hatte sehr dafür plädiert, dass Mrs Bertram statt des regnerischen Wetters in Bath das Meeresklima an der Küste versuchen sollte — eine Idee, bei der sie von meinem Mann, wie Sie sich sicherlich vorstellen können, sehr unterstützt wurde. Doch trotz Susans Geschick, Menschen von dem zu überzeugen, was sie selbst für angemessen und richtig hält, konnte sie mit ihrem Vorschlag nicht durchdringen, sodass nun Bath das Ziel für den Sommer ist.

Sie merken also, dass wir fast ganz unter uns sind, und daher möchten wir in unsere Einladung an Sie auch unbedingt Ihre liebe Schwester, Miss Emily, einschließen. Ich würde mich besonders freuen, Sie beide hier begrüßen zu dürfen, und Tom ist sehr einverstanden mit dieser Idee — neue Gäste in Sanditon sind für ihn ja ohnehin das Schönste.

Wenn Sie kommen, werden Sie auch unseren neuen Pfarrer erleben, denn der wunderbare Reverend Grant ist leider von uns gegangen — hatte ich Ihnen das geschrieben? Ein halbes Jahr ist das nun schon her. Daher ist auch Mr Grant, sein Sohn, nach Sanditon zurückgekehrt, nachdem er die letzten zwei Jahre in London verbracht hat. Stellen Sie sich vor: Er hat dort als Sekretär für einen Grafen gearbeitet und hilft nun hier bei der Verwaltung der neuen Häuser. Sanditon hat sich ja so verändert, seit Sie das letzte Mal bei uns waren!

Sie sehen, liebe Miss Heywood, Sie und Miss Emily müssen unbedingt kommen, eine Absage können wir nicht akzeptieren.

So verbleibe ich in der sicheren Zuversicht, Sie ganz bald bei uns zu sehen!

Ihre usw. Mary Parker

Charlotte lächelte. Mrs Parker war eine ruhige, umsichtige Frau, die ihren Mann vor allem dadurch unterstützte, dass sie seinen übermäßigen Enthusiasmus durch eine vernünftige Bemerkung im rechten Moment ausbremste. Aber ihre Art, Briefe zu schreiben, war ähnlich voller Begeisterung und Konfusion wie manche Pläne ihres Ehemanns.

Emily freute sich sehr, als Charlotte ihr den Brief vorlas. »Ich bin auch eingeladen? Wie aufregend!«

Doch dann sah sie Charlottes ernsten Gesichtsausdruck und ihr Tonfall änderte sich. »Wir werden doch annehmen können?«, fragte sie sorgenvoll.

Charlotte schüttelte langsam den Kopf: »Ich glaube nicht, dass ich Papa und die Kinder sich selbst überlassen kann. Vielleicht fährst du allein …?« Aber da protestierte Emily sofort und wollte nichts davon hören, dass Charlotte zu Hause bleiben sollte, während sie selbst sich in Sanditon vergnügte.

In diesem Augenblick wurde Mrs Russel gemeldet. Sie war eine große, elegante Erscheinung und wirkte für ihr Alter von gut über fünfzig immer noch sehr frisch und jugendlich. Ihre spontane, direkte Art hatte sie an ihren ältesten Sohn James weitergegeben, der am Tag zuvor in eben diesem Salon so wenig Glück mit seinem Heiratsantrag gehabt hatte. Anders als ihr Sohn verfügte Mrs Russel jedoch über einen schnellen, wachen Verstand und viel Menschenkenntnis, mit der sie die tatsächlichen Gegebenheiten deutlich besser einzuschätzen vermochte als ihr Sprössling.

Mrs Russel begrüßte die beiden Schwestern und ließ sich von Emily zu einem kleinen Sofa führen, auf dem sie es sich bequem machte. Charlotte läutete nach ein paar Erfrischungen und nachdem die drei Damen eine Weile über das anhaltende trockene Wetter und die neueste Hutmode aus der aktuellen Ausgabe der »La Belle Assemblée« gesprochen hatten, wechselte Mrs Russel, der die leichte Befangenheit von Charlotte nicht entgangen war, das Thema: »Ich habe Grund zu der Annahme, dass mein bedauernswerter Sohn Sie gestern aufgesucht hat, Miss Heywood? Er hätte es wirklich besser wissen müssen, als Sie mit seinen Aufmerksamkeiten zu überfallen, und hätte er mir vorher mitgeteilt, was er vorhatte, so wäre ich … Aber gut, nun ist es dafür zu spät.«

»Ich hoffe, liebe Mrs Russel, Sie sind mir nicht böse, dass ich ihm nicht zugesagt habe. Unsere Familien sind schon so lange freundschaftlich verbunden und ich schätze Mr Russel wirklich sehr …«

»Liebe Miss Heywood«, unterbrach Mrs Russel sie, beugte sich vor und legte ihre Hand kurz beruhigend auf die von Charlotte, »machen Sie sich keine Sorgen. Ich nehme es Ihnen keineswegs übel, dass Sie ihm einen Korb gegeben haben. Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn Sie tatsächlich tiefere Gefühle für meinen James hätten, so wäre niemand entzückter als ich, wenn Sie meine Schwiegertochter geworden wären. Aber ich habe nie damit gerechnet, dass es tatsächlich zu einer solchen Verbindung kommen würde und James ist vielleicht auch noch eine Spur zu kindsköpfig, um bei einer so vernünftigen und tatkräftigen Frau wie Ihnen Erfolg haben zu können.«

»Ich hoffe, er ist nicht zu unglücklich«, antwortete Charlotte vorsichtig.

»So ein bisschen Unglück wird ihm nicht schaden. Ich denke, es wird ihm ganz gut bekommen und ein wenig zum Nachdenken anregen. Vielleicht macht er dann seinen nächsten Heiratsantrag mit ein bisschen mehr Verstand.« Mrs Russel lächelte. »Aber nun genug von meinem unglücklichen Sohn. Was gibt es bei Ihnen ansonsten für Neuigkeiten? Wie geht es Ihren Brüdern in der Schule?«

»Wir haben eine Einladung nach Sanditon von den Parkers erhalten«, platzte es aus Emily, die an gar nicht anderes mehr hatte denken können, heraus.

»Emily!«, mahnte Charlotte. Aber Mrs Russel war sofort interessiert: »Sanditon? Das ist doch das kleine Seebad, wo Sie vor zwei Jahren den Sommer verbracht haben, liebe Miss Heywood? Wenn ich mich richtig erinnere, war Ihre Mutter voll des Lobes über die freundlichen Parkers. Und nun sind Sie also beide eingeladen? Werden Sie denn fahren?«

»Um ehrlich zu sein, ich denke, eher nicht«, erwiderte Charlotte und ignorierte den flehentlichen Gesichtsausdruck ihrer Schwester. »Ich kann meinen Vater nicht mit dem Haushalt und der Verantwortung für die Kinder hier allein lassen. Miss Taylor hilft zwar, wo sie kann, aber sie ist auch nicht mehr die Jüngste und ich darf sie nicht mit allem belasten.«

Mrs Russel schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Meine Liebe, lassen Sie mich einen Vorschlag machen, wenn ich darf. Sie wissen, was für eine enge Freundin Ihre Mutter für mich war. Und ich denke, Sie wissen auch, wie sehr ich Ihnen beiden zugetan bin. Lassen Sie mich Ihnen helfen: Bei uns zu Hause geht alles, wie es soll, James und ich sind nach dem Auszug meiner beiden Töchter allein, und so habe ich einiges an Zeit, um Ihnen hier über den Sommer auszuhelfen. Sicherlich könnte ich es einrichten, mindestens jeden zweiten Tag herüberzukommen und nach dem Rechten zu sehen. Ich hoffe, Sie können sich vorstellen, mir Ihren Vater, die Kinder und den Haushalt anzuvertrauen, um unbeschwert die Parkers zu besuchen?«

Emily war schon aufgesprungen und wollte jubeln, aber Charlotte hielt sie zurück, indem sie sagte: »Liebe Mrs Russel, das ist ein sehr schönes und großzügiges Angebot, das wir aber niemals annehmen können! Es wäre eine viel zu große zusätzliche Belastung für Sie!«

»Aber keine Spur!«, entgegnete Mrs Russel aufgeräumt. »Mir macht es gar keine Umstände, sondern es freut mich, wenn ich Ihnen beiden einen Gefallen tun kann. Gerade Sie, Miss Heywood, haben nach dem bedauerlichen Tod Ihrer Mutter so viele Pflichten übernommen, und das völlig klaglos. — Ich bin fest entschlossen: Ich werde hier aushelfen und Sie beide fahren an die Küste! Und wenn Sie Sorgen wegen Ihres Vaters haben, — keine Bange, ich werde das mit ihm in Ruhe besprechen. Ich denke, Sie wissen, dass er auf mich hören wird.«

Das war in der Tat anzunehmen. Denn wenn es auch sonst wenige Menschen gab, auf die Mr Heywood für gewöhnlich hörte, schätzte er die alte Freundin seiner Frau und ihren Rat sehr.

Charlotte versuchte noch einige halbherzige Einwände loszuwerden, aber Emily hüpfte bereits wild und sehr undamenhaft durch das Zimmer und jubelte.

Abends saß Charlotte an dem kleinen Sekretär in ihrem Schlafzimmer und las erneut den Brief von Mrs Parker, während Emily schon im Bett lag und friedlich schlief. Nachdem sie fertig war, öffnete sie eine verschlossene Schublade und legte das Schreiben auf einen kleinen Stapel. Dann holte sie einen anderen Brief heraus — es war nur ein einfacher Bogen, ohne Umschlag, auf dem in einer steilen, kräftigen Handschrift ihr Name stand. Sie öffnete das schon recht abgegriffene Blatt und las den kurzen Text. Dann seufzte sie, faltete den Bogen wieder zusammen und verstaute ihn ganz hinten in der Schublade.

2. Kapitel

»Au!« Emily fasste sich an den Kopf. »Jetzt habe ich mich gestoßen, weil die Kutsche so arg ruckelt!«, rief sie empört. »Papa sollte Robert vielleicht doch in den wohlverdienten Ruhestand entlassen. So holprig, wie er die Pferde lenkt!«

»Emily, du bist ungerecht«, antwortete Charlotte ruhig. »Der Weg ist in einem so schlechten Zustand, dass Robert überhaupt nichts dafür kann, wenn er versehentlich in ein Schlagloch gerät. Und muss ich dich daran erinnern, dass du es warst, die unbedingt die Abkürzung nach Hailsham nehmen wollte, obwohl Robert uns eindrücklich gewarnt hat, dass die Fahrt unruhig werden würde?!«

»Ich kann es halt gar nicht erwarten, endlich das Meer zu sehen!«, seufzte Emily.

Charlotte lächelte: »Ich auch nicht«, gab sie zu.

Wie von Mrs Russel vorausgesehen, hatte sich Mr Heywood nach einem längeren Vormittagsbesuch mit der Reise seiner ältesten Töchter einverstanden erklärt. Was genau zwischen den beiden besprochen worden war, wussten die Schwestern nicht, aber ihr Vater hatte beim darauffolgenden Abendessen erklärt, wie überrascht er sei, dass sie ihm nicht schon viel früher von Mrs Parkers Brief erzählt hätten, dass sie beide — aber besonders Charlotte — viel zu viel im Haushalt arbeiteten und schon ganz blass um die Nase wären — was im Hinblick auf den leicht gebräunten Sommerteint von Charlotte und den Sommersprossen auf Emilys Nase mit der Realität nicht viel gemein hatte — und dass sie daher in jedem Fall die freundliche Einladung der Parkers annehmen und nach Sanditon fahren würden.

Zaghafte Einwendungen Charlottes wurden im Keim erstickt. »Mrs Russel hat mir ihre volle Unterstützung zugesagt und wir wollen sie nun wirklich nicht vor den Kopf stoßen, indem wir trotz dieses Angebots darauf bestehen, dass ihr beiden hierbleibt. Sie wird ja denken, ich traute ihrer Zusage nicht. Nein, nein, so unhöflich wäre ich niemals und tatsächlich halte ich sie für außerordentlich tatkräftig. Es ist beschlossene Sache: Ihr fahrt!«

Nach dieser Rede fügte sich Charlotte ohne ein weiteres Wort. Allerdings konnte sie nicht umhin, Mrs Russel für ihre Überredungskünste zu bewundern: Es war offensichtlich, dass sie ihrem Vater klar verdeutlicht hatte, eine Ablehnung ihres Angebots als Zweifel an ihrer Person zu empfinden.

»Ich bin auch so gespannt auf all die Menschen, die wir in Sanditon treffen werden«, sagte Emily jetzt. »Zu Hause kommt ja außer den Nachbarn kaum jemals jemand vorbei! Wie sie wohl alle sein werden?«

»Die Parkers kennst du ja schon. Sie leben in Trafalgar House, das Mr Parker extra für seine Familie neu bauen ließ, am höchsten Punkt von Sanditon. Es ist ein großer, quadratischer Sandsteinbau und bei Sturm braust der Wind so laut um die Fenster, dass es überall im Haus wimmert und heult. Aber es ist sehr schön eingerichtet und bietet alle erdenkliche Bequemlichkeit.

Mr Parker setzt alles daran, aus seiner Heimatstadt ein mondänes Seebad zu machen. Immerhin ist es ihm schließlich doch gelungen, einen Arzt für Sanditon zu gewinnen, damit der Ort für Gäste attraktiver wird, obwohl Lady Denham strikt dagegen war.«

»Oh, Lady Denham! Ich hoffe sehr, dass wir sie besuchen können. Sie ist bestimmt sehr reich und lebt in einem großen Haus?«

»Lady Denham lebt in Sanditon House und ist sicherlich sehr wohlhabend. Sie ist schon älter, wahrscheinlich deutlich über siebzig. Aber sie hat eine scharfe Zunge und spricht immer aus, was sie denkt. Teilweise ist sie regelrecht unhöflich. Du solltest ein bisschen auf der Hut sein, wenn du mit ihr redest, Emily.«

»Ist sie denn ein schlechter Mensch?«

»Das wäre vielleicht etwas übertrieben. Aber sie verfolgt ihre eigenen Interessen und ist sehr auf ihren Vorteil bedacht. Sie war zweimal verheiratet, musst du wissen. Der erste Mann, ein Mr Hollis meine ich, war ein reicher Grundbesitzer und vermachte ihr nach seinem Tod sein ganzes Vermögen und eben Sanditon House. Der zweite war Sir Henry Denham, von dem sie den Titel hat.«

»Na, da hat Lady Denham doch alles richtig gemacht, möchte man meinen«, sagte Emily trocken, »hat sie denn Verwandte?«

»Sie hat eine Nichte, die ihr nahesteht, Miss Clara Brereton«, antwortete Charlotte, »das heißt, heute ist sie Lady Clara Osbourne. Sie stammt aus eher ärmlichen Verhältnissen und lebte früher als Gesellschafterin bei ihrer Tante, aber im vorletzten Herbst heiratete sie Lord Osbourne und zog nach London. Damit dürfte sie den finanziellen Nöten und der Abhängigkeit von Lady Denham entkommen sein.«

»Das hört sich aber nüchtern an. War es denn keine Liebesheirat?«

Charlotte überlegte einen Moment. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie schließlich. »Ihm hat man deutlich angemerkt, wie sehr er sie mochte, aber umgekehrt wirkte sie auf mich eher zurückhaltend. Und dann gab es da eine gewisse Intimität zwischen ihr und Sir Edward Denham, dem Neffen von Lady Denhams verstorbenen Mann Sir Henry. Edward Denham hat den Titel geerbt, aber kein Geld. Sir Henry hat wohl geglaubt, durch die Heirat mit Lady Denham könnte er ihr Vermögen in die Familie holen. Tatsächlich hat sie sich den Titel gesichert, das Geld aber behalten.«

Emily lachte. »Sehr schlau von Lady Denham!«

»Ja, dumm ist sie nicht. Schon gar nicht, wenn es ums Geld geht. Sir Edward besitzt jedenfalls nicht viel, und Lady Denham hat ihn häufiger daran erinnert, dass er reich heiraten muss. Daher waren seine Aussichten bei Clara Brereton auch nie sehr erfolgversprechend, selbst wenn sie interessiert gewesen wäre.«

Sie hatten inzwischen Hailsham passiert und es würde nur noch eine gute Stunde dauern, bis sie Sanditon erreichten. Emily schob das Fenster des alten Landauers herunter: »Die Luft ist so herrlich frisch! Ich glaube, ich kann das Meer schon riechen!« Sie atmete tief durch und ließ sich wieder in ihren Sitz zurückfallen.

Charlotte lächelte. Sie bezweifelte, dass man wirklich schon die Seeluft riechen konnte, aber sie konnte Emilys Vorfreude verstehen. Auch sie selbst blickte dem bevorstehenden Aufenthalt mit für sie untypischer Aufregung entgegen.

Emily kam wieder auf ihre Gastgeber zu sprechen: »Jedenfalls werden wir die Familie von Mr Parker treffen. Mrs Parker hat doch geschrieben, dass die Geschwister von ihrem Mann nach Sanditon kämen?«

»Nicht alle Geschwister. Nur Mr Arthur Parker und Miss Diana. Die älteste Schwester, Miss Susan Parker, wird ja mit ihrer Freundin nach Bath fahren.«

»Ja, das hat mich sehr überrascht«, erwiderte Emily. »Ich erinnere mich noch, dass mir Mr Parker einmal erzählte, dass seine Schwestern von besonders zarter gesundheitlicher Konstitution seien. Und da mutet sich Miss Parker die weite Fahrt nach Bath zu?«

Charlotte lachte. »Miss Parker, Miss Diana und auch Mr Arthur kränkeln immerzu, dabei halte ich alle drei für ziemlich robust. Wenn Miss Parker und Miss Diana etwas krank macht, dann sind es wohl eher ihre eigenen Diäten und Kuren, die sie dauernd absolvieren. Allerdings sind sie nie zu indisponiert, um sich in die Angelegenheiten ihrer Freunde und ihrer Familie einzumischen. Nur Mr Arthur ist dafür viel zu träge. Dabei kann er ein sehr unterhaltsamer Zeitgenosse sein, wenn er sich nicht gerade Sorgen um seine Gesundheit macht.«

Emily schwieg und dachte einen Moment nach. Dann sagte sie auf einmal: »Aber Mr Parker hat doch noch einen anderen Bruder? Von dem hat uns Mrs Parker gar nichts geschrieben! Lebt er auch in London?« Sie blickte Charlottes gespannt an.

Doch Charlottes Blick verschloss sich als sie antwortete: »Der andere Bruder? Du meinst sicherlich Mr Sidney Parker. Ja, er lebt auch in London. Er hat vor knapp zwei Jahren geheiratet, Lady Louisa Middleton, eine sehr schöne wohlhabende Witwe. Ich denke, dass sie London oder Brighton in jedem Fall Sanditon vorziehen wird. Ihn wirst du also sicher nicht kennenlernen. Schau mal, wir nähern uns der Küste!« Und damit beendete Charlotte das Thema. Denn sie verspürte keine besondere Lust, länger als unbedingt nötig über Sidney Parkers schöne Ehefrau zu reden oder nur an sie zu denken.

Kurz bevor sie die Bucht von Sanditon erreichten, passierten sie ein großes Landhaus, das idyllisch in einer Hügelsenke lag. Es wirkte fast ein wenig verwunschen, hätten nicht verschiedene Maschinen und Baumaterialien, die wahllos verteilt herumstanden, auf eine rege Betriebsamkeit hingewiesen.

»Oh, das Haus hat mir Mr Parker gezeigt, als ich mit ihm vor zwei Jahren nach Sanditon gekommen bin!«, rief Charlotte. »Es ist sein Elternhaus, wenn ich mich nicht irre. Damals war es bewohnt. Aber es sieht so aus, als stünde es jetzt leer und würde umgebaut.«

Die Schwestern blickten interessiert aus dem Fenster. Das Haus lag eingebettet zwischen größeren Gartenanlagen, einem Obstgarten und Wiesen.

»Ein wundervolles Anwesen!«, sagte Emily begeistert. »Es erinnert mich an unser Zuhause.«

»Ja, es ist wirklich schön. Auch Mrs Parker hat immer sehr von dem Haus geschwärmt. Ich frage mich nur, für wen es wohl jetzt umgebaut wird …?«

Doch Emilys Interesse an dem Haus war schon wieder verflogen. Denn in diesem Moment erreichte die Kutsche eine Anhöhe und vor ihnen lag das in der Sonne glitzernde Meer. Sie konnten das Rauschen der Wellen jetzt deutlich hören und in der Bucht, eingebettet in weiße Klippen, Sanditon sehen.

»Lass mich durch! Ich will Miss Heywood zuerst begrüßen! Schließlich habe ich die Kutsche auch zuerst gesehen!«

»Sachte, Philip, sachte, reiß deine Schwester nicht um! Miss Heywood läuft dir ja nicht davon! Sie und Miss Emily werden den ganzen Sommer bei uns bleiben.«

Mr Tom Parker war — gefolgt von seiner halben Familie — die Einfahrt heruntergeeilt, als die Kutsche vor Trafalgar House zum Stehen kam, und ließ es sich nicht nehmen, beiden Schwestern persönlich beim Aussteigen behilflich zu sein. Kaum hatte Charlotte die Kutsche verlassen, wurde sie von Master Philip begrüßt, der sogleich ihre Hand ergriff und nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, sie mit sich zu ziehen.

»Philip, lass mich einen Moment durchatmen!«, rief Charlotte lachend. »Du bist so groß geworden, ich hätte dich beinahe nicht erkannt! Und da ist ja auch meine kleine Margaret! Fast schon eine junge Dame!«

Margaret hatte inzwischen zu ihrem Bruder aufgeschlossen, und da sie nicht noch einmal hinter ihm zurückstecken wollte, ergriff sie Charlottes andere Hand und rief: »Kommen Sie, kommen Sie, Miss Heywood! Ich muss Ihnen unbedingt die neue Puppe zeigen, die Papa mir letzte Woche aus London mitgebracht hat! Ist das Ihre Schwester?! Die ist aber hübsch! Sie kann auch mitkommen!«

»Nein! Miss Heywood will als Erstes die Welpen sehen!«, rief Philip aufgebracht. »Was soll sie denn mit deiner blöden Puppe?! Nicht wahr Miss Heywood? Es sind Bellas Babys. Sie sind alle ganz braun und haben kleine Schlappohren.«

»Oh, ja«, pflichtete nun Margaret auf einmal ihrem Bruder bei, »sie sind so süß! Ihr Korb steht hinter dem Haus. Kommen Sie Miss Heywood! Miss Emily!«

Aber noch bevor Charlotte von den beiden ältesten Parker-Kindern endgültig mitgezogen wurde, ließ sich auf einmal in dem ganzen Trubel eine strenge Stimme vernehmen: »Schluss! Philip, Margaret, ihr durftet Miss Heywood und Miss Emily begrüßen, wie wir es besprochen haben. Aber jetzt lasst ihr sie erst einmal in Ruhe ankommen und geht mit Jane zurück auf euer Zimmer!«

Mrs Mary Parker war im Türrahmen erschienen, gemeinsam mit den beiden jüngeren Kindern. Als Charlotte sie sah, lächelte sie erfreut, löste ihre Hände aus denen der beiden kleinen Quälgeister, ging mit ausgestreckten Armen auf ihre Gastgeberin zu und begrüßte sie herzlich.

Margaret fügte sich der Anweisung ihrer Mutter, aber Philip murrte und konnte nur durch das Versprechen von Charlotte, später auf jeden Fall noch mit ihm die Hunde zu bestaunen, dazu gebracht werden, sich dem Kindermädchen anzuschließen. Charlotte schaute kurz zu der jungen Frau hinüber und begrüßte sie mit einem Nicken als Zeichen des Wiedererkennens. Dabei sah sie, dass das Mädchen einen kleinen Jungen auf dem Arm trug — ungefähr ein Jahr alt, mit dunklen Augen, die in einem intensiven Kontrast zu seinen blonden Locken standen. Sein Anblick löste eine entfernte Erinnerung in Charlotte aus, einen leisen Schmerz, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was es mit diesem Gefühl auf sich hatte.

»Wie schön, Sie zu sehen, liebe Miss Heywood! Gut, dass Sie wieder bei uns sind!«, rief Mr Parker überschwänglich, als sie im Salon Platz genommen hatten. »Und natürlich freuen wir uns auch sehr, Sie, liebe Miss Emily, hier in Trafalgar House begrüßen zu können. Je mehr junge Leute, umso mehr vergnüglichere Ausflüge und Attraktionen können wir für den Sommer in Sanditon planen! — Oh, Mary, du hast ja bereits einen Imbiss bestellt!«, wandte er sich nun an seine Frau, die lächelnd Teetassen verteilte.

Sie setzte sich vorsichtig zu ihrem Mann auf das Sofa und Charlotte sah erst jetzt, dass ihre Gastgeberin sich in anderen Umständen befand. Überrascht runzelte sie für einen Moment die Stirn, sagte jedoch nichts.

»Sie vermuten ganz richtig«, bemerkte Mrs Parker, der Charlottes Blick nicht entgangen war. »Mein Mann und ich erwarten noch ein Kind. In zehn Wochen etwa wird es so weit sein.«

Charlotte war es peinlich, dass ihr neugieriger Blick ihre Gastgeberin gleich nach ihrer Ankunft zu dieser intimen Erklärung genötigt hatte. Um schnell das Thema zu wechseln, fragte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam: »Und ich habe gesehen, dass Jane ein Baby auf dem Arm trug, einen kleinen Jungen …?« Gleich darauf biss sie fest die Lippen zusammen, ob dieser dummen Äußerung, mit der sie die eine Indiskretion durch die nächste neugierige Frage ablöste.

»Oh, das ist unser George«, erklärte Mr Parker gut gelaunt und machte keinesfalls den Eindruck, als nähme er die direkte Frage übel. »Er ist jetzt ein gutes Jahr alt und ein prachtvoller Bursche. Sieht er nicht seinem Vater überaus ähnlich?«

Charlotte, die auf den kurzen Blick keinerlei Ähnlichkeit zwischen Mr Parker und dem Kleinkind hatte erkennen können, murmelte verlegen eine leise Zustimmung und war sehr dankbar, als Mrs Parker, die den Eindruck machte, ebenfalls gern das Thema zu wechseln, vorschlug, dass die Schwestern zunächst ihr Zimmer beziehen und sich frisch machen sollten.

»Heute Nachmittag werde ich Ihnen — wenn Sie nicht zu erschöpft sind — die Neuerungen hier in Sanditon zeigen, liebe Miss Heywood«, erklärte Mr Parker aufgeräumt, »und Miss Emily kennt unser schönes Seebad ja noch überhaupt nicht! Außerdem haben wir noch eine große Neuigkeit! Stellen Sie sich vor, schon gestern ist mein Bruder aus London angekommen. Er und Diana wohnen in einem der neuen Häuser am Crescent und wir haben versprochen, mit Ihnen dort vorbeizuschauen, sobald Sie bereit zu einem kleinen Spaziergang sind.«

Charlotte, deren Teetasse bei den letzten Worten von Mr Parker leicht gezittert hatte, fasste sich sofort und antwortete freundlich: »Das ist wirklich eine schöne Überraschung! Wir werden uns schnell umkleiden und dann freue ich mich sehr, Ihre liebe Schwester Miss Diana und Ihren Bruder Mr Arthur Parker zu besuchen! Natürlich, nachdem wir Bellas Nachwuchs bewundert haben, nicht wahr, Emily?« Bei ihren letzten Worten zwinkerte sie vergnügt.

Mr Parker lachte: »Sie haben völlig recht — man muss die Prioritäten richtig setzen. Also erst die Hunde und dann die Familie!«

3. Kapitel

Das moderne Sanditon erstreckte sich entlang einer Bucht an der Küste von Sussex zwischen Eastbourne und Brighton, oberhalb des kleinen Fischerdorfes Altsanditon, das am Fuße des Hügels landeinwärts lag. Es war tatsächlich von der Natur mit einigen Eigenschaften bedacht, die es als Badeort attraktiv erscheinen ließen: Der Strand war breit, aus festem Sand, mit nur wenigen Kieselsteinen. Das Meerwasser war weitgehend klar und in Ufernähe frei von Seetang. So hatte es das kleine Seebad zwar noch nicht zum Lieblingsbadeort der mondänen Londoner Welt geschafft, wurde aber von einer Reihe Erholungssuchender, die es an ihrem Urlaubsziel etwas ruhiger und beschaulicher — und vielleicht auch etwas preiswerter — mochten als in Brighton oder Eastbourne, gern frequentiert.

Daher staunte Charlotte nicht schlecht, als sie zwei Stunden nach ihrer Ankunft neben Mr Parker, der sehr charmant beiden Schwestern je einen Arm zum Geleit angeboten hatte, von Trafalgar House in Richtung Meer lief. Mrs Parker hatte sich entschuldigt und darum gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen, um vor dem Dinner noch etwas zu ruhen.

»Mr Parker, ich muss sagen, ich bin beeindruckt!«, rief Charlotte, als sie die Grüppchen von Menschen sah, die um sie herum prominierten. »Hier ist ja wirklich eine Menge los. Es scheinen deutlich mehr Gäste als noch vor zwei Jahren da zu sein. Und dabei hat der Sommer gerade erst begonnen!«

»Ja, in der Tat«, antwortete Mr Parker zufrieden, »Sie werden es noch sehen, Sanditon wird seinen Platz neben Eastbourne behaupten können. Diese Häuserreihe, das Terrace, kennen Sie ja sicherlich noch, Miss Heywood. Und schauen Sie, Miss Emily, da drüben ist die Bibliothek und unser bestes Hutgeschäft, und daneben, liebe Miss Heywood, hat unsere Schneiderin ein neues Atelier eröffnet. Sie hat wirklich viel Talent und einen ausgezeichneten Geschmack und kann es bestimmt mit den Ateliers in den großen Seebädern aufnehmen.

Wenn Sie nach rechts schauen, liebe Miss Emily, so werden sie gleich das Dach des Hotels und des Billardsaals sehen. Dort befindet sich auch ein großer Gesellschaftsraum und ich habe bereits angeregt, dort diesen Sommer eine Reihe von kleinen Gesellschaften, Konzerten und vielleicht auch zwei oder drei Bälle zu veranstalten.« So plaudernd und bestens gelaunt geleitete Mr Parker seine Begleiterinnen durch das Städtchen.

Als sie am Ende des Terrace angekommen waren, blieb Charlotte überrascht stehen. Sie hatte erwartet, dass der Weg und die Bebauung hier enden würden und nur noch der Abstieg zum Meer und zu den Badekarren möglich wäre. Stattdessen setze sich die Straße jedoch in einer halbmondförmigen Biegung weiter um die Bucht fort und an der Landseite standen eine Reihe neuer Häuser, die teils bereits fertiggestellt und bezogen, teils jedoch noch im Bau befindlich waren. Es herrschte ein reges Treiben, denn die Gäste flanierten auf der Straße, während gleichzeitig noch eine ganze Reihe an Arbeitern auf den Baustellen beschäftigt war.

»Da staunen Sie, nicht wahr, Miss Heywood?«, rief Mr Parker stolz. »Das ist Waterloo Crescent. Sie sehen, wir expandieren und investieren, um die volle Schönheit der Bucht ausnutzen zu können. Das Haus dahinten hat übrigens unser neuer Arzt bezogen, den ich doch noch für Sanditon gefunden habe. Dr. Dixon. Er ist irischstämmig, hat aber lange auf dem Kontinent gelebt und war eine Zeitlang Militärarzt. Wir hatten glücklicherweise noch keinen schlimmeren Krankheitsfall, aber ich glaube, er versteht sein Handwerk.

Aber da kommt ja auch gerade der Mann, der hier die Aufsicht und Verwaltung hat«, wechselte er abrupt das Thema, »ein alter Bekannter von Ihnen, Miss Heywood!«

Ein junger Herr kam auf die drei Spaziergänger zu. Er war groß und schlank, mit kurzen dunkelblonden Haaren und einem wachen Blick. Seine Kleidung war schlicht und dunkel, verlieh ihm aber fast etwas Elegantes zwischen all den Arbeitern, die um ihn herum werkelten.

»Mr Grant!«, rief Charlotte aufrichtig erfreut. »Wie schön, Sie wiederzusehen!«

Mr Grant, der in Gedanken auf Mr Parker zugesteuert war, ohne im ersten Moment Notiz von dessen Begleiterinnen zu nehmen, blickte Charlotte erstaunt an. Als er erkannte, wen er vor sich stehen hatte, ging ein freudiges Aufleuchten über sein Gesicht, und in diesem Moment wurde offensichtlich, was für ein gutaussehender Mann er war.

»Miss Heywood! Ist das die Möglichkeit! Wie freue ich mich, Sie zu sehen!« Er lächelte sie an und schien sein ursprüngliches Anliegen, Mr Parker zu sprechen, völlig vergessen zu haben.

Auch Charlotte freute sich aufrichtig, Mr Frederick Grant, der ihr bei ihrem Besuch vor zwei Jahren als Freund ans Herz gewachsen war, wiederzusehen.

»Mr Grant! Wie schön! Stellen Sie sich vor, wir sind gerade erst angekommen, aber Mr Parker war netterweise sofort bereit, uns herumzuführen und uns Sanditons Neuerungen zu zeigen. Und das hier«, sie fasste Emily am Arm und schob sie leicht nach vorn, »ist meine Schwester Emily. Die Parkers waren so überaus freundlich, uns diesen Sommer beide einzuladen.«

Mr Grant, der seinen Blick immer noch nicht von Charlotte gelöst hatte, erwachte aus seiner vorübergehenden Abwesenheit, zog seinen Hut und wandte sich mit einer leichten Verbeugung Emily zu, die diese mit einem kleinen Knicks beantwortete und ihm dann schüchtern ins Gesicht sah.

»Miss Emily, wie schön, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Mr Grant artig, schaute sie offen an und schenkte auch ihr ein Lächeln, das Emily leicht erröten ließ. »Es freut mich wirklich sehr, Miss Heywood, dass Sie beide über den Sommer nach Sanditon gekommen sind.« Und er sah wieder zu Charlotte hinüber, als könnte sie verschwinden, wenn er sie nicht die ganze Zeit mit seinen Augen festhielt.

Nun meldete sich Mr Parker zu Wort: »Ja, Mr Grant, denken Sie, die Damen haben gerade unsere Fortschritte mit dem Crescent und den neuen Häusern bewundert. Ich hoffe, es läuft alles nach Plan? Wir sollten uns noch einmal zusammensetzen und den Zeitablauf durchgehen. Wie Sie wissen, müssen Nummer sieben und Nummer neun noch diesen Monat fertig werden, da wir schon Anfragen von Interessenten haben.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Mr Parker, es ist alles im Zeitplan«, antwortete Mr Grant. »Sollte nicht noch etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen, werden sie rechtzeitig fertig.«

»Sehr schön, sehr schön,« sagte Mr Parker. »Und was ist mit dem Umbau des Landhauses? Ich werde meinem Bruder diesbezüglich Bericht erstatten. Wenn Sie zur Überwachung des Innenausbaus weitere Instruktionen benötigen, kann ich auch diese einholen, falls Sie zu beschäftigt sind, um sich selbst an ihn zu wenden.«

Mr Grant erklärte gerade, dass er im Moment keine weiteren Instruktionen von Mr Parkers Bruder bräuchte, als der Bauleiter auf ihn zukam, da er seine Anwesenheit auf der Baustelle benötigte. So verabschiedete sich Mr Grant hastig, nicht ohne noch einen letzten, fast sehnsüchtigen Blick in Richtung Charlotte zu werfen, und folgte dem Mann in das halbfertige Haus.

Mr Parker und die Schwestern Heywood setzten ihren Weg über den Crescent fort. »Mr Grant verwaltet den Grundbesitz hier in Sanditon sehr professionell. Er hat in London als Sekretär für einen Peer gearbeitet, dessen städtischen Besitz verwaltet und ihn bei seiner politischen Karriere unterstützt. Bedauerlicherweise scheint er bei der Tätigkeit allerdings mehr Gefallen an der Politik gefunden zu haben als an der Verwaltung von Grundbesitz. Daher fürchte ich, dass wir ihn nicht für immer hier in Sanditon halten können und er irgendwann nach London zurückgehen möchte.«

»Und was ist das für ein Landhaus, dessen Umbau er für Ihren Bruder betreut?«, fragte Charlotte interessiert. »Ich wusste gar nicht, dass Mr Arthur vorhat, hier in der Gegend ein Haus zu kaufen.«

»Oh, dabei handelt es sich nicht um irgendein beliebiges Haus, sondern mein Bruder hat unser Elternhaus, das ich vor Jahren einem älteren Landjunker, Mr Hillier, verkauft hatte, wieder zurückgekauft. Mr Hillier ist voriges Jahr gestorben und seine Witwe wollte zu ihrer Tochter nach Hailsham ziehen. Da hat er das Haus übernommen. Habe ich es Ihnen nie gezeigt? Man kommt daran vorbei, wenn man auf der Straße von Hailsham nach Sanditon fährt.«

»Charlotte, das muss das hübsche Landhaus sein, an dem wir auf dem Weg hierher vorbeigefahren sind!«, rief Emily.

»Ja natürlich, und wir haben auch die Bauarbeiten gesehen. Und dieses Haus wird für Mr Arthur umgebaut?«

»Nicht ganz. Zwar wird es umgebaut, aber es ist mein Bruder Sidney, der es gekauft hat, nicht Arthur«, antwortete Mr Parker. »Doch sehen Sie nur, da sind wir beim Haus meiner Geschwister und Diana kommt uns bereits entgegen. Diana, hier bringe ich dir unsere beiden Besucherinnen, unsere lieben Misses Heywood!«

Bei der Erwähnung von Sidney Parkers Namen hatte Charlottes Herz einen kleinen Satz gemacht und sie war leicht errötet. Sie ärgerte sich über sich selbst und senkte schnell den Kopf, aber in dem Begrüßungstrubel, den das Auftauchen von Miss Diana Parker auslöste, fiel ihre kurze Verlegenheit niemandem auf.