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Ronald T. Miscavige

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Beschreibung

Die Wahrheit über Scientologys Nr. 1

Nach über 41 Jahren verließ Ron Miscavige 2012 Scientology. Was er nicht wusste: So einfach wollte man ihn nicht gehen lassen. 2015 berichtete die LA Times von der Festnahme zweier Privatdetektive, die Ron Miscavige über 18 Monate verfolgt hatten. In ihrem Wagen wurden mehrere Schusswaffen, über 2000 Schuss Munition und ein selbstgebauter Schalldämpfer gefunden. Angeblich sollten diese privaten Übungszwecken dienen. Auftraggeber der Privatdetektive: David Miscavige, Oberhaupt von Scientology und Ron Miscaviges Sohn.
Die Angst davor, dass sein Vater Insiderwissen verraten könnte, muss groß gewesen sein.
»Rücksichtslos« ist das einzige Buch, das den Aufstieg des heutigen Scientology-Chefs zeigt. Wie konnte er werden, was er ist? Ron Miscavige schildert die Kindheit seines Sohnes, seinen eigenen Beitritt zu Scientology und die Folgen, die das für seine ganze Familie haben sollte. Ein vernichtender Blick auf das Leben in der Welt der berüchtigten Sekte.

Mit einem Vorwort der deutschen Scientology-Expertin und Politikerin Ursula Caberta.

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Seitenzahl: 385

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Das Buch

Ein entlarvender Blick auf die Welt von Scientology: »Scientology hat sich unter Davids autoritärer Führung zu einer hochgradig repressiven Organisation gewandelt. Ich habe diesem Umbau gut vierzig Jahre lang zugesehen. David führt Scientology mit eiserner Faust, und in meinen Augen ist die Organisation ganz einfach zur Sekte verkommen. Ich glaube, dass er aus einem obsessiven Verlangen nach Macht und Kontrolle Dinge getan hat, die viele Menschen schockieren würden. So wie es mich schockiert hat, dass er Ermittler auf mich angesetzt hatte.«

Ron Miscavige

Der Autor

Ronald Miscavige, geboren1936, ist der Vater von David Miscavige, dem heutigen Anführer von Scientology. 1970 traten er und seine Familie Scientology bei. Er arbeitete fast 27 Jahre für die »Sea Organization«, Machtzentrale und paramilitärische Kadertruppe Scientologys, bevor er die Sekte 2012 endgültig verließ. Er ist ehemaliger Marine und Musiker.

Ronald T. Miscavige

RÜCKSICHTSLOS

Mein Sohn, der Scientology-Chef

Aus dem Amerikanischen vonElisabeth Liebl

Kösel

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Deutsche Erstausgabe

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Ruthless. Scientology, My Son David Miscavige, and Me«

by St. Martin’s Press, NY.

© 2016 by Ronald T. Miscavige and Becky B. Miscavige

In Zusammenarbeit mit Dan Koon

Copyright © 2017 Kösel-Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © Reuters/Luke MacGregor

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-20954-4V001

www.koesel.de

Für meine Kinder Ronnie, Denise, David und Lori

Und für meine Enkel und Urenkel, von denen ich manche gar nicht kenne

Und für die Familien, die durch die Isolationspolitik der Church of Scientology auseinandergerissen wurden

INHALT

Einleitung von Ursula Caberta

Vorwort

Wie alles begann

Das Leben im Kohlerevier

Musik und Marine

Wir gründen eine Familie

Diese Ehe war die Hölle

Davids Wunder

Verstärktes Engagement

David geht nach England

Und wieder England

Weg von zu Hause

Der Aufstieg

Der schlimmste Monat meines Lebens

In der Sea Org

Frankensteins Ungeheuer

Das Loch

Assessment meines Sohnes

Es reicht

Zurück in der wirklichen Welt

Eine letzte Geste

»Wenn er stirbt, dann stirbt er. Greift nicht ein«

Auf dem Boden der Tatsachen

So leicht gibt David nicht auf

Scientology ist zum Schwindel verkommen

Und jetzt?

Ein letztes Wort

Danksagung

EINLEITUNG

»Sie beginnen ein Abenteuer. Behandeln Sie es als Abenteuer. Und mögen Sie nie wieder derselbe sein.«

L. Ron Hubbard (Dianetik, Kopenhagen 1984)

Dieser kurze Satz des Gründers der Scientology-Organisation beinhaltet bereits vieles, was spannend klingen mag und Menschen anregt, in sein Buch hineinzuschauen. Gleichzeitig verkündet er aber auch, was die Menschen erwartet, die sich auf diese Lektüre und die darauf folgenden »Abenteuer« in Form von Kursen, Seminaren und ideologischer Vereinnahmung durch die Lehren des L. Ron Hubbard einlassen: die Aufgabe der eigenen Persönlichkeit, denn, so die hier gemachte Prophezeiung: Sie werden nie wieder derselbe sein. Die Berichte von Aussteigern weltweit belegen dies häufig genug in erschreckender Weise. Was das Leben bisher ausgemacht hat, zählt nicht mehr. Schritt für Schritt verwandelt sich der einzelne Mensch auf der sogenannten »Brücke zur Freiheit« bei Scientology in ein funktionierendes Rädchen in einer überhaupt nicht mehr freien Welt.

»Zu den wichtigsten Merkmalen fundamentalistischer Bewegungen gehört die sprachlich vermittelte, nach innen zusammenschließende und nach außen Distanz herstellende und ausgrenzende Doktrin … Eigene Wortschöpfungen, Umdeutungen vorhandener Begriffe und Sprachfiguren gewinnen eine große Bedeutung, weil sie suggestive Kräfte freisetzen und eine eigene, der Nachprüfung und der Erfahrung unzugängliche Lebenswelt entfalten, die Hannah Ahrendt als jene ›Narrenhölle‹ beschrieben hat, in der den Menschen ›jene Ruhe niemals vergönnt ist, in der sie allein der Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können‹.«

(Jaschke, Hans Gerd, »Fundamentalismus in Deutschland, Hamburg1998, S. 246)

Die einzelnen Elemente, welche die Ideologie des L. Ron Hubbard ausmachen und die in den Schriften, also in den Büchern, den Kursmaterialien, den Anweisungen an die Mitarbeiter etc. enthalten sind, sowie der damit verbundene Expansionsdrang, diese Ideologie in jedem Land der Welt mehrheitsfähig zu verankern, machen das Gesamtsystem Scientology zu einer Organisation, die in der Bundesrepublik Deutschland schon 2007 von allen 17 Innenministern für unvereinbar mit dem Grundgesetz bezeichnet wurde. Verboten wurde sie jedoch erstaunlicherweise nicht.

Deutsche Gerichte haben u. a. festgestellt, dass durch die Verfolgung von als Kritiker der Organisation klassifizierten Personen jenen die Würde als Mensch abgesprochen wird und damit der Artikel 1 des Grundgesetzes, »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, elementar verletzt wird. Als Konsequenz daraus beobachten die Verfassungsschützer einzelner deutscher Bundesländer Scientology seit 1997 – trotz Klagen dagegen, die von den Gerichten abgeschmettert wurden. So hat etwa das OVG Münster festgestellt, dass der Verfassungsschutz die Organisation beobachten darf.

Zu den Personen, denen die Menschenwürde aus Sicht der Scientologen abzusprechen ist, gehören regelmäßig jene, die sich aus der Organisation befreien konnten. Vor allem, wenn sie danach in der Öffentlichkeit über ihre Erfahrungen und Erlebnisse berichten. Sie werden verleumdet, verfolgt, belästigt und von ihren noch in der Organisation verbleibenden Familienangehörigen getrennt. Denn mit solchen Personen haben Mitglieder der Organisation nichts mehr zu tun.

Diese Regelungen, nein wohl eher Anweisungen, gelten für alle »Abtrünnigen«, also auch für den Vater des derzeitigen internationalen Bosses der Scientology-Organisation, David Miscavige. Das Buch des Vaters, in den USA sehr erfolgreich, liegt nun auch in Deutschland vor und es zeigt – wieder einmal –, wie unmenschlich die grundlegenden Ideologien dieser Organisation sind. Wer sich mit Scientology beschäftigt hat, kann sich ungefähr vorstellen, welche Wutausbrüche der jetzige Boss und Sohn des Autors gehabt haben muss, als bekannt wurde, dass Ron Miscavige seine Geschichte, seine Schmerzen über das Verhalten des Sohnes und natürlich sein Unverständnis über die Organisation, der er Jahrzehnte angehört hat, niederschreiben und veröffentlichen würde.

Für die Menschen, die Scientology verlassen, ist es ein langwieriger und schmerzvoller Prozess, zu erkennen, dass von der Lehre nichts, aber auch gar nichts bleibt, wovon sie während ihrer Mitgliedschaft überzeugt waren. Vor Ron Miscavige sind viele Menschen weltweit diesen Erkenntnis- und Ablösungsweg gegangen. Es ist nicht von allen bekannt, wie sie diesen Weg in ein Leben ohne ihre zurückgebliebenen Angehörigen, Kinder, Enkelkinder, Geschwister gegangen sind. Dass er voller Leid und Schmerz gewesen sein muss, wird jeder nachvollziehen können, der einen lieben Menschen auf welche Weise auch immer verloren hat.

Dass der Weg hinaus aus der Organisation häufig lang ist und – so scheint es – nicht immer konsequent verfolgt wird, stößt regelmäßig auf Unverständnis in der nicht-scientologischen Welt. Warum, so fragen sich die mit dem System Hubbards nicht so vertrauten Menschen, erkennen die im System Gefangenen ihre Unfreiheit, ihre Einschränkungen und das Kontrollsystem, dem sie sich unterwerfen, nicht? Und warum erkennen die Personen, die sich lösen konnten, nicht, dass die Verantwortung für alles, was sie innerhalb des Systems erduldet haben und ihnen nach dem Ausstieg zugefügt wird, auf eine Person zurückzuführen ist: auf den Gründer der Organisation L. Ron Hubbard? Ja, es stimmt: Viele der Menschen, die es geschafft haben, sich zu befreien, kritisieren bestimmte Teile des Systems oder einzelne Menschen im System, aber nicht das grundlegende Gesamte. Das gilt allerdings bei nahezu 90 Prozent der ehemaligen Mitglieder – oder besser Mitarbeiter – der Organisation nur für eine bestimmte Zeit. Je länger sie sich ohne weiteren Einfluss von scientologischen Gedanken und ohne Anwendung der in Scientology verinnerlichten Handlungsweisen in der realen Welt zu bewegen lernen, umso mehr erkennen sie, mit welchen manipulativen Methoden sie zum Rädchen im System des L. Ron Hubbard gemacht wurden. Das von Hubbard im Buch »Dianetik« prognostizierte »Abenteuer« führt in eine Parallelwelt, in der die Regeln des Verhaltens und des Denkens nur einem Ziel dienen: die Organisation weltweit wachsen zu lassen und die intern als einzige Wahrheit verinnerlichte Ideologie zu verbreiten. Für alle, die den schweren Weg hinaus wagen, gilt: Man verlässt die Organisation mit den Füßen, der Kopf braucht dafür wesentlich länger.

Schuld daran sind maßgeblich der Aufbau der Organisation und die Verteilung der Aufgaben auf die Mitglieder bzw. Mitarbeiter. Jede/r wird für eine entsprechende Aufgabe geschult und erfährt im Grunde nur das, was er oder sie benötigt, um für die Gesamtorganisation zu funktionieren. Daher sind Außenstehende immer wieder überrascht, dass die sogenannten Aussteiger/innen bestimmte Dinge nicht wissen und darüber auch nicht berichten können. Scientologe wird man eben nicht durch die Mitgliedschaft in der sogenannten »Kirche«, Scientologe wird man durch die Kurse und Trainings, die einen Menschen nach und nach zu einem rein funktionalen Wesen im Paralleluniversum werden lassen.

Mehrere Trainingsmethoden und nach einiger Zeit ohne Widerspruch hingenommene Verhaltensvorgaben führen zum Funktionieren als Scientologe. Wie in anderen fundamentalistischen Systemen auch, wird ein Schwarz-Weiß-Denken gelehrt, das keine Schattierungen im Denken zulässt. Innerhalb der Organisation ist die einzige Wahrheit zu finden und nur wer diese Wahrheit voll und ganz verinnerlicht und nach ihr lebt, ist auf dem Weg, zu einem vollkommenen Wesen mit geradezu mystischen Fähigkeiten zu werden, also zu einer Person, die geradezu berufen ist, über anderen zu stehen. Darin verbirgt sich das klassische Herrenmenschenprinzip. Um zu diesem allwissenden Wesen zu werden, ist es notwendig, den Weg auf der sogenannten Brücke zur Freiheit ohne Wenn und Aber, ohne Nachfragen, ohne nach links oder rechts zu schauen, zu gehen.

Um dieses bedingungslose Denken und in der Folge Handeln zu erreichen, sind im System Hubbards verschiedene Kurse eingebaut, die natürlich immer unter der Prämisse stehen, der einzelne Mensch müsse sie absolvieren, um die Lösung aller Probleme in seinem Leben zu erreichen. Gelingt das nicht gleich, liegt das immer an der einzelnen Person, niemals am System. Also geht der Einzelne Schritt für Schritt in die von Hannah Arendt beschriebene »Narrenhölle« eines fundamentalistischen und damit politischen Systems.

Dazu gehört auch das Erlernen der von Hubbard kreierten eigenen Sprache. Bekannten Begriffen wird, im Sinne der Scientology, eine neue Bedeutung gegeben. Ein ehemaliges Mitglied hat dieses folgendermaßen beschrieben: »Anfangs war ich überrascht, viele mir bekannte Begriffe plötzlich in einer anderen Bedeutung zu hören. Kritik zum Beispiel bedeutet etwas sehr Schlechtes (…). Selbst Begriffe wie Denken und Sex meinen bei Hubbard etwas Schlechtes (…)« (In: Kruchem, Thomas: Staatsfeind Scientology, München1999, S. 89). Um das so beschriebene Schlechte nicht in der Organisation wachsen zu lassen, steht ihm der Begriff »Ethik« entgegen. Bei Hubbard meint dieser Begriff: Fremd- und Gegenabsichten aus der Umgebung entfernen. Alles, was der Organisation und ihrer Lehre entgegensteht, ist also unethisch und damit zu verdammen. Zur Kontrolle der möglichen »Fremd- oder Gegenabsichten« zur Lehre bei den eigenen Leuten ist eine eigene, in jeder Einheit der Organisation vorhandene »Ethik-Abteilung« zuständig. Sie ist sozusagen die Gewissensüberprüfungsabteilung des Systems. Der Gang zu den konsequenterweise so genannten »Ethikoffizieren«, die dann quasi das systemgerechte Denken überprüfen, kann Ängste hervorrufen. Stellt der »Ethikoffizier« ein vermeintliches Vergehen fest, führt das häufig genug zu Herabsetzungen der Person oder zu Wiedergutmachungsverpflichtungen, damit die so ethische Gesamtgruppe keinen Schaden erleidet. In Deutschland ist diese Form der Gewissensschnüffelei im Sinne des Systems eher als nicht hinnehmbar zu erklären als in anderen Ländern. Kein Wunder, wir haben ja genug Erfahrung mit Gewissensschnüffelei und den daraus folgenden Diffamierungen anderer Personen zum eigenen Nutzen: Die entsprechende Abteilung für diese Vorgehensweise in der DDR hieß »Staatssicherheit«, kurz Stasi.

Ein anderer Begriff, der für eine sich als Glaubensrichtung verkaufende Organisation ungewöhnlich ist, ist der Begriff für alles, was gemacht werden muss: Technologie. Diese durchzieht alles. Die Technologie, oder wie bei Scientologen üblich kurz »Tech« genannt, ist der Oberbegriff für alles Handeln. Es gilt, sie zu verteidigen, anzuwenden und keine Änderungen zuzulassen. L. Ron Hubbard ist da in seiner Formulierung sehr eindeutig:

»(…) Den tatsächlichen Unterlagen zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit bei 100 000 zu 20, dass eine Gruppe von Menschen sich eine schlechte Technologie ausdenken wird, um gute Technologie zu vernichten. Da wir ohne Vorschläge vorwärtsgekommen sind, tun wir also besser daran, uns zu rüsten, dies jetzt, da wir es geschafft haben, auch weiterhin zu tun. Dieser Punkt wird natürlich als ›unpopulär‹, ›selbstgefällig‹ und ›undemokratisch‹ angegriffen werden. Das mag durchaus stimmen. Aber es ist auch eine Überlebensfrage. Und ich sehe nicht, das unpopuläre Maßnahmen, Selbstverleugnung und Demokratie dem Menschen irgendetwas gebracht haben, außer ihn weiter in den Schlamm zu stoßen.«

(L. Ron Hubbard, PTS/SP Kurs, Kopenhagen1989, S. 1)

Also ist die »Tech« unkritisierbar, nicht reformierbar, nicht zu ersetzen. Welche Auswirkungen diese totale Vereinnahmung von Menschen zur Folge hat, auch nach ihrem Austritt, lasse ich einen Ex-Scientologen hier beschreiben: »Mit der Zeit merkte ich dann, dass ich durch Aufgabe meiner eigenen Sprache auch meine Persönlichkeit verloren hatte. Ich war in Scientology quasi seelisch enteignet worden. Und ich brauchte nach meinem Ausstieg noch Jahre, um nicht mehr in die Falle zu treten, die mich gedanklich immer wieder mit Scientology verband« (Kruchem1999, S. 89).

Die Auswege aus der Organisation sind – so meine Erfahrung – unterschiedlich, die Anlässe, diesen Schritt letztlich zu gehen, häufig klein. Sehr oft habe ich gehört, dass bestimmte Personen, die sich nach Ansicht des Gegangenen nicht systemkonform verhalten haben und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, der Grund waren. Viele gehen übrigens davon aus, dass der Weg nach dem Weggang für sie ohne Probleme zu gehen ist. Erst nach und nach wird ihnen klar, dass die Organisation ihren Ausstieg nicht einfach so hinnimmt und dass sie in der realen Welt vieles neu oder wieder lernen müssen. Bei Menschen, die schon als Kind in die Scientologen-Welt gekommen sind, ist das noch schwerer als für Erwachsene, da sie diese reale Welt nie kennengelernt haben.

Um Menschen vor einem System wie Scientology zu warnen und darüber aufzuklären, was sich hinter den Hochglanzwerbebroschüren und den Werbeaussagen verbirgt, braucht es die ehemaligen Mitglieder/Mitarbeiter, die über ihre Erfahrungen berichten. Ihr Mut ist zu bewundern und jedem und jeder von ihnen gebührt der Dank, ihren jeweils individuellen Beitrag geleistet zu haben, damit hoffentlich immer weniger Menschen dem Ruf des angeblichen Abenteuers folgen.

Für Ron Miscavige muss das Verlassen der Organisation noch einmal schwieriger gewesen sein als für viele andere. Denn er zieht damit nach meiner Einschätzung den scientologischen Hass seines eigenen Sohnes auf sich und leider wird es wohl so sein, dass es keinen Weg der Versöhnung geben kann. Also Danke für dieses Buch, Danke für den Mut und dafür, dass wieder ein interner Einblick in das System Scientology für viele Menschen möglich wird.

Ursula Caberta

VORWORT

T-Shirts mit Brusttasche sind wirklich praktisch. Handys, Brillen, Einkaufslisten – all diese Dinge lassen sich wunderbar in dem kleinen Stoffbeutel verstauen. Wenn Sie allerdings Ihr Handy darin haben und sich vornüberbeugen, wird es höchstwahrscheinlich rausfliegen.

Im Juli 2013 lebte ich in Whitewater im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin. Die Stadt zählt ungefähr 14 000 Einwohner und liegt etwa 45 Autominuten südwestlich von Milwaukee. Eines Morgens war ich im nahe gelegenen Janesville bei Aldi einkaufen. Ich kam gerade mit all meinen Tüten aus dem Laden und beugte mich über das Lenkrad meines Wagens, weil ich die Einkäufe im Fußraum vor dem Beifahrersitz verstauen wollte. Dabei fasste ich automatisch mit der rechten Hand an meine Brusttasche, damit mein Telefon nicht rausfiel. Das habe ich wahrscheinlich schon eine Million Mal gemacht. Sind Ihnen erst ein oder zwei Mal das Handy oder die Brille runtergefallen, gewöhnen Sie sich das einfach an.

Es gibt da etwas, das sich »Schmetterlingseffekt« nennt. Der Mathematiker und Meteorologe Edward Lorenz stellte die Theorie auf, dass ein Schmetterling, der am Amazonas seine Flügel bewegt, mit seinem Flügelschlag eine Reihe von Ereignissen in Gang setzen kann, die möglicherweise wenige Wochen später zu einem Hurrikan in der Karibik führen. Ich ahnte damals nicht, dass diese simple, reflexhafte Geste, mit der ich an meine Brust fasste, nicht nur beobachtet wurde, sondern wie besagter Schmetterling Ereignisse in Gang setzen würde, die ich und viele andere in dieser Form nie erwartet hätten.

Etwa eine Woche später saß ich abends zu Hause in Whitewater, als es an der Tür klopfte. Ich ging hin und öffnete. Zu meiner Überraschung stand ein Beamter des Whitewater Police Departement draußen.

»Sind Sie Ron Miscavige?«, fragte er.

Ich war mir zwar keiner Schuld bewusst, aber der Polizeibeamte vor meiner Tür, an einem Ort, in dem ich erst seit ein paar Monaten lebte, und die Frage nach meinem Namen ließen bei mir sämtliche Alarmglocken schrillen.

»Gehen wir in die Garage hinüber, dort können wir uns unter vier Augen unterhalten«, sagte ich.

Ich wollte meine Schwiegermutter nicht unnötig aufregen. Sie hatte keine Ahnung, warum meine Frau Becky und ich im Frühjahr 2012 so ganz unerwartet vor ihrer Tür gestanden hatten. Gleichzeitig war ich ziemlich neugierig, was der Polizist von mir wollte, also machte ich die Vordertür zu, ging hinüber zur Garage und öffnete das Tor.

»Worum geht es?«

»Ich habe Informationen für Sie«, meinte der Mann. »Es tut mir leid, aber Sie werden schon seit letztem Jahr von zwei privaten Ermittlern verfolgt, die die Church of Scientology auf Sie angesetzt hat.«

»Was?! Das kann doch nur ein Witz sein!« Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Hieb in die Magengrube verpasst. Ich war wirklich vollkommen schockiert.

»Nein, Sir. Ich mache ganz sicher keine Witze.«

»Gütiger Gott. Ich werde verfolgt?« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Es traf mich aus heiterem Himmel.

»Wenn Sie Näheres wissen wollen, sollten Sie sich an die Polizeistation von West Allis wenden. Die haben einen der Ermittler festgenommen.«

Der Beamte ging und ich rief sofort Becky bei der Arbeit an. Meine Gedanken überschlugen sich fast. Ich durchforstete mein Gedächtnis, ob sich im letzten Jahr irgendwelche auffälligen Dinge ereignet hatten. Wer hatte mich verfolgt? Hatte es dafür Anzeichen gegeben, die ich nicht wahrgenommen hatte? Ich hätte es wissen müssen, warf ich mir vor. Wie hatte ich nur so blind sein können? Nachdem ich mich ein paar Minuten lang diesem wilden Durcheinander in meinem Kopf überlassen hatte, konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen und rief die Polizei in West Allis an. Wir machten aus, dass ich zur Polizeistation kommen sollte, doch schon am nächsten Tag schickten sie jemanden vom U. S. Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives (kurz »ATF«, das ist die Abteilung der Bundespolizei, die für Drogen- und Waffendelikte zuständig ist) vorbei, der zusammen mit einem ihrer Polizisten meinen Wagen untersuchen sollte. Offenbar hatten die Privatdetektive einen GPS-Sender an meinem Auto angebracht, um meine Bewegungen besser verfolgen zu können. Das schockierte mich noch mehr, falls das überhaupt möglich ist. Ehrlich gesagt konnte ich das Ganze immer noch nicht glauben. Unser Leben lief gerade wirklich gut, und plötzlich ging diese Bombe hoch.

Der ATF-Beamte fühlte sich an jenem Tag nicht wohl, daher konnte er die Durchsuchung meines Autos nach dem GPS-Sender nicht abschließen. Am nächsten Tag gingen Becky und ich deshalb zur Polizei von West Allis. Dort setzte man uns in einen Raum mit einem langen Konferenztisch. Kurz darauf kam der Beamte, der den Privatdetektiv festgenommen hatte, herein und stellte sich als Nick Pye vor. Er hatte die Statur eines Verteidigers in der American-Football-Liga, der beim Bankdrücken locker 400 Pfund stemmt. Gleichzeitig wirkte er vollkommen ruhig und unaufgeregt. Meiner Erfahrung nach sind das die härtesten Jungs überhaupt – diejenigen, die es nicht nötig haben, sich als harter Typ zu geben.

»Ich werde Ihnen gleich erzählen, was los ist. Aber zuerst möchte ich, dass Ihr Wagen überprüft wird«, sagte er.

Wir brachten unseren fahrbaren Untersatz in die Werkstatt für Polizeiautos. Mit einer Hebebühne wurde er in die Höhe gefahren, sodass der Mechaniker sich den Radschachtbereich ansehen konnte.

»Ja, hier war ein Sender«, sagte er und zeigte auf eines der Hinterräder. »Er wurde wieder entfernt, aber man sieht immer noch die Kratzer, wo der Magnet saß.« Er richtete den Kegel seiner Taschenlampe auf die Stelle, um sie mir zu zeigen. Ich war also ein Jahr lang mit Sender herumgefahren und hatte den beiden Kerlen, die mich verfolgt hatten, ständig Daten über meinen aktuellen Aufenthaltsort geliefert. Allein der Gedanke machte mich ganz krank.

»Das ist doch Wahnsinn«, sagte ich zu Detective Pye. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Haben Sie eine Idee, warum man Sie verfolgt hat?«

»Nun, vielleicht hatten sie Angst, ich würde zu den Medien laufen oder so was. Mein Sohn ist der Vorsitzende der Church of Scientology, und letztes Jahr haben meine Frau und ich die Organisation verlassen. Vielleicht machte er sich ja auch Sorgen um meine Gesundheit. Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen.« Mir gingen alle möglichen Erklärungen durch den Kopf, aber im Grunde fühlte sich das alles für mich immer noch unwirklich an.

»Wissen Sie«, sagte Pye zu mir, »ich sage Ihnen das wirklich nicht gerne, aber ich muss Sie davon in Kenntnis setzen.« Er dachte eine Sekunde lang nach. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er nach den richtigen Worten suchte. Ich war gespannt. Was konnte da noch kommen? Am Ende redete er nicht lange um den heißen Brei herum. »Die Typen haben Sie auf dem Parkplatz beobachtet, wie Sie sich vorgebeugt und an die Brust gefasst haben. Die beiden dachten, Sie hätten einen Herzinfarkt. Und sie hatten Anweisung, sich zu melden, wenn so etwas passieren sollte. Als wir sie festnahmen, erzählten sie uns, sie hätten bis dahin noch nie mit Ihrem Sohn gesprochen, sie kontaktierten ausschließlich das Ermittlungsbüro, für das sie arbeiteten. Dessen Chef wiederum rief bei einem Anwalt an. Und dieser Anwalt gab dann die Information an Ihren Sohn weiter. Die zwei verständigten also ihren Kontaktmann. Nur wenige Minuten später meldete sich direkt bei ihnen ein Mann namens David Miscavige und sagte: ›Wenn er stirbt, dann stirbt er. Greifen Sie nicht ein.‹«

Zu sagen, dass ich von Nicks Worten schockiert war, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich war fassungslos, wie vom Donner gerührt. Sie können hier einsetzen, was immer Ihnen angebracht erscheint. Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Die Worte vernahm ich zwar, aber es dauerte einige Zeit, bis ich sie verarbeitet hatte. Ich glaube, es ist eine zutiefst menschliche Regung, dass wir anderen Menschen helfen wollen, ganz besonders, wenn sie in Schwierigkeiten sind, undvor allem, wenn es sich um Familienmitglieder handelt. Aber ein Sohn, der über seinen Vater sagt, man möge ihn sterben lassen?!

Dieses Buch berichtet, wie es so weit kam.

WIE ALLES BEGANN

Am 30. April 1960 saß ich an einem knackig kühlen Morgen im Wartezimmer des Lower Bucks Hospital in Bristol im Bundesstaat Pennsylvania. Meine Frau Loretta war im Kreißsaal. Drei Jahre zuvor hatten wir unser erstes Kind bekommen, einen Sohn, den wir Ronnie getauft hatten. Jetzt erwarteten wir Zwillinge. Loretta war Krankenschwester. Ihre Schwester Dolores stand ihr bei der Entbindung bei. Ich saß da und wartete, wartete und wartete, wobei ich mit jeder Stunde, die verstrich, nervöser wurde. Schließlich gingen die Türen auf und der Geburtshelfer, Dolores und eine zweite Krankenschwester kamen heraus. Alle drei hielten Deckenbündel in der Hand. Du liebe Güte, dachte ich, es sind Drillinge! Wenigstens würden wir noch weniger Steuern zahlen. Wir waren ja schon darauf vorbereitet, dass Loretta Zwillinge bekommen sollte, was machte da noch ein Kind zusätzlich. Ich mochte Kinder. Ich hatte sie gern um mich herum. Also sprang ich auf und eilte auf Dolores zu. Ich schlug die Decke zurück und blickte in die blauen Augen meiner Tochter Denise. »Hallo, Kleines!«, sagte ich und gab ihr einen Kuss. Die nächste Decke wurde gelupft. Wieder blaue Babyaugen. Sie gehörten David. Ich gab ihm auch einen Kuss. Da warf plötzlich die dritte Krankenschwester ihre Decke in die Luft, und sie lachten mich im Chor aus. Ein kleiner Streich auf Kosten des stolzen Papas und der Beginn meiner Beziehung zu meinem Sohn David.

Ich weiß, dass das Leben manchmal verschlungene Pfade geht und die Zukunft uns verschlossen ist, doch wenn ich an diesen Augenblick zurückdenke, an meinen ersten Blick in das süße kleine Gesicht, dann begreife ich heute noch nicht, was da passiert ist.

Der Hauptgrund für dieses Buch ist, dass ich nachvollziehen möchte, welchen Weg Davids Leben genommen hat. Er ist heute ein erwachsener Mann in mittleren Jahren, und ich sehe immer noch dieselbe Intelligenz und Energie in ihm, die ihm als Kind eigen waren. Doch während er diese Gaben früher dafür einsetzte, gute Noten zu bekommen oder einen Baseball gut zu schlagen, ist er heute Vorsitzender eines Millionen-Dollar-Unternehmens, das sich als Kirche bezeichnet. Und dieses Unternehmen ist so kontrovers wie streitbar, so manipulativ wie verschlossen, so zwanghaft, wie es – in meinen Augen – böse ist. Ja, ich glaube fest, dass Scientology sich mittlerweile zu einer unmoralischen Organisation entwickelt hat, die unter dem Schutz des Ersten Zusatzartikels unserer Verfassung, der die Religionsfreiheit garantiert, eine lange Reihe von Schandtaten begangen hat.

Ich kam in den Kohlerevieren von Pennsylvania zur Welt. Dort hat man mir einen gesunden Respekt für Ehrlichkeit und harte Arbeit beigebracht, aber auch viel gesunden Menschenverstand, der Regeln, Gesetze und Autorität stets hinterfragt. Damit will ich sagen, dass der Geist eines Gesetzes stets über dem Buchstaben steht. Als Loretta und ich unsere Familie gründeten, versuchten wir, diese Werte an unsere Kinder weiterzugeben. Wir hatten zwei Jungen und zwei Mädchen: Ronnie, die Zwillinge Denise und David sowie die Jüngste, Lori. Jedes der Kinder hat den Wert harter Arbeit kennengelernt, aber ich komme immer mehr zu der Einsicht, dass Eltern ein Kind nur bis zu einem gewissen Grad beeinflussen können. Letztlich ist es selbst für seinen Weg verantwortlich.

David ist nun schon seit vielen Jahren der Kopf und die oberste Autorität der Church of Scientology. In den frühen Achtzigerjahren bekam er zum ersten Mal einen gewissen Einfluss. Die volle, unbestrittene Kontrolle erlangte er einige Jahre später, nachdem er sich einen Machtkampf mit den beiden Nachfolgern von L. Ron Hubbard geliefert hatte, die der Scientology-Gründer einst selbst bestimmt hatte. Davids Erfolge waren für mich zunächst eine Quelle väterlichen Stolzes. Damit war aber bald Schluss, und zwar als ich aus erster Hand erfuhr, mit welcher Bosheit und Skrupellosigkeit er zu Werke ging, nachdem er sein Heim verlassen und für die Organisation zu arbeiten begonnen hatte.

L. Ron Hubbard war von Berufs wegen Schriftsteller. 1950 hatte er Dianetik: Der Leitfaden für den menschlichen Verstand veröffentlicht. Aus diesem Buch sollte Scientology hervorgehen. Hubbard war aber nie all das, wozu Scientology ihn später machte. Wenn man heute die Veröffentlichungen der Organisation liest oder eine ihrer Webseiten studiert, drängt sich einem unwillkürlich der Eindruck auf, Hubbard sei ein Halbgott gewesen, Meister in allen Disziplinen, die er erlernen wollte, und der größte Freund der Menschheit. Die Wahrheit steht, wie ich inzwischen erkannt habe, auf einem anderen Blatt, wie ich später zeigen werde. Doch wenn man nur einen kleinen Teil seiner Schriften liest oder auch nur ein paar seiner Vorträge hört, wird schnell klar, dass Hubbard die ehrliche Absicht hatte, den Menschen zu einem glücklicheren Leben und zu einem besseren Verständnis ihrer selbst zu verhelfen, und dadurch letztlich auch zu einer glücklicheren Gesellschaft auf der ganzen Welt beitragen wollte.

Hubbard stand Scientology von den Anfängen bis zu seinem Tod 1986 vor. Solange er an der Spitze stand, konzentrierte die Organisation sich darauf, den Menschen zu helfen, diese Ziele zu verwirklichen – durch das Studium von Hubbards Philosophie, die Anwendung derselben im täglichen Leben und die Verbesserung des Umgangs miteinander durch eine Technik, die er »Auditing« nannte. Scientologen kauften Hubbards Bücher und hörten sich seine Vorträge an. Sie zahlten einen festgesetzten Spendenbetrag, um ein Auditing zu bekommen. Dasselbe galt für die Ausbildungskurse zum Auditor, die die Leute machten, um dann selbst Auditings anbieten zu können. Mit diesen Dienstleistungen verschaffte Scientology sich die erforderlichen Mittel, um ihren Fortbestand zu sichern.

Unter Davids Leitung hat sich diese Praxis ins Gegenteil verkehrt. Heute werden den Mitgliedern der Organisation hohe Geldbeträge abgepresst, damit Scientology an deren Wohnort ein neues Gebäude erwerben kann. Dann werden noch mehr »Spenden« eingefordert, um dieses Gebäude in einen Prachtbau umzuwandeln. Der Druck, den die Vertreter der selbst ernannten Kirche dabei auf gewöhnliche Mitglieder ausüben, hat so manche Familie an den Bettelstab gebracht. Das Internet ist voll von solchen Geschichten.

Ein Paar aus Sacramento belieh sein Haus, als die Immobilienblase gerade auf dem Höhepunkt war. Als der Markt dann zwischen 2008 und 2009 zusammenbrach, waren die beiden pleite. Der Eigentümer einer Versicherungsgesellschaft spendete mehr als 10 Millionen Dollar an Scientology. Nach der Finanzkrise 2008 musste sein Unternehmen Bankrott erklären. Ich persönlich begann1969, mich für Scientology zu interessieren, also lange bevor solche Praktiken dort Usus wurden. In diesen Jahren gehörte ich zu den regelmäßigen Besuchern bei Scientology-Veranstaltungen. 1985 begann ich dann, für die Organisation zu arbeiten. Ich wurde, was man intern ein Mitglied des »Staff«, des Organisationsteams, nennt. Als Staff-Mitglied ist man nicht mehr nur gewöhnlicher Scientologe. Aus diesem Grund forderte man nie Geld von mir, doch diese Politik war in jenen frühen Tagen meines Engagements ohnehin nicht üblich. Aber ich kenne meinen Sohn, und ich zweifle nicht an den Geschichten, die ich gelesen habe.

Scientology hat sich unter Davids autoritärer Führung von einer Bewegung, die meiner Ansicht nach aufrichtig bemüht war, Menschen zu helfen, ein besseres Verständnis ihrer selbst zu entwickeln und ein besseres Leben zu führen, zu einer – und es tut mir leid, das so sagen zu müssen – hochgradig repressiven Organisation gewandelt. Ich habe diesem Umbau gut vierzig Jahre lang zugesehen. David führt Scientology mit eiserner Faust, und in meinen Augen ist die Organisation ganz einfach zur Sekte verkommen. Ich glaube, dass er aus einem obsessiven Verlangen nach Macht und Kontrolle Dinge getan hat, die viele Menschen schockieren würden. So wie es mich schockiert hat, als ich erfuhr, dass er den Ermittlern, die er auf mich angesetzt hatte, befohlen hatte, keinen Finger zu rühren, wenn ich sterben sollte.

Unter seiner Leitung hat die Organisation Millionen ausgegeben, um Mitglieder, Kritiker und Aussteiger zu observieren, zu drangsalieren und einzuschüchtern. Vor allem, wenn sie in der Öffentlichkeit über die brutale Behandlung sprachen, die sie vor oder auch nach ihrem Ausstieg erfuhren. Zwar hat die Organisation bereits unter L. Ron Hubbard versucht, Kritiker mundtot zu machen, also lange bevor David an die Spitze aufstieg, doch er hat diese Praxis, ohne Mühen und Kosten zu scheuen, bereitwillig übernommen und weitergeführt. Jeder Mensch, den die Organisation als Bedrohung oder als Feind wahrnimmt, wird zum Freiwild. Und jedes Mittel – egal ob Gerichtsverfahren, Observierung durch private Ermittler oder öffentliche Diskreditierung – ist erlaubt, um diese Personen in Verruf zu bringen oder sie komplett zu ruinieren. Die Organisation freilich hat stets bestritten, sich je illegaler oder unethischer Methoden bedient zu haben. Sie sieht sich vielmehr als Opfer, das von Regierungen und bestimmten Privatleuten systematisch verfolgt wird. Aber glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche, und das besser, als mir lieb sein kann.

Das schlimmste Verbrechen, dessen sich die Organisation unter Davids Führung meiner Ansicht nach schuldig macht, ist die Zerstörung von Familien durch eine Politik des »Abbrechens der Verbindung«, die jeden Kontakt zwischen einem Scientologen und seinen Familienmitgliedern oder auch Freunden verbietet, welche Kritik an der Organisation oder ihrem Führer üben könnten. Ich weiß nicht, wie viele Familien durch diese Praxis auseinandergerissen wurden – zumindest eine aber kenne ich gut: meine eigene. Ja, selbst ich, der Vater des Scientology-Oberhauptes, musste zusehen, wie man meine Töchter und deren Kinder und Kindeskinder von mir »losgelöst« hat, weil ich gewagt habe, die Organisation zu verlassen. In diesem Sinne könnte man vermutlich sagen, dass Scientology alle Menschen gleich behandelt. Spricht man die Organisation allerdings auf diese Strategie an, verschanzt sie sich reflexartig hinter dem Ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung, der Religionsfreiheit garantiert.

Sie können über Hubbard und Scientology sagen, was Sie wollen, doch ein Scientologe aus den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern, ja selbst noch den Achtzigern, würde die Organisation und die Praktiken, die sich unter Davids Führung herausgebildet haben, nicht mehr wiedererkennen.

Wie aber ist Scientology an den Punkt gekommen, an dem sich die Organisation heute befindet? Und was ist schiefgelaufen, dass mein eigener Sohn mehr als ein Jahr lang Privatdetektive auf mich ansetzte? Ich will versuchen diese Frage als Vater, der aus einem Bergbaustädtchen in Pennsylvania stammt und später in der Wüstenfestung im südlichen Kalifornien lebte, so gut wie möglich zu beantworten.

Das Interesse an Scientology und ihren Praktiken ist immens. Die Organisation polarisiert: Die meisten Menschen hassen sie oder stehen ihr zumindest skeptisch gegenüber und die Zahl derjenigen, die Scientology bedingungslos unterstützen, schwindet. Die PR-Maschine der Organisation spricht von Millionen Mitgliedern in aller Welt. Ich wäre allerdings höchst erstaunt, wenn es auch nur Hunderttausend wären. Trotz ihres ewigen Hungers nach Akzeptanz bei der breiten Masse war Scientology immer eine gesellschaftliche Randerscheinung. Seit ihren ersten Tagen zog die Organisation in erster Linie Menschen an, die einen alternativen Weg im Leben suchten. Dank Davids destruktivem Führungsstil ist selbst das bisschen Einfluss, das Scientology vielleicht einmal hatte, im Schwinden begriffen. Die fortwährende schlechte Publicity hält die Menschen davon ab, Mitglied zu werden. Und die ständigen Geldforderungen schrecken mittlerweile auch altgediente Scientologen ab, die aufhören, sich aktiv für Scientology einzusetzen oder gleich ganz aussteigen.

Eines meiner Ziele beim Schreiben dieses Buches ist, Davids Leben in den richtigen Kontext zu stellen, damit man sein Handeln als Oberhaupt von Scientology besser versteht. Da seine Mutter nicht mehr lebt, habe nur noch ich die Chance und, wie ich denke, Aufgabe, die Dinge zu erklären. Ich möchte einen Einblick in seine Kindheit und Jugend geben, den niemand sonst Ihnen geben kann. Klügere Köpfe als ich haben sich mit der Frage herumgeschlagen, was den Menschen mehr prägt, Umwelt oder Vererbung, und letztlich ist sie bis heute unbeantwortet geblieben. Ich möchte dazu nur so viel sagen: Mein Leben lang habe ich geglaubt, dass es an uns liegt, wie wir unsere Karten ausspielen, ganz egal, welches Blatt wir in der Hand haben.

Ich glaube, dass es, um David zu verstehen, hilfreich ist, ein wenig zu den Einflüssen zu sagen, die schon seine Mutter und mich geprägt haben. Und das führt uns als Erstes in den Nordosten Pennsylvanias.

DAS LEBEN IM KOHLEREVIER

Speedy Butelo, Jake Pupko und ich kletterten den Ascheberg hinauf, der vor dem verlassenen Sayre-Schacht im Norden der Stadt aufragte. Das Bergbauunternehmen verfeuerte Kohle, um im Winter die Mine zu heizen, und die Abfälle davon wurden einfach vor dem Schachteingang abgeladen. Mit den Jahren hatte sich ein etwa hundert Meter hoher Haufen gebildet und hinaufzuklettern war, als versuche man, eine Sanddüne zu ersteigen. An diesem Tag im Jahr 1944 wurde der Aufstieg noch durch die fünf Gallonen Benzin erschwert, die wir auf dem Buckel trugen und die ein vierter Freund bei einer anderen Mine hatte mitgehen lassen. Wir wollten nicht, dass es verschwendet wird, und hatten klare Vorstellungen, was wir damit anstellen würden.

Schließlich schafften wir es bis ganz nach oben. Abwärts ging’s leichter und es machte auch mehr Spaß. Man nahm ein wenig Anlauf und rutschte dann die Halde hinunter, für eine weiche Landung sorgte schon die Schlacke. Doch an jenem Tag hatten wir anderes im Sinn.

Irgendwo hatten wir alte Blechkanister aufgetrieben, die wir nun mit dem Benzin füllten. Was übrig blieb, schütteten wir rund um den Einstieg zur Mine aus, ein ungefähr zwei Meter mal zwei Meter großes Loch. Dann tränkten wir in einem Umkreis von etwa fünf Metern den Boden mit Benzin. Ein bisschen hoben wir auf, um eine Zündspur zu legen. Wir hatten ausgerechnet, dass die Explosion in fünf Metern Entfernung keinen Schaden mehr anrichten würde, also zogen wir eine fünf Meter lange Spur bis zu unserem Versteck.

Ich steckte ein Streichholz an und hielt es an die Zündspur. Nichts. Das Benzin fing nicht Feuer. Wir gingen ein bisschen näher ran und Speedy versuchte es mit einem zweiten Zündholz. Fehlanzeige.

Wieder zwei Schritte näher, wieder versuchten wir unser Glück. Verdammt. Immer noch nichts. Die verdammte Zündspur wollte einfach nicht brennen.

Wir waren auf etwa einen Meter herangerückt, als Jake plötzlich die Tollkühnheit packte. »Nimm das!«, schrie er, schnappte sich das ganze Zündholzbriefchen und steckte es auf einmal an. Dann warf er es ins Loch.

Kawummm! Es war, als hätte jemand eine Boeing 747 gestartet. Die Flamme schoss mit solcher Geschwindigkeit heraus, dass sie uns die Augenbrauen versengte und die Haare kräuselte. Wir rochen wie Hühner, denen man die Federn mit einem Kienspan weggesengt hatte, und waren uns sicher, dass wir das Tor zur Hölle durchschritten hatten.

Was vermutlich stimmte, denn die Explosion setzte den ganzen Abraumberg in Brand. Wir verbrachten den Rest des Nachmittags damit, all die kleinen Brandherde mit Zweigen, Erde, einfach mit allem, womit man ein Feuer ersticken konnte, zu löschen.

Damals waren wir gerade mal acht Jahre alt.

Mount Carmel, wo ich 1936 geboren wurde, ist ein Bergbaustädtchen im Nordosten Pennsylvanias. Man betont übrigens das »-Car«, also Mount Cármel. Der Highway 61 geht mitten durch die Stadt. Der ganze Ort erstreckt sich über etwa zweieinhalb Quadratkilometer mit Straßen, die wie ein Schachbrett angelegt sind. Als ich aufwuchs, lebten in Mount Carmel gut 17 000 Menschen, heute ist es vielleicht gerade mal ein Drittel.

Das erinnert mich an etwas, was David Anfang der Achtzigerjahre zu mir sagte, als wir durch die Stadt fuhren, um die Familie seiner Mutter zu besuchen. Er drehte sich unvermittelt zu mir um und meinte: »Weißt du, ich würde nicht in Mount Carmel leben wollen.«

»Warum?«, fragte ich.

»Von dort aus kann man wohl kaum die Welt verändern.«

Das war lange bevor er bei Scientology eine einflussreiche Stellung innehatte. In gewisser Weise deutete diese Äußerung also bereits auf Kommendes voraus, sie war aber auch eine durchaus zutreffende Einschätzung der Bedeutung, die Mount Carmel in der Welt hatte.

Am 19. Januar, dem Tag meiner Geburt, versuchte mein Vater, meine Mutter ins Krankenhaus zu bringen, aber sein Auto blieb im Schnee stecken. Also brachte er sie schleunigst ins Haus zurück und rief unseren Hausarzt an, Dr. Allen. Der wollte kommen, doch auch sein Auto blieb im Schnee stecken, also wurde ich zu Hause geboren.

Ich lebte in Mount Carmel, bis ich siebzehn wurde, und ich muss sagen, dass das Städtchen, entgegen Davids Einschätzung, ein wunderbarer Ort zum Aufwachsen war. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren herrschte allem gegenüber ein gewisses Laisser-faire. Solange man das Gesetz nicht brach, war alles in Ordnung. Aber das Gesetz war durchaus biegsam, und zwar nicht zu knapp. Diese Haltung hat mein ganzes Leben geprägt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie auch an meine Kinder weitergegeben habe.

Die Menschen in Mount Carmel arbeiteten hart, der Großteil in den Kohleminen. Irgendwie fühlte man sich dort fast wie in Europa: Meine Familie stammt aus Polen, aber es lebten auch Slowaken, Italiener, Iren, Deutsche und andere in dem kleinen Ort, eine kunterbunte Mischung aus aller Herren Länder.

Das Wichtigste war Football, die Menschen lebten und starben für die Highschool-Teams. Man konnte nichts falsch machen, wenn man im Mount-Carmel-Footballteam spielte. Man hätte einen Laden ausrauben können, der Polizist hätte einen laufen lassen und dem Besitzer noch eine Gardinenpredigt gehalten, weil er Anzeige erstattet hatte. (Übeltäter, die nicht Football spielten, hatten hingegen nichts zu lachen. Die Cops sprangen recht grob mit Leuten um, die es auf Geld und Gut der hart arbeitenden Bewohner von Mount Carmel abgesehen hatten.)

Im Herbst marschierten an jedem Freitagabend die Band und die Cheerleader die Third Street von der Highschool zum Stadion runter, und die ganze Stadt war auf den Beinen, um sie anzufeuern. Dann zog man hinter ihnen ins Stadion ein. Nach dem Spiel gingen die Fans zu Mattucci’s Restaurant und Bar, um es mit ihren Kumpels noch mal zu analysieren. Es waren herrliche Zeiten.

Wir Kinder waren zu arm, um uns einen Football kaufen zu können, also stopften wir eine Socke mit Lumpen aus, banden die Enden ab und schon hatten wir einen handgefertigten Football-Ersatz. Wir spielten unter der Straßenlaterne Fangen oder genossen bei einem anderen Zeitvertreib die Schönheit des Abends, bis unsere Mütter uns ins Haus riefen.

Die meisten Familien in Mount Carmel lebten in einfachen, aber gemütlichen Reihenhäusern. Die Leute kannten damals nichts anderes. Man war in dieser Stadt geboren worden, und so war das Leben. Wenn jemand starb, kam der Bestattungsunternehmer und bahrte den Verstorbenen im Wohnzimmer auf, damit Freunde und Angehörige sich von ihm verabschieden konnten.

Zu jener Zeit konnte ein Minenarbeiter eines dieser Reihenhäuser für 2000 bis 3000 Dollar kaufen. Sein Wochenlohn lag bei ungefähr fünfzig Dollar, davon konnte man eine Familie ernähren. Ich verdiente mir im Sommer etwas Taschengeld, indem ich im Wald Heidelbeeren pflückte und sie für fünfunddreißig Cent das Quart an der Haustür verkaufte.

Eines Sommers klaute mein Freund Joe Sarisky eine Kiste Dynamit, zehn Gallonen Benzin, Zündkapseln und Zündschnur aus einer illegalen Kohlemine. Wenn die großen Bergbauunternehmen befanden, eine Mine werfe nicht mehr genug Profit ab, ließen sie dort einfach alles liegen und stehen, wie es war. Meist traten dann ein paar geschäftstüchtige Männer auf den Plan und bauten weiter ab. Die meisten verdienten damit genug Geld zum Leben. Genau aus so einem aufgegebenen Minenschacht hatte Joe das Dynamit mitgehen lassen. Und so machten ich und ein paar andere Kinder uns den ganzen Sommer über einen Spaß daraus, im Wald irgendwas in die Luft zu sprengen. Hätte meine Mutter gewusst, was wir da trieben, hätte sie vermutlich gesagt: »Ronnie, pass auf, dass dir nichts passiert.« Aber sie hätte mich wahrscheinlich nicht daran gehindert.

Gleich gegenüber von unserem Haus gab es eine Kneipe, eine zweite links von uns und noch eine in der Straße hinter uns. Drei Kneipen in Sichtweite also. Ich schlief im Oberstock, und im Sommer hörte ich immer die Minenarbeiter, wie sie unter meinem Fenster vorbeigingen und über irgendetwas redeten. Es war meistens unerträglich heiß, daher ließ ich die Fenster weit offen. Eines Abends legte sich der Vater meines Freundes Eugene Stabinsky mit einem anderen Mann an. Die ganze Familie riskierte anderen gegenüber gerne mal eine dicke Lippe. Sie glaubten immer, sie würden damit durchkommen. Diesmal aber war es anders. »Du verdammter …!«, hörte ich einen Minenarbeiter schreien. Dann erklang die bettelnde Stimme von Stabinskys Vater: »Hör mal, ich bin verheiratet und habe drei Kinder!« Klatsch, klatsch, klatsch war zu hören, dann war alles wieder still. Der Zorn war stärker gewesen als die Vernunft. Und dann: »He, Kumpel. Tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun. Komm, ich zahl dir ein Bier.« Und schon waren die beiden wieder in der Kneipe und hoben einen miteinander.

Kneipen gab es in nahezu jedem Häuserblock, aber es gab fast ebenso viele Kirchen. Die Iren hatten ihre eigene Kirche, die Slowaken und die Italiener. Die Polen hatten sogar zwei, weil es zwei Lager gab, die miteinander im Streit lagen, und um sich sonntags nicht ins Gesicht gucken zu müssen, baute sich jede Seite ihr eigenes Gotteshaus.

Eines der schönsten Dinge am Leben in diesem Schmelztiegel war die Vielfalt der kulinarischen Köstlichkeiten. Bei den Straßenfesten war es für die Frauen Ehrensache, für alle die typischen Gerichte ihrer Heimat zuzubereiten. Ich kann mich noch immer an hausgemachte Piroggen, Babkas (Kartoffelplätzchen), Soppressata (italienische Salami), Lasagne, Doughnuts und mein Lieblingsessen überhaupt erinnern: Pizzelles. Das sind federleichte, nach Anis duftende Waffeln, die ich heute noch gelegentlich backe. Ich schwöre Ihnen: Wenn Sie eines dieser Dinger gegessen haben, sind Sie ihnen auf ewig verfallen.

Was die Menschen in Mount Carmel neben dem Football am meisten schätzten, war die Musik. Wenn ein Minenarbeiter sah, dass ein Kind, das ein Instrument spielte, gehänselt wurde, sagte er gleich: »He, lass den Kleinen in Ruhe. Er ist Musiker!«

Musiker war auch mein Vater Anthony. Er konnte Klavier spielen, Akkordeon, Saxophon und Klarinette. Seine Band probte immer bei uns im Wohnzimmer. Ich lag dann in meiner »Ausgehkutsche«, wie wir den Kinderwagen damals nannten, und lauschte aufmerksam. Als ich elf war, sagte ich meinem Vater, ich wolle auch ein Instrument lernen.

»Was möchtest du denn gerne spielen?«, fragte er mich.

»Ich weiß nicht. Vielleicht Trompete«, gab ich zur Antwort. Also fing ich mit Trompete an.

Die Musik kam irgendwie einfach aus mir raus. Als ich zum ersten Mal eine Trompete in der Hand hielt, brachte ich schon einen recht guten Ton zustande. Wenn ich ein Lied ein- oder zweimal hörte, konnte ich es spielen. Ich kannte alle Hits jener Zeit, und ich spielte schon mit dreizehn in der Öffentlichkeit. Eines Tages marschierten Tommy Butkevicz und ich in die Kneipe gegenüber seinem Haus. Tommy spielte Klavier, ich Trompete. Danach gingen wir mit der Mütze herum und die Minenarbeiter gaben uns zehn oder fünfundzwanzig Cent. Das hört sich nach nicht viel an, aber man muss bedenken, dass eine Jeans Mitte der Vierziger bei Penney’s etwa 1,50 Dollar kostete. Niemand warf uns raus, niemand beschwerte sich. Das war also mein erster Gig.

Mein Vater war Versicherungsvertreter und hatte unser Hinterzimmer im Erdgeschoss zur Reparaturwerkstatt für Musikinstrumente ausgebaut. Die Highschool-Schüler brachten ihre Instrumente zu ihm, meist Holzblasinstrumente, und er reparierte sie. Letztlich zahlte er dabei immer drauf, aber er war einfach ein gutherziger Mensch.

Vielleicht lag das daran, dass er ein ziemlich hartes Leben gehabt hatte. Er war 1899 zur Welt gekommen. Als sein Vater starb, war er sechs Jahre alt, und mein Vater musste in der Mine arbeiten, um seine Mutter zu unterstützen. Damals führten Kinder die Maultiere in die Minen oder halfen, die Kohle zu sortieren.

Später probierte er alles Mögliche aus, um sich sein Brot zu verdienen, aber am Ende blieb er doch bei den Versicherungen. Davor verkaufte er Limonade, doch sein kleines Unternehmen ging pleite, weil die Leute einfach die Flaschen nicht zurückbrachten. Dann betrieb er eine Tankstelle. Er installierte im Keller unseres Hauses einen riesigen Tank mit Benzin. Der Keller war eigentlich ein Souterrain und hatte Fenster, man konnte also von außen hineinsehen. Eines Tages kam ein Nachbar herüber und sagte zu meiner Mutter: »Helen, ich will mich ja nicht in eure Angelegenheiten einmischen, aber dein Sohn Tony hat gerade den Deckel vom Benzintank abgeschraubt und ein Streichholz angezündet. Er wollte wohl sehen, wie viel Benzin noch drin ist.« Man sagt: »Wenn deine Zeit um ist, ist sie um.« An jenem Tag war glücklicherweise für niemand in unserem Block die Zeit gekommen.

So war das Leben im Kohlerevier und das waren die Werte, die man mir vermittelt hat und die ich meinen eigenen Kindern beibringen wollte. Bei dreien von den vier hat das, glaube ich, auch ganz gut geklappt.

Als ich die Highschool abschloss, sagte mein Vater: »Wenn du ans College willst, dann studier Wirtschaft.« Aber ich wollte nicht Wirtschaft studieren. Wenn überhaupt zu etwas, dann zog es mich zur Musik. Ich hatte einen Job, spielte an sechs Abenden in der Woche in einem Countryclub. Was ich mit meinem Leben anfangen sollte, wusste ich jedoch nicht. Mit anderen Worten: Ich war reif für den Erstbesten mit einem halbwegs vernünftig klingenden Angebot.

MUSIK UND MARINE

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