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Philip Wallmeier

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Beschreibung

Angesichts globaler Krisendiagnosen setzen einige Aktivist*innen nicht primär auf Reformen innerhalb der bestehenden Verhältnisse - sie träumen von einer komplett anderen Ordnung. Oftmals ziehen sie sich deswegen aus bestehenden Institutionen und dem Alltag der Mehrheitsgesellschaft zurück. Anstelle von Eskapismus kann es sich bei ihrem Rückzug aber auch um radikalen Widerstand handeln. Philip Wallmeier stellt ein Netzwerk an Aktivist*innen in den Mittelpunkt seiner empirischen Studie, die zwischen den frühen 1970er Jahren und der Jahrtausendwende in den USA in »Kommunen«, »intentionale Gemeinschaften« und »Ökodörfer« zogen. Die Analyse zeichnet die historischen Veränderungen nach und beschreibt anschaulich, welche Widersprüche sich in der Praxis für die Aktivist*innen bei dem Versuch ergaben, alternative Lebensformen zu entwickeln, um so die Verhältnisse grundlegend zu transformieren.

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Seitenzahl: 387

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Philip Wallmeier, geb. 1986, arbeitet als Pädagoge und Wissenschaftler in Frankfurt am Main. Nach seinen Studienaufenthalten in Bayreuth, Valladolid, London und Moskau war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsverbund »Normative Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er im Bereich Politikwissenschaft promovierte. Seine Forschungsschwerpunkte sind Herrschaft und Widerstand in der globalen Politik, Umweltpolitik, Kritische Theorie sowie politische Bildung.

Philip Wallmeier

Rückzug als Widerstand

Dissidente Lebensformen in der globalen Politik

Diese Publikation geht hervor aus dem DFG-geförderten Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2019

D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-No- Derivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de

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© 2021 transcript Verlag, Bielefeld

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: »Drop City«, Photo: Clark Richert

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5159-1

PDF-ISBN 978-3-8394-5159-5

EPUB-ISBN 978-3-7328-5159-1

https://doi.org/10.14361/9783839451595

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung

Prolog

1.Globale Politik und der Rückzug in dissidente Lebensformen

1.1Der Rückzug in Kommunen zwischen 1970 und 2000

1.2Rückzug als Widerstand?

1.3Zwei Formen des Widerstands: Gegengemeinschaften und Beispielgemeinschaften

1.4Empirischer Zugang: das Magazin Communities

1.5Der widerständige Rückzug in Kommunen seit den frühen 1970er Jahren

1.6Ausblick auf das Buch

2.Eine Theorie des Rückzugs – Widerstand »irgendwie anders«

2.1Protest oder Rückzug – die Geschichte einer falschen Alternative

2.2Widerstandsforschung und Rückzug – ein ambivalentes Verhältnis

2.3Zur (politischen) Theorie des widerständigen Rückzugs

2.4Der Rückzug – »irgendwie anders«

3.Den Rückzug rekonstruieren – Methode und Zugriff

3.1Methodologische Vorentscheidungen

3.2Der Vorwurf der Abstraktion: Zum Verhältnis von Text und Leben

3.3Der Vorwurf der Isolation: Fallauswahl und Daten

3.4Der Vorwurf der Überwältigung: Wissenschaft zwischen Herrschaft und Widerstand

3.5Ausblick

4.Das Missverständnis um »die Hippies«

4.1Die Vorgeschichte von Communities

4.2Die Phasen des Magazins: Zur Epocheneinteilung

4.3Die Geschichte der Bewegung anhand von großen Trends

4.4Ein erstes Fazit

5.Der Rückzug als Flucht: 1972-1976

5.1Das Magazin

5.2Die Bewegung

5.3Gesamtdarstellung und Deutung

6.Der Rückzug als Aufbau von Gegenmacht: 1977-1985

6.1Das Magazin

6.2Die Bewegung

6.3Gesamtdarstellung und Deutung

7.Der Rückzug als Liebesbeweis: 1985-1990

7.1Das Magazin

7.2Die Bewegung

7.3Gesamtdarstellung und Deutung

8.Der Rückzug als Pionierarbeit: 1990-1999

8.1Das Magazin

8.2Die Bewegung

8.3Gesamtdarstellung und Deutung

9.Von der Landkommune zum Ökodorf – Eine Bilanz

9.1Der Rückzug als Widerstand und seine Dialektik

9.2Von der Gegenbewegung zur Innovationsbewegung

9.3Eine Geschichte der Einhegung oder der Kontinuität?

10.Literaturverzeichnis

Danksagung

Dieses Buch ist nicht nur die überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, sondern auch das Ergebnis der Arbeit so vieler Menschen, dass diese nicht alle genannt werden können. Nennen möchte ich hier zuallererst den Beitrag von Christopher Daase und Nicole Deitelhoff, die meine Dissertation betreut haben. Sie haben dafür gesorgt, dass ich während der Arbeit an diesem Projekt ein Einkommen hatte und mir enorme Freiräume eingeräumt. Mit ihrem Andenken gegen Klischees haben sie meine wissenschaftliche Perspektive geprägt.

In Frankfurt hatte ich das Privileg mit vielen jungen Wissenschaftler*innen zusammenzutreffen. Diskussionen mit Janusz Biene, Lisa Bogerts, Priska Daphi, Maik Fielitz, Regina Hack, Maya Hazukano, Holger Marcks, Daniel Kaiser, Ben Kamis, Victor Kempf, Helge Kminek, Max Lesch, Nele Kortendiek, Jannik Pfister, Tim Rühlig, Martin Schmetz, Eva Ottendörfer, Thorsten Thiel, Tobias Wille, Lisbeth Zimmermann und Jens Zimmermann haben dieser Dissertation ihre Form gegeben. Besonderer Dank gilt Felix Anderl, Linda Monsees, Stefan Kroll, Sebastian Schindler und Antonia Witt, die Kapitel dieses Buchs gelesen und mit mir diskutiert haben. Die Gedanken von Felix Biermann, Julian Faust, Moritz Orendt, Colin Roever, Hendryk Suchomsky, Gloria Wallmeier und Julia Wallmeier sind in diese Arbeit eingeflossen – teilweise mit und teilweise ohne ihr Wissen.

Angestellt war ich während der Arbeit an diesem Projekt am Exzellenzcluster »Normative Ordnungen« in Frankfurt, das zudem diese Veröffentlichung finanziell unterstützt hat. Dank gilt hier besonders Beate Stein, Michael Graf, Dragan Jakovljevic, Rebecca Schmidt und Sigrun Wassum für den netten Umgang.

Darüber hinaus gilt mein Dank den geduldigen Kolleg*innen beim transcript-Verlag, die mir die Möglichkeit eingeräumt haben, das Buch Open Access zu veröffentlichen, sowie Clark Richert, dass ich sein privates Foto von »Drop City« für den Umschlag des Buchs verwenden durfte.

Ingrid Stoll danke ich, dass sie das gesamte Buch zweimal korrekturgelesen hat und dabei trotz Hektik stets motivierende Hinweise für mich hatte. Franziska Wallmeier danke ich für ungezählte Hilfestellungen, ihre Loyalität und ihren Sinn für das Wesentliche. Arne und Per Wallmeier haben Energiereserven in mir freigesetzt, von denen ich nichts wusste. Birgit Wallmeier hat mir einen Richtungssinn vorgelebt, ohne den dieser Text nicht geschrieben worden wäre. Gewidmet ist diese Arbeit Reiner Wallmeier, der nie bereit ist, auf Gegenargumente zu verzichten, und so mein politisches Denken geprägt hat.

Ich bin beeindruckt von den Gedanken einiger jener Aktivist*innen, von denen dieses Buch handelt, von ihrem Engagement und der Ernsthaftigkeit ihrer Suche nach einer besseren Welt. Ihr Mut, den eigenen Überzeugungen zu folgen und aus Fehlern zu lernen, ist mir Inspiration und Ansporn.

 

Philip Wallmeier – Frankfurt a.M., den 01.08.2021

Prolog

»Gebt uns die Möglichkeit, aus eurer Wirklichkeit zu fliehen und uns irgendwo auf dieser Erde abseits von euren Städten niederzulassen, wir wollen unsere Sehnsucht leben, doch glaubt nicht, daß wir denken, der Arm soll ruhen, nur der Kopf soll schaffen, nein – schaut her – Arbeit muß sein; wir glauben auch daß der Mensch das Brot verdienen soll, das er genießt, doch nicht nach eurem Sinn! […] Laßt uns das tun, was gut ist, schickt uns hinaus in ein anderes Land, dort wollen wir der Erde selbst abringen, was sie uns geben muß. Freie Menschen wollen wir bleiben in freier Natur« (zitiert in: Wiggershaus 2013: 19).

So heißt es in einem Brief, den zwei junge Männer und eine junge Frau an ihre großbürgerlichen Familien schicken wollen. Der Brief soll den Familien ihr Verschwinden erklären und damit auch als endgültige Verabschiedung dienen. Noch ehe sie den Brief aber vollenden – geschweige denn absenden– können werden sie nachhause geholt. Insbesondere die Eltern des jungen Mädchens akzeptieren nicht, dass sich dieses von ihnen lossagt. Nach Hause zurückgekehrt, beginnt einer der beiden jungen Männer eine Novelle über die gemeinsame Flucht und die Lebensvorstellung zu schreiben, die sich darin ausdrückt:

»Und dies ist der Traum, den ich erzählen will, und den keiner aus eurer Gemeinschaft je verstehen wird, dessen Wahrheit eure niederen Worte und Gedanken nicht zu fassen vermögen und dessen Bedeutung entschwindet, wenn ihr ihn mit euren Wünschlein und Absichten vergleicht: drei Menschen erwachten, zersprengten eure Fesseln, wurden frei und schwebten dem blauen Himmel zu. Da schosset ihr mit Pfeilen nach den Vögeln und trafet den einen unter ihnen, der die zwei andern mit sich in die Tiefe riß. Doch sie haben noch Flügel, die zwei andern, und sie leben noch, sie flogen wieder der Sonne zu, ließen den Kadaver auf der Erde liegen, wo er hingehört, und ich wünsche ihnen gute Fahrt« (zitiert in: Wiggershaus 2013: 20)

Wie die verwendete Sprache schon erahnen lässt, handelt es sich bei dem Erzähler dieser kurzen Novelle nicht um einen Hippie der 1960er Jahre. Bei dem beschriebenen Dreierbund handelt es sich um die verschworene Gemeinschaft von »Fritz«, »Suze« und »Max« – Friedrich Pollock, Susanne Neumeier und dem Autor der zuletzt notierten Novelle: Max Horkheimer.

Die Idee des Rückzugs aus der bürgerlichen Gesellschaft, die in diesen Zeilen zum Ausdruck kommt, war keine vorübergehende Verirrung des jungen Horkheimer. Die platonische Liebe zu »Fritz« und das gemeinsame Leben beschrieb Max Horkheimer noch bis ins hohe Alter als seine »Île Hereuse«; als von der Gesellschaft unabhängige »Insel des Glücks« also. Zusammen mit Fritz verstand er sich als »anti-bürgerliche Gemeinschaft« (Wiggerhaus 2013: 124), welche die Gesellschaft nur insofern zur Kenntnis nahm, als sie sich von dieser abgrenzte. Explizit dargestellt wird diese Abgrenzung in einem von Horkheimer und Pollok gemeinsam verfassten Protokoll zur eigenen Lebensweise. Dort heißt es etwa unter der Überschrift »Die richtige Einstellung zur Gesellschaft«:

»In der heutigen Gesellschaft sind alle menschlichen Beziehungen verfaelscht, alle Freundlichkeit, aller Beifall, alles Wohlwollen sind im Grunde nicht ernst gemeint. Ernst ist es nur dem Konkurrenzkampf innerhalb der Klasse und dem Kampf zwischen den Klassen. Jede Anerkennung, jeder Erfolg, jedes scheinbar sympathische Interesse kommt von Kerkermeistern, die denjenigen, der keinen Erfolg und keine Macht hat, gleichgültig verkommen lassen oder bis aufs Blut peinigen« (zit. in Wiggershaus 2013: 124-125).

So sahen sich die beiden Freunde also in einem dauernden Widerstreit mit der Gesellschaft. Sie bekämpften aber auch den Abdruck dieser Gesellschaft in sich selbst. Es gelte sich von der bürgerlichen Triebstruktur, der eigenen Erziehung und den damit einhergehenden Schuldgefühlen zu befreien. Dies erforderte für die beiden Autoren ein Bekenntnis zu Standhaftigkeit und Unabhängigkeit von den äußeren Verhältnissen. Denn: »Nur bewusster Stolz, der das Recht und den Wert unserer Gemeinschaft einer feindseligen Welt entgegensetzt, kann diese Triebstruktur überwinden helfen« (ebd.).

Diese Ausführungen sollen nun nicht die Behauptung stützen, Max Horkheimer sei eigentlich ein wilder Kommunarde gewesen. Sie leiten das folgende Buch aber in dreifacher Hinsicht ein.

Erstens klingen in der Geschichte um Max Horkheimer und seine »Île Hereuse« all jene Themen an, welche im Rahmen dieses Buchs eine wichtige Rolle spielen. Es geht um die Flucht vor der Gesellschaft und einen Kampf gegen dieselbe. Es geht um Gemeinschaft und Liebe sowie auch um Standhaftigkeit und Charakter. Es geht darum, was zu tun ist, wenn die Gesellschaft als grundlegend falsch wahrgenommen wird.

Zweitens dient diese kurze Geschichte aber nicht nur der Einführung des Themas, sondern (zumindest implizit) auch seiner Legitimierung. Legitimiert wird das Thema des Rückzugs hier einerseits gegenüber jenen Leser*innen, die der Kritischen Theorie zuneigen. Hegen sie doch häufig den Verdacht, der Rückzug sei nur der Versuch, das »richtige Leben im Falschen« zu finden, und damit zum Scheitern verdammt. Gleichzeitig dient diese Erzählung aber auch der Legitimierung gegenüber eher traditionellen Politikwissenschaftler*innen. Äußern sie doch häufig den Verdacht, beim Rückzug handele es sich um ein Randphänomen, das politisch nicht ernst zu nehmen ist: »man muss sich ja nicht mit allem beschäftigen«. Ihnen zeigt dieser Prolog, dass der spätere Leiter des Instituts für Sozialforschung und Rektor der Universität Frankfurt sein Leben lang an der Vorstellung einer »Île Hereuse« innerhalb und dennoch gegen die Gesellschaft festgehalten hat.

Damit ist drittens auch schon angesprochen, dass diese kurze Geschichte eine Verbindung aufzeigt zwischen dem Autor dieses Buchs, dem Untersuchungsgegenstand und der Tradition, an der sich diese Untersuchung anlehnt. Dieses Buch basiert auf einer Dissertation, die in der Max-Horkheimer-Straße 2 entstanden ist, an jener Universität, der Max Horkheimer als Rektor vorstand. Sie beschäftigt sich mit der Idee des Rückzugs und versteht sich als Versuch, einen zeitgenössischen Beitrag zum kritischen Nachdenken über Herrschaft und Widerstand zu leisten.

1.Globale Politik und der Rückzug in dissidente Lebensformen

»Looking back at the struggle against slavery, you may find it easy to put yourself in the place of an abolitionist at the moment when abolitionism became a mass movement. But what about before that time, when freedom from the institution of slavery was a dream, and it seemed more practical to try to restrain its worst excesses?«

Mit dieser Frage leitet der Aktivist George Lakey einen Aufsatz über jenes Dilemma ein, mit dem alle radikalen Widerstandsbewegungen konfrontiert sind:1 Sollen sie pragmatisch jene Verbesserungen erkämpfen, die hier und heute zu erreichen sind – auch wenn dies bedeutet über gravierende Probleme und Ungerechtigkeiten hinwegzusehen? Zwar verspricht dieser Ansatz kurzfristige und sichtbare Erfolge, am Beispiel der Sklaverei wird aber auch seine Kehrseite sichtbar. Lakey hebt nämlich hervor, dass alle, die im 19 Jahrhundert lediglich für eine humanere Form der Sklaverei gekämpft haben – weil deren komplette Abschaffung wie ein Traum wirkte – aus heutiger Sicht auf der falschen Seite der Geschichte stehen. Der Autor argumentiert entsprechend, dass es in manchen politischen Auseinandersetzungen keine Graubereiche gebe. Wenn die bestehenden Institutionen radikale, aber gebotene Veränderungen nicht zulassen würden, dann müsse man sich aus diesen zurückziehen und – im Kleinen – den Wandel vorwegnehmen. Gleichzeitig ist auch dieser Ansatz nicht ohne Probleme. Lakey legt in seinem Aufsatz überzeugend dar, dass jene, die (ohne Massenbewegung im Rücken) die Verhältnisse insgesamt ablehnen und von einer anderen Welt träumen, sich meist isolieren und als Spinner betrachtet werden. Ihr Rückzug erscheint mitunter als Weltflucht. Analog zur Sklaverei lässt sich dieses Dilemma heute in Bezug auf Umweltzerstörung und Klimawandel formulieren. Aktivist*innen können in Beteiligungsprozessen mitmischen und Parteien zu minimalen Verbesserungen im Klimaschutz drängen – die aber nach wissenschaftlichen Prognosen nicht ausreichen – oder ihrem Traum einer gerechteren und umweltverträglichen Weltgesellschaft folgend die gesamte westliche Lebensform hinterfragen, womit sie aber Gefahr laufen, sich vom Politikbetrieb und gesellschaftlichen Debatten auszuschließen. In diesem Fall ist noch unklar, wer aus der Perspektive zukünftiger Generationen auf der richtigen Seite gestanden haben wird.

Weite Teile der Forschung zu Protest und Widerstand nehmen eher pragmatisch agierende Aktivist*innen in den Blick, die Massen mobilisieren und klare, umsetzbare Ziele verfolgen. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich dieses Buch mit jenen Aktivist*innen, die nicht primär auf Reformen innerhalb der bestehenden Institutionen setzen, sondern von einer komplett anderen Ordnung träumen und sich deswegen aus bestehenden Institutionen zurückziehen.2 Konkret geht es um ein Netzwerk an Aktivist*innen, die zwischen den frühen 1970er Jahren und der Jahrtausendwende in den USA in »Kommunen« oder »intentionale Gemeinschaften« zogen, um mit alternativen Lebensformen zu experimentieren und so zu einer fundamentalen Transformation der Verhältnisse beizutragen. Zu ihnen zählt auch der Friedens- und LGBTQI+-Aktivist George Lakey, der oben zitiert wurde. Angelehnt an das Selbstverständnis der Aktivist*innen verstehe ich unter »intentionale Gemeinschaft« oder »Kommune« Wohn- und Lebenszusammenhänge, in denen Menschen, die nicht alle verwandt sind, gemeinsam mehr oder weniger große Teile ihrer Produktionssphäre und Alltagspraxis in bewusster Abgrenzung gegen andere Formen der Vergesellschaftung organisieren, weil dies ihrer Vorstellung eines besseren Lebens entspricht. Sie bezeichne ich auch als »dissidente Lebensformen«.

Kompakt zusammengefasst werden im Rahmen dieses Buchs insbesondere drei Argumente zu »dissidenten Lebensformen« präsentiert und begründet. Erstens argumentiere ich, dass es sich bei jenem Rückzug in Landkommunen und intentionale Gemeinschaften in den USA zwischen den 1970er Jahren und dem Ende des Jahrtausends um Widerstand handelte – und nicht etwa um Eskapismus oder eine Flucht vor Verantwortung. Dies zeige ich insbesondere, indem detailliert beschrieben wird, wie die Aktivist*innen vorgingen, wie sie ihre Praxis verstanden und aus welchen Gründen sie einander (innerhalb der Bewegung) kritisierten. Aus dieser Darstellung wird auch deutlich, das ist das zweite Argument, dass es sich bei jenen betrachteten Aktivist*innen um einen heterogenen Zusammenhang handelt: sowohl die Praxis als auch die Selbstverständnisse unterschieden sich erheblich. Einig war man sich lediglich, dass die Verhältnisse grundlegend abzulehnen, aber von innen nicht zu ändern waren. Innerhalb dieses heterogenen Netzwerks an Personen zeige ich, drittens, eine Veränderung auf. Während sich nämlich der Großteil der Kommunard*innen der frühen 1970er Jahre als Teil einer »Gegenbewegung« gegen die Mehrheitsgesellschaft sah, verstand sich der Großteil der Aktivist*innen in den späten 1990er Jahre eher als »Innovationsbewegung« für die Veränderung dieser Mehrheitsgesellschaft. Neben diesen großen Argumenten werden im Rahmen dieses Buchs aber auch kleine Geschichten von großen Anstrengungen erzählt. Diese Geschichten und Anekdoten mögen die Schwierigkeiten verdeutlichen, mit denen Aktivist*innen konfrontiert waren, die einer von Herrschaft durchzogenen Welt Sinn abgewinnen und hier-und-jetzt eine bessere Welt schaffen wollten.

1.1Der Rückzug in Kommunen zwischen 1970 und 2000

Douglas Stevenson (2014: 217), der in den frühen 1970er Jahren »The Farm« in Tennessee mitaufbaute – eine der bekanntesten gegenkulturellen Landkommunen, in der Zeitweise über 1500 Menschen wohnten – erinnert sich, dass die Ermordungen von Martin Luther King, Jr. und Robert Kennedy sowie die Präsidentschaftswahl von Richard Nixon in den 1960er Jahren zu einer »schmerzhaften« Erkenntnis führten: »change would not come from within the system. For the group landing in Tennessee, the revolution was in a new direction«.Wie Stevenson fühlten viele insbesondere junge Amerikaner*innen. Enttäuscht wendeten sie sich von einer Herrschaftsordnung ab, die so schien, als könnte sie »von innen« nicht verändert werden. Weder Parlamente, noch Parteien, noch Massendemonstrationen versprachen wirklichen Wandel. So entschieden sie, dieses »System«, das Krieg, Entfremdung und Naturzerstörung in unterschiedlichen Teilen der Erde hervorbrachte, mit den Mitteln des Alltags zu transformieren. Statt die Revolution aufzugeben, wechselte man, in den Worten von Stevenson, die »Richtung«. Ende der 1960er Jahre schossen daher in den USA »Kommunen«, »Stämme« und »Familien« wie Pilze aus dem Boden. Gab es in den 1950er Jahren etwa zwei Handvoll solcher Zusammenschlüsse, wählten nach gängigen Schätzungen in den frühen 1970er Jahren zwischen 500.000 und 1 Millionen Menschen diese Form des Widerstands – genauere Zahlen gibt es nicht (Miller 1999: Kap.1). Vorreiter dieser Gründungswelle war die Gemeinschaft »Drop City«, die den Einband dieses Buchs ziert und die mit einer wilden Mischung aus Übermut, Kunst und Freiheitsdrang zu einem Symbol für die Gegenkultur werden sollte.3

Der Begriff »System«, den auch Stevenson in seiner Darstellung verwendet, verwies für die Aktivist*innen darauf, dass sie es mit einer Herrschaftsordnung zu tun hatten, die sich nicht auf den Bereich der institutionalisierten Politik beschränkte, sondern das ganze Leben, den Alltag durchzog. Den Aktivist*innen erschien die Art zu arbeiten, zu wohnen, zu essen, einzukaufen, sich fortzubewegen, Sex zu haben, Beziehungen zu pflegen und sogar das eigene Gefühlsleben von einer herrschaftlichen und zerstörerischen Logik durchzogen. Die Kommune war ein bewusster Gegenentwurf hierzu: im Kontrast zur Mehrheitsgesellschaft in den USA, deren Lebensmittelpunkt sich in den 1970er Jahren in standardisierte Vororte von größeren Städten verschob, wurde etwa »Drop City« als Kunstprojekt auf dem flachen Land gegründet; im Gegensatz zu jenem politischen System, das Durchsetzungskraft prämierte, suchten Aktivist*innen wie der bereits zitierte George Lakey nach Möglichkeiten der gemeinsamen, gewaltfreien Entscheidungsfindung; im Kontrast zu einer als ungerecht und entfremdend wahrgenommenen Arbeitswelt, bauten die Kommunard*innen von »The Farm« Lebensmittel auf biologische Art an und verteilten Güter innerhalb der Gemeinschaft nach einem nicht-marktförmigen Verteilungsprinzip. Hinter den vielen unterschiedlichen Projekten stand die geteilte Einsicht, dass eine fundamentale Umwälzung der Verhältnisse nicht nur »die Politik« verändern müsste, sondern auch – um einen Begriff der Philosophin Rahel Jaeggi aufzugreifen – die »Lebensform«. Mit Lebensform ist jener Zusammenhang an Praktiken, Überzeugungen und Einstellungen gemeint, der sich in Institutionen, Symbolen und Artefakten manifestiert, die unser alltägliches Miteinander formen (Jaeggi 2014: 89). Durch die Veränderung dieser Lebensform – also der Art und Weise wie Menschen alltäglich miteinander umgehen – sollte auch die Gesamtgesellschaft transformiert werden.

Getragen wurde die Bewegung in den frühen 1970er Jahren von ungebremstem Optimismus und einer Aufbruchstimmung insbesondere unter jungen Erwachsenen, die in den 1960 und 1970er Jahren in den USA einen großen Teil der Bevölkerung ausmachten. Die Begeisterung für Kommunen war so groß, dass die meisten gemeinschaftlichen Wohnprojekte ihre Adressen geheim hielten, um nicht von einer Welle potenzieller Bewohner*innen oder Besucher*innen (eine Unterscheidung war häufig schwierig) überschwemmt zu werden. Sichtbar wird dieser Optimismus auch daran, dass die Herausgeber*innen einer zu dieser Zeit neu gegründeten Szenezeitschrift von und für Kommunard*innen, Communities, sich darum sorgten, dass die Zeitschrift zu einem anonymen Massenmedium verkommen würde, weswegen sie die Zahl der Abonnent*innen strikt begrenzen wollten.4 Bestärkt in ihrem Optimismus wurden die Aktivist*innen von Neuigkeiten aus Israel, wo die Zahl an Kibbuzim5 immer weiter anstieg und die Vernetzung der Projekte zunahm. Auch die zunehmende Verknüpfung von Kommunen und intentionalen Gemeinschaften mit einer in den 1970er Jahren erstarkenden Genossenschaftsbewegung ließ die Aktivist*innen an eine andere Zukunft glauben. Insgesamt, so zeigen diese Anekdoten, sah man sich auf dem Weg einer stillen, praktischen, im Alltag verwurzelten und dennoch fundamentalen Umwälzung der Verhältnisse.

Jene fundamentale Transformation, die Aktivist*innen in den frühen 1970er Jahren vorhersahen, trat so nicht ein. Die Bewegung rund um Kommunen und intentionale Gemeinschaften verlor in den USA spätestens Mitte der 1980er Jahre sichtbar an Schwung – sie verschwand aber nie und erlebte in den 1990er Jahren eine Wiederbelebung in neuem Gewand. Auch zu dieser Zeit ging es den Aktivist*innen darum, ein als global wahrgenommenes Herrschaftssystem zu transformieren, das Krieg, Entfremdung und Naturzerstörung hervorbrachte und das »von innen« unveränderlich erschien. Allerdings waren Ende der 1990er Jahre deutlich weniger Personen in der Bewegung engagiert; auch waren die Aktivist*innen älter als noch in den 1970er Jahren und ihr Selbstverständnis hatte sich verändert. Verstand sich ein großer Teil der Kommunard*innen der 1970er Jahre als Gegenbewegung zur westlich geprägten Weltordnung, so sahen sich die Kommunard*innen der 1990er Jahre, die sich häufig auch »Ökodörfler*innen« nannten, als Vorbild und Innovationsmotor für die Transformation dieser Weltordnung. Aus der Gegenbewegung war eine Innovationsbewegung, waren »Pioniere des Wandels« und »Leuchttürme der Hoffnung« geworden.

1.2Rückzug als Widerstand?

Obwohl sich die Kommunard*innen zu allen Zeiten einig waren, dass sie auf eine illegitime Herrschaftsordnung reagierten, die »von innen« nicht verändert werden konnte, wurde der Rückzug in Kommunen und intentionale Gemeinschaften selten als Widerstand gefasst. Zu wirkmächtig war die Deutung, dass es sich bei diesem Rückzug eher um die Suche nach Nestwärme in einer erkalteten Welt, um die Flucht vor Verantwortung handelte. Diese Deutung wird auch gespiegelt von einer Blindstelle in der relevanten Forschungsliteratur. Denn die meisten Ansätze, die zur Erforschung von sozialen Bewegungen, Protest und Widerstand herangezogen werden, blenden den Rückzug aus (detaillierter hierzu: Kapitel 2).

1.2.1Die Unsichtbarkeit des Rückzugs als Widerstand

In der Forschung zu »sozialen Bewegungen«, zum Beispiel, werden Rückzug und Protest meist als gegensätzliche und sich ausschließende Reaktionen auf Missachtungs- und Ungerechtigkeitserfahrungen verstanden.6 Paradigmatisch für eine solche Position steht der bis heute wirkmächtige Aufsatz von Robert Merton aus dem Jahr 1938. In diesem Aufsatz legt Merton dar, dass Menschen, die gesellschaftlich benachteiligt sind, zwei Reaktionsmöglichkeiten haben: »retreatism« (Rückzug) und »rebellion« (Protest). Während sich Protestierende gegen die bestehenden Verhältnisse auflehnen, beschreibt Merton jene, die sich zurückziehen, lediglich als passiv und entfremdet. Durch die Gegenüberstellung von Rückzug und Protest wird in diesem Ansatz konzeptionell ausgeschlossen, dass dem Rückzug ein widerständiges Moment innewohnt. In den Fußspuren dieses Ansatzes, verstehen viele Forscher*innen Protest als Handlung, die eine politikwissenschaftliche Untersuchung motivieren kann. Der Rückzug hingegen erscheint lediglich als Reaktion, die – wenn überhaupt – eine psychologische Untersuchung motivieren kann (vgl. Boltanski 2012: 169). Mertons Spur folgen weite Teile jenes Forschungsstrangs, die oft »soziale Bewegungsforschung« genannt werden.

Auch Forschungsprojekte, die nicht »soziale Bewegungen«, sondern »Widerstand« fokussieren, übersehen meist den Rückzug in Kommunen und intentionale Gemeinschaften. Das liegt daran, dass sie in ihren Analysen auf strukturierende Dichotomien zurückgreifen, die den Blick auf die Funktionsweise dieses Widerstands verstellen. Beispielhaft sei hier der Ansatz von James Scott (2009) vorgestellt, der die Forschung zu Widerstand mit seiner Konzeption von »Everyday Resistance« grundlegend auf neue Beine gestellt hat. Scott unterscheidet zwischen materiellem und symbolischem Widerstand, um zu zeigen, dass auch dort, wo sich Herrschaft scheinbar ungebrochen durchsetzt, »versteckte« Formen des Widerstands zu finden sind. Konkret zeigt er in seiner anthropologischen Forschung, dass eine Gruppe indonesischer Bauern zwar nicht kollektiv und symbolisch, sehr wohl aber individuell und materiell motiviert im geheimen Widerstand leistete – z.B. indem sie Abgaben zurückhielten. So bahnbrechend diese Einsicht ist, dass »everyday resistance« häufig ist, verstellt die Unterscheidung zwischen »materiellem« und »symbolischem« Widerstand jedoch den Blick auf den Rückzug. Denn der Aufbau einer Landkommune kann einerseits als Beweis dafür dienen, dass eine andere Art zu leben möglich ist – symbolischer Widerstand. Andererseits können mit dem Aufbau einer Gemeinschaft auch materielle Interessen verbunden sein, etwa wenn sich Aktivist*innen durch die kollektive Betreuung von Kindern und die gemeinsame Versorgung mit Lebensnotwendigem von bestimmten Marktzwängen befreien – materieller Widerstand. So haben also auch Scotts eigentlich geeignete Analysekategorien dazu geführt, dass der Rückzug eher unsichtbar gemacht wurde.

Doch auch wenn man konzeptionell aus der entgegengesetzten Blickrichtung guckt – also aus der Richtung jener Herrschaftsordnung, die von den Kommunard*innen abgelehnt wird – bleibt diese Form von Widerstand meist schwer zu entdecken. Beispielhaft soll dies an einem Ansatz zur Erforschung von globaler Politik gezeigt werden, der mit dem Begriffspaar Autorität/Politisierung arbeitet (Zürn 2015). Für Zürn wird Autorität in der globalen Politik von Staaten(-bünden) aber insbesondere von internationalen Organisationen ausgeübt, die bestimmte »Sphären der Autorität« (2015: 330) abdecken. So werden verbindliche Regeln gesetzt. Herausgefordert werden diese Autoritäten durch »Politisierung« (Zürn und Ecker-Erhardt 2013) oder »contestation« (Zürn 2018). »Politisierung« wird dabei verstanden als »Prozess, mittels dessen Entscheidungskompetenzen und die damit verbundenen autoritativen Interpretationen von Sachverhalten in die politische Sphäre gebracht werden« (Zürn und Ecker-Erhardt 2013: 19). An dieser Definition wird leicht sichtbar, dass Zürn – und vergleichbare Ansätze – den widerständigen Rückzug in Landkommunen konzeptionell gar nicht in den Blick bekommen können. Denn die Praxis der Kommunard*innen besteht gerade nicht in einer »Politisierung«, also darin, Entscheidungen als solche öffentlich zu problematisieren. Indem Menschen Gemeinschaften gründen und dort ihren Alltag in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft gestalten, wird die Sphäre der Politik vielmehr häufig umgangen. Statt z.B. öffentlich zu kritisieren, wie Lebensmittel hergestellt werden und welche Regeln hierfür gelten (das wäre Politisierung), verweigern sich Kommunard*innen diesen Zusammenhängen und arbeiten stattdessen daran, selbst ihre Nahrung zu produzieren. Dass Zürns Ansatz diese Praxis nicht sinnvoll einordnen kann, zeigt sich auch daran, dass er (2015: 323) den »Austritt (›exit‹)« explizit nicht als Widerstand und als Hinweis auf Herrschaftsverhältnisse deutet. Im Gegenteil versteht er diesen Akt der Verweigerung als autonome Entscheidung, die Einflusssphäre einer bestimmten Autorität zu verlassen und damit als freie Wahl aus gleichermaßen akzeptablen Möglichkeiten. Verdeckt bleibt dabei, dass dissidente Lebensformen als widerständig verstanden und gelebt werden, weil sich Aktivist*innen einer als illegitim wahrgenommenen Herrschaftsordnungen entziehen.

1.2.2Der Rückzug als Widerstand und seine Dialektik

Um dieses Selbstverständnis der Aktivist*innen angemessen einzufangen, ist es daher notwendig, eine Konzeption von Widerstand zu entwickeln, die den Blick für den Rückzug in Kommunen und intentionale Gemeinschaften weitet. Hierzu bietet sich jenes Verständnis von Widerstand an, das von Daase und Deitelhoff vertreten wird (2015): Für sie stellt Widerstand erstens die Legitimität von Herrschaft (auf der Ebene von politics, policies oder polity) in Frage und formuliert zweitens politische Alternativen (2015, insbes. 308). Auf diesem Verständnis aufbauend, unterscheiden sie konzeptionell zwischen »Opposition« und »Dissidenz«. Um oppositionellen Widerstand handelt es sich, wenn Aktivist*innen »die Regeln politischer Teilhabe akzeptieren und mit ihnen konform gehen«; um »dissidenten Widerstand« jedoch, wenn Aktivist*innen »diese Spielregeln ablehnen oder bewusst überschreiten«. Diese Unterscheidung zwischen »Opposition« und »Dissidenz« differenziert den Widerstandsbegriff so aus, dass der Rückzug in Kommunen angemessen unter dem Begriff »Dissidenz« subsumiert werden kann. Beim Rückzug in Kommunen handelt es sich nicht um eine Form von Aktivismus, die Reformen im Rahmen eingespielter und ritualisierter Ausdrucksformen (etwa einer Demonstration) fordert; vielmehr ist der Rückzug als Widerstand zu verstehen, wenn er auf der Annahme beruht, dass die gesamte politische Ordnung so herrschaftlich durchdrungen ist, dass der einzige Ausweg darin besteht, Wandel jenseits der etablierten Verfahren voranzutreiben – in alltäglichen, kleinen Veränderungen. Beim Rückzug in Kommunen zwischen den 1970er Jahren und dem Ende des Jahrtausends handelt sich also um dissidenten Widerstand.

Diese Form dissidenten Widerstands ist jedoch durch eine fundamentale Spannung gekennzeichnet, die auch George Lakey in jenem Aufsatz beschreibt, mit dem dieses Kapitel beginnt, und die ich als die Dialektik des Rückzugs bezeichne. Einerseits wollen sich die Aktivist*innen in ihrem Widerstand von den bestehenden Verhältnissen abwenden und etwas komplett Neues zu schaffen. Hierzu müssen sie »alten Ballast« abwerfen, bestehende Verbindungen kappen und sich aus den bestehenden Institutionen zurückziehen. Andererseits aber verstehen sich die Aktivist*innen als Widerstandsbewegung, insofern sie hier-und-jetzt etwas Neues schaffen. Dazu müssen sie sich in den bestehenden Verhältnissen engagieren: Personen und Ressourcen mobilisieren, Organisationen aufbauen, Institutionen einbinden und bestehende Regeln einklagen. Denn Lakey argumentiert einleuchtend, dass der Rückzug jener, die sich von allem und allen isolieren, als Weltflucht erscheint. Widerstand ist der Rückzug in Kommunen also nur, wenn damit einerseits der Anspruch einhergeht, die Verhältnisse zu verlassen – und andererseits der Anspruch, die Verhältnisse zu verändern. Dies nenne ich die Dialektik des Rückzugs.

1.3Zwei Formen des Widerstands: Gegengemeinschaften und Beispielgemeinschaften

Der Rückzug in Kommunen und intentionale Gemeinschaften ist als Widerstand zu verstehen, insofern Aktivist*innen durch diesen Akt die Legitimität der politischen Ordnung in Zweifel ziehen und gleichzeitig an Alternativen arbeiten. Um dieses Verständnis zu erläutern und zu präzisieren, möchte ich jene Herrschaftsordnung beschreiben, gegen die sich der Widerstand richtet. Hierzu präsentiere ich zwei zeitgenössische Diagnosen. Aus der Perspektive von Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) ist unsere globale Ordnung eine Herrschaftsordnung, insofern die westliche Art zu leben anziehend, mächtig und zugleich zerstörerisch ist. Auf der Grundlage dieser Diagnose lässt sich der Rückzug in Kommunen als Versuch deuten, Gegenmacht zu dieser »imperialen Lebensweise« aufzubauen. Hardt und Negri (2004) sehen in der globalen Ordnung einen Herrschaftsapparat, der durch Selbstbeherrschung, Tauschverhältnisse und flexible Hierarchien aufrechterhalten wird. Entsprechend dieser Diagnose lässt sich der Rückzug in Kommunen als Versuch deuten, die bestehenden Routinen, Seinsweisen und Subjektivitäten, das »Empire«, zu transzendieren. Beide Theorien liefern ein sinnvolles Deutungsangebot zum Rückzug in Kommunen. Anstatt abzuwägen, welches Verständnis theoretisch eher überzeugt, verstehe ich beide Deutungsangebote als Pole auf einem Kontinuum möglicher Selbstverständnisse. Sie dienen mir in der empirischen Untersuchung zur Kategorisierung der Praxis und Selbstverständnisse von Kommunard*innen, die ich dar.

1.3.1Der Rückzug als Teil einer Gegenbewegung

Aus der Perspektive von Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) ist Weltpolitik heute von Herrschaft gekennzeichnet. Herrschaft besteht nicht nur in der Regelsetzung und deren Durchsetzung durch bestimmte Institutionen, sondern in der Lebensweise von Menschen und den sie abstützenden Produktionsverhältnissen und Konsummustern. Brand und Wissen sprechen von einer Lebensweise, die zugleich zerstörerisch und hegemonial ist. Mit »hegemonial« meinen sie (2017: 56), dass diese Lebensweise »breit akzeptiert, sozioökonomisch und politisch-institutionell abgesichert und in den Alltagspraxen der Menschen tief verankert ist«. Für Brand und Wissen ist die moderne westliche Lebensweise zudem »imperial«, weil in ihr »vielfältige Macht- und Herrschaftsverhältnisse« sedimentiert sind, das bessere Leben an bestimmten Orten vom schlechteren Leben in anderen Regionen abhängt (2017: 61). Als knappe Veranschaulichung der Funktionsweise dieser Herrschaftsordnung könnte man etwa den im globalen Norden verbreiteten Trend zu günstiger und ständig wechselnder Mode im Bereich der Kleidung nennen, durch deren Produktion die Umwelt im globalen Süden zerstört und Arbeiter*innen ausgebeutet werden. Abgestützt ist dieser Trend durch in der Gesellschaft weit verbreitete Vorstellungen von Schönheit und einem guten Leben, durch eine Alltagspraxis des Shopping als Zeitvertreib, durch eine ungleiche Verteilung von Reichtum sowie auch internationale Verträge, die globalen Handel regeln und Ungleichgewichte festschreiben. Da Herrschaft für Brand und Wissen institutionell abgesichert ist und zugleich im Alltag reproduziert wird, findet Widerstand auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt: Widerstand kann »radikaler Reformismus« in staatlichen Institutionen sein oder auch der alltägliche Verzicht auf Fleisch (2017: 178).

Aus dieser Perspektive wird der Rückzug in Kommunen und intentionale Gemeinschaften als ein Anarbeiten gegen die imperiale Lebensweise verständlich. Statt als »kleines Zahnrad« an der Ausbeutung bestimmter Regionen mitzuarbeiten und dabei zerstörerische Vorstellungen eines guten Lebens weiterzuverbreiten, entziehen sich Aktivist*innen unsichtbaren (und sichtbaren) Zwängen und bauen für ihr Leben Rahmen auf, innerhalb derer alternative Weisen des Zusammenlebens möglich werden. Der Rückzug kann in den Begriffen von Brand und Wissen also als Versuch verstanden werden, im Kleinen einen Gegenentwurf zur hegemonialen und imperialen Lebensweise aufzubauen. Dabei sind die Autoren skeptisch, was derartige Projekte angeht, wenn sie nicht »gegenhegemonial« sind. Für Brand und Wissen (2017: 39) ist nämlich ausgemacht: »Transformatorisches Handeln impliziert, dass neben Lernprozessen und vielfältig stattfindenden Innovationen auch Konflikte nötig sind«. Konfliktscheue Formen von Widerstand und solche, die sich nicht in eine Frontlinie auf der Seite »der Guten« einreihen wollen, erscheinen aus dieser Perspektive als Eskapismus und individualistische Spielerei. Bei Brand und Wissen (z.B.: 2017: 183) geraten sie unter den Verdacht, Herrschaftsverhältnisse und die nicht-nachhaltige Gesellschaftsformation unter dem Deckmantel der Transformation weiter auszubauen (»greenwashing«). Für Brand und Wissen ist der Rückzug in Kommunen also dann und nur dann als Widerstand zu verstehen, wenn hiermit Gegenhegemonie gegen eine von Herrschaft durchzogene, zerstörerische Lebensweise aufgebaut wird.

Diese Gleichsetzung von Widerstand mit Gegenhegemonie ist aber für ein Verständnis des Rückzugs in Kommunen nicht unproblematisch. Denn hier drückt sich nicht nur der Versuch aus, Gegenmacht aufzubauen; zudem wollen die Akteur*innen experimentierend über die bestehenden Verhältnisse hinausgehen, etwas Neues schaffen. Der Rückzug ist, in den Begriffen von Richard Day (2005: 8), mitunter nicht gegenhegemonial, sondern eher »anti-hegemonial«. Wer geht, richtet sich nicht primär gegen Herrschaft im Namen einer Gegenmacht, will nicht unbedingt die Macht übernehmen, sondern steht für ein anderes Miteinander ein. So nützlich die Beschreibung globaler Herrschaft von Brand und Wissen ist, um die Praxis in Kommunen und intentionalen Gemeinschaften als Widerstand zu verstehen, liefern die Autoren also nur eine mögliche Deutung des Rückzugs als Widerstand – nämlich, wenn sich Aktivist*innen als Teil einer »Gegenbewegung« gegen die imperiale Lebensweise verstehen, gegenhegemonial agieren.

1.3.2Der Rückzug als Teil einer Innovationsbewegung

Wie Brand und Wissen erkennen Hardt und Negri (2004) in der globalen Ordnung von heute eine Herrschaftskonstellation. Diese nennen sie »Empire«. Jedoch gibt es im Empire weder einen zentralen Hegemon, noch ist Macht in einem Mächtegleichgewicht verteilt. Vielmehr handelt es sich um einen »Herrschaftsapparat«, der flexible Hierarchien und Tauschverhältnisse kombiniert (2004: 11). Die Autoren erkennen in der heutigen globalen Ordnung also eine Macht, die nicht über Disziplin und Strafe ausgeübt wird, sondern über Kontrolle und insbesondere Selbstkontrolle von Subjekten und deren Prägung (2004: 39). Klare Grenzen zwischen öffentlich/privat oder innen/außen kennt das Empire nicht. Es ist stattdessen durchzogen von einer Vielzahl von Grenzen, die überlagernde Ein- und Ausschlüsse produzieren. So gibt es zwar Ungleichheiten aber scheinbar keine Macht, weil diese keinen zentralen Ort hat (2004: 202). So verschleiert diese Herrschaftsform ihre hierarchische Strukturierung als scheinbar zufälliges Ergebnis eines komplexen Systems. Nie weiß man also, wer eigentlich verantwortlich ist für Ungerechtigkeiten.

Ähnlich wie Brand und Wissen beschreiben also auch Hardt und Negri eine Herrschaftsordnung, die tief in den Alltag einsickert und unsere Routinen, Wünsche und unser Zusammenleben insgesamt durchzieht. Dabei – und dies ist der entscheidende Unterschied zu Brand und Wissen – beschreiben Hardt und Negri aber kein Zentrum der Macht. Insofern es im Empire keine souveräne Macht und auch keine klare Trennung von Innen/Außen gibt, kann sich Widerstand aus ihrer Sicht nicht in einer rationalen Gegenstrategie manifestieren. Eine Gegenstrategie sei deswegen keine sinnvolle Option mehr, weil das »Verschwinden einer autonomen politischen Sphäre« dazu führt, dass Revolutionen im nationalen Rahmen gar nicht mehr möglich sind (2004: 319).7 Daher muss sich Widerstand für Hardt und Negri heute quer zu den Herrschaftsverhältnissen stellen: »Die Schlachten gegen das Empire lassen sich vielleicht durch Sich-Entziehen und Abfallen gewinnen. Diese Desertion verfügt über keinen Ort; sie ist die Evakuierung der Orte der Macht« (2004: 224). Durch einen solchen »Exodus« seien Alternativen in der Praxis zu erarbeiten. Es gehe darum, »eine neue Lebensweise und vor allem eine neue Gemeinschaft« zu erschaffen (2004: 216). Als Analogie zur heutigen Situation verweisen Hardt und Negri auf das Imperium Romanum, das sich als die Zivilisation schlechthin darstellte. Statt Feinde von außen habe das Imperium Romanum das Christentum auf den Plan gerufen, das eine Gegenperspektive von innen und doch darüber hinaus entwickelte. Die widerständigen Kräfte eines solchen Rückzugs, schreiben Hardt und Negri (2004: 369-370), »sind vollkommen positiv, weil ihr ›Dagegen-Sein‹ ein ›Dafür-Sein‹ ist, d.h. ein Widerstand, der zu Liebe und Gemeinschaft wird«.

Aus dieser Perspektive wird der Rückzug in Kommunen und intentionale Gemeinschaften als Transzendenz des »Empire« verständlich. Menschen verabschieden sich aus den Routinen und Seinsweisen des Empire und bilden neue Gemeinschaften. Dort erproben und kultivieren sie neue Weisen des Miteinander, der Arbeit, der Selbstsorge und schaffen neue Subjektivitäten, die immer auch mit neuen Wünschen und Vorstellungswelten einhergehen. So wird zugleich etwas Neues geschaffen und das Empire lahmgelegt, das ja hauptsächlich auf freiwilliger Gefolgschaft beruht. Kurz und knapp kann man den Rückzug in Kommunen mit Hardt und Negri also als Versuch des Entzugs und der Neugründung in Liebe deuten – nicht aber als Gegenmacht. Durch das Abfallen von den Routinen und Seinsweisen des Empire sowie durch neue Gemeinschaften erhoffen sich Hardt und Negri ein »säkulares Pfingstfest«.

Doch auch diese Deutung des Rückzugs in Kommunen erscheint nur partiell. Denn erstens wirft die Deutung des Rückzugs von Hardt und Negri die Frage auf, wie sich der Widerstand konkret auf die Herrschaft bezieht (vgl. Kempf 2019) – wie mächtig, könnte man zurückfragen, ist jene Herrschaft, die man einfach so abschütteln kann? Ein Kampf findet nicht statt. Hardt und Negris Traum von einem »säkularen Pfingstfest«, von einer sich plötzlich einstellenden Liebe und Gemeinschaft, erscheint mitunter naiv, weil er die Auseinandersetzung um Macht vergisst. So nützlich diese Beschreibung globaler Herrschaft ist, um die Praxis in Kommunen und intentionalen Gemeinschaften zu verstehen, liefern auch Hardt und Negri also nur eine mögliche Deutung des Rückzugs – nämlich, wenn sich Aktivist*innen als Teil einer »Innovationsbewegung« verstehen, die Neues bringt und Positives schafft.

1.3.3Gegengemeinschaften und Beispielgemeinschaften

Sowohl Hardt und Negri als auch Brandt und Wissen steuern wesentliche Erkenntnisse bei zum Verständnis des Rückzug in Kommunen als Widerstand: in ihren Ausführungen wird deutlich, wie tief globale Herrschaft das alltägliche Zusammenleben durchdringt. Sowohl Hardt und Negri als auch Brand und Wissen zeigen, dass sich die globale Herrschaftsordnung in unserem Konsumverhalten, in unserer Mobilität, unseren Wohnverhältnissen und unseren Verhältnissen zu uns selbst, zu anderen und zur Natur sedimentiert hat. Insofern liefern beide Darstellungen globaler Herrschaft nützliche Ansatzpunkte, um den Rückzug in Landkommunen zu verstehen. Wer sich in eine Landkommune zurückzieht, verweigert sich den beschriebenen Herrschaftsmechanismen, versucht diese nicht zu reproduzieren, weist somit erst auf ihre Existenz hin und arbeitet mit an alternativen Weisen des (Zusammen-)Seins.

In den Theorien sind aber zwei verschiedene – und in einer Hinsicht widersprüchliche – Verständnisse des Rückzugs als Widerstand angelegt. Aus der Darstellung von Brand und Wissen lässt sich lernen, dass die dissidenten Lebensformen Teil einer Gegenmacht sein können. Ein solches Verständnis vertreten auch einige der Aktivist*innen, um die es im Folgenden gehen wird. So äußert ein Friedensaktivist, der Teil einer christlich orientierten Gemeinschaft ist, dass es bei der »Meta-Politik« seiner Gemeinschaft auch darum gehe, bestimmte politische Artikulationsweisen überhaupt zu ermöglichen: So würden sich z.B. Gemeinschaftsmitglieder um seine Kinder kümmern, wenn er und seine Partnerin bei der Besetzung einer Waffenfabriken festgenommen würden (#100, 31). Dies entspricht der Idee von Brand und Wissen, dass die Kommune Teil einer »Gegenbewegung« zur Mehrheitsgesellschaft ist. Inspiriert von einem Aufsatz von Paul Starr (1979) spreche ich im Folgenden davon, dass die Kommune hier die Funktion einer »Gegengemeinschaft« annimmt. Aus der Darstellung von Hardt und Negri lässt sich hingegen lernen, dass Widerstand auch über die Rolle als Gegenmacht hinausgehen muss. Schließlich wollen viele Aktivist*innen nicht die Macht übernehmen, sondern sich von den bestehenden Verhältnissen befreien und etwas komplett Neues aufbauen. Hierzu ziehen sie sich zurück und experimentieren mit neuen Lebensformen. Auch ein solches Verständnis wird von Aktivist*innen vertreten. So versteht eine Kommunard*in ihre Gemeinschaft als »Leuchtturm der Hoffnung« in einer Welt, die auf einen ökologischen Kollaps zusteuert. Angst und Selbstgerechtigkeiten wären Teil des Problems und diese verschlimmere man durch Protest und Gegenmacht: »we can’t legislate love« (#69,8). Entsprechend bleibe als Handlungsoption nicht mehr und nicht weniger als ein »leuchtendes Beispiel« zu sein. Hier ist die Gemeinschaft Teil einer »Innovationsbewegung«. Inspiriert von Paul Starr (1979) spreche im davon, dass die Kommune hier als »Beispielgemeinschaft« fungiert.

Dabei sollten diese beiden Verständnisweisen der Kommune – Beispielgemeinschaft und Gegengemeinschaft – nicht als sich ausschließende Alternativen wahrgenommen werden, sondern eher als Pole eines Kontinuums. Starr (1979: 248) spricht davon, dass Kommunard*innen es mit einem Trade-Off zu tun haben. Wollen sie mehr leuchtendes Beispiel sein und zielen in all ihren Aktivitäten darauf, eine bessere Zukunft vorwegzunehmen – dann sind sie womöglich nicht so schlagkräftig in der politischen Auseinandersetzung. Legen sie jedoch den Fokus auf Gegenmacht – dann müssen sich Aktivist*innen mitunter der gemeinsamen Strategie unterwerfen und Zugeständnisse machen. Dabei erscheint mir jedoch der Hinweis wichtig, dass keine der beiden Seiten komplett ohne die jeweils andere denkbar ist. So wird der Versuch in der Kommune Gegenmacht aufzubauen nur vor dem Hintergrund verständlich, dass sich die Gemeinschaft von der Mehrheitsgesellschaft abhebt, dort andere Routinen und Vorstellungen eines guten Lebens eingelagert sind. Genauso ist auch die Gründung einer »Beispielgemeinschaft« darauf angewiesen, das eigene Anders-Sein durch bestimmte Mauern und Begrenzungen abzuschirmen gegen die Zwänge der Mehrheitsgesellschaft. Sonst liefen sie Gefahr von den Verhältnissen überrollt zu werden. Die folgenden Kapitel dieses Buchs berichten detailliert, wie die Aktivist*innen mit diesem Trade-Off umgingen und wie sich ihre Praxis und ihr Selbstverständnis immer weiter verschob. Verstanden sich Anfang der 1970er Jahre viele Kommunen als Gegengemeinschaften, ist Ende des Jahrtausends die Deutung verbreiteter, man sei eine Beispielgemeinschaft.

1.4Empirischer Zugang: das Magazin Communities

Ich nähere mich dem widerständigen Rückzug in Kommunen durch das wichtigste Debattenorgan der Kommunenbewegung in den USA: Das Magazin Communities. Dieses wird seit dem Jahr 1972 von und für Kommunard*innen herausgegeben. Dabei zeigt bereits ein kurzer Abriss der Gründungsgeschichte des Magazins, dass durch Communities nur ein bestimmter, eher progressiver Teil, der Kommunen und intentionalen Gemeinschaften in den USA sichtbar wird.

Zu den Gründungsmitgliedern der Zeitschrift gehörte erstens die kleine (ca. 6 Erwachsene), politisch linksradikale Kommune Lime-Saddle. Deren Bewohner*innen wollten mit Hilfe einer klaren, an Gerechtigkeitsprinzipien orientierten Organisationsweise das Ende des Kapitalismus einläuten. Eine zweite Gruppe war ein loser Zusammenschluss an Menschen, die sich bereits an einer gegenkulturellen Zeitschrift mit dem Namen Comunitas versucht hatten. Bestehend aus einem verheirateten Paar, einem Kriegsdienstverweigerer, einer Quäkerin und einer Anthroposophin stand diese Gruppe in Kontakt mit Aktivist*innen wie Mildred Loomis, Dave Dellinger und Dorothy Day, die – sozialisiert hauptsächlich in sozialistischen und pazifistischen Zirkeln der 1920er und 1930er Jahre – der Gegenkultur der 1970er Jahre ihren Stempel aufdrückten (vgl. insbesondere: Kapitel 3). Drittens schloss sich dem Herausgeber*innenkreis eine in den 1940er Jahren gegründete Gemeinschaft an, die während des zweiten Weltkriegs Kriegsdienstverweigerer aufgenommen hatte, sowie eine Dachorganisation von Genossenschaften. Nicht zuletzt wurden zwei nach einem Roman des behavioristischen Wissenschaftlers Burrhus F. Skinner modellierte Landkommunen Teil des Herausgeber*innenkollektivs:8 Die beiden Landkommunen »Twin Oaks« und »Walden Three«. Insgesamt versammelte das Herausgeber*innenkollektiv also sehr unterschiedliche und über den gesamten Kontinent verstreute Gruppen, die – zusammengenommen – an radikale Traditionen der Vergangenheit anknüpften, bereits Erfahrung mit der Publikation von Zeitschriften hatten und ihre unterschiedlichen Leser*innenkreise in Kontakt miteinander bringen wollten. So wurde Communities die größte gegenkulturelle Zeitschrift der USA.

Als Verlagskooperative setzte sich die Gruppe zum Ziel, Material über die Gegenkultur und die Alternativkultur zu sammeln, zu ordnen, neu herauszugeben und zu vertreiben. Als Non-Profit-Organisation wollten sie den finanziell erwirtschafteten Überschuss dafür nutzen, Informations-Zentren über die Gegenkultur in großen Städten zu errichten und Land oder günstige Kredite an Kooperativen zu vergeben. Diesen Zielen wollten die Aktivist*innen näherkommen, indem die Organisation wachsen sollte. Gleichzeitig sollte das Magazin eine bestimmte Größe nicht überschreiten. So legten die Herausgeber*innen fest, man wolle die Abonnements der Zeitschrift auf 20.000 begrenzen, um nicht »ein weiteres Monster« zu schaffen, das unfähig ist, mit seiner Leserschaft zu interagieren (#2,12). Insgesamt sollte das Magazin so Teil eines revolutionären Wandlungsprozesses sein, der durch die »Kommunenbewegung« vorangetrieben wurde: Die Herausgeber*innen von Communities verstanden sich also keineswegs lediglich als Journalist*innen und Communities war nicht der Spiegel der Bewegung. Vielmehr war das Magazin Teil der Bewegung und die Gründung des beschriebenen Kollektivs war das große Projekt, mit dem sie nicht weniger als den Lauf der Geschichte verändern wollten.

Durch den Fokus auf Communities betrachtet diese Studie zwar insbesondere Kommunen und intentionale Gemeinschaften in den USA, ihre Ergebnisse sind aber nicht nur in Bezug auf US-Amerikanische Politik aussagekräftig, sondern betreffen translokalen Widerstand gegen globale Herrschaft. Dies möchte ich kurz darstellen und begründen.

Der Fokus auf Communities, das in den Vereinigten Staaten von Amerika gegründet wurde, ist deswegen sinnvoll, weil die Kommunenbewegung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von hier aus in unterschiedliche Regionen der Welt (insbesondere in Regionen des globalen Nordens) geschwappt ist. Durch den Fokus auf Communities werden die Auslöser dieser Wellen aus einer »translokalen« Perspektive sichtbar gemacht (zu diesem Begriff: Greiner und Sakdapolrak 2013). Translokal ist diese Perspektive erstens insofern das Präfix »trans« anzeigt, dass in dieser Analyse der Austausch zwischen unterschiedlichen Orten, Widerstandsgruppen und Personen im Fokus steht und nicht deren separate Identität und Fixierung. Zweitens wird mit »translokal« etwas über die räumliche Reichweite der Analyse gesagt. Der Begriff zeigt an, dass das Widerstandsphänomen in seiner Ausbreitung begrenzter ist als der Begriff »global« suggeriert – also nicht den gesamten Globus umfasst – und dennoch weiter reicht, als der Begriff »national« suggeriert. Drittens wird damit etwas über den politischen Bezugsrahmen der Analyse ausgesagt. Es geht hier nämlich nicht einfach um amerikanische Politik. Im Gegenteil zeigt der Begriff »translokal« an, dass der Bezug zum Nationalstaat (der auch im Alternativbegriff »trans-national« angelegt ist) hier nicht primär relevant ist. Die Aktivist*innen arbeiten sich ja gerade nicht an den politischen Institutionen des Nationalstaats ab. Sie sind von einer globalen Problemwahrnehmung geprägt, verschreiben sich häufig einer »postnationalen Identität« (zu diesem Begriff: Mandaville 2002). Der Bezugsrahmen der Bewegung liegt also einerseits unterhalb der Schwelle des Nationalstaats und geht andererseits über diesen hinaus. Insgesamt erlaubt mir der Zugang zum Widerstand in Kommunen durch Communities also, die Bewegung als translokal zu verstehen.

Auf einer Metaebene habe ich das Magazin erstens verwendet, um dieses Buch zu strukturieren. Da Communities nicht nur ein Medium ist, anhand dessen über Kommunen und intentionale Gemeinschaften geschrieben wurde, sondern – wie oben dargestellt – ein Teil der Bewegung selbst sein sollte (und soll), gehe ich davon aus, dass starke Veränderungen im Produktionsprozess der Zeitschrift Veränderungen innerhalb der Bewegung widerspiegeln. Ich habe daher die Geschichte des Magazins genutzt, um meine Forschungsergebnisse zur Kommunenbewegung zu periodisieren. Harte Einschnitte im Produktionsprozess des Magazins deuten darauf hin, dass eine bestimmte Periode der Bewegung insgesamt zu Ende geht. Zweitens hilft die detaillierte Rekonstruktion der Geschichte des Magazins, um einzuschätzen, inwiefern dessen Inhalte repräsentativ sind für die Bewegung insgesamt und inwiefern dort nur ein spezifischer Ausschnitt abgebildet wird.

Auf einer inhaltlichen Ebene habe ich das Magazin im Hinblick auf drei unterschiedliche Aspekte befragt. Erstens wurde das Magazin selbst als ein Produkt jener Widerstandspraxis analysiert, für die ich mich interessiere. Die Kommunard*innen schufen Communities